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On your command, Master

Der Tyrann, meine Flucht
von
Koautor:  Joukko

Vorwort zu diesem Kapitel:
Auch, wenn vermutlich keiner die Infobox liest: Seit ich den Anfang [Prolog] dieser Geschichte veröffentlich habe, ist leider viel Zeit vergangen. Ich habe nebenbei noch zwei andere Romane am Laufen, die ich unbedingt fertig bekommen möchte :) Bei Interesse, schaut doch einfach unter meinen FanFics vorbei. Ich würde mich über einen kleinen Kommi freuen :D Ich habe mich in den letzten Wochen bemüht, noch einmal die Vorbeschreibung zu überarbeiten, die Steckbriefe neu zu verfassen, Fehlendes zu ergänzen und schlussendlich habe ich auch den Namen der FF verändert. Von "Hai, Sensei" zu "On your command, Master". Mit diesen Worten möchte ich euch nun das lang ersehnte erste Kapitel präsentieren. Wer Rechtschreibfehler findet darf sie wie immer gerne behalten.

LG

Crimson_Butterfly Komplett anzeigen

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Einleitung

Guten Tag,
 

mein Name ist Yoshimi Kazuya und entgegen eurer jetzigen Erwartung: Ich bin ein Mädchen. Ich möchte euch etwas erzählen, dass sich vor vielen Jahren ereignet und mein Leben von Grund auf verändert hat. Zusammen mit meiner Mutter und den restlichen Dorfbewohnern lebe ich in einer Welt, die von Fabelwesen heimgesucht wird. In unserem kleinen Dorf hat es vor langer Zeit einen Mann gegeben, der von einigen als die Strafe Gottes bezeichnet wurde. Manche nannten ihn einen einsamen Wanderer, der sich auf den Weg zum Himmel verirrt hat. Andere schimpften ihn schlichtweg Teufel. Aber Tatsache ist, dass es sich bei Miro Tavi um einen Drachen handelte. Ihr fragt euch wahrscheinlich, warum ich in der Vergangenheitsform spreche. Das lässt sich leicht erklären: Nachdem er über mehrere Menschengenerationen hinweg auf der Erde verweilen musste, ist er gestorben … um mich zu beschützen.
 

Das ist seine und meine Geschichte.

Ein Spiel ohne Regeln

Er glaubte sich im Kreis zu drehen. Seine sich stetig wiederholende Langeweile und das Gefühl der inneren Leere raubte ihm fast den Verstand. Dass er sich in diesem abgeschotteten Dorf einen, wie er vor langer Zeit annahm, interessante Arbeitsstelle suchte, verlor über die andauernden Menschengenerationen hinweg ihren Reiz und die erneut aufgetauchte Eintönigkeit setzte ihm zu. Ähnlich einem störenden Dorn in einer abermals aufgerissenen Wunde.

 

Dieses Leben bot ihm keine Herausforderung und der damit verbundene Alltagstrott machte ihn langsam aber sicher Wahnsinnig. Das schrille und irgendwie zu durchdringende Läuten der Schulglocke riss Miro aus seinen Gedanken und er hob leise seufzend den Kopf. Wortlos richtete er die auf seiner Nase sitzende, gläserlose Brille, fasste nach der Türklinge und betrat den ihm zugewiesenen Klassenraum. Scheinbar konnte er die von den Menschen übernommenen Gewohnheiten einfach nicht ablegen.

 

Schweigend warf er das mitgebrachte Klassenbuch lautstark aufs Lehrerpult, verschränkte die Arme vor der Brust und ließ sich auf einer Kante des Tisches nieder. Die Augen der Schüler richteten sich im Bruchteil einer Sekunde auf seine Gestalt, geführte Gespräche verstummten und eine fast beängstigende Stille breitete sich aus. Der in den Gesichtern der Schüler sitzende Horror und die damit entgegen gebrachte Furcht, entlockte ihn ein diabolisches Grinsen.

 

Obgleich ihm seine selbst auferlegte Aufgabe nicht zu beschäftigen vermochte und ihn die Gleichgültigkeit für die auf der Erde lebenden Rassen erschlug, übermannte ihn ein befremdlicher, durch und durch entgegen jeglicher Vernunft widersprechender Ehrgeiz. Sein misstrauischer Blick wanderte durch die Reihen der verängstigten, wie Hühner auf der Stange sitzenden Teenager und verweilte für einen Moment auf einem blonden Haarschopf mit feinen blaugefärbten Strähnen.

 

Das Mädchen starrte aus dem Fenster, lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und schien die Anwesenheit des Klassenlehrers nicht wahrzunehmen. Miro stand auf, überwand mit gemächlichen Schritten den Abstand zur Tafel und nahm ein Stück schon abgenutzte, weiße Kreide zur Hand. Die ihm anvertrauten Jugendlichen erbleichten sichtlich, wanden sich eingeschüchtert auf den mehr als unbequemen Holzstühlen und sahen sich untereinander an. Die Drohung hing deutlich erkennbar in der Luft.

 

„Willkommen“, sagte Miro ungerührt und ein in der vorderen Reihe befindlicher Junge stand vor blankem Entsetzen der Mund offen. „Ihr habt es richtig erkannt. Ich werde auch in diesem Jahr euer Lehrer sein. Ihr könnt euch freuen.“ Der Drache betrachtete teilnahmslos die nichtssagenden Gesichter seiner Schüler, trat einen Schritt zurück und holte aus. Die Kreide flog quer durch das Klassenzimmer, traf die Tagträumerin am Hinterkopf und das Mädchen fand verwirrt blinzelnd in die Realität zurück. „Alle, die nicht in den Genuss kamen meine Bekanntschaft zu schließen … Aufstehen und Vorstellen.“

 

Und während sich die neu dazugekommenen Schüler, nach dem Alphabet Sortiert, mit dem Namen und ihrem Alter in die Klassengemeinschaft einfügten, verschwendete Miro seine mühsam aufrecht erhaltene Konzentration darauf, die von der Direktorin verfassten Notizen durchzugehen. Natürlich hatte er ein weiteres Mal die Problemfälle aufgebürdet bekommen. Konnte er von einer Person, mit dem IQ von den verschmutzten Überresten eines ausgeleerten Müllbehälters wirklich mehr erwarten?

