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Verschlungene Pfade

von

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„Dominik!“

Genervt schlug ich die Augen auf. In diesem Haus einmal eine halbe Stunde Ruhe zu haben, war schlicht unvorstellbar. Irgendwer schaffte es immer, mir auf die Nerven zu gehen. Selbst beim Sterben würden sie mich noch stören.

In diesem Fall war es meine Mutter, die mich davon abhielt, einfach für ein paar Minuten die Beine hochzulegen und zu entspannen.

Trotzig schloss ich meine Augen wieder. Meine Mutter würde schon hartnäckig bleiben, sollte es etwas Wichtiges sein. Ansonsten hoffte ich auf ihren mütterlichen Instinkt. Der ihr doch bitte sagen sollte, dass sie ihren 22-jährigen Sohn gern eine halbe Stunde schlafen lassen könnte. Leider hatte ihr Instinkt gerade keine große Lust, sich mit ihr zu unterhalten.

Natürlich blieb sie hartnäckig.

Erneut rief sie aus dem unteren Stockwerk nach mir.

Wieso kamen Eltern niemals auf die Idee, ein paar Treppenstufen zu gehen und allen Hausbewohnern das Gebrüll zu ersparen? Zugegeben, momentan war, außer mir und meiner Mutter, wohl niemand im Haus... aber trotzdem...
 

Seufzend warf ich die Beine vom Bett und richtete mich auf.

Noch bevor ich die Tür erreichte, ertönte die Stimme meiner Mutter schon wieder. Dieses Mal bereits deutlich ungeduldiger.

„DOMINIK! Telefon!“

Nun verdrehte ich die Augen. Schon gefühlte hundert Mal hatte ich versucht, meiner Mutter zu erklären, dass sie sich mit dem schnurlosen Telefon ohne Weiteres von der Station entfernen konnte. Doch meine Mutter war nicht in der Lage, den Sinn der Abwesenheit eines Kabels zu verstehen und inzwischen hätte ich es aufgeben sollen, sie darauf hinzuweisen Es war eigentlich sinnlos. Doch irgendwie versuchte ich es immer wieder.

Unschlüssig, ob ich meinen Ärger gegen meine Mutter, oder den Anrufer richten sollte, ging ich hinunter.
 

„Ihr müsst unbedingt mal wieder zum Abendessen zu uns kommen“, hörte ich meine Mutter nun gerade sagen.

Obwohl ich ahnte, wer sich am anderen Ende der Leitung befand, waren die Möglichkeiten auch nach dieser Einladung noch sehr zahlreich. Meine Mutter war eine begeisterte Gastgeberin. Sie lud gern Freunde zum Essen ein und sie hatte viele Freunde, die auch regelmäßig in den Genuss einer Einladung kamen.

Ich verspürte schnell eine leichte Ungeduld. Noch vor ein paar Augenblicken konnte es ihr nicht schnell genug gehen, dass ich hinunter kam und nun durfte ich ihrem Smalltalk lauschen.

„Sehen wir dich heute noch?“

In diesem Moment war ich mir sicher, dass ich mit meinem Verdacht richtig lag. Meine Mutter sprach offensichtlich mit Leonie.

Während Brigitte Schilling ihre lieben Probleme mit schnurlosen Telefonen hatte, weigerte sich meine Freundin Leonie, mich auf dem Handy anzurufen.

Eine einzige Frau in meinem Leben, die ein untypisches Telefon-Verhalten an den Tag legte, war schließlich nicht genug.

Vielleicht machte es Leonie auch einfach nur Spaß, mich durch das Haus scheuchen zu lassen. Meine Freundin hatte definitiv eine sadistische Ader.
 

Nach einigem Räuspern schaffte ich es tatsächlich, die Aufmerksamkeit meiner Mutter zu erlangen und sie schien sich daran zu erinnern, dass der Anruf ursprünglich gar nicht ihr gegolten hatte.

Mit einem aufgesetzten Grinsen nahm ich ihr das Telefon aus der Hand und entfernte mich demonstrativ von der Ladestation um wieder in mein Zimmer zu gehen.

„Und? Sehen meine Eltern dich heute noch?“, fragte ich, während ich die Treppe hinauf ging.

„Netter Versuch, Süßer“, erwiderte Leonie lachend.

„Man soll die Hoffnung ja nie aufgeben“, murmelte ich widerwillig, „Und du bist sicher, dass wir nicht zuhause bleiben und einen DVD-Abend machen wollen?“

Doch auch dieser Versuch blieb erfolglos.

„Das zieht nicht, mein Lieber.“ Leonie war erbarmungslos.

„Kannst du mir nochmal erklären, warum ich zugesagt habe?“ Ich gab mir nicht einmal Mühe meinen Unmut zu verbergen.

Wieder lachte meine Freundin ins Telefon.

„Weil du mir damit eine riesige Freude machen willst. Und weil es Zeit wird, dass du Tamilo auch kennen lernst.“

„Stimmt ja. Der großartige Tamilo Mertens. Mal im Ernst: wie toll kann ein Kerl sein,der den Fehler macht, sich auf Caroline einzulassen?“

„Na, nun werde nicht unfair, Nik. So schlimm ist Caro doch nun auch wieder nicht. Sie hat Fehler gemacht, aber ich finde, sie hat eine zweite Chance verdient“, nahm Leonie ihre Freundin in Schutz.

Ich hatte nie verstanden, warum ihr so viel an dieser Freundschaft lag.

„Reden wir über die selbe Caroline? Sie ist die verwöhnteste und hinterhältigste Person die ich kenne“, widersprach ich.

„Ach Süßer, du stehst den Abend schon durch. Ich bin mir sicher, dass du dich mit Milo wunderbar verstehen wirst“, sprach sie sanft auf mich ein.

„Werde ich das? Wieso? Kann er sie auch nicht leiden?“

Ich war mir durchaus darüber im Klaren, dass ich alles Andere als nett war, doch Leonie sah, wie meistens, darüber hinweg und fand es scheinbar sogar amüsant.

„Ehrlich gesagt, glaube ich nicht, dass Milo seiner Freundin gegenüber eine ähnliche Abneigung verspürt, wie du es tust.“

Ich grummelte etwas Unverständliches.

„Na komm, wir gehen doch nur gemütlich etwas Trinken.“
 

Wie immer setzte Leonie ihren Willen durch. Und so stand ich zwei Stunden später vor ihrer Haustür. 'Freitag' war schlicht in die goldene Tafel eingraviert, die über der Klingel angebracht war.

Ein letztes Mal überlegte ich, wie ich es anstellen konnte, dass die Verabredung an diesem Abend ausfallen würde, bevor ich schließlich aufgab und an der Tür läutete.

Es gab nicht vieles, was mir noch weniger zusagen würde, als einen ganzen Abend mit Caroline Seebacher zu verbringen.

Wie hatte es Leonie nur geschafft, mich dazu zu überreden?

Nun musste ich da durch. Und irgendwie war ich tatsächlich neugierig, was für ein Kerl es mit Caroline aushielt. Immerhin schon seit... vier oder fünf Wochen.

Ich an Tamilos Stelle, würde vermutlich bereits nach nur einer Woche mit Caroline in lebenslängliche Haft gehen.

Ich war einfach nur froh, dass mit Leonie alles unkompliziert war.

Deren Mutter öffnete nun die Haustür und ein warmes Lächeln empfing mich.

„Dominik. Schön dich zu sehen. Komm rein, Leni ist gleich fertig“

Ich hatte nur einmal den Fehler begangen, meine Freundin Leni zu nennen. Zu sagen, dass sie diese Kurzform ihres Namens nicht besonders schätzte, war eine ähnlich große Untertreibung, wie die Feststellung, die Winter in Russland könnten frisch werden.

„Hallo Susanne. Ich soll dir liebe Grüße von meiner Mutter bestellen.“

„Danke, mein Lieber. Wir müssen unbedingt mal wieder zusammen zu Abend essen“, erwiderte sie lächelnd.

„Ja, das hat meine Mutter auch schon gesagt.“

Ich mochte Leonies Eltern. Schon bevor ich mit ihr zusammengekommen war, fühlte ich mich in diesem Haus immer willkommen.

Seit ich denken konnte, war ich mit Leonie befreundet. Wir waren häufig zusammen unterwegs und es kam oft vor, dass je nachdem, wo wir dann geschlafen hatten, ein Frühstücksgedeck mehr auf dem Tisch stand. Alles war rein platonisch. Eine Vorzeige-Freundschaft zwischen Junge und Mädchen.
 

An einem Morgen vor beinahe drei Jahren hatte ich die Augen aufgeschlagen und Leonie hatte nackt in meinen Armen gelegen.

Seit dieser Nacht waren wir ein Paar gewesen.

Es war kein Feuerwerk der Gefühle gewesen, von dem so viele Menschen schwärmten. Aber es hatte schon immer eine Vertrautheit zwischen uns geherrscht, um die uns viele unserer Freunde beneideten.

Keine überschwänglichen Gefühle, dafür aber auch keine Dramen. Es hatte nie Eifersuchtsszenen gegeben. Keine Streits wegen versäumten Jahrestagen.

Selbst meine Abneigung gegenüber Caroline hatte nie zu einem ernsthaften Konflikt geführt.

Unsere Beziehung war das, was man wohl solide nennen konnte.

Ich vermutete, dass sowohl meine Eltern, als auch die Freitags hofften, in den nächsten Jahren eine Hochzeit feiern zu dürfen.

Gegen diese Vorstellung wehrte ich mich. Ich fühlte mich noch nicht wirklich bereit für die Ehe. Wer tat das schon ernsthaft mit 22? Es lag nicht an Leonie. Vielleicht würde sie wirklich irgendwann meine Frau und Mutter unserer gemeinsamen Kinder sein. Doch darüber wollte ich eigentlich noch gar nicht nachdenken. An unserem Verhältnis hatte sich in den letzten drei Jahren kaum etwas verändert. Noch immer waren wir die besten Freunde. Mit dem kleinen Unterschied, dass wir seit drei Jahren gelegentlich miteinander schliefen.

Ich liebte Leonie. Auch, wenn es niemals eine stürmische Liebe gewesen war, so waren die Gefühle trotzdem echt.

Ich war mir sicher, dass Leonie unsere Beziehung genauso sah. Angesprochen hatte ich das Thema nie. Sollte ich mich doch irren, was ihre Empfindungen anging, so sollte sie das niemals erfahren, denn verletzen wollte ich sie nicht. Ich wollte meiner Freundin schließlich nicht vor den Kopf stoßen, indem ich ihr eröffnete, dass meine Gefühle ihr gegenüber sich deutlich von ihren unterschieden. Ich fühlte mich in dieser Beziehung sicher und wollte auch, dass das so blieb.
 

„Hey!“ Zärtlich hauchte Leonie mir einen Kuss auf die Schläfe. Ich war im Gespräch mit ihrer Mutter vertieft, und hatte ihr Kommen erst in diesem Moment wahrgenommen. Lächelnd drehte ich mich zu Leonie um und musterte sie kurz, bevor ich sie zu einer Umarmung in meine Arme zog. „Du siehst toll aus“, sagte ich leise an ihrem Ohr.

Und es stimmte. Leonie war eines der Mädchen, die jede erdenkliche Modesünde begehen könnte und jeden dazu bringen würde, eben diesen Stil zu kopieren.

Sie war nur einen halben Kopf kleiner als ich. Ihre langen hellbraunen Haare hatte sie locker hochgesteckt. Lange Wimpern umrahmten ihre dunkelgrauen Augen, die von einem noch dunkleren Kranz eingegrenzt wurden. Trotz dieser eigentlich kühlen Farbe strahlten sie eine bemerkenswerte Wärme aus. In ihrem Blick war keine Kälte zu finden. Überhaupt hatte Leonie eine sehr sanfte Ausstrahlung.

Abgesehen von dem unauffälligen Lippenstift, den sie aufgetragen hatte, war sie ungeschminkt. Sie hatte helle gleichmäßige Haut und nur vereinzelt verirrte sich eine einsame Sommersprosse auf ihrem Gesicht. Sie hatte nie versucht, sich die fehlende Bräune in einem Solarium zu holen.

Schon in der Schule hatte ich die bewundernden Blicke anderer Mädchen wahrgenommen. Sie war immer ein Mädchen gewesen, nach dem sich beide Geschlechter umgedreht hatten.

Ich selbst fand sie schon immer hübsch. Doch hatte ich sie niemals mit diesen Augen gesehen. Ab und zu fragte ich mich, ob es bei ihr anders gewesen war... vor dieser Nacht, die alles veränderte.

Bis heute konnte ich diese Frage nicht beantworten. Vielleicht würde ich sie irgendwann fragen, vielleicht würde ich es auch niemals erfahren.

Viele Worte hatten wir damals sowieso nicht verloren.

Dabei wurde sonst selten ein Thema ausgelassen.

Auch unsere Familien hatten es einfach so hingenommen, als hätte sich nichts Weltbewegendes geändert. Vielleicht hatten auch alle nur darauf gewartet und hatten Angst, uns mit zu offensichtlicher Freude in die Flucht zu schlagen.
 

„Also dann, bringen wir es hinter uns“, grummelte ich und leerte mit einem letzten Schluck die Tasse Kaffee, die Susanne mir wie immer hingestellt hatte.

„Pass auf, dass du dich vor Begeisterung nicht überschlägst“, grinste diese.

Nicht nur einmal hatte ich das Gefühl gehabt, dass Leonies Mutter meine Meinung über Caroline teilte. Doch ich wusste, dass sie das niemals offen sagen würde.

Also setzte ich nur einen leidenden Gesichtsausdruck auf.

„Danke für die Henkersmahlzeit, Susanne.“, sagte ich, deutete auf die leere Kaffeetasse und umarmte sie kurz.

„Ich wünsche euch viel Spaß“, erwiderte sie lachend und klopfte mir aufmunternd auf die Schulter.

Minuten später saßen wir im Auto und mir fiel es immer schwerer, meinen Unmut zu verbergen.

„Ausgerechnet ins Academy ... die Idee ist so unglaublich gut, die kann nur von Caroline kommen. Das ist die perfekte Umgebung um sich zu unterhalten und Tamilo ein wenig über sein bisheriges Leben auszufragen, so laut wie es da ist“, spottete ich.

„Bisher hatten wir noch nie Probleme, uns im Academy zu verständigen“, erwiderte Leonie knapp.
 