 

Eine leise Stimme, die wie die abgefeuerte Kugel aus einem Scharfschützengewehr seine Gedanken durchschnitt, holte Miro unvorbereitet in das Klassenzimmer zurück und er hob den zuvor gesenkten Kopf. Gefühllos musterte er das neben dem Fenster stehende Mädchen mit den zu Zöpfen gebundenen, blonden Haaren und seine Augen leuchteten unheilvoll auf. Das war sie also. Yoshimi Kazuya. Der Liebling aller Lehrer und doch nicht mehr als heiße Luft in der schwülen Sommerhitze.

 

Sie war hübsch, zierlich und still. Gut Erzogen, diszipliniert und eine Verfechterin der aufgestellten Regeln. Der männliche Anteil der Schülerschaft lag ihr zu Füßen, die Mädchen hingegen begegneten ihr mit Neid und Zorn. Sie war die Art von Mensch, die er hasste. Er wollte dieses sanftes Wesen zerbrechen und ihre wohl behütete Welt in ihren Grundmauern erschüttern. Miro räusperte sich hörbar, riss sich mit Gewalt aus seinen boshaften Überlegungen und verschränkten die Arme hinter dem Rücken.

 

„Yoshimi“, sagte er laut und glaubte gleichzeitig zu spüren, wie das von ihm angesprochene Mädchen in ihren Bewegungen erstarrte. Im hinteren Teil des Raumes wurde ein kleiner Zettel von einem Pult an den nächsten weitergereicht und Miro trat mit autoritärer Gelassenheit durch die aufgestellten Reihen von Tischen. „Vielleicht hat es in den letzten Jahrgängen etwas zu gut funktioniert, aber bei mir wirst du dich nicht hinter dem Rücken deiner Mitschüler verstecken können.“ Er blieb neben ihr stehen, sah ihr herablassend ins Gesicht und Kazuya gefror das Blut in den Adern. „Entweder beteiligst du dich am Unterricht oder wir sehen uns nächstes Jahr wieder. Solltest du dir vorstellen, die Welt besteht aus farbenprächtigen Wattebällchen muss ich dich leider enttäuschen.“

 

Miro fasste nach der Lehne eines Stuhls, zog das Möbelstück mitsamt dem darauf sitzenden Jugendlichen zurück und entnahm gelassen seinen verkrampften Händen die von einem weiteren Schüler verfasste Nachricht. Gelangweilt drehte er sich auf den Absatz um, lief mit wohl bedachten Schritten durch das in Stille gelegene Zimmer und las sich im Gehen die kaum zu erkennende Botschaft durch. Obwohl es ihm nicht vergönnt war, ein Gefühl wie Belustigung zu empfinden, begannen seine Mundwinkel zu zucken.

 

Er richtete seine kalten Augen auf einen Jungen, der auf den Namen David Brown hörte, setzte sich erneut auf seinen Tisch und schüttelte den Kopf. „Ein Rechtschreibfehler jagt den Nächsten“, erklärte er sachlich und der Verfasser der Mitteilung schien den Boden unter den Füßen zu verlieren. „Du hast dir damit das Recht erworben, der Erste Nachhilfeschüler in diesem Jahr zu werden. Und jetzt sieh zu, das du deinen fetten Arsch hochbekommst, sonst helfe ich nach. Du wirst dreißig Runden um den Sportplatz drehen und wenn du dir eine Pause gönnst, läuft du das gleiche noch einmal.“

 

Entgegen seiner Erwartung sprang David augenblicklich auf die Füße, rannte panisch auf aus dem Raum und verschwand auf den leeren Fluren der Schule. Schneller als nötig. Scheinbar trug seine strenge Erziehung Früchte. Miro strich sich mit der Hand durchs Gesicht, schnaufte verächtlich und drehte sich um. Das konnte nur ein verdammt langes Schuljahr werden. Der Drache ging zur Tafel, notierte seinen Namen auf dem grünen Hintergrund und entschied sich dazu, gleich mit dem Lernstoff zu beginnen.

 

„Ich vermute, ihr habt eure Bücher schon bekommen.“ Ein leises, widerwilliges Raunen zog durch den Raum und Miro warf seinen Schülern einen warnenden Blick zu. Das Geflüster verstummte sofort. „Kapitel drei auf der ersten Seite eurer Geschichtsbücher“, fuhr er ungerührt fort und die verärgerten Teenager gehorchten mit einem Zähneknirschen. „Koskinen, du fängst an.“

 

Und während Amanda, ein Mädchen mit finnischer Abstammung, die weitergegebenen Aufzeichnungen über den zweiten Weltkrieg laut vorlas, trat Miro wortlos ans offene Fenster und holte abermals mit der Hand aus. Er warf ein Stück Kreide in den Schulhof, ein gequälter Schmerzenslaut erfüllte die Luft und David schielte vorsichtig um die Ecke. Kaum hatte er seinen Lehrer bemerkt, nahm er erneut die Beine in die Hand und setzte die ihm aufgetragenen Runden fort.

 

„Higurashi Akio“, unterbrach der Drache das vorlesende Mädchen, lehnte sich mit verschränkten Armen gegen die Wand und der angesprochene Schüler stand auf. „Weiterlesen.“

 

Der Unterricht zog wie zähflüssiger Kaugummi an ihm vorbei, seine Laune sank unaufhörlich dem Tiefpunkt entgegen und als die Schüler durch das Läuten der Glocke endlich in ihre wohlverdiente Pause entlassen wurden, fiel Miro mit einem genervten Augenrollen auf seinen Schreibtischstuhl. Eilig liefen die Teenager aus dem Raum, schlugen die Tür zu und fanden sich nur einige Minuten später auf dem Schulhof ein. Kazuya hingehen war das letzte, im Klassenzimmer verbliebene Mädchen.

 

Gewissenhaft räumte sie ihren Platz auf, schob ihre Arbeitsunterlagen in die Schultasche und wollte sich scheinbar einem befreundeten, auf dem Flur wartenden Jungen anschließen. Doch bevor sie gehen konnte, hielt Miro das Mädchen zurück und sah ihr mit gefährlich aufblitzenden Augen entgegen. Sie blinzelte verwirrt, neigte den Kopf zur Seite und ihre Finger verkrampften sich in den Stoff ihres Rockes. Sie kam näher, verschränkte die Arme vor der Brust und der Drache lehnte sich zurück.

 

Mit einer lakonischen Handbewegung deutete er auf den überquellenden Mülleimer, seufzte resigniert und die vor ihm stehende Kazuya sah ihm ratlos entgegen. Sie biss sich auf die Lippe, schnaufte verächtlich und überwand den vor ihr liegenden Abstand. Wortlos fasste sie nach dem Behälter, hob ihn hoch und begab sich in die Knie, um das auf dem Boden liegenden Papier aufzusammeln. Miro ergriff die Schülerin an der Schulter, seine Züge verhärteten sich und sie drehte sich zu ihm um.

 

„Yoshimi“, sagte er streng und das angesprochene Mädchen warf ihm einen fragenden Blick zu. „In dieser Schule gibt es Regeln und selbst, wenn du es dir nicht vorstellen kannst, sie gelten auch für dich. Wenn ich den Raum betrete, hebst du deinen Arsch, begrüßt mich, wie jeden anderen Lehrer und pflanzt dich danach wieder auf deinen Platz. Wenn ich gehe, das gleiche nochmal mit einer Verabschiedung.“ Sie erhob sich auf die Füße, eine ihrer Augenbrauen schnellte in die Höhe und Miro hatte den unbestimmbaren Eindruck, dass sie nur eine etwas nicht ganz passende Fassade zur Schau trug. „Du kannst dem Rest der Welt gerne weiter den kleinen Engel vorspielen und deine Mitmenschen nach Strich und Faden verarschen, aber wir wissen beide, dass du damit bei mir nicht weiter kommst. Ich rate dir also, mir den nötigen Respekt entgegen zu bringen, dann musst du mich nächstes Jahr nicht mehr ertragen und ich bin dich auch wieder los.“

 

„Und was soll das heißen, Sie hirnkranker Idiot“, erkundigte sie sich mit einem boshaften Grinsen. Kazuya strich sich mit der freien Hand eine in die Stirn gefallene Haarsträhne hinters Ohr, trat einen Schritt zurück und wandte ihm mit Stolz erhobenem Kinn den Rücken zu. „Sagen Sie mir jetzt im ernst, dass ich mich an Ihre Regeln halten muss? Soll das vielleicht ein Scherz sein? Haben Sie mich jemals anders erlebt? Der kleine Engel braucht immerhin seinen glamourösen Auftritt.“

 

Miro grinste in sich hinein und beobachtete ihre schlanke Hand, die mit einem kaum merklichen Zittern nach der Türklinke griff. „Den Auftritt kannst du dir für dein Schlafzimmer aufheben. In meiner Klasse wirst du dich verhalten, wie ich es will oder aus diesem einen Jahr, das wir beide über uns ergehen lassen müssen, wird dein schlimmster Alptraum.“

 

Eine Erwiderung blieb sie im Schuldig. Stattdessen straffte sie würdevoll die schmalen Schultern, verließ das Klassenzimmer und begab sich mit einem aufgesetzten, liebenswürdigen Lächeln an die Seite eines schon auf sie wartenden Freundes. Miro legte die Stirn in Falten, schob die Hände in die Hosentaschen und trat, tief in der Welt seiner Gedankengänge versunken ans Fenster. Er wusste nicht, was ihn störte. Aber es gab etwas an Kazuya, das einfach keinen Sinn ergab.

 

Durch den Spalt der heruntergelassenen Jalousien betrachtete er die im Schulhof versammelten Schüler, bedachte die neu eingestellte Englischlehrerin mit einem abschätzigen Blick und suchte nach seinem verloren gegangenem, inneren Gleichgewicht. Dieses Mädchen hatte ihn für einen kurzen Moment aus der Bahn geworfen. Sie zeigte ihm ihr wahres Gesicht und sein bisher aufrecht erhaltener Glaube fand ein weiteres Mal Bestätigung. Jeder Mensch, uninteressant mit welchem Geschlecht, besaß eine dunkle Seite.

 

Und scheinbar gab es keinen Einzigen unter den hier lebenden Sterblichen, die der verlockenden Versuchung ihrer eigenen Finsternis widerstanden. Schade. Miro wandte sich ab, durchstreifte das Zimmer und fasste nach dem auf dem Lehrerpult liegendem Klassenbuch. Schweigend durchstreifte er die leeren, hell erleuchteten Flure, lief über eine Treppe in das obere Stockwerk und ging ohne Umwege zu dem ihm zugeteiltem Büro. Auf seinem Stundenplan stand als nächstes Sport.

 

Im Gegensatz zu den anderen an dieser Schule arbeitenden Pädagogen, übernahm er den Sportunterricht selbst. Er wollte die in seiner Klasse vorherrschende Disziplin und Ordnung nicht leiden lassen. Das mehrere Erwachsene über die strengen Erziehungsmethoden des Drachen den Kopf schüttelten, war ihm durchaus bewusst. Einige wenige Lehrer hatten gegen die zu straff gehaltenen Zügel bereits eine schriftliche Beschwerde eingereicht. Miro kümmerte es wenig.