Ich verzichtete darauf, zu widersprechen. Eigentlich hatte Leonie recht. Ich wollte da einfach nicht hin. Anstatt sie mit weiteren bissigen Kommentaren zu provozieren, schwieg ich.

Unaufhaltsam brachte uns mein Auto unserem Ziel immer näher. Ausgerechnet heute erwischten wir natürlich die unglaublich tolle grüne Welle. Selbst das beschissene Ampelsystem arbeitete gegen mich. Konnte das nicht an anderen Tagen passieren? Viel zu schnell kamen wir im Rotlichtviertel an und ich konzentrierte mich darauf, ein Parkhaus zu finden, das nicht voll war. Samstags war die Parkhaussituation in Hamburg unberechenbar. Vor allem auf der Reeperbahn. Es kam nicht oft vor, dass ich mich dem Kiez mit meinem Auto näherte. Dorthin ging ich nämlich nur, um mit meinen Freunden gelegentlich etwas zu trinken und zu feiern. Doch heute hielt ich Alkohol für keine gute Idee. Es fiel mir deutlich schwerer, verbale Giftspritzen in Carolines Richtung zu vermeiden, wenn ich Alkohol getrunken hatte.

Es fiel mir ja ohne Alkohol schon nicht leicht.

Leonie hatte meinen Entschluss, mit dem Auto zu fahren, daher mehr als begrüßt.
 

Natürlich hatten wir heute Glück und wir fanden auf Anhieb einen Parkplatz in der nächstgelegenen Parkgarage.

Unnötig zu erwähnen, wie begeistert ich davon war. Mir wäre es lieber gewesen, wenn wir länger hätten suchen müssen. Dafür hatte der nahe Parkplatz den Vorteil, dass der Fluchtweg am Ende des Abends nicht allzu weit war.

Doch jeder Schritt brachte mich diesem Albtraum von Frau näher.

Ich hatte absolut nichts für Caroline übrig und das hatte sie sich definitiv selbst zuzuschreiben.

„Du siehst aus, als würde ich dich zu einer Magenspiegelung zerren“, kam es mürrisch von Leonie.

„Drei Mal darfst du raten, welche Option mir gerade besser gefallen würde“, rutschte es mir heraus, bevor ich mir auf die Zunge beißen konnte.

„Ich habe gehofft, dass du dich besser zusammenreißen kannst“, seufzte sie. „Nun hoffe ich nur noch, dass du nicht übertreibst, und dich wenigstens mit Milo verstehst.“

„Pass auf, wenn ich ihn wirklich mag, rate ich ihm, sich schnellstmöglich von Caro zu trennen. Was hältst du davon?“

Inzwischen waren wir vor dem Irish Pub angekommen. Da ich in meiner aufgeheizten Stimmung den beiden Wartenden lieber noch nicht entgegentreten wollte, zündete ich mir eine Zigarette an.

„Bitte versuch dich zusammenzureißen.“, bat Leonie mich eindringlich.

„Natürlich werde ich Tamilo nicht als Erstes raten sich wieder von Caro zu trennen. Früher oder später hintergeht sie ihn ja sowieso“, stellte ich in betont freundlichem Tonfall fest.

Leonie seufzte nur, sagte aber nichts darauf.

Es war ja nicht so, als hätte Caroline in der Vergangenheit nicht bereits höchst eindrucksvoll bewiesen, dass sie dazu in der Lage ist.
 

Leonie wartete schweigend, während ich meine Zigarette rauchte und zog mich dann an der Hand in den Pub.

Kaum öffnete sie die Tür, überschwemmten uns laute Musik, ausgelassenes Gelächter der feiernden Gäste und Zigarettenqualm. Eine Mischung, die mich sonst nie störte, doch heute fühlte ich mich irgendwie unwohl in dem Gedränge.

Normalerweise war ich gerne hier, doch heute fühlte ich mich eingeengt.

Gesprächsfetzen und lautes Lachen stürzten von allen Seiten auf mich ein. Es war, als wollte mich jeder der Gäste sofort an seinem Gespräch teilhaben lassen.

Leonie zog mich tiefer ins Gedränge. Vermutlich hatte sie die beiden schon entdeckt. Ich hatte zwar kurz suchend den Blick schweifen lassen, doch war ich mir dadurch der Menschenmasse nur noch bewusster geworden. Ich hatte es dann doch vorgezogen, mich einfach auf die nächsten Schritte zu konzentrieren und darauf, jeden unnötigen Körperkontakt mit den Feiernden zu vermeiden.
 

Nach einer gefühlten Ewigkeit kamen wir an unserem unliebsamen Ziel an.

Glücklicherweise hatten Caroline und Tamilo einen kleinen Tisch ergattern können. Und wie durch ein Wunder hatten sie es sogar geschafft, die zwei freien Plätze am Tisch zu verteidigen.

Ich ließ mich dankbar auf einen der freien Stühle fallen und rieb mir kurz über das Gesicht. Erst dann nickte ich Caroline knapp zu. „N‘abend Caro“, sagte ich kühl.

„Hey Domi“, erwiderte sie den Gruß leise.

Wie immer spielte Caroline das arme, verletzliche Mädchen. Doch ich ließ mich davon nicht täuschen. Ihre großen blauen Augen und ihren Schmollmund konnte sie nutzen, um andere Männer zu verarschen. Ich ließ mich nicht hinters Licht führen. Nicht von ihr.

Der scheue Gesichtsausdruck wich einem erleichterten Lächeln, als sie Leonie umarmte. Anschließend beugte sich Leonie zu dem jungen Mann neben Caro, um auch ihn zu drücken.

Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich ihn bisher völlig ignoriert hatte. Ich war zu beschäftigt gewesen, der kleinen Brünette giftige Blicke entgegenzuschleudern. Also richtete ich meine Aufmerksamkeit nun auf Caros neuen Freund.

Tamilo hatte den Kopf leicht schief gelegt. Und er musterte mich interessiert.

Dunkelbraune Augen, die in der schummrigen Beleuchtung des Pubs beinahe schwarz wirkten, lagen forschend, doch nicht feindselig auf mir.

Seine Haare waren ebenso dunkel, wie seine Augen und stellten damit einen absoluten Gegensatz zu meinen blonden Haaren dar.
 

Wusste Tamilo über meine nicht gerade verborgene Abneigung gegenüber seiner Freundin Bescheid?

Und was viel wichtiger war: kannte er den Grund dafür?

Hatte er überhaupt eine Ahnung, auf wen er sich eingelassen hatte? Wenn er es wusste, dann konnte er so klug nicht sein und wenn nicht... sollte man ihn dann nicht warnen?

Kurz blitzten Erinnerungen vor mir auf. Bilder von meinem besten Freund Till, wie er auf seinem Bett saß. Tränen, die ich nie zuvor bei ihm gesehen hatte.

Eine Verzweiflung, die ich hoffte, nie wieder in seinen Augen erblicken zu müssen.

Trauer, die ich nicht verstehen konnte.

Wut hätte ich nachvollziehen können. Oder Hass, der sich gegen Caroline richtete.

Doch nicht diese lähmende Verzweiflung in seinen Augen.

Zugegebenermaßen hatte keiner im Freundeskreis geahnt, welche Ausmaße der Betrug seitens Caroline angenommen hatte.

Caroline war durch viele Betten gesprungen, während sie Till die große Liebe vorgegaukelt hatte. Erst nach und nach schlossen sich ein paar der Lücken, und im Nachhinein wäre es mir lieber gewesen, wir hätten zumindest in ein paar Punkten weiterhin im Dunkeln getappt.

Bis heute wusste keiner genau, wie oft Caro Till betrogen hatte. Mich hätte es stark gewundert, wenn sie es selbst sagen konnte.

Die Trennung der beiden hatte zu einer Spaltung der Clique geführt.

Nicht etwa, weil es Leute gab, die in der Sache auf Caros Seite standen, sondern weil mindestens drei Freunde von uns an ihren vielen Seitensprüngen beteiligt gewesen waren.
 

Freunde von mir.

Und Freunde von Till.

Freunde, mit denen wir gemeinsam zur Schule gegangen waren und denen wir beide vertraut hatten.

Mit einem nicht wirklich sanften Stoß in die Rippen holte Leonie mich aus meinen Gedanken. Verwirrt blinzelte ich.

Tamilo sah mich abwartend an und sein Blick wirkte nun leicht amüsiert.

Erneut traf mich der Ellenbogen und ich beeilte mich, nach der Hand zu greifen, die Tamilo mir vermutlich seit einigen Sekunden anbot. Ich hatte ihn die gesamte Zeit angestarrt, ohne ihn wirklich anzusehen.

Das fing ja super an! Der musste mich ja nun für den letzten Menschen halten.

„Entschuldige, ich war in Gedanken“, sagte ich mit einem kurzen Blick direkt in Carolines Augen, die sich sofort warnend verengten.

Täuschte ich mich, oder hatte ich auch Angst darin erkennen können?

Abschätzend musterte ich wieder Tamilo. Auch der hatte seiner Freundin einen kurzen Blick zugeworfen. Seine Augenbrauen zogen sich beinahe unmerklich zusammen. Dann richtete er seine Aufmerksamkeit jedoch wieder auf mich.

„Das war kaum zu übersehen“, grinste er mich an. „Ich bin Tamilo und es wurde auch langsam mal Zeit, dass wir uns kennen lernen. Endlich habe ich ein Gesicht zu den vielen Geschichten.“
 

Geschichten gab es viele zu erzählen. Die wichtigste Geschichte kannte Tamilo jedoch nicht, da war ich mir sicher.

Eigentlich wunderte mich das auch nicht.

Die ganze Geschichte um Tills und Caros Trennung war kein Thema, das gern auf den Tisch gebracht wurde. Jeder mied es.

Vielleicht hatten alle Angst davor, dass unter uns noch mehr Kerle zu finden waren, die Carolines Körper besser kannten, als es der Fall sein sollte.
 

„Nicht alle Geschichten sind wahr. Ich bin Dominik, aber Freunde nennen mich Nik.“ Mit Genugtuung sah ich aus den Augenwinkeln, dass Caro ihre Gesichtszüge entglitten. Ich bemühte mich um einen unbeschwerten Tonfall und versuchte den Ärger herunterzuschlucken, der jedes Mal in mir brodelte, wenn ich auf Caro traf.

Ich versuchte, ihr weitestgehend aus dem Weg zu gehen. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte sich Caroline gerne zurückziehen können. Doch das tat sie nicht. Nach wie vor war sie ein fester Bestandteil der Clique, während Till sich von den meisten distanziert hatte.

Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich hier saß, und mich darum bemühte, so zu tun, als wäre alles in Ordnung.

„Keine Angst, bisher habe ich mir noch immer meine eigene Meinung gebildet“, erwiderte Tamilo noch immer grinsend.

„Dann wollen wir doch hoffen, dass du dir auch immer die richtige Meinung bildest“, sagte ich und zwang mich zu einem Lächeln, um meine durchaus ernst gemeinte Bemerkung zu entschärfen.

„Ich werde uns nun erst mal was zu trinken besorgen“, meldete sich Leonie zu Wort, ehe Tamilo zu einer Antwort ansetzen konnte.

„Was magst du trinken?“, richtete sie sich an mich und stieß mir dabei warnend gegen das Schienbein.

„Nur eine Cola, bitte“, schmunzelte ich.

„Soll ich euch auch noch etwas mitbringen?“

Tamilo lehnte dankend ab und deutete auf das halb volle Bier, das vor ihm stand. Caroline zuckte mit dem Kopf. Das sollte vermutlich ein Kopfschütteln darstellen. Ihre Nervosität war kaum zu übersehen. Leonie verschwand in der Menge und kämpfte sich Richtung Tresen durch.
 

Eine Weile sagte keiner von uns etwas. Caro warf mir hin und wieder flehende Blicke zu, nur um meinem Blick direkt darauf wieder auszuweichen. Ich musste mich sehr zusammenreißen, um das Grinsen daran zu hindern, den Kampf gegen meine Mundwinkel zu gewinnen.

Ein Teil in mir freute sich darüber, wie unwohl sich Caroline in dieser Situation fühlte und dass sie das so deutlich zeigte. Ein anderer Teil verdrehte über ihre Talentfreiheit, das zu verbergen, die Augen.

Inzwischen hatte natürlich auch Tamilo erkannt, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmte. Ich konnte es hinter seiner Stirn arbeiten sehen. Offensichtlich konnte er sich keinen Reim auf die fast schon greifbare Anspannung am Tisch machen. Bevor er sich jedoch entschließen konnte, dem Ganzen auf den Grund zu gehen, eröffnete ich das Gespräch und führte es in ungefährlichere Richtungen.
 

„Und? Wie verbringt der berühmte Milo seinen Alltag? Erzähl mal!“, forderte ich ihn auf.

Ein Lächeln zupfte an dessen Mundwinkeln bevor sein Gesicht einen aufgesetzt selbstgefälligen Ausdruck annahm.

„Der große berühmte Milo steckt mitten in seinem Studium.“ Er legte dieselbe Betonung auf seinen Spitznamen, wie ich es getan hatte.

„Oho, was studiert er denn?“, fragte ich Tamilo interessiert. Caroline war erfolgreich aus meinem Bewusstsein verdrängt und nun versuchte ich doch ein paar Kleinigkeiten über den Neuen in unserer Clique herauszufinden.

„Zu meinem Aufgabengebiet gehört es, zu wissen, wie oft Henry der Achte sich hat scheiden lassen. Außerdem befasse ich mich intensiv mit seiner Muttersprache“, antwortete Tamilo schulterzuckend.

Verwirrt runzelte ich die Stirn und sah mein Gegenüber fragend an. Der hatte ein Einsehen und erklärte: „Ich studiere Englisch und Geschichte auf Lehramt.“

„Du willst Pauker werden?“ Ich versuchte mir Tamilo vorzustellen, wie er das Klassenzimmer betrat und kleine Kinder bei seinem Anblick aufstanden und im Chor riefen: „Guten Morgen, Herr Mertens“

„Das ist der Plan“, nickte Tamilo.

„Wieso das denn?“

„Ich wollte immer schon einen Beruf ausüben, in dem ich solch einen braunen, alten Lederranzen tragen kann und niemand über meine Lesebrille lacht“, erklärte Tamilo spöttisch.