 

Mit einem genervten Augenrollen schälte er sich aus dem zu steif sitzenden schwarzen Anzug, zog sich eine Jogginghose mit passendem T-Shirt über und warf noch einen letzten Blick auf die an der Wand hängende Uhr. Kurz nach Mittag. Mit gemächlichen Schritten begab er sich in den Hof, betrachtete ein weiteres Mal die bedeutungslosen Gesichter seiner Schüler und lauschte still ihrer Begrüßung. Selbst Kazuya, die in der engen Leggings und dem Spaghettiträger-Top etwas deplatziert wirkte, schloss sich an.

 

Seine Drohung hatte sie wohl zum Nachdenken gebracht. Sehr gut. Miro begab sich in den Gerätenraum der Turnhalle, durchstreifte gelangweilt die vollgestellten Reihen mit diversen Sportutensilien und hielt vor einem abgeschlossenen Schrank mit Glasscheiben inne. Er nahm seinen mitgebrachten Schlüssel zur Hand, öffnete das Vorhängeschloss und brachte die hervorgeholten Tennisschläger hintereinander zu den in seiner Klasse befindlichen Teenagern.

 

Obwohl die Schüler den zwischen ihren Fingern liegenden Schläger deutlich missmutig in Augenschein nahmen, war es, wie Miro bereits erwartet hatte, Kazuya, die ihre Stimme als Erste erhob. Im Lehrerzimmer musste er die Anekdoten seiner aufgezwungen Kollegen, über eine äußerst schwierige und doch wieder einfache Schülerin, des Öfteren über sich ergehen lassen. Sie warf das Sportgeräte in die Luft, überprüfte mit der Unterlippe zwischen ihren weißen Zähnen das Gewicht und ließ es schließlich fallen.

 

„Er ist zu leicht“, urteilte sie nach einer gründlichen Beurteilung der zu billigen Version eines Tennisschlägers und Miro begann sich zu fragen, ob nur er den in ihren Augen auf funkelnden Spott zu bemerken imstande war. Natürlich setzte sie ihre alberne Fassade auf und ihr Status als Engel kam zum Tragen. „Läge es vielleicht im Bereich des Möglichen, einen anderen, etwas besseren zu bekommen, Herr Tavi?“

 

Die Schüler fühlten sich durch diese Worte offensichtlich in ihrem Mut bestärkt, denn Einer nach den Anderen äußerste seinen stillen Protest und innerhalb weniger Sekunden füllte sich die Luft mit ihren zornigen Einwänden. Kazuya war eine nicht zu unterschätzende Gegnerin. Ein Umstand, der ihn belustigte. Ihre Freundlichkeit, durch die sich die um sie herumlebenden Menschen deutlich in die Irre führen ließen, grenzte an einer aufgerufenen Rebellion.

 

Ihr beherrschtes Auftreten war die Manipulation selbst. Miro seufzte resigniert, bückte sich und fasste nach einem von den herumrollenden, grünen Tennisbällen. „Nein, Yoshimi. Das liegt es nicht“, sagte er laut und deutlich, als handelte es sich bei Kazuya um nicht mehr als ein begriffsstutziges Kind.

 

Er kehrte ihr den Rücken zu, schritt über den als Trainingsplatz genutzten Teil des Schulhofes und blieb neben einer Laufmarkierung stehen. Mit der Spitze seiner Turnschuhe zog er eine gerade Linie in den Boden und die Schüler beobachteten seine Bewegung mit deutlichem Argwohn. Er konnte ihr misstrauisches Flüstern hören und wusste, dass er sich inmitten ihrer ungeteilten Aufmerksamkeit befand. Behänden warf er den Tennisball in die Luft und fing ihn geschickt wieder auf.

 

„Ich mache euch einen Vorschlag“, rief er ihnen autoritär entgegen und selbst Kazuya schien hellhörig zu werden. „Wenn auch nur einer von euch die Markierung erreicht, dürft ihr den Unterricht vorzeitig verlassen. Also stellt euch auf. Alphabetisch sortiert nach euren Nachnamen.“

 

Die Schüler zögerten für einen Moment, tauschten untereinander fragende Blicke aus und drehten sich schließlich zu Kazuya um. Das Mädchen zuckte jedoch lediglich mit den Schultern, sah zu einem Jungen, der auf den Namen Liam Mason hörte und wandte sich ab. Eine deutsche Schülerin, die wohl als Erste den nötigen Kampfgeist aufbrachte, trat zitternd vor, begab sich in Position und schlug den Ball. Gut zehn Fuß vor der Grenze blieb er allerdings liegen.

 

Auch wenn sich die Schüler bemühten, um das gesetzte Ziel zu erreichen, fehlte ihnen die nötige Kraft und innerhalb einer halben Stunde rollten die Tennisbälle in verschiedenen Bereichen des Trainingsplatzes über den Boden. Liam Mason, ein Sonderling der seines Gleichen suchte, beteiligte sich nicht an dem Spiel, lehnte sich gegen die Wand der Turnhalle und unterdrückte ein herzhaftes Gähnen. Erst Kazuya, die sowohl für Tennis als auch Läufen ein ungewöhnliches Talent besaß, traf das angestrebte Ergebnis.

 

Der Ball flog nur wenige Zentimeter an dem Gesicht des Drachen vorbei, streifte unmittelbar seine Wange und knallte hörbar hinter ihm gegen den Stamm einer alten Eiche. Miro gab sich fairerweise Geschlagen, streckte kapitulierend die Hände in die Luft und ging zu seinen jubelnden Schülern. Mit einem aufgesetzten Grinsen beglückwünschte er sie zu ihrem Sieg und trug ihnen auf, die hervorgeholten Tennisschläger wieder in den Geräteraum zu bringen. Im Anschluss konnten sie den Unterricht verlassen.

 

Unter lautem Schreien rannten sie los, um der Aufforderung Folge zu leisten und schließlich in der Umkleidekabine zu verschwinden. Nur Kazuya verweilte als eine der Letzten auf dem Trainingsplatz und machte sie die Mühe, die liegen gebliebenen Tennisbälle wieder einzusammeln. Auch Liam beteiligte sich an der spontanen Maßnahme. Miro konnte den in ihm festsitzenden Verdacht kaum verhehlen und fand Bestätigung, als sie sich für wenige Sekunden an seine Seite begab.

 

„Glaubst du wirklich, ich habe es nicht gewusst“, sagte sie kühl und Miro presste mit einem Schnaufen Daumen und Zeigefinger gegen seinen Nasenrücken. „Du bist mein Lehrer und ich respektiere dich. Aber das bedeutet nicht, dass ich dich auch akzeptiere. Du bist vielleicht ein fairer Spieler, aber das gilt nicht für mich.“

 

Der Drache erwiderte ihren reservierten Blick mit kaum zu leugnenden Spott. „Das bedeutet dann wohl Krieg“, erwiderte er gedehnt und das Mädchen sah ihn an. „Sieh zu, dass du endlich nach Hause kommst.“

 

Stolz streckte sie das Kinn in die Luft, drehte sich hochmütig um und verschwand mit gestrafften Schultern im Schatten der Turnhalle. Miro schüttelte den Kopf, erledigte den Rest der noch anfallenden Arbeit und ging auf direktem Weg in sein Büro. Er brauchte dringend eine heiße Dusche. Doch dieser einfache Wunsch wurde ihm verwehrt. Kaum hatte er die Tür geöffnet, stand er auch schon der Direktorin dieser Schüler gegenüber und ihr mürrischer Gesichtsausdruck sprach Bände.

 

Sie hockte auf seinem Schreibtisch, die Beine übereinander geschlagen und die Arme vor der Brust verschränkt. Unter den Schülern galt sie schon über einen längeren Zeitraum hinweg, als eine Art Monster und zudem besaß sie das ungewöhnliche Talent, eine Situation unnötig kompliziert zu machen. Als der Drache das Zimmer betrat, stand sie auf und ging zum Fenster. Sie schob ihre Finger mit den sorgfältig manikürten, rot gemalten Nägel zwischen die Lamellen der Jalousien und schob sie auseinander.

 

Ihr Blick wanderte über den Schulhof und fixierte einen Punkt am Schultor. „Dieses Mädchen ist mir ein Dorn im Auge. Schon als sie diese Schule das erste Mal betreten hatte, wusste ich, das sie Ärger macht. Dieses kleine Miststück“, sagte die Direktorin wutentbrannt und ihre Haut nahm langsam aber sicher die Farbe ihrer künstlich verlängerten Fingernägel an. Sie wirbelte auf dem Absatz herum, biss die Zähne zusammen und lief wie ein gefangener Tiger im Zimmer auf und ab. „Sie ist wie dieser Junge … wie hieß er noch gleich? Irgendetwas mit C …“ Sie dachte einen Moment nach und schlug schließlich mit der geballten Faust in ihre flache Hand. „Cian Keane. Genau das war sein Name. So ein Unruhestifter in einem amerikanischen Puppenhaus.“

 

Miro hob die Augenbrauen, durchquerte wortlos den Raum und ließ sich leise seufzend auf seinen mit schwarzen Kunstleder überzogenen Schreibtischstuhl fallen. Teilnahmslos lehnte er sich zurück, hob die Füße auf seinen Tisch und beobachtete die durch sein Büro laufende Direktorin. Ihre gezeterten Worte konnte er kaum verstehen. Ihre Stimme wechselte sich in einem fast unmöglichen Tempo zwischen Schreien, Kreischen und Fluchen ab.

 

„Sie müssen etwas gegen dieses Mädchen unternehmen, Tavi“, befahl sie düster und lehnte sich über den Sekretär, sodass sie dem Drachen einen zu genauen Blick in ihr Dekolleté gewährte. „Yoshimi muss gestoppt werden, bevor sie noch einen Aufstand anzettelt.“

 

Miro blieb gelassen, knackte mit den Halswirbeln und schob den Stuhl unauffällig um einige wenige Millimeter zurück. „Holen Sie erstmal nach Luft, bevor Sie ersticken“, erklärte er unbeeindruckt und die von ihm angesprochene Person stutzte. „Sie machen mir den Eindruck einer Gefängniswärterin und nicht der einer Schuldirektorin.“

 

Sie setzte ein boshaftes Grinsen auf. „Vielleicht bin ich das?“

 

Miro neigte den Kopf zur Seite, strich sich durch die Haare und warf einen Blick auf seine hinter ihm an der Wand hängenden Notizen. Er musste für den morgigen Tag noch einen Test vorbereiten, der sich auf den heutigen Unterrichtsstoff bezog und sein unangekündigter Besuch bestahl ihm um seine wertvolle Zeit. Zudem hatte er noch eine Verabredung. Um nichts auf der Welt wollte er sein Rendezvous verpassen und damit der Gelegenheit entgehen, dieser Traumtänzerin die ganze Härte der Realität vor Augen zu führen.

 

Der Drache zwang seine Gedanken in die Realität zurück, richtete seinen Blick auf die in Grübeleien verfallende Direktorin und musterte die schon allzu bekannte Auswahl ihres gut sitzenden Kostüms. Der Ansatz ihres schwarzen Spitzen-BHs quoll aus dem zu tiefen Ausschnitt, der enge Stoff schien ihre üppige Oberweite kaum zu bändigen und der Saum ihres Rock reichte ihr nur knapp über den Hintern. Er fragte sich ungewollt, ob sie sich noch immer etwas von ihm erhoffte oder ob sie den Wunsch inzwischen aufgab?

 

Sie hieß Anna McLeod. Ein gewöhnlicher Name für eine Schottin. Zudem sprachen ihre roten Haare und die grünen Augen, wenn es auch in der heutigen Zeit nicht mehr zu Alltag gehörte, unverkennbar für ihre Herkunft. Aber sie gehörte nicht zur Norm. Zumindest nicht, wenn es nach den Menschen ging. Denn die Direktorin dieser Schule war ein Vampir. Ihre Immunität gegen das Sonnenlicht, blieb ihm allerdings ein Rätsel und er hatte beschlossen, dass es ihn nicht weiter interessierte.