„Du bist der Erste, den ich kenne, der die Seiten wechseln will, um wieder zurück in die Schule zu kommen“, sagte ich und konnte mir ein kurzes Auflachen nicht ganz verkneifen.

„Also wie bist du auf die Idee gekommen, Lehrer zu werden?“, wollte ich trotzdem wissen.

Tamilo legte den Kopf schief und überlegte kurz, als wäre es das erste Mal, dass man ihm diese Frage stellte.

Schließlich zuckte er mit den Schultern. „Ich würde ja gern irgendeine besondere Situation benennen können, in der ich erkannt habe, dass das meine Berufung sein muss. Damit kann ich aber leider nicht wirklich dienen. In der Oberstufe habe ich einfach entschieden, dass ich Schüler ebenso auf das Abitur vorbereiten will, wie meine Lehrer es für uns getan haben. Nicht sonderlich spektakulär, ich weiß“, grinste er.

„Es muss doch nicht immer spektakulär sein. Das ist schon mehr, als ich jemals sagen können werde“, erwiderte ich, „Ich studiere BWL, weil ich nicht wirklich weiß, was ich später machen will. Furchtbares Klischee, ich weiß, aber es stimmt. Es ist doch schön, wenn man schon weiß, was man mit seinem Leben anfangen will.“

„So? Und was willst du mit deinem Leben anfangen?“, fragte Leonie grinsend, die in diesem Moment die Getränke auf dem Tisch abstellte und scheinbar nur den letzten Satz gehört hatte.

„Ich will reich werden“, sagte ich trocken.

Leonie schüttelte grinsend den Kopf. „Deine Eltern haben genug Geld. Aber es ist schon einmal ein Fortschritt, dass du den Blödsinn mit dem Feuerwehrmann überwunden hast.“

Dann wandte sie sich an Tamilo und erzählte: „Du musst wissen, Nik hatte viele Jahre den Plan, Feuerwehrmann zu werden, nachdem er in einem Film gesehen hatte, wie ein uniformierter Held eine Katze vom Baum gerettet hat.“

Ich funkelte Leonie warnend an, doch die ließ sich nicht beirren.

„Dass Feuerwehrleute auch andere Aufgaben haben, war ihm immer egal. Seine Eltern waren etwas besorgt, als er am Ende der Grundschule noch immer daran festhielt“, kicherte sie.

„Wir können nur froh sein, dass DU deinen Berufswunsch nicht realisiert hast“, murmelte ich, „bei deinem Gesang, hätte ich nämlich viele Kätzchen auf den Bäumen von dem Freitod abhalten müssen.“

„Ich wäre eine großartige Sängerin geworden!“, schmollte Leonie. Sie verschränkte ihre Arme und sah demonstrativ zur Seite.

Ich wandte mich zum ersten Mal bewusst an Caroline, die dem gespielten Streit amüsiert folgte. „Was sagst du dazu? Wäre es vertretbar gewesen, Leonie auf unsere Ohren loszulassen?“

Etwas überrascht weiteten sich ihre Augen, bevor sich ein Grinsen auf ihre Lippen legte.

„Sag jetzt ja nichts Falsches!“, drohte ihr Leonie und deutete mit dem Zeigefinger auf sie.

Caroline hob abwehrend die Hände.

„Es tut mir leid, Leo, aber Journalismus ist für dich die bessere Entscheidung, da muss ich Nik einfach Recht geben.“

Schmollend schob Leonie die Unterlippe vor.

„Meine Oma sagte immer, ich könne gut singen!“

„Schatz, deine Oma war zu dem Zeitpunkt schon fast taub!“

Leonie schlug mir spielerisch gegen den Arm.

Dieser kleine Scherz hatte eine sehr auflockernde Wirkung. Den restlichen Abend verbrachten wir tatsächlich ohne versteckte Anfeindungen.
 

Ich hatte Caroline und Tamilo zwischendurch immer wieder beobachtet. Caro war beinahe unerträglich reizend gewesen. Unverhohlen hatte sie ihren Freund angehimmelt. Ich versuchte mich zu erinnern, ob sie jemals so an Till gehangen hatte. Ich hatte Caro als Vorzeige-Zicke kennen gelernt. Sie hatte auf mich immer wie ein unreifes Kleinkind gewirkt, welches sich im Supermarkt strampelnd auf den Boden warf, weil seine grausame Mutter ihm keinen Lutscher kaufen wollte. Ich hatte mich ohnehin stets gefragt, wie Till es nur mit ihr aushielt.

An diesem Abend hatte ich eine immense Weiterentwicklung bei Caro festgestellt. Nun war sie ein unreifer, verknallter Teenager, der sich bei einem Konzert seiner Lieblingsband erst in einen hysterischen Heulanfall hineinsteigerte, nur um anschließend in Ohnmacht zu fallen.

Fast bewunderte ich Tamilo, der Caroline mit einer stoischen Ruhe ertrug. Was fand er bitteschön an ihr? Wie konnte es passieren, dass ein Mann wie Tamilo in einer Beziehung mit Caroline endete?
 

„Wie habt ihr beiden euch eigentlich kennen gelernt?“, hatte ich Tamilo irgendwann gefragt. Und es interessierte mich wirklich.

„Auf einer Party“, antwortete Caro knapp.

Ich sah Caroline abwartend in die Augen. Im Fernsehen hatte ich diese Verhörtechnik häufiger gesehen. Und auch bei Caroline schien es zu funktionieren, denn bereits nach wenigen Sekunden unterbrach Caro das Schweigen und erzählte weiter: „Naja, Tamilos Freunde haben eine „Welcome Back“-Party gegeben. Und Marc hat mich dorthin mitgenommen.“

„Marc?!“, hakte ich ungläubig nach.

Marc war einer der glücklichen Herren gewesen, die nun aufgrund eines alkoholisierten Techtelmechtels, nichts mehr mit der Clique zu tun hatten. Caroline besaß tatsächlich die Dreistigkeit und lernte über Marc ihren neuen Freund kennen? Ich wollte auflachen. Ich wollte ausrasten. Die Frau hatte sie doch nicht mehr alle!

Caro nickte nur und ich hatte mich bereits an ihren Freund gewandt. „Wozu eine Willkommensparty?“, fragte ich, um nicht doch noch anzufangen zu schreien.

„Ich habe mein Auslandssemester in Kanada absolviert und bin vor zwei Monaten wieder zurückgekommen“, erklärte Tamilo.

„Wieso gerade in Kanada? Gehen nicht die meisten nach England?“

Tamilo grinste. „Ja, die meisten gehen nach England. Ich habe in der Oberstufe an einem dreimonatigen Schüleraustausch teilgenommen. Zwar würde ich jederzeit meinen Urlaub dort verbringen, aber ich wollte nicht noch einmal monatelang nach England.“

„Ist das Essen wirklich so schlecht, wie alle sagen?“

Tamilo legte den Kopf schief und schürzte die Lippen.

„Sagen wir es so: Das Essen habe ich am wenigsten vermisst, als ich wieder in Deutschland war.“

„Wieso bist du nicht in die USA gegangen?“

Erneut breitete sich ein Grinsen auf Tamilos Gesicht aus.

„Ich habe nach der Schule eine 37-Wöchige Sprachreise nach Los Angeles gemacht. Kanada wollte ich auf keinen Fall auslassen und da war das Auslandssemester die beste Gelegenheit.“

„Hast du etwas gegen Deutschland, oder wieso bist du so viel unterwegs?“, sprach ich meine Gedanken aus.

Tamilo lachte auf. „Nein, ich habe gar nichts gegen Deutschland und ich fühle mich auch nirgendwo wohler, als hier in Hamburg. Aber ich wollte keine Gelegenheit auslassen, etwas anderes zu sehen. Das hätte ich irgendwann bereut.“

Ich nickte verstehend.
 

Leonie und Caroline hatten sich in der Zwischenzeit einem anderen Gesprächsthema zugewandt, richteten ihre Aufmerksamkeit jedoch sofort wieder auf Tamilo und mich, als ich fragte: „So, und ihr habt euch über Marc kennen gelernt? Dann haben wir also gemeinsame Bekannte.“

„Marc ist ein Cousin von mir. Ich hatte früher nicht sehr viel mit ihm zu tun. Erst ein paar Wochen, bevor ich nach Kanada geflogen bin, waren wir abends häufiger zusammen weg.“

Nur mit Mühe konnte ich mir ein Auflachen verkneifen.

Vor sieben Monaten gab es in der Clique den großen Knall. Es war also kein Wunder, dass sich Marc anschließend neuen Anschluss gesucht hatte.

In dem Fall hatte Caroline ja quasi Familienzusammenführung betrieben.

„Seid ihr befreundet?“, wollte Tamilo nun wissen.

Ich spürte Caros Blick, erwiderte ihn aber nicht.

„Nicht mehr.“, antwortete ich mit fester Stimme.

Tamilo runzelte nachdenklich die Stirn. Da mir bewusst war, dass dies der denkbar schlechteste Zeitpunkt war, das ganze Thema auszuführen, lenkte ich das Gespräch wieder in eine andere Richtung.

„Seid ihr nächsten Freitag auch in der Freiheit?“

Caroline war früher bei den Rock-Nächten immer dabei. Die letzten Monate hatte ich sie dort jedoch nur selten gesehen. Ich hatte aber auch keinen Grund gehabt, nach ihr Ausschau zu halten.

Tamilo und Caroline wechselten einen kurzen Blick. Das verträumte Lächeln auf ihrem Gesicht machte mich schon wieder wütend. Anmerken ließ ich mir aber nichts.

„Wir hatten schon darüber nachgedacht.“, sagte sie nun so leise, wie es der Hintergrundlärm zuließ.

„Also wir werden auf jeden Fall dort sein.“, erwähnte Leonie.

Der Abend ging schneller als befürchtet vorüber und ich war fürchterlich verwirrt. Ich hatte festgestellt, dass Tamilo wirklich ein netter Kerl war, der auf so ziemlich jeden Spaß einging.

Doch immer wieder drängten sich mir Bilder auf, wie Caro Tamilo genauso hinterging, wie sie es mit Till getan hatte. Der Gedanke gefiel mir nicht. Es reichte doch, wenn ein Mann von ihr verletzt wurde, oder nicht?

Außerdem fühlte ich mich Till gegenüber wie ein Verräter. Ich war darauf vorbereitet gewesen, jeden Kerl, den Caro anschleppte, stellvertretend für meinen besten Freund zu hassen. Doch das tat ich nicht. Im Gegenteil. Tamilo war ein netter Kerl. Und nun hatte ich hier mit der untreuen Ex-Freundin und deren neuen Freund zusammen gesessen und einfach Spaß dabei gehabt.

Es wäre alles einfacher gewesen, wenn ich Milo nicht hätte leiden können.

Dann hätte ich mir nun keine Gedanken darüber machen müssen, was Till von der ganzen Situation halten würde. Und es hätte mir egal sein können, ob Caroline aus vergangenen Fehlern gelernt hatte, oder nicht.
 

„Na, das war doch gar nicht so schlimm“, sagte Leonie sanft, als wir im Auto saßen.

„Mhhhm“, brummte ich. Ich wusste selbst nicht, ob es zustimmend klang.

Leonie musterte mich von der Seite.

„Mach dir keine Sorgen, Nik. Till wird dir deswegen kaum den Kopf abreißen.“

Wie immer brauchte Leonie keine großen Fragen stellen, um zu wissen, was in mir vorging.

Ich seufzte tief. Da war ich mir nicht so sicher. Wobei Till wohl weniger ein Problem damit haben würde, dass ich mich mit Tamilo verstand, als vielmehr damit, dass ich mich mit Caroline getroffen hatte und wir uns prompt auch noch für das nächste Wochenende verabredet hatten.

Bei der Verabschiedung hatten die beiden zugesagt, am Wochenende ebenfalls zur Rock Party zu kommen.

Ich war nur froh darüber, dass ich nicht befürchten musste, dass Till ebenfalls dort auftauchen würde. Irgendeine Tante feierte einen runden Geburtstag und Till war die Entscheidung abgenommen worden, ob er Lust hatte, dorthin zu gehen.

Andernfalls hätte ich die Große Freiheit 36 an diesem Abend mit keinem Wort erwähnt.

Die Trennung war zwar inzwischen sieben Monate her und Till hatte soweit mit der Sache abgeschlossen, doch der Schmerz saß tief und vergeben hatte er Caroline definitiv nicht. Auch von einer neuen Beziehung war Till weit entfernt. Zu misstrauisch war er durch den Betrug geworden.
 

„Du sollst dir nicht so viele Gedanken machen. Sollte Till wirklich sauer sein, sag ihm, ich habe dich gezwungen. Er weiß ja, wer von uns beiden die Hosen an hat.“, grinste Leonie und brachte damit auch mich dazu, amüsiert mit den Mundwinkeln zu zucken.

Jeder in der Clique wusste, dass ich Leonie kaum einen Wunsch abschlug. Hauptsächlich, um unnötigen Streit wegen Kleinigkeiten zu vermeiden. Diese Energie sparte ich mir lieber für Leute auf, die meinen Ärger verdient hatten.
 

Es war nicht sehr weit bis zu Leonies Haus und auf dem Hinweg waren wir sehr gut durchgekommen. Doch ich hatte an diesem Tag ja bereits festgestellt, dass das Ampelsystem dieser Stadt einen seltsamen Sinn für Humor hatte. Selbstverständlich standen wir alle paar hundert Meter wieder auf der Stelle. Nach einer Weile hatten wir das Stadtzentrum jedoch hinter uns gelassen und ich fuhr wenige Minuten später auf die Einfahrt zu Leonies Haus.

Leonie stieg aus und ich folgte ihr zur Haustür. Dort fasste ich sie jedoch am Handgelenk und drehte sie zu mir um.

Leonie seufzte auf und klang enttäuscht, als sie vermutete: „Ich habe keine Chance, dich zu überreden, heute Nacht hier zu bleiben.“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, heute nicht. Sei mir nicht böse, aber ich will einfach nur schnell in mein Bett und schlafen.“

„Okay.“ Wenigstens unternahm sie keine Versuche, mich zum Bleiben zu überreden.

„Aber morgen sehen wir uns doch, oder?“, fragte sie schließlich.

„Na klar, Süße! Ich rufe dich morgen an“, versprach ich und küsste sie, ehe ich wieder in mein Auto stieg.
 