 

„Und zu was macht mich das?“

 

Anna richtete sich auf, verschränkte die Arme vor der Brust und trat abermals zum Fenster. „Zu einem Handlanger“, gab sie gefühllos zurück und Miro legte die Stirn in Falten. „Du hast das zu tun, was ich dir sage. Also verbock es nicht, Tavi.“

 

„Jawohl“, erwiderte er finster, wissend, dass er sich ihren Anweisungen nicht beugen wollte.

 

***

 

Kazuya hob den Kopf, strich sich eine in die Stirn gefallene Haarsträhne hinters Ohr und schob nachdenklich den Schreibtischstuhl zurück. Sie stand auf, ging zum Fenster und legte die Finger an das kühle Glas der Scheibe. Sie betrachte die am dunklen Firmament leuchtenden Sterne, biss sich auf die Lippe und rief sich die von ihrer Mutter erzählte Geschichte in Erinnerung. Auf dieser Insel hatten die Vertreter verschiedener Rassen Zuflucht vor den strengen, auf dem Festland herrschenden Gesetzen gesucht.

 

Vampire, Werwölfe, Feen, Dämonen, Engel, Gestaltwandler und selbst Basilisken lebten mit den Menschen friedlich zusammen. Eine, wie es in den größeren Stätten öfter vorzukommen schien, Artenfeindlichkeit gab es an diesem Ort nicht. Und sie alle respektierten und fürchteten sich vor der Einzigen, an diesem Fleckchen Erde lebenden Bedrohung. Ein Drachen. Doch ihr von Miro gemachtes Bild entsprach nicht den Tatsachen. Die in der Schule kursierenden Gerüchte ergaben absolut keinen Sinn.

 

Die Lehrmethode des Drachen war vielleicht hart, aber fair. Er nutzte nicht die Angst der Schüler, um sich den gebührenden Respekt zu erzwingen. Stattdessen wandte er umgekehrte Psychologie und kleinere Tricks an. Kazuya musste sich ungewollt eingestehen, dass sie ihn dafür bewunderte. Hätte sie sich an seiner Stelle einen Funken Menschlichkeit bewahren können? Eine Frage, die ihren Geist beschäftigte. Erst als ein Geräusch aus dem unteren Stockwerk ihre Aufmerksam erregte, verschwanden ihre Überlegungen.

 

Das Mädchen schlüpfte in ihre weißen Hausschuhe, öffnete ihre Zimmertür um wenige Millimeter und warf einen furchtsamen Blick auf den in dunkeln liegenden Flur. Schwaches Licht erhellte die einzelnen Stufen des aus dunklem Eichenholz bestehenden Treppenaufgangs, gedämpfte Stimmen erreichten ihre viel zu empfindlichen Ohren und Kazuya brauchte einen Moment, um sich an den Klang schon vertrauter Schritte zu gewöhnen. Der Hals trocknete ihr aus und sie fühlte sich wie betäubt.

 

Auf zitternden Knien lief sie ins Erdgeschoss, näherte sich vorsichtig der zur Küche gehörenden Theke und blieb wie vom Blitz getroffen stehen. Sie wollte etwas sagen, doch sie brachte keinen Ton hervor. Miro, dieser arrogante, unausstehliche Drache, lehnte sich mit nacktem Oberkörper gegen den Kühlschrank, hob eine geöffnete Packung mit Orangensaft an seine Lippen und sah emotionslos zu ihrer Mutter, die mit einem Lächeln und nur leicht bekleidet neben dem Esstisch stand.

 

Chiyoko kicherte wie ein verliebtes Schulmädchen, strich sich durch die dichten, schwarzen Haare und zupfte an dem Stoff eines weißen Negligees, das ihre türkisfarbenen Dessous betonte. Kazuya glaubte den Boden unter den Füßen zu verlieren, der Magen stülpte sich ihr um und sie stolperte erschrocken einen Schritt zurück. Ihr Verstand arbeitete mit der Präzision eines Uhrwerks, ihre Sinne schärften sich wie die Klingen japanischer Meisterschwerter und sie nahm plötzlich etwas wahr, das sie nicht erklären konnte.

 

Es war wie eine nicht fassbare Präsenz. Aber nicht um sie herum, sondern ganz tief in ihr. Ähnlich einem fremden und doch seltsam tröstlichen Beschützer. Der Drache drehte sich betont langsam zu ihr um, seine goldenen Augen schimmerten im Licht der Deckenlampe unheilverkündend und Kazuya gefror das Blut in den Adern. Er ließ ihr absichtlich Zeit. Sie sollte die Situation begreifen. Eine Realität, der sie sich ganz unvorbereitet stellen musste und sie begann ihre gefasste Meinung zu revidieren.

 

Er war wirklich ein Scheusal. Miro prostete ihr spöttisch zu, Chiyoko wich das Blut aus den Wangen und Kazuya erhob sich mühevoll auf die Füße. Konnte dieser Tag überhaupt noch schlimmer werden? Der Drache zeigte wohl mit ihrer leichenblasse Mutter erbarmen, denn er schob die junge Frau hinter seinen Rücken und bedachte seine Schülerin mit einem fast wahnsinnigen Lächeln. In der Ferne schlug die Turmuhr Mitternacht und der versprochene Regen setzte endlich ein.