Während der Fahrt warf ich einen Blick auf die Uhr.

Überrascht realisierte ich, dass es doch später geworden war, als ich ursprünglich gehofft hatte. Und, dass ich im Nachhinein eigentlich nicht viel dagegen einzuwenden hatte.

Unser Haus lag natürlich schon im Dunkeln und ich ging leise direkt ins Badezimmer. Nachdem ich mir den Kneipengeruch unter der Dusche abgespült hatte, fiel ich erschöpft ins Bett.

Meine Nacht war, wie jedes Wochenende, bereits um 9 Uhr vorbei.

Meine Eltern bestanden darauf, dass am Wochenende gemeinsam gefrühstückt wurde, wenn schon einmal alle da waren.

Alle, das waren meine Eltern und meine jüngere Schwester Sophia.

Pünktlich klopfte es an meiner Tür.

„Nik, in 20 Minuten gibt es Frühstück, ist Leonie auch da?“ erkundigte sie sich.

Grummelnd wälzte ich mich noch einmal herum und verfluchte meine Eltern für diese unnötige Familientradition.

„Nik?“

Alles, was ich zu einer Antwort zustande brachte, war ein unwilliges Brummen in mein Kissen. Daraufhin öffnete sich meine Zimmertür und ein dunkler Lockenkopf schob sich vorsichtig durch den Türspalt. Noch vor wenigen Jahren hätte ich sie dafür mit wahllos geworfenen Gegenständen begrüßt.

Doch inzwischen verstanden wir uns blendend und Sophia mied mein Zimmer nur, wenn sie befürchtete, Leonie und mich nackt im Bett vorzufinden.

Nachdem sie sich kurz davon überzeugt hatte, dass ich alleine war, schlüpfte sie komplett ins Zimmer und setzte sich zu mir auf die Bettkante.

Widerstrebend blinzelte ich, ehe ich meine Augen überreden konnte, offen zu bleiben.

„Spät geworden, gestern?“, fragte meine 18-Jährige Schwester mitfühlend.

„Mhm“, grummelte ich verschlafen.

Warum konnten die mich denn nie schlafen lassen? Sechs Stunden Schlaf waren definitiv zu wenig für einen Sonntagmorgen.

„Wo wart ihr denn?“, fragte sie nach.

Offenbar hatte sie es sich zum Ziel gemacht, mich langsam aber sicher aus dem Land der Träume zu holen.

Academy.“

„Ohne mich?“, schmollte sie.
 

Seit Sophia vor beinahe einem Jahr achtzehn geworden war, hatte sie mich ab und zu überreden können, sie mitzunehmen. Sie hatte trotz ihres Altersunterschiedes nie fehl am Platz gewirkt und so waren sich alle in der Clique darüber einig, dass Sophia jederzeit wieder willkommen war.

„Nächstes Mal wieder.“, gab ich müde zurück.

Sophia grinste zufrieden und fragte dann auffällig nebensächlich:

„Wer war denn alles dabei?“

Währenddessen zupfte sie scheinbar gedankenverloren irgendwelche unsichtbaren Fusseln von meiner Bettdecke. Doch ich wusste, dass ihre Ohren mehr als gespitzt waren und sie all ihre Konzentration dafür aufbrachte, nun unkonzentriert zu wirken.
 

Leonie war es gewesen, die mich erst vor ein paar Wochen auf den Gedanken gebracht hatte. Doch dann war es mir wie Schuppen von den Augen gefallen.

„Till war nicht dabei“, antwortete ich und sah lauernd zu meiner Schwester auf. Die verdrehte genervt ihre Augen. Bisher hatte sie sich geweigert, zuzugeben, dass das größte Interesse meinem besten Freund galt.

„Gut. Till“, sie legte spöttisch eine besondere Betonung auf den Namen, „war nicht dabei. Also wer WAR dabei?“

Sie wahrte zwar den Schein, doch ihr Interesse war zumindest soweit abgeflaut, dass sie aufgehört hatte, weitere Fasern aus meiner Bettdecke zu reißen.

Ich seufzte, denn ich ahnte, wie meine Schwester auf mein Treffen mit Caro reagieren würde.

„Wir waren nur mit Caroline und Tamilo dort.“

Wie erwartet schossen die schmalen Augenbrauen in die Höhe. Bingo.

„Wieso das denn?“, fragte sie giftig.

Verübeln konnte ich meiner Schwester diese Frage nicht, denn auch ich hatte es nicht wirklich verstanden. Daher zuckte ich mit den Schultern.

„War Leonies Idee. Scheinbar ist sie gerade auf Versöhnungskurs. Was weiß denn ich?“

„Und du machst da mit?“

Noch immer kuschelten ihre Augenbrauen mit dem Haaransatz.

„Ich war auch neugierig auf den Typen“, rechtfertigte ich mich.

„Ich habe nichts gegen Milo! Milo ist ein armes Schwein! Aber Caroline!“

„Dass wir uns gestern getroffen haben, heißt doch nicht, dass Caroline unsere neue beste Freundin ist“, erwiderte ich leicht genervt.

„Weiß Till schon davon? Was meinst du, was der davon hält, wenn du deine Abende mit seiner Ex-Freundin verbringst?“, fragte Sophia vorwurfsvoll und traf gezielt den wunden Punkt.

„Das werde ich vermutlich bald herausfinden“, murmelte ich.
 

Ich war mir auf einmal nicht sicher, ob mir ihre Versessenheit auf Till tatsächlich so egal war, wie ich bisher gedacht hatte.

Bisher hatte es mich eher amüsiert. Ich war mir sehr sicher, dass Till davon nichts wusste. Vermutlich würde Till diese Erkenntnis ziemlich schockieren.

Solange er die Beziehung mit Caro nicht wirklich abgeschlossen hatte, würde er sich nicht in eine neue begeben. Und selbst dann, hätte er noch genug Anstand, sich von meiner Schwester fernzuhalten. Ich wusste, dass Till meine Schwester mochte. Doch die beiden kannten sich schon so lange, dass Till in ihr wohl eher eine kleine Schwester sah.

Ich hoffte nur, dass Sophia das ebenfalls klar war. Doch solange ich sie nicht in die Situation locken konnte, in der sie ihre Gefühle für Till endlich zugab, konnte ich ihr auch nicht klar machen, dass sie Hirngespinsten nachjagte, die sich niemals erfüllen würden.
 

Sophia war nicht hässlich. Ganz im Gegenteil. Sie hatte aus den Genen der Familie alles an Schönheit herausgeholt, was sie kriegen konnte.

Dabei hatte sie sich an den braunen Locken unserer Großmutter bedient. Ihr Gesicht erinnerte beinahe an das einer Porzellanpuppe. Einzig die strahlend blauen Augen verrieten, dass wir Geschwister waren, und sie tatsächlich das Kind unserer Eltern war.

Beinahe war ich froh darüber, dass ihre Schwärmerei für Till dafür sorgte, dass sie sich nicht irgendeinen anderen Idioten anlachte.
 

„Was hältst du von ihm?“, fragte sie nach einer kurzen Pause.

„Von Till?“

Wütend blies sie Luft aus der Nase.

„Nun hör doch mal auf mit Till. Ich meinte Milo. Ihr habt euch doch gestern mit ihm getroffen?“

Ich zog die Schultern hoch. „Netter Kerl. Das ist zumindest mein erster Eindruck gewesen. Ich frage mich, wie Caroline das angestellt hat. Verdient hat sie ihn jedenfalls nicht.“

„Das finde ich auch.“ stimmte mir Sophia zu. Das machte mich nun trotz aller Müdigkeit doch etwas stutzig.

„Woher kennst du Milo?“, fragte ich deshalb und brachte meinen Körper in eine Position, die man mit einer Menge guten Willens als Sitzen interpretieren konnte.

Ich bezweifelte, dass sich Sophia ebenfalls mit Caro an einen Tisch gesetzt hatte, um deren neuen Freund kennenzulernen.

„Ich kenne Milo schon seit ein paar Jahren“, gab sie grinsend zu, „Anni ist seine Schwester.“

Überrascht weiteten sich meine Augen.

„Ach was?“
 

Anni war Sophias beste Freundin. So unzertrennlich wie die beiden waren, wunderte es mich nun, dass ich Tamilo nie zuvor gesehen hatte.

Nicht nur einmal waren ihre Eltern zum Abendessen bei uns gewesen.

Andererseits war er auch einfach nur der große Bruder der besten Freundin meiner kleinen Schwester. Ich wusste zwar, dass Anni einen älteren Bruder hatte, doch großartig interessiert hatte mich das nicht. Ich versuchte mich daran zu erinnern, einmal seinen Namen gehört zu haben. Vergeblich. Allerdings hatte ich nicht alle familiären Erzählungen mit dem größtmöglichen Interesse verfolgt. Alles, woran ich mich erinnern konnte, waren Erzählungen, in denen er 'unser Sohn' oder 'mein Bruder' genannt wurde. Kein sonderlich großer Wiedererkennungswert.
 

„Ja, die Welt ist klein. Ich konnte kaum glauben, als Anni mir erzählt hat, dass er überhaupt eine Freundin hat. Umso größer war der Schock, als ich heraus fand dass er sich ausgerechnet Caro angelacht hat.“

„Wie meinst du das?“

Sophia wich meinem Blick aus.

„Naja, er hat vorher noch nie eine Freundin mit nach Hause gebracht und dann ist es ausgerechnet Caro...“, erklärte sie schulterzuckend.

„Tamilo hat gestern erzählt, dass er seit ein paar Jahren eine eigene Wohnung hat. Es ist ja nicht gerade so, dass man jedes Mädchen seinen Eltern vorstellen muss“, gab ich zu bedenken.

„Ja, das stimmt schon. Aber Milo ist nicht so einer. Das kann ich mir jedenfalls nicht vorstellen. Ich will natürlich nicht behaupten, dass ich ihn in- und auswendig kenne, aber ich denke nicht, dass Milo ein Aufreißer ist“, erwiderte meine Schwester nachdenklich.

„Keine Ahnung. Ich hab ihn ja gestern erst kennengelernt“, entgegnete ich.

„Mir gefällt das mit Caroline und Milo nicht“, kam es mürrisch von ihr.

„Mir auch nicht, aber uns geht das nichts an.“

Sophia nickte abwesend. Nach ein paar Augenblicken stand sie auf.

„Nun sieh zu, dass du aus den Federn kommst. Das Frühstück wartet“, sagte sie noch, ehe sie mein Zimmer verließ.
 

Ich stand seufzend auf und schlüpfte in eine Jogginghose. Wenn meine Eltern mich schon zu solch einer unmenschlichen Zeit aus dem Bett rissen, mussten sie wenigstens damit leben, wenn ich nur provisorisch bekleidet war.

Während ich mir die Zähne putzte, grübelte ich ein wenig über die Dinge, die ich eben erfahren hatte.

Anni war also die Schwester von Milo. Ich hatte das Gefühl, dass ihn jeder vor mir kannte. Zumindest bei dem Nachnamen hätte ich doch stutzig werden müssen. Aber ich hatte mir darüber schlichtweg keine Gedanken gemacht.

Ich kannte Anni schon einige Jahre. Meine Schwester und sie waren praktisch unzertrennlich. Hatten meine Eltern mir nicht sogar irgendwann mal vorgeschlagen, mich doch mal mit Annis Bruder zu treffen?

Hätte ich das mal getan. Dann wäre er nun bestimmt nicht mit Caroline zusammen gewesen.

Aber der Anfang war gemacht. Caroline musste nur einen falschen Schritt machen, und ich würde sie sofort ausliefern - und es genießen.

Ich würde nicht zulassen, dass sie dieselbe Show noch einmal abzog.

Tamilo war ein netter Kerl. Obwohl ich ihn gerade erst kennengelernt hatte, wusste ich, dass er es nicht verdiente, so hintergangen zu werden.

Ich dachte an das, was mich heute erwarten würde. Ich hoffte nur, Till würde wirklich davon absehen, mir den Kopf abzureißen. Wir hatten schon so viel miteinander erlebt, dass ich mir nicht vorstellen konnte, dass das unserer Freundschaft ernsthaft schaden würde.
 

„Morgen“, brummte ich, als ich das Esszimmer betrat.

Meine Eltern saßen natürlich bereits wie aus dem Ei gepellt am Tisch.

„Na, da hat ja jemand mal wieder gute Laune“, schmunzelte meine Mutter.

„Selber schuld“, erwiderte ich, „ich hätte den Morgen toller gefunden, wenn er erst in zwei Stunden angefangen hätte. Aber das ist in diesem Haus ja nicht möglich.“

„Ich gebe dir einen Tipp: geh zwei Stunden früher ins Bett und du kannst zwei Stunden länger schlafen“, schlug meine Mutter gut gelaunt vor.

Gerade noch rechtzeitig machte ich mir bewusst, dass es äußerst kindisch wäre, meiner Mutter nun die Zunge rauszustrecken. Diese Diskussion führte sowieso zu nichts. Das durfte ich jede Woche aufs Neue feststellen.

Mein Vater beteiligte sich, wie meistens, nicht daran, sondern vergrub seine Nase in seiner Zeitung. Sophia griff grinsend nach einem Brötchen.

Na, irgendjemand musste doch den Morgenmuffel spielen.
 

„Till hat gestern Abend angerufen“, informierte mich meine Mutter.

„Was wollte er denn?“, fragte ich vorsichtig nach.

„Mit dir sprechen, nehme ich an“, erwiderte meine Mutter, „habt ihr Streit?“

„Noch nicht“, mischte sich Sophia leise ein.

„Noch? Hast du was angestellt?“, wollte nun mein Vater wissen und sah von seiner Zeitung auf.
 

Innerlich stöhnte ich auf. Ich verfluchte meine Familie. Jedes Wochenende verwandelten sie sich in neugierige Geier. Sobald wir zum Frühstücken an einem Tisch saßen, schienen meine Eltern alles an Informationen ergattern zu wollen, was in der Hektik der Woche untergegangen war. Ich warf meiner Schwester einen bösen Blick zu. Konnte dieses Mädel nicht einmal ihre Kommentare hinunterschlucken?
 

„Ich denke nicht, dass es zu einem Streit kommen wird“, versuchte ich das Gespräch zu ersticken.

„Wieso sollte es denn zu einem Streit kommen?“ Meine Mutter hatte offensichtlich nicht vor, locker zu lassen.

„Sophia“, säuselte ich, „Willst du nicht erzählen, was ich Fieses gemacht habe?“ Ich warf ihr einen Blick zu, der ihr ganz genau sagen sollte, was ich von ihrer Einmischung hielt. Meine kleine Schwester sah mich entschuldigend an, doch es ließ mich in diesem Moment völlig kalt.

Seufzend erklärte Sophia: „Nik und Leonie haben sich gestern mit Caroline und Tamilo getroffen und Till weiß noch nichts davon.“

„Oh je“, kam es von unserer Mutter, „Sind die beiden ein Paar?“

„Ja, seit ein paar Wochen“, bestätigte Sophia emotionslos und schien nebenbei die Brotkrümel auf ihrem Teller zu zählen.

„Tamilo ist ein netter Junge“, sagte unsere Mutter lächelnd.

„Till wird vermutlich nicht begeistert sein, oder?“, vermutete mein Vater stirnrunzelnd.

„Vermutlich nicht“, grummelte ich.
 

Den wahren Grund für die Trennung kannten unsere Eltern nicht. So sehr wir Carolines Verhalten auch verurteilten, wir hingen es dennoch nicht an die große Glocke. Solche Geschichten klärten wir untereinander, das war schon immer so gewesen.

„Mhm“, machte meine Mutter.

„Können wir nun bitte über etwas anderes sprechen?“, fragte ich ungeduldig.

„Na gut. Du wirst das schon klären.“

Dafür liebte ich meine Mutter. Sie war zwar neugierig, doch sie akzeptierte, wenn wir manche Dinge nicht zerreden wollten.

„Habt ihr heute schon Pläne?“, wechselte sie auch sofort das Thema.

Sophia nickte. „Anni kommt später hier her. Wir wollen anfangen, meine Geburtstagsparty zu planen.“

Unsere Mutter nickte lächelnd und richtete sich an mich, während ich meine zweite Brötchenhälfte belegte. „Und du?“

„Leonie. Aber vorher fahre ich noch einmal bei Till vorbei, denke ich.“

„Gute Idee“, brummte mein Vater. Er hatte zwar die Nase wieder in seiner Zeitung vergraben, folgte jedoch unserem Gespräch. „Beste Freunde dürfen so etwas nicht zwischen sich kommen lassen.“

Ich verdrehte die Augen. „Danke für diesen Ratschlag“, sagte ich trocken.
 

So wie es Familientradition war, dass wir alle am Wochenende gemeinsam frühstückten, war es Tradition, dass Sophia und ich uns nach dem Frühstück daran machten, die Küche wieder in ihren Urzustand zu bringen.

Allein in der Küche fragte mich Sophia leise: „Musst du Till das wirklich unter die Nase reiben?“

Musste ich das? Ja, auf jeden Fall! Wobei ich in dieser Situation nicht davon gesprochen hätte, ihm etwas 'unter die Nase zu reiben'.

„Klar, ich könnte ihn einfach belügen! Und wenn er es durch einen Zufall dann doch erfährt, wird er mir stolz auf die Schulter klopfen und allen sagen: ‚DAS ist mein bester Freund. Mein Vertrauen zu ihm ist grenzenlos und er hat gerade wieder bewiesen, dass er es wert ist“, entgegnete ich bissig.

„Hast du Till jemals in solch schlechter Verfassung erlebt, wie nach der Sache mit Caroline? Mach dir doch nichts vor. Er wird dir das übel nehmen“

Ich brauchte meine Schwester nicht, um die Erinnerungen an die erste Zeit nach der Trennung wachzurufen.

„Vermutlich wird er mir das übel nehmen. Aber so schlimm wird es schon nicht werden. Das einzige, was ich nicht tun darf, ist, es ihm zu verheimlichen“, entschied ich.

„Wenn du das für richtig hältst.“

Dann widmete sich Sophia wieder der Spülmaschine.
 

Nachdem wir alles erledigt hatten, schnappte ich mir das Telefon.

In meinem Zimmer starrte ich einige Sekunden lang unentschlossen auf das Gerät.

Besser, ich brachte es sofort hinter mich.

Zögernd wählte ich die Hausnummer von Till.

„Heinemann?“, meldete sich Tills Mutter.

„Guten Morgen, Karin. Tut mir leid, dass ich so früh störe. Wandelt Till schon unter den Lebenden?“

„Dominik! Guten Morgen! Ja, du hast Glück, der Herr hat sich vor ein paar Minuten aus dem Bett bequemt“, lachte sie ins Telefon.

Ich konnte hören, wie Tills Mutter die Treppe zu seinem Zimmer hochging und dann an seine Tür klopfte.

„Bestell bitte Brigitte schöne Grüße von mir, ja?“, bat mich Tills Mutter.

Nachdem ich ihr versprochen hatte, meiner Mutter die Grüße auszurichten, reichte sie das Telefon an ihren Sohn weiter.
 

„Nik, du rufst mich an? So früh? Gibt es einen bestimmten Grund dafür, oder wolltest du nur meine Stimme hören?“, witzelte Till.

Ich schluckte.

Tja, warum rief ich ihn an?

Ach richtig! Ich rief an, um Till zu enttäuschen und verdammt wütend zu machen. Na dann mal los!

„Naja, meine Mutter hat gesagt, du hättest gestern angerufen. Wieso hast du es nicht auf dem Handy versucht?“, fragte ich und wich der Frage vorerst noch aus.

„Ach, deine Mutter sagte, du wärst bei Leonie, da wollte ich nicht wirklich stören.“

Ich konnte Tills Grinsen förmlich hören. „War auch nicht wirklich wichtig. Mir war nur langweilig und ich wollte fragen, ob wir nicht zusammen weg wollen. Aber es war halb so wild, ich habe den Abend auch so herum gebracht.“

Nun meldete sich erneut mein schlechtes Gewissen. Anstatt einen Abend mit meinem besten Freund zu verbringen, hatte ich es vorgezogen, mich mit dessen Ex-Freundin und ihrem neuen Freund zu treffen.

Eigentlich wäre ich lieber mit Till losgezogen, doch wenn Leonie einmal beschlossen hatte, meine Abendplanung zu übernehmen, hatte ich absolut kein Mitspracherecht mehr.

Ich versuchte mein Gewissen mit guten Argumenten zu Fall zu bringen.

Gelingen wollte es jedoch nicht ganz.

„Du hättest nicht gestört. Wir waren auf dem Kiez“, beeilte ich mich zu sagen, „Hör zu Till, wenn du magst, komme ich gleich bei dir vorbei. Ich muss wegen gestern sowieso noch mit dir reden.“

Nun war der Anfang getan, und selbst wenn ich es wollte, würde Till nun kaum mehr locker lassen, ehe ich ihm alles erzählt hatte.

Verwirrt fragte der auch sofort nach: „Wegen gestern Abend? Ist denn gestern Abend etwas passiert?“

„Nein, nicht wirklich“, wich ich aus, „Aber lass uns das später klären, ja? Wann kann ich denn bei dir vorbeikommen?“

„Jederzeit, Mann. Das weißt du doch“, versicherte Till mir. „Am besten kommst du gleich. Du hast mich nämlich ziemlich neugierig gemacht.“

„Alles klar. Ich rufe vorher noch Leonie an und komme dann zu dir.“
 

Das Gespräch mit Leonie dauerte nicht annähernd so lange, wie ich gehofft hatte.

Ich hätte das nötige Gespräch mit Till lieber heraus gezögert. Stattdessen hatte Leonie nur gesagt, ich solle mir ruhig Zeit bei Till lassen und anschließend einfach zu ihr kommen.
 

Ich trödelte beim Anziehen und beeilte mich auch nicht, das Telefon herunter zu bringen. Damit hatte ich das nun Unvermeidliche um unfassbare 15 Minuten hinausgezögert.

Vielleicht hätte ich doch nichts sagen sollen. Wie hoch war schon die Wahrscheinlichkeit, dass Till von dem Abend im Academy erfahren hätte? Er unterhielt sich sicherlich nicht mit Caroline über deren Verabredungen und von Leonie hätte er es vermutlich niemals erfahren.

Doch wir hatten uns nie etwas verschwiegen und ich wollte nach all den Jahren nicht damit anfangen.
 

„Hey“, begrüßte mich Till, als er mir kurze Zeit später die Tür öffnete.

„Hey“, erwiderte ich und schob mich an ihm vorbei.

„Okay. Was ist los mit dir Nik?“, fragte er mich und ich konnte die Verwunderung in seiner Stimme hören.

„Lass uns in dein Zimmer gehen“, schlug ich vor. Kaum hatte ich das gesagt, setzte ich mich auch schon in Bewegung. Till folgte mir schweigend. Seufzend ließ ich mich in seinem Zimmer auf die Couch fallen.

„Na, du machst es ja spannend! Was ist denn passiert?“ fragte er grinsend, während er seine Zimmertür hinter sich schloss.

„Ich fürchte, du wirst gleich echt sauer auf mich sein“, murmelte ich.

„Nur, wenn du mir einen guten Grund dafür lieferst, das weißt du doch“, erwiderte er.

Noch immer grinste er, doch sein Blick wurde wachsamer.

Ich holte tief Luft. Besser, ich brachte es direkt hinter mich. Zurück konnte ich sowieso nicht mehr.

„Warte kurz“, meinte er, „bevor ich gleich zu wütend sein sollte, um dir etwas anzubieten: Möchtest du was trinken?“
 

Ich war versucht, das Angebot anzunehmen, nur um das Gespräch noch ein paar Minuten hinauszuzögern.

Während Tills Abwesenheit könnte ich versuchen, durch das Fenster zu flüchten. Vermutlich würde ich mir bei diesem Versuch jedoch alle Knochen brechen.

Eigentlich gar keine schlechte Idee, denn wenn Till damit beschäftigt war, einen Krankenwagen zu rufen und die Ärzte um mein Leben kämpften, würde Till sicher nicht darüber nachdenken, warum er eigentlich sogar einen Grund hätte, mich qualvoll verrecken zu lassen.

Stattdessen sagte ich aber: „Nein, ich brauche nichts. Bitte Till, setz dich einfach hin.“

Schlagartig wurde Till ernst.

„Okay“, sagte er gedehnt, setzte sich zu mir auf die Couch und sah mich fragend und besorgt an.

„Leonie und ich waren gestern im Academy“, begann ich vorsichtig.

„Na, das nenne ich mal einen Skandal! Das werde ich dir nie verzeihen!“ witzelte er.

Vermutlich würde das sein letzter Versuch sein, die Stimmung mit einem Scherz aufzulockern und mir das Erzählen zu erleichtern.

Seinen Scherz ignorierte ich und wich seinem Blick nun aus. „Wir haben Caro und ihren Freund dort getroffen.“

Erst hörte ich, wie Till scharf Luft holte, dann herrschte völlige Stille, bis er leise fragte: „Kommen wir nun an den Punkt, an dem ich sauer auf dich sein sollte?“

Ich sah wieder zu ihm auf und Till sah mir fest in die Augen. Sein Blick bohrte sich forschend in meinen. Ich hielt seinem prüfenden Blick stand und beschloss einfach ins kalte Wasser zu springen.

Ohne seinem Blick auszuweichen gab ich zu: „Wir haben die beiden nicht zufällig dort getroffen. Wir waren verabredet.“

Till entglitten seine Gesichtszüge und er starrte mich einfach nur an.

„Sag das noch mal!“ forderte Till tonlos.

Da ich mir nicht sicher war, ob ich mit einer Wiederholung des gesagten einen sofortigen Wutausbruch provozieren würde, zögerte ich, dieser Forderung nachzukommen. Till starrte mich völlig ausdruckslos an. Ich fühlte mich, als würde ich immer kleiner werden.

Wieso konnte sich unter mir kein Loch auftun und mich verschlucken?

Wieso fühlte ich mich wie ein kleiner Junge, der nervös vor seinen Eltern stand, nachdem er etwas ausgefressen hatte?

Und wieso hatte ich zugelassen, dass es so weit kam?

Ein wütendes Funkeln trat in Tills Augen. Ich konnte sehen, wie diese Satz, der im Raum hing, sich tiefer und tiefer in sein Bewusstsein fraß.

„Sag mir bitte, dass ich das falsch verstanden habe! Sag mir, dass du gestern Abend nicht mit Caroline und ihrem neuen Kerl verabredet warst!“ Nun konnte ich die Wut nicht nur sehen. Sie brachte Tills Stimme zum Erzittern.

„Till, es tut mir …“

„Warum?“ Till spuckte dieses eine Wort förmlich aus.
 

Hatte ich wirklich heute Morgen zuversichtlich gewirkt? War ich wirklich davon überzeugt gewesen, das hier würde leicht werden? Tills Wut jedenfalls hatte mich schnell auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Jetzt war von dem Optimismus, den ich noch vor einer Stunde verspürt hatte, nichts mehr übrig. Kein einziges kleines bisschen war geblieben.

Etwas zu kleinlaut für meinen eigenen Geschmack setzte ich zu einer Erklärung an. „Leonie wollte dieses …“

„STOP!“ unterbrach mich Till laut, „was Leonie wollte, interessiert mich gerade einen feuchten Dreck! Du bist mein bester Freund und ich will wissen, warum DU dich mit meiner Ex-Freundin triffst!“

Ich hatte gar nicht vor, Leonie die alleinige Schuld an diesem Treffen zu geben. Ich wusste, ich hätte mich einfach gegen sie zur Wehr setzen können. Das wäre zwar ungemütlich geworden, doch ich hätte es meinem besten Freund zuliebe sogar tun müssen. Ich war schlichtweg zu neugierig gewesen. Das war nun wirklich nicht Leonies Fehler. Eigentlich war der Abend nett gewesen. Zugegeben: Auf Carolines Anwesenheit hätte ich ebenfalls sehr gut verzichten können.
 

„Till, es ging mir nicht darum, Caro zu treffen und das weißt du genau. Hauptsächlich habe ich mich mit Leonie getroffen, um den Neuen in unserer Clique endlich mal kennen zu lernen. Caroline … war halt nur … zufällig auch dabei“, erklärte ich in dem ruhigsten Ton, den ich zustande bringen konnte. Das letzte was ich wollte war, Till vollends die Beherrschung verlieren zu lassen, nur weil ich meinen Tonfall nicht unter Kontrolle hatte. Doch das war gar nicht nötig, denn Till war ohnehin wütend genug.