 

„Das ist wirklich zu viel für die Augen“, erklärte Miro gespielt angewidert und Kazuya hob verwirrt eine feine Augenbraue. Er stellte die angefangene Saftpackung zur Seite, begab sich in das angrenzende Wohnzimmer und knackte mit den Halswirbeln. „Vielleicht solltest du dir etwas anziehen.“

 

Das angesprochene Mädchen senkte wie hypnotisiert ganz langsam den Kopf, ihr Blick strich über ihren nur mit Unterwäsche bekleideten Körper hinweg und sie fühlte sich von einer Sekunden zur nächsten heftig erröten. „Ich wohne hier, du hirnkranker Idiot“, fauchte sie wie eine gereizte Katze, holte wutentbrannt mit der Hand aus und schlug sie dem Drachen ins Gesicht. „Scher dich doch zum Teufel!“

 

Chiyoko rannte panisch zu ihrer Tochter, fasste nach ihren schmalen Schultern und versuchte sie mit einem sanften Lächeln zu beschwichtigen. „Er wollte ohnehin gerade gehen“, rief sie atemlos und Miro legte die Stirn in Falten. Seine gleichbleibend emotionslosen Züge verdunkelten sich. „Stimmt doch, nicht wahr, Herr Tavi?“

 

Der angesprochene Drache überging die an ihn gerichtete Frage, heftete seine Augen auf Kazuya und zuckte scheinbar gelangweilt die Schultern. „Nun, ich befürchte, deine Schulakte wird sich in diesem Jahr nicht nur auf ein einziges Blatt beschränken, Yoshimi.“

 

Dem Mädchen stand vor Fassungslosigkeit der Mund offen. Eine Wut, die zu beschreiben ihr verwehrt blieb, kämpfte hartnäckig um Beachtung und sie ballte zähneknirschend die Fäuste. Miro schien ihren nur zu offensichtlichen Zorn mit Genugtuung zur Kenntnis zu nehmen, denn er streckte den Arm nach ihr aus und strich ihr mit den Fingern durch die blonden Strähnen ihrer zusammengebundenen Haare. Als wollte er ein weinendes Kind beruhigen, das sich beim Spielen das Knie am Asphalt aufschlug.

 

Kazuya schlug seine Hand zur Seite, holte nach Luft und brauchte ihre ganze Willensstärke um diesem unverschämten Drachen nicht zu erwürgen. „Mama“, sagte sie zwischen Hass und Verachtung hin und her gerissen. Sie ignorierte die eindringlichen Worte ihrer Mutter, fixierte ihren im Wohnzimmer stehenden Lehrer und fügte verärgert hinzu: „Würdest du mir das Bitte erklären?“

 

Chiyoko schien ratlos. Sie warf Miro einen zögernden Blick zu, errötete bis zu den Haarspitzen und schien jeden Moment vor Scham im Erdboden zu versinken. Ihre Mutter wich zurück, gestikulierte hilflos mit den Händen und gab ihrer Tochter ein weiteres Mal das unleugbare Gefühl, einem unbeholfenen Kind gegenüber zu stehen. Die Schülerin schnaufte verächtlich, grub die Zehenspitzen in den unnachgiebigen Teppichboden und verschränkte die Arme vor der Brust.

 

Kazuya musste sich nicht nur um ihre naive Mutter kümmern. Sie traf alle wichtigen Entscheidungen, erledigte gewissenhaft die im Haushalt anfallenden Arbeiten und konzentrierte sich nebenbei auf die Schule. Ihr Alltag verwandelte sich in einen Albtraum, der denen von Drogensüchtigen gefährlich nahe kam. Chiyoko hatte verlernt, auf eigenen Beinen zu stehen. Bodenständig zu bleiben. Sie glich mehr einem quengelndem Baby als einem verantwortungsbewussten Erwachsenen.

 

„Ich kann dir das irgendwie nicht erklären“ erzählte sie hastig und Kazuya verengte die Augen zu zwei schmalen Schlitzen. Chiyoko sackte sprichwörtlich in sich zusammen, wich zurück und setzte sich auf die Lehne der Couch. „Es ist einfach passiert.“

 

Die Schülerin massierte sich mit den Fingerspitzen die Schläfen, sog die abgestandene Luft tief in ihre Lungen und unterdrückte die in ihr aufsteigenden Kopfschmerzen: „Es ist einfach passiert“, widerholte sie die Worte ihrer Mutter, richtete ihre Augen erneut auf den Drachen und machte einen Schritt in seine Richtung. „Du schläfst also mit meinem Lehrer? Würdest du mir auch freundlicherweise Verraten, wie lange das mit euch beiden schon läuft?“

 

Ihre Mutter überlegte für einen Moment, wippte mit den Beinen und schenkte ihrer Tochter ein breites Lächeln. „Seit ungefähr 7 Monaten“, erklärte sie aufgeregt, als handelte sich um eine unglaublich wertvolle Entdeckung. „Ich war bisher immer bei ihm, deswegen hast du es nicht bemerkt.“

 

„Jetzt weiß ich wenigstens, was du mit länger arbeiten meinst“, erwiderte Kazuya düster. Sie wusste, dass ihre Mutter schon über einen längeren Zeitraum hinweg einen Liebhaber suchte, aber nicht, dass sie ihren Bettgefährten in dem Drachen fand. Eine Nachricht, die ihr den Boden unter den Füßen wegzureißen drohte. Die Schülerin räusperte sich und versuchte ihre Fassung nicht zu verlieren. „Und … Liebt ihr euch?“

 

Chiyoko errötete ein weiteres Mal, senkte den Kopf und hob abwehrend die Hand. Für Kazuya eine klar zu verstehende Geste. „N-nein, es ist nur S-sex“, stammelte ihre Mutter panisch und die Schülerin sah misstrauisch geworden abermals zu dem Drachen. „Um mehr geht es nicht.“

 

Kazuya straffte die Schultern. Diese Antwort war alles, nur nicht zufriedenstellend. Deswegen fuhr sie härtere Geschütze auf, fasste nach dem schmalen Handgelenk ihrer Mutter und zog sie auf die Füße. „Sex ist mehr als reine Triebbefriedigung“, erläuterte sie unnötigerweise und Chiyoko schielte zwischen den dichten Ponyfranzen hindurch zu ihrer Tochter. „Zumindest sagen das die Erwachsenen und warst du es nicht, die mich stets ermahnt hat, meine Unschuld nur dem Einen zu schenken?“

 

Die Schülerin vernahm ein unterdrücktes Kichern, wirbelte zornig auf dem Absatz herum und ballte die Fäuste. Miro brach vor Lachen fast zusammen. Er stützte sich auf der Theke ab, presste verkrampft sie Lippen zusammen und betrachtete Kazuya mit einem belustigten Funkeln. Sie stampfte mit dem Fuß auf, riss ihm mit zusammen gebissenen Zähnen an den Haaren und hämmerte mit ihren Händen auf seine Brust ein. Erst in dieser Sekunde wurde ihr erneut bewusst, wie klein sie eigentlich war.