„Wie bitte? Caroline war ZUFÄLLIG dabei?“ schnaubte Till. „Ja, es ist schon ein SEHR großer Zufall, wenn man bedenkt, dass Caroline Tamilos Freundin ist und dieser Mistkerl nur durch sie überhaupt mit unserem Freundeskreis zu tun hat.“

Till darauf hinzuweisen, dass Tamilo leider alles andere als ein Mistkerl war, verkniff ich mir gerade rechtzeitig. Wäre wohl auch kaum gut angekommen.

„Ich raffe einfach nicht, dass du dich allen Ernstes mit Caroline an einen Tisch setzt. Dieses Miststück hat sich durch unsere halbe Clique gevögelt und niemanden interessiert es. Alle schweigen das Thema tot. Aber von dir hätte ich das nicht erwartet!“

„Hör zu“, versuchte ich es noch einmal, „okay, das mit dem Zufall war dämlich, tut mir leid, aber das Treffen hatte wirklich nichts mit Caroline zu tun. Und mit dir erst recht nichts.“

„Dass deine Entscheidung gestern Abend nichts mit mir zu tun hatte, ist mir klar, denn dass dich meine Meinung dazu nicht interessiert, hast du eindrucksvoll bewiesen“, erwiderte Till bitter.

„Till…“, setzte ich an, doch bevor ich ernsthaft zu Wort kommen konnte, fing er wieder an zu sprechen, sofern man bei dieser Lautstärke noch von ‚sprechen‘ reden konnte.

„Du kannst natürlich treffen, wen du willst. Wenn du also ein unstillbares Verlangen danach verspürst, Caroline zu treffen, dann musst du das halt tun. Aber tu mir das nächste Mal einen Gefallen und verzichte darauf mir das unter die Nase zu reiben! Und wenn du es jetzt wagst, mir irgendetwas von diesem Kerl zu erzählen, dann kotze ich dir vor die Füße, das meine ich ernst! Der Typ interessiert mich nicht!“
 

Ich hatte mir zwar vorgenommen, den ganzen Ärger einfach über mich ergehen zu lassen, doch langsam wurde es mir trotzdem zu bunt. Ich konnte absolut verstehen, dass Till enttäuscht und wütend war. Doch es war sicherlich kein Angriff auf seine Person.

„Erstens habe ich dir bereits gesagt, dass es mir bei dem Treffen nicht um Caroline ging. Mein Verlangen nach Caroline ist ungefähr so groß wie deines. Zweitens gibt es kaum eine Meinung die mir so wichtig ist, wie deine! Und auch das weißt du genau. Dies ist übrigens der Grund, aus dem ich hier bin! Das wüsstest du auch, wenn du eine Sekunde mit dem Gekeife aufhören und mir zuhören würdest! Ich bin nicht hier, um dir irgendetwas ‚unter die Nase zu reiben‘, sondern weil ich denke, dass du die Wahrheit verdient hast! Außerdem hätte ich dir nicht alles erzählt, wenn ich nicht davon ausgehen würde, dass unsere Freundschaft das aushält!“

Ich machte eine kurze Pause. Zum Einen, weil die kurzen Atempausen nicht wirklich ausreichten und ich wirklich einmal ordentlich Luft holen musste und zum Anderen, damit Till die Gelegenheit hatte, sich dazu zu äußern. Doch Till starrte mich zum wiederholten Male stumm an und ich setzte nach: „Irre ich mich? Willst du mir sagen, dass unsere Freundschaft diese Kleinigkeit nicht aushalten kann?“

Natürlich zweifelte ich nicht an der Tiefe und Stärke unserer Freundschaft, doch ich wollte unbedingt eine Reaktion von Till erzwingen. Vermutlich würde Till meine Absicht sogar sofort durchschauen.

Schnaubend schüttelte er seinen Kopf.

„Du kannst so ein Wichser sein, Nik“, sagte er und mir wurde klar, dass wir das Anschreien nun hinter uns hatten. Nachdem Till mich mal wieder eine Zeit lang schweigend angesehen hatte, fragte er: „Willst du jetzt etwas trinken?“

Doch er wartete meine Antwort gar nicht erst ab. Er war bereits halb zur Tür raus, bevor er die Frage gestellt hatte.

„Na klar“, murmelte ich und starrte die Tür an, die Till hinter sich zugezogen hatte.

Bisher lief das Gespräch doch wirklich großartig!

Till hatte mich bisher noch nicht vor die Tür gesetzt. Ganz im Gegenteil. Er hatte mir sogar noch etwas zu trinken angeboten. Beinahe hätte sich ein Grinsen auf mein Gesicht getraut, doch Till war unübersehbar noch verdammt sauer. Vermutlich wollte er mir auch nicht wirklich etwas zum Trinken anbieten, denn meine Antwort hatte ihn ja gar nicht interessiert. Er wollte einfach nur aus dem Zimmer heraus.

Ich hasste Streit. Am liebsten wäre mir gewesen, wenn Till nun ins Zimmer zurückkäme. Grinsend. Mit einer Flasche Tequila oder so. Hauptsache, er käme ins Zimmer und machte deutlich, dass ich ihn nicht völlig enttäuscht hatte. Doch so schnell öffnete sich die Tür nicht. Till ließ sich Zeit. Er war unter einem Vorwand geflüchtet. Vor mir und unserem Streit.
 

Dieses Zimmer, in dem ich mich sonst so gern aufhielt, wirkte nun beengend auf mich. Es war, als ob jedes Möbelstück mir entgegen schreien wollte, dass ich hier absolut unwillkommen war.

In diesem Zimmer hatte die Clique früher viel Zeit verbracht. Die große, gemütliche Couch war der Mittelpunkt des Raums. Ich fand, dass Tills Zimmer das schönste des ganzen Hauses war. Eine kleine Nische war noch groß genug, um Platz für ein riesiges Bett zu bieten. Ohne, dass es gequetscht wirkte. Ja, Tills Reich war riesig und wahnsinnig gemütlich eingerichtet.

Wir hatten hier früher eine Menge Zeit mit der gesamten Clique verbracht. Nachdem ausgerechnet in diesem Zimmer zur Sprache kam, was Caroline sich geleistet hatte, hatten die Abende hier deutlich abgenommen. Inzwischen trafen wir uns hier nur noch zu dritt, oder zu viert.

Ich verscheuchte meine Gedanken an den Abend, an dem Till alles erfahren hatte. Ich musste mein schlechtes Gewissen ja nicht gerade mit diesen Bildern füttern.

Immer wieder huschten meine Augen zu meiner Uhr. Die Minuten verstrichen und ich wurde langsam wirklich unruhig. 15 Minuten waren eine Menge Zeit, um etwas zu trinken zu holen.
 

Noch bevor ich mir Gedanken darüber machen konnte, ob es nun eher klug oder unklug sein würde, mich auf die Suche nach Till zu begeben, riss der die Zimmertür endlich wieder auf. Ein Blick genügte, um mir zu verraten, dass er noch immer sauer war. Das überraschte mich eher weniger. So sehr ich auch darauf hoffte, dass wir die ganze Geschichte schnell klären und abhaken würden, war mir dennoch klar, dass die Chancen dafür ziemlich schlecht standen.

„Ich habe es mir anders überlegt“, sagte Till, während er eine Colaflasche und zwei Gläser klirrend auf dem Tisch vor der Couch abstellte, „Ich will es doch wissen! Ist deine Neugierde auf diesen Typen nun gestillt? Oder kommt das nun häufiger vor?“

Ich musste schlucken. War meine Neugierde befriedigt? Nein, irgendwie nicht. Ich beschloss ehrlich zu sein und gab zu: „Leonie und ich werden am Freitag in die Freiheit gehen und die beiden wollen auch kommen.“ Till nickte daraufhin nur nachdenklich. „Weiß … Tamilo … weiß er Bescheid?“, überraschte mich Till mit seiner nächsten Frage. Ich konnte mir ein kurzes bitteres Auflachen nicht verkneifen. „Nein, er ist völlig ahnungslos, wenn ich das richtig gedeutet habe. Die Panik, die Caroline ausgestrahlt hat, hätte dir gefallen. Sie hatte wirklich Angst, ich könnte ein paar Details ausplaudern, die sie in weniger gutem Licht hätten erstrahlen lassen.“

Kurz meinte ich, ein Grinsen auf Tills Gesichtszügen zu sehen, doch genauso schnell, wie es erschienen war, verschwand es auch wieder. „Ich hoffe, er ist ein Arschloch! Ich würde es Caroline so wünschen, dass sie ordentlich auf die Schnauze fällt“, entfuhr es Till heftig.

Ich beschloss, ihm eine Antwort auf diese ungestellte Frage zu ersparen und schwieg. Mein bester Freund deutete dieses Schweigen aber natürlich richtig und seufzte auf. „Ist er nicht, oder?“, fragte er leise. Hatte ich nicht eben beschlossen, ihm das zu ersparen? Sehr gelungen, Nik!

Till machte mit einem fragenden Blick deutlich, dass dies keinesfalls eine rhetorische Frage war. Ich verzog unwillig das Gesicht, antwortete ihm dann aber: „Nein, ich fürchte, er ist kein Arschloch. Und ich glaube auch, dass du dich mit ihm verdammt gut verstehen könntest…“ „… wenn er nicht Caros Neuer wäre“, beendete er meinen Satz.

„Ja“, seufzte ich.

„Wirst du es ihm erzählen?“, geschickt stellte er eine weitere Frage, die ich eigentlich nicht beantworten konnte, oder wollte.

„Ich sollte es vielleicht tun…“, antwortete ich ausweichend. Tills Augenbrauen erhoben sich skeptisch. „Vielleicht?“, fragte er ungläubig nach. „Heißt das, du spielst mit dem Gedanken, einfach dabei zuzusehen, wie Caroline dieselbe Scheiße noch einmal abzieht?“

„Natürlich nicht!“, widersprach ich, „Caro muss nur einen winzigen Fehler machen und ich führe schneller ein ernstes Gespräch mit Tamilo, als du gucken kannst.“

Till schüttelte verständnislos den Kopf. „Aber du lässt es wirklich darauf ankommen“, stellte er fest, „Warum?“

„Weil es mich eigentlich nichts angeht. Und weil … Till, ich weiß, Caro hat dich wirklich übel hintergangen und ich weiß, du findest, sie hätte keine zweite Chance verdient…“

„Willst du etwa sagen, …“

Doch ich schnitt Till das Wort ab. „…Und das denke ich eigentlich auch. Glaub mir, es gibt nichts, was ich lieber getan hätte, als Tamilo sofort vor den Latz zu knallen, wie Caro drauf ist. Aber ich habe irgendwie das Gefühl, dass wir uns da nicht einmischen sollten.“ Noch immer stand Till der Unglaube ins Gesicht geschrieben. „Ich kann es nicht fassen“, sagte er, „du wirst ihn tatsächlich nicht warnen.“

„Nicht, wenn er mich nicht direkt danach fragt“, nickte ich.

„Das ist verrückt. Das ist total verrückt“, murmelte Till, „weißt du, bis eben war ich sauer auf dich, weil du dich mit Caroline getroffen hast. Aber nun kann ich nicht glauben, dass du diesen Kerl in sein Verderben rennen lässt! Ich hoffe nur, du weißt, was du tust. Ich halte das für falsch, Nik!“

Ernst sah Till mich an. Oh ja, das hoffte ich auch. Und wie ich das hoffte.

Till fuhr sich durch die Haare und seufzte. „Wieso schaffe ich es nur nicht, dir so lange in dem Ausmaß böse zu sein, wie du es verdienst?“, grummelte er vor sich hin. Vorsichtig wagte ich ein dünnes Grinsen.

„Du kennst mich einfach schon zu lange?“, schlug ich vor.

„Tja, daran wird es liegen. Man gewöhnt sich halt an alles“, erwiderte Till mit gerunzelter Stirn.
 

Nach einer kurzen Pause fragte er plötzlich: „Was hast du heute noch auf dem Plan?“ Ich war etwas verwirrt wegen dem abrupten Themenwechsels.

„Ehm … ich hatte mit Leonie ausgemacht, dass wir uns heute noch treffen. Aber ich wollte das vorher mit dir klären“, antwortete ich. Till nickte und fragte dann: „Habt ihr beiden irgendwelche großen Pläne? Ungezügelter Sex? Romantische Schmusestunden? Ringelpiez mit anfassen?“ Da war es wieder. Tills Grinsen, das mir zeigte, dass zwischen uns alles in Ordnung war. „Nicht, dass ich wüsste“, antwortete ich und zuckte mit meiner Schulter. Mir fiel auf, dass die Colaflasche noch immer geschlossen auf dem Tisch stand. Ich griff danach und goss uns beiden etwas ein.

„Hättest du dann was dagegen, wenn ich mich an euch dranhänge?“

Statt einer Antwort zückte ich mein Handy und wählte Leonies Nummer. Nach mehrmaligem Klingeln hob sie ab.

„Hey Süße, was dagegen, wenn ich Till gleich mitbringe?“, fragte ich. Leonie lachte zufrieden. „Ich habe dir doch gleich gesagt, dass er dir nicht den Kopf abreißen wird.“ „Mhm…“, erwiderte ich so ernst wie möglich, „Wenn du dich da mal nicht täuschst. Till ist sehr, sehr wütend. Auch auf dich.“ Till schenkte mir einen fragenden Blick, doch er grinste. „Seine Mutter kann aber kein Blut sehen und außerdem hat Till keine Lust, die Sauerei in seinem Zimmer zu haben, also kommen wir zu dir.“

„Oh, toll! Dann bereite ich schon mal alles vor und decke die Möbelstücke ab, die meinen Eltern am Herzen liegen. Dann kann das Blutbad hier stattfinden“, lachte sie wieder.

„Also kann ich ihn mitbringen?“, fragte ich noch einmal.

„Selbstverständlich! Du weißt doch, dass ich jeden Plan unterstütze, der Till vor die Tür bringt“, antwortete sie nun etwas ernster. Ja, das wusste ich. Ich war nicht der einzige, der sich zunehmend Sorgen um meinen besten Freund machte. So groß das Verständnis für seine Situation auch war, es war wirklich an der Zeit, dass Till endlich wieder unter Leute kam und dabei auch Spaß hatte. Die gemeinsamen Discobesuche in den letzten sieben Monaten waren an zwei Händen abzuzählen. Ich sagte Leonie, dass wir uns gleich auf den Weg machen würden und beendete dann das Gespräch.

„Geht klar“, verkündete ich unnötigerweise.

„Super! Wollen wir direkt los?“, fragte Till und stand bereits auf. Nickend erhob ich mich ebenfalls.

Doch vorher gab es eine Sache, die ich dringend noch hinter mich bringen musste.

„Till, es tut mir echt leid“, sprach ich nun etwas verspätet die Entschuldigung aus, „Ich wollte nicht…“

„Schon gut … denke ich“, unterbrach er mich und zog mich in eine kurze Umarmung. „Danke, dass ich es nicht auf eine andere Weise erfahren musste“, fügte er etwas leiser hinzu.

Eine tiefe Erleichterung machte sich in mir breit. Zwar hatte ich Tills Reaktion etwas unterschätzt, doch wir konnten das Thema scheinbar dennoch recht schnell abhaken.

Ein paar Minuten später saßen wir bereits im Auto und waren auf dem Weg zu Leonie.

„Wie ist er so?“, fragte Till nach ein paar Minuten voller Schweigen.

Mir war sofort klar, wovon er sprach, trotzdem fragte ich: „Wer?“, und war unendlich froh darüber, dass die Fahrt zu Leonie uns nicht quer durch Hamburg führte.

„Wer wohl?“, fragte Till auch sofort genervt.

„Willst du wirklich über Tamilo sprechen?“

Till zögerte und antwortete dann: „Eigentlich nicht. Aber … ich muss es trotzdem wissen.“

„Also schön“, gab ich mich geschlagen, „Er ist wirklich in Ordnung. Ein netter Kerl. Er ist witzig und scheinbar nicht auf den Kopf gefallen.“ Tamilo hatte einen ziemlich hübschen Kopf. Diese Bemerkung schluckte ich eilig hinunter. Ein hübscher Kopf? Oh man … Tamilo sah nicht scheiße aus, aber musste mir ausgerechnet das Wort hübsch in den Sinn kommen?

Irritiert versuchte ich, mich an eine Information zu erinnern, die ich Till geben konnte, ohne sein Aussehen beschreiben zu müssen.

„Ach ja! Tamilo ist Annis Bruder“, fiel mir ein.

„Von DER Anni? Die Freundin deiner Schwester?“, fragte Till verblüfft nach. Na wenigstens einer, für den das ebenfalls neu war!

„Und trotzdem weiß Tamilo von nichts? Anni hat die ganze Geschichte doch mitbekommen!“, wunderte sich mein bester Freund. Nun, als er das sagte, wunderte mich das ebenfalls. Sophia ließ kaum ein gutes Haar an Caro und auch Anni war bestens darüber im Bilde, was alles vorgefallen war. Wieso wusste Tamilo nicht Bescheid?
 

Um ein Haar hätte ich völlig in Gedanken versunken die Einfahrt zu Leonies Haus verpasst. Die schien den Wagen bereits gehört zu haben, denn unmittelbar nach unserem Klingeln öffnete sie die Tür. Grinsend stand sie vor uns. „Na, konntet ihr beiden alles klären? Oder findet hier gleich wirklich ein Massaker statt?“ fragte sie lachend. Till tat so, als würde er erst darüber nachdenken, als Leonie bereits die Arme um ihn schlang und ihm einen Kuss auf die Wange drückte. „Schön, dich zu sehen, Till!“, sagte sie mit einem entwaffnenden Lächeln. „Schleimerin“, lachte der, „Aber du hast gewonnen. Dieses Mal wird kein Blut fließen.“

Leonie nickte zufrieden und wandte sich mir zu. „Ich hoffe, dir ist klar, dass ich dir gerade dein Leben gerettet habe“, flötete sie, „dafür habe ich etwas gut bei dir! Ich hole nur schnell meine Tasche, dann können wir los.“

„… los?“, fragte ich, doch Leonie war schon wieder verschwunden und ließ uns beide vor der Haustür stehen. Es dauerte jedoch nicht lange, ehe sie die Tür wieder öffnete. Sie ließ sie hinter sich direkt wieder ins Schloss fallen.

„Hättest du vielleicht die Güte, uns in deine Pläne einzubeziehen?“, fragte ich meine Freundin, nachdem sie mir einen sanften Kuss auf die Lippen gedrückt hatte. „Natürlich“, nickte sie, „andernfalls wäre es etwas schwierig, mich von euch beiden auf einen Kaffee einladen zu lassen.“

„Ihr habt doch Kaffee zuhause“, konterte ich mürrisch. Leonie warf mir einen tadelnden Blick zu.

„Süßer, es ist Frühling! Die Sonne scheint, die Vögel zwitschern und der Wetterbericht hat für nächste Woche eine Menge Regen angekündigt. Zuhause rumgammeln können wir auch später noch. Ich habe jetzt aber vor, zwei Stündchen Sonne zu tanken und ihr werdet mir Gesellschaft leisten.“

Till sah ebenfalls weniger begeistert aus, doch auch er kannte Leonie gut genug, um zu wissen, dass Widerworte absolut sinnlos waren. So sanftmütig Leonie auch war, hatte sie doch ein beinahe grenzenloses Talent, ihren Willen durchzusetzen.
 

Till ergab sich als erstes seinem Schicksal. Seufzend fragte er: „Also schön. Wohin geht es?“

„Lasst mich überlegen“, sagte sie, doch ihr Grinsen verriet, dass sie es schon ganz genau wusste. „Die Sonne scheint, es ist warm und es ist Sonntag! Wir gehen ins Alex!“

Genervt stöhnte ich auf. „Du sagst es! Es ist warm, die Sonne scheint, es ist Sonntag … um es zusammenzufassen: das Alex wird völlig überfüllt sein.“

„Ach was“, widersprach Leonie, „wir werden schon ein freies Plätzchen finden.“
 

Das Alex war ein Restaurant, das meiner Meinung nach total überschätzt wurde. Es lag traumhaft direkt an der Binnenalster. Viele Gäste genossen den Ausblick über das Wasser, doch eine der Hauptattraktionen befand sich auf der anderen Seite des Restaurants. Von der großen Terrasse, die das Restaurant ringförmig umgab, hatte man einen guten Ausblick auf den recht stark befahrenen Jungfernstieg. Auf dieser Straße fuhren Leute, die ihr Geld nach außen trugen, ihre tollsten Autos spazieren. Es kam vor, dass ein und derselbe Porsche ein dutzendmal am Alex vorbeifuhr. Es waren außerdem immer mindestens drei Ducatis vor der Terrasse abgestellt, deren Besitzer genossen, wenn die Blicke der anderen Gäste an den schönen Motorrädern klebten. Ich verstand dieses Bedürfnis, das Selbstwertgefühl auf diese Weise aufzupolieren nicht. Auch mein Vater war stolz auf seinen Jaguar. Und ich war stolz auf ihn, dass er diese Schaufahrten vor dem Alex für genauso dämlich hielt, wie ich.
 

Ich musste zugeben, dass der Eiskaffee im Alex wunderbar schmeckte. Doch es war kein Geschmackserlebnis, das wir anderswo nicht gehabt hätten. In einem kleinen, ruhigen Café zum Beispiel. Doch Leonie liebte das Alex. Sie mochte das Zusammentreffen von Touristen, Familien und Studenten, die gemeinsam dafür sorgten, dass der Alsterpavillon stets laut und überfüllt war. Das konnte verstehen, wer will – ich tat es nicht. Brauchte ich auch offensichtlich nicht verstehen. Leonie jedenfalls gab uns keine große Gelegenheit zu widersprechen, hakte sich bei uns unter und zerrte uns zu meinem Auto.
 

An unserem Ziel angekommen, musste ich feststellen, dass Leonie Recht gehabt hatte. Es war zwar voll, doch um einen freien Tisch mussten wir uns trotzdem nicht prügeln. Nach wenigen Minuten kam eine Kellnerin auf uns zugelaufen und ich wünschte schon wieder, ich hätte mich einfach mal durchgesetzt. Wieso traf man überall auf die Leute, auf die man keinesfalls treffen wollte? Die Kellnerin trat an unseren Tisch und schenkte uns ein strahlendes Lächeln. Das Lächeln für Till fiel besonders breit aus und ich konnte ein genervtes Augenrollen nur mit Mühe unterdrücken. Till starrte sie auch etwas entgeistert an. Leonie fing sich als erste und fragte freundlich: „Marie, seit wann arbeitest du denn hier? Mit dir hätte ich absolut nicht gerechnet.“

„Wir haben uns auch eine ganze Weile nicht gesehen“, entgegnete Marie lächelnd, „ich arbeite seit ein paar Wochen hier.“

Dann schenkte sie Till erneut ihr breitestes Lächeln und fragte, ob wir schon wüssten, was wir bestellen wollten. „Erst mal nur die Karten, bitte“, gab Till zurück. Maries Lächeln erwiderte er nicht. Die schien enttäuscht zu sein, legte uns drei Speisekarten auf den Tisch und kehrte wieder zum Gebäude zurück.

„Wollen wir wieder gehen?“, fragte Leonie an Till gerichtet. Till zog die Stirn kraus und schüttelte entschieden den Kopf. „Wieso denn? Ist doch nur … Marie.“

Leonie sah nicht mehr so aus, als sei sie besonders stolz auf die Idee, hier her zu kommen. Till sah ihren zweifelnden Blick und versuchte sich an einem Grinsen. „Eigentlich sollte ich ihr doch dankbar sein. Ohne sie wäre ich noch heute mit Caro zusammen.“
 

Marie war es gewesen, die Caros Betrug aufgedeckt und Till darüber informiert hatte. Ich war mir ziemlich sicher, dass sie das aus eiskalter Berechnung getan hatte, denn Marie war schon seit Jahren hinter Till her und hatte keine Gelegenheit ausgelassen, ihn anzubaggern. Dabei war sie jedoch immer an Caroline gescheitert. Dass Marie offensichtlich nicht begriffen hatte, dass die Art und Weise, auf die sie die Bombe hatte platzen lassen, nicht unbedingt die feine Englische war, sprach jedenfalls nicht für die Intelligenz der Blondine. Diesen Eindruck bestärkte sie nur, als sie ein paar Minuten später wieder am Tisch stand und Till begeistert zuzwinkerte, als gäbe es kein morgen.

Marie hatte zwar ihr Ziel erreicht, denn Till war wieder Single, doch dass sie scheinbar noch immer dachte, dass sie theoretisch Chancen bei ihm hatte, ließ mich beinahe Mitleid mit ihr haben. Beinahe.
 

Da Till und Leonie nicht zum Frühstücken aus dem Schlaf gerissen worden waren, beschlossen sie, das Frühstück nun nachzuholen. Till würdigte Marie bei seiner Bestellung keines Blickes und auch unser Tonfall blieb eher kühl. Langsam schien es auch Marie zu dämmern, dass sie mit Till heute keinen Schritt weiterkam. Sie nahm schnell unsere Bestellung auf und entfernte sich dann wieder von unserem Tisch.

„Unfassbar, dass sie es noch immer versucht“, schnaubte Leonie, sobald Marie außer Hörweite war. Till zuckte nur gleichgültig seine Schultern. Offensichtlich hatte er keine große Lust, über Marie zu lästern und wir verfielen in ein Schweigen. Ich ließ meinen Blick über die Tische wandern, bis er von zwei Personen angezogen wurde, die sich gerade der Terrasse näherten. Scheiße. Das konnte doch wirklich nicht wahr sein, oder?

Caroline und Tamilo steuerten einen Tisch in unserer Nähe an. War denn Hamburg nicht verdammt nochmal groß genug, um sich nicht zufällig über den Weg zu laufen? Offensichtlich nicht, denn sonst wären die beiden ja nicht hier. Glücklicherweise saß Till mit dem Rücken zu ihnen und ich beeilte mich, meinen Blick von dem Tisch zu lösen, an dem sie sich nun niederließen. Ich sandte Stoßgebete … wohin auch immer, dass Till nicht auf die Idee kam, sich umzudrehen. Blieb nur zu hoffen, dass die beiden uns nicht entdeckten. Im besten Fall beschlossen sie noch, uns Gesellschaft zu leisten.

Ich malte mir bereits verschiedene Szenen aus, die Till veranstalten würde, wenn er Caroline entdeckte. Er würde da sicherlich nicht so zimperlich sein, wie wir.

Immer wieder huschte mein Blick zu den beiden hinüber. Caroline und Tamilo so nah zu wissen, machte mich nervös.

Vorsichtig beobachtete ich das Paar. Ich wollte weder deren, noch Tills Aufmerksamkeit auf mich ziehen. Doch wie hoch war schon die Wahrscheinlichkeit, dass wir hier eine geschätzte Stunde saßen, ohne einander zu entdecken? Naja… ich hatte die beiden ja bereits entdeckt.
 

Nun sah ich, wie Caroline Tamilo irgendetwas erzählte…

Caroline, wie sie Tamilo dabei vertraut am Arm berührte…

Tamilo, der lächelnd irgendetwas darauf erwiderte…

Caroline, die weiterhin auf Tamilo einsprach…

Tamilo, der nun seinen Blick streifen ließ…

Tamilos Augen, die auf meine trafen und an mir hängen blieben…

Tamilo, der mich anlächelte und nun wieder etwas zu Caro sagte…

Caroline, die sich zu mir umdrehte und sich nun mit Tamilo gemeinsam erhob.
 

Es dauerte einen Augenblick, bis ich realisierte, dass die beiden tatsächlich auf uns zukamen. Ganz große Scheiße.

Das durfte doch jetzt wirklich nicht wahr sein! Wie viel Pech konnte man denn eigentlich haben?
 

„Hey, habt ihr etwas dagegen, wenn wir uns zu euch setzen?“, fragte Tamilo lächelnd. Mein Blick schnellte zu Till, der aufgesehen hatte und dessen Blick nun völlig entgeistert auf Caro lag. Ihr erschrockener Gesichtsausdruck verriet, dass sie Till zu spät entdeckt hatte. Auch Tamilo richtete nun seine Aufmerksamkeit auf Till. Ganz offensichtlich ahnte er nicht im Geringsten, wen er vor sich hatte. Noch immer lächelnd streckte er seine Hand aus und sagte: „Hey, wir kennen uns noch nicht. Ich bin Tamilo.“

Ich konnte sehen, wie Till schwer schluckte und die ihm angebotene Hand ansah. Nachdem seine Augen noch einmal zu Caro gehuscht waren, sah er Tamilo schließlich fest in die Augen und griff nach der Hand. „Ja… ich habe schon von dir gehört. Ich bin Till.“

Mein Blick klebte an Tamilo und ich sah, wie die Erkenntnis ihn traf. Er wandte seinen Kopf zu Caro, die sich halbwegs hinter ihrem Freund versteckte. Es war kaum zu übersehen, wie unangenehm ihr das ungeplante Aufeinandertreffen war.