 

Verstört stellte sie ihre sinnlosen Angriffe ein. „Da spricht die klassische Jungfrau“, steuerte er dem zuvor geführten Gespräch bei und Kazuya suchte auf zitternden Knien Abstand. „Das ist Unsinn. Wenn du neugierig bist, brauchst du nicht zu warten. Es gibt keinen Mr. Right und er wird dich auch nicht in strahlender Rüstung auf einem weißen Pferd in irgendeine farbenfrohe Klischee Welt entführen, mit Regenbögen, Einhörnern und singenden Schmetterlingen. Es wird irgendein heruntergekommener Kerl mit zerfetzten Jeans und einem grauen Kapuzenpullover sein, der dir ewige Liebe schwört und sobald er dich im Bett hatte, wird er am nächsten Morgen verschwunden sein.“

 

Kazuya fand durch seine verletzenden Worte ihren verloren gegangenen Mut und Zorn wieder. Sie wollte es nicht hören. Sie konnte es nicht ertragen. Eine grausame Wahrheit, über die sie sich selbst bereits den Kopf zerbrochen hatte. Worin fanden die zwischen Menschen ausgetauschten Intimitäten ihre Berechtigung, wenn es nur um den Spaß ging? Sollte es nicht ein Moment sein, der nur den Liebenden allein gehörte? Es war nur ein schöner Traum, der wie eine Seifenblase zerplatzte.

 

Spätestens nachdem sie die Illusion eines fürsorglichen, auf dem Festland lebenden Vater hinter sich lassen konnte. Auch ihre Eltern hatten sich nur wenig um ihre Gefühle geschert. Es war ein Geschäft gewesen. Ein Geschäft mit dem menschlichen Körper. Das daraus resultierende Kind und seine Empfindungen spielten dabei keine Rolle. Kazuya riss sich mit Gewalt aus ihren bedrückenden Gedankengängen, straffte würdevoll die Schultern und entschied sich dazu, Miro erneut die Stirn zu bieten.

 

Ein Grinsen zuckte um ihre Mundwinkel, ihre Augen blitzten wissend auf und mit den Armen vor der Brust verschränkt, begann sie das Wohnzimmer in entgegen gesetzter Richtung zu verlassen. „Verstehe“, sagte sie spottend und Miro wurde hellhörig. „Du meinst so wie du.“

 

Seine Augenbrauen schnellten in die Höhe und noch bevor Kazuya nach dem Treppengelände fassen konnte, erreichte seine Antwort ihre Ohren. „Ich habe deiner Mutter keine ewige Liebe geschworen.“

 

Eine Erwiderung hielt sie für Überflüssig. Sie warf einen letzten Blick zu ihrer Mutter, setzte ihren Fuß auf die erste Stufe und begab sich nachdenklich in das von ihr dekorierte Zimmer. Sie betrachtete die Lampe auf ihrem Schreibtisch, seufzte resigniert und ließ sich, mit den Händen hinter dem Kopf verschränkt auf ihr weiches Bett fallen. Sie fühlte sich innerlich so leer. Kazuya rollte sich auf die Seite, zog die Knie an ihre Brust und lauschte auf die aus dem Erdgeschoss zu ihr dringenden Geräusche.

 

Eine Tür wurde geöffnet und wieder geschlossen. Sie hörte schluchzen, gefolgt von dem unverwechselbaren Klirren einer Porzellantasse und während sich das rhythmische Hämmern der Regentropfen unter das leises Weinen ihrer Mutter mischte, biss sich die Schülern fest auf die Lippe. Sie verkrallte ihre Finger in den Stoff ihrer Decke, vergrub das Gesicht im Kissen und versuchte die auf sie niederhagelnden Töne auszusperren. Sie war nur ein Kind. Sie konnte Chiyoko nicht vor den Schmerz der Liebe bewahren.

 

Und doch konnte sie nicht verhindern, dass sie für ihren Schmerz die Verantwortung trug. Ihre unnötige Diskussion mit Miro hatte zu der qualvollen Enthüllung der unleugbaren Wahrheit geführt. Kazuya erhob sich antriebslos auf ihre Füße, verließ den Raum und kehrte in das Wohnzimmer zurück. Chiyoko saß auf dem Sofa, ihre Schminke war von den Tränen verschmiert und ihre Schultern bebten. Die Schülerin begab sich an die Seite ihrer Mutter, zog sie in ihre Arme und strich ihr schweigend über den Rücken.

 

„Er ist es nicht wert, Mama.“

 

~Fortsetzung folgt~


Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich kann euch leider nicht sagen, wann ich dazu komme, das nächste Kapitel zu schreiben. Aber ich hoffe, ihr bleibt mir treu :) Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (3)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  fahnm
2015-07-08T02:08:22+00:00 08.07.2015 04:08
Hammer Kapitel
Von:  fahnm
2015-06-24T00:19:38+00:00 24.06.2015 02:19
Spitzen Kapitel
Von:  EinLilianPro
2012-05-06T16:36:06+00:00 06.05.2012 18:36
hey...
ich bin zufällig auch deine geschichte gestoßen...
und obwohl sie leider nur ein kapitel hat und sie pausiert ist...
hoffe ich das du weiter schreibst...
die Beschreibung und die Einleitung bringen Lust auf mehr...
und man ist gespannt wie die geschichte abläuft..
hoffe du schreibst i-wann weiter...

LG...ELP


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