„Oh…“, machte Tamilo nur und ließ Tills Hand schließlich wieder los.

„Hey Milo“, kam es nun von Leonie, die mit der Situation ebenfalls überfordert zu sein schien. Mit einem unsicheren Lächeln und einem besorgten Ausdruck, sah sie uns alle abwechselnd an. „Das ist ja eine Überraschung“, setzte sie noch nach, als auch Tamilo nur mit einem Lächeln reagiert hatte.

Ich für meinen Teil wartete nur auf den großen Knall und hoffte, dass Tamilo sich mit Caro ganz schnell wieder einen Tisch suchte, der möglichst weit von unserem entfernt lag, bevor …
 

„Setzt euch doch.“

WAS? Ruckartig drehte ich mich nach rechts und starrte meinen besten Freund an. Die Spannung, die in der Luft lag, war beinahe greifbar.

„Caroline.“ Betont freundlich sprach Till sie an und sie fuhr leicht zusammen. „Lange nicht gesehen. Du siehst gut aus“, stellte er fest. Wäre die Situation anders, hätte ich gelacht, denn Caroline sah in diesem Moment überhaupt nicht gut aus. Sie wirkte wie ein verschrecktes Reh, das kurz davor war, sich zu übergeben.

„Hallo Till… Wie geht es dir?“, traute sie sich doch tatsächlich zu fragen.

„Bestens“, antwortete Till mit einem breiten Grinsen, das nur Leute täuschen konnte, die ihn nicht bereits Jahre kannten. Mir konnte Till jedenfalls nichts vormachen. Und ich hätte meine Hand, sowie etliche andere Körperteile dafür ins Feuer gelegt, dass weder Leonie, noch Caroline der gehässige Unterton entgangen war, der in Tills Stimme gelegen hatte.

Bei Milo war ich mir nicht sicher. Dem war anzusehen, dass er Probleme hatte, die Situation einzuschätzen. Knapp über der Nasenwurzel entdeckte ich ein kleines Fältchen, das ich viel spannender fand, als die leicht zusammengezogenen Augenbrauen.
 

Erst nach ein paar Augenblicken wurde mir bewusst, dass Tamilo mich ansah. Ertappt fuhr ich etwas zusammen. War Tamilos Blick vorher noch fragend gewesen, so blitzten die Augen nun amüsiert auf. Zum ersten Mal sah ich Tamilos Augen bei Tageslicht. Bei der schummrigen Beleuchtung im Academy hatten sie fast schwarz gewirkt, dabei waren sie gar nicht so dunkel. Tamilos Augen waren braun. Es war ein äußerst warmes, sattes braun. Ich war erst in der Lage den Blickkontakt mit Tamilo zu lösen, als Till etwas ungeduldig sagte: „Nun setzt euch schon zu uns.“

Um seine Worte zu unterstützen, stand er auf und zog von einem der unbesetzten Tische einen zweiten freien Stuhl an unseren Tisch. Etwas hilflos stammelte Caroline: „Wir wollen euch nicht stören…“

„So ein Blödsinn“, widersprach Till, der sich offenbar in Carolines Unsicherheit suhlte. Ich konnte überhaupt nicht abschätzen, was Till nun vorhatte. Ein leichtes Lächeln umspielte seine Mundwinkel.

Caro sah Till noch einmal an, seufzte dann leise und setzte sich schließlich auf den leeren Stuhl neben Leonie. Den zweiten Stuhl hatte Till zwischen unsere Plätze geschoben, sodass Tamilo nun zwischen uns Platz nahm. Denn Till hatte offenbar nicht vor, zu mir aufzurücken.
 

Tamilos Blick verriet, wie sehr ihn diese seltsame Situation verwirrte. Natürlich konnte er sich keinen Reim auf die extrem angespannte Stimmung machen und ich fragte mich, ob, und wie viel er wohl ahnte. Immer wieder huschten seine Augen zu Till, der nun zwischen ihm und Caro saß.

Ein unangenehmes Schweigen breitete sich aus. Ich konnte nur Vermutungen darüber anstellen, was jeden einzelnen dazu brachte, zu schweigen.

Leonie hatte vermutlich Angst, dass eine unbedachte Äußerung eine Lawine ins Rollen brachte, die nicht mehr aufzuhalten war. Außerdem war sie damit beschäftigt, beruhigend über Caros Arm zu streichen. Hallo?! Und wer strich Till beruhigend über den Arm?

Warum Caroline schwieg, war ebenfalls unschwer zu erraten. Sie schien sich zwar ihrem Schicksal ergeben zu haben, doch sie hoffte vermutlich dennoch, dass Till den Mund hielt. Außerdem sah sie aus, als hätte ihr Sprachzentrum sie vollends im Stich gelassen. Sie starrte völlig abwesend auf den Tisch.

Till schwieg vermutlich weil … Keine Ahnung! Warum schwieg er denn? War dies nicht die Situation, auf die er schon seit Monaten wartete? Der Zeitpunkt, an dem er es Caro immerhin ein klein wenig heimzahlen konnte, war gekommen und … er schwieg? Vielleicht überlegte er auch nur, wie er es am besten anstellen konnte.

Tamilo sah noch immer verwirrt in die Runde. Mit gerunzelter Stirn betrachtete er immer wieder seine Freundin, die noch immer leicht apathisch wirkte.
 

Als würde er meinen Blick spüren, drehte er sich zu mir um. Dieses Mal wirkte er jedoch nicht amüsiert. Forschend hielt er meinen Blick gefangen, als könnte er in meinen Augen Antworten finden, die ihm niemand sonst zu geben bereit war. Doch ich tat es den anderen am Tisch gleich und schwieg.

Eindeutig frustriert lehnte sich Tamilo in seinem Stuhl zurück und ich war mir sicher, wenn das Schweigen noch etwas länger andauerte, würde irgendjemand schreiend aufspringen. Und ich hätte all mein Hab und Gut dafür verwettet, dass Tamilo dieser jemand wäre. Wir anderen wussten ja schließlich Bescheid.

Ich hätte das Gespräch nur zu gern ins Rollen gebracht, doch mir war nicht wohl bei dem Gedanken daran, in welche Richtung es sich entwickeln könnte.
 

Zu allem Überfluss näherte sich nun auch noch Marie mit unserer Bestellung dem Tisch und ich wusste nicht, ob ich eher lachen oder weinen sollte. Auch Marie schien mehr als überrascht zu sein. Als sie Caroline neben Till entdeckte, stockte sie kurz in ihrer Bewegung. Die beiden nebeneinander sitzen zu sehen, musste für sie ein herber Schlag in die Magengrube sein. Doch sie fing sich schnell und trat an uns heran. Nachdem sie alles abgeladen hatte, wandte sie sich sehr unterkühlt an Caro.

„Ach was. Dass man euch noch einmal irgendwo zusammen antrifft… Das ist ja eine nette Überraschung.“ Marie ließ demonstrativ ihren Blick von Till zu Caro gleiten und ihr Tonfall verriet im Gegensatz zu ihrem gewohnt freundlichen Lächeln, wie nett sie diese Überraschung wirklich fand.

Caros Augen verengten sich und ihr Blick bohrte sich in Maries. Tamilo reagierte lediglich mit einem leichten Anheben der Augenbrauen und Till unterbrach das stille Duell der beiden Mädchen, indem er Marie nun plötzlich doch die erhoffte Aufmerksamkeit schenkte. „Versteh das nicht falsch, Marie. Ich bin frei wie ein Vogel“, sagte er und schenkte ihr ein strahlendes Lächeln.

Marie wäre nicht Marie gewesen, wenn sie darauf nicht sofort angesprungen wäre.

„Ach, wenn das so ist, dann kannst du mich gern mal anrufen. Wir könnten ja mal etwas trinken gehen.“ Till überraschte uns, indem er zwar kurz zögerte, sein Grinsen dann noch breiter werden ließ und sagte: „Ja, ich glaube, das werde ich tatsächlich tun. Deine Nummer müsste ich ja noch haben.“
 

Ich konnte nicht anders, als Till ungläubig anzustarren. Wollte er das wirklich durchziehen, nur um Caro eins auszuwischen?

Sein Interesse an Marie konnte in zehn Minuten kaum so sehr gewachsen sein. Marie nickte begeistert und wandte sich dann triumphierend wieder an Caro und fragte: „So, was darf es bei dir sein?“

Caros Gesichtsausdruck war während dieser Szene alles andere als freundlicher geworden. „Nur einen Eiskaffee, bitte“, murmelte sie jedoch beherrscht. Vermutlich wollte sie Marie nicht provozieren, denn die hatte schon einmal bewiesen, dass sie in der Lage war, Caro bloßzustellen. Tatsächlich richtete Marie ihre Aufmerksamkeit auch direkt auf Milo. „Und bei dir?“

„Das selbe für mich“, entgegnete er stirnrunzelnd.

„Kommt sofort“, flötete Marie strahlend. Caro warf Marie imaginäre Giftpfeile hinterher, als die wieder ins Lokal ging. Die Stimmung am Tisch hatte es tatsächlich geschafft, noch seltsamer zu werden.

Till hingegen schien nun ausgezeichnete Laune zu haben. Lächelnd lehnte er sich zurück und begann tatsächlich ein Gespräch.
 

„Nun erzählt doch mal, wie habt ihr beiden euch kennengelernt?“, richtete er sich eindeutig an Tamilo. Der legte den Kopf schief und antwortete: „Mein Cousin Marc hat sie mit auf eine Party gebracht.“

Ich schaffte es gerade eben noch ein Stöhnen zu unterdrücken. Mir war nicht entgangen, dass Tamilo diesen Satz scheinbar ganz bewusst im Raum hängen ließ und Till aufmerksam musterte. Till enttäuschte uns auch nicht. Erstaunt weiteten sich seine Augen und mit einem trockenen Auflachen schnellte sein Blick zu seiner Ex-Freundin.

„Interessant. Marc ist also dein Cousin? So klein ist die Welt“, grinste Till. Tamilo nickte, ohne den Blick von meinem besten Freund zu lösen.

„Seid ihr befreundet?“, fragte er dann betont beiläufig.

Tills Grinsen wurde noch einmal eine Spur breiter. „Waren wir mal. Aber das ist eine alte und lange Geschichte.“

Wieder nickte Tamilo. Spätestens in diesem Moment hatte er bewiesen, wie viel er im Kopf hatte. Dass Tamilo etwas ahnte, hatte wohl auch Till begriffen, der Tamilo nun nicht einmal seit zwanzig Minuten kannte. WAS er ahnte, trauten wir uns irgendwie alle nicht zu fragen.
 

„Und? Was habt ihr heute noch so vor?“, wollte Leonie wissen.

Nun musste ich trotz allem grinsen, denn die Panik, die in Leonies Stimme mitschwang, war mehr als offensichtlich. In dieser Stimmlage versuchten Personen in Filmen eine peinliche Situation aufzulösen. Mit Mühe konnte ich immerhin verhindern, dass aus dem Schmunzeln ein Kichern wurde.

Tamilo schien fürs Erste zu akzeptieren, dass er kaum mehr erfahren würde. Und genauer nachfragen wollte er offenbar auch nicht.

Auf Leonies Frage hin zuckte er mit den Schultern. „Nicht allzu viel. Ich muss um 17 Uhr arbeiten, wie jeden Sonntag.“

„Wo arbeitest du?“, fragte ich nach. Zwar hatte Tamilo erwähnt, dass er hin und wieder kellnerte, um seinen Eltern nicht allzu sehr auf der Tasche zu liegen, doch Genaueres wusste ich auch nicht.

„Milo arbeitet im Herzblut hinter der Theke“, antwortete Leonie für ihn.

„Wow“, entfuhr es mir, „du hättest es mit deinem Nebenjob echt schlechter treffen können.“

Tamilo nickte grinsend. „War auch nicht ganz einfach, da reinzukommen … aber ich kannte jemanden, der jemanden kannte … und so weiter …“

„Glückspilz. Das ist ein echt schöner Laden“, stellte ich fest.

„Stimmt!“ Leonie klammerte sich sofort an dieses Gespräch und fragte: „Und wir waren schon ewig nicht mehr dort! Was haltet ihr davon, wenn wir das nächstes Wochenende ändern? Am Samstag vielleicht?“
 

In diesem Moment erschien Marie mit den restlichen Getränken. Wieder schenkte Till ihr ein breites Lächeln. Bevor sie jedoch wieder verschwand, steckte sie Till einen Zettel zu und zwinkerte ihn an.

„Neue Nummer“, hauchte sie. Ich wusste nicht genau, was sie sich vorstellte, wie das klingen sollte, doch ich war versucht, ihr Lutschpastillen gegen Heiserkeit zu empfehlen.

Nachdem Till Marie quasi weggelächelt hatte, griff Tamilo das Gespräch wieder auf, als hätte es diese Unterbrechung nie gegeben.

„Samstagabend muss ich arbeiten“, warf Tamilo ein. Bei diesem Gespräch schien er sich deutlich wohler zu fühlen, als noch vor wenigen Minuten. „Na, dann bist du ja schon mal dort“, grinste Leonie.

„Mhm“, nickte Tamilo, „aber vermutlich schwer beschäftigt“

„Dafür hast du Leute da, mit denen du deine Pause verbringen kannst.“

Ich schenkte Tamilo einen mitleidigen Blick. Er erfuhr nun am eigenen Leib, wie talentiert Leonie darin war, ihren Willen durchzusetzen.

Doch Tamilo lachte auf und hob die Hände. „Schon gut, du hast gewonnen. Langsam sollte ich mich daran gewöhnt haben, was du für einen Dickschädel hast.“

Na klar. Ich hatte völlig vergessen, dass alle außer mir Tamilo bereits kannten. Mir wurde aber erst in diesem Moment bewusst, dass sie ihn auch alle inzwischen recht gut kannten. Alle außer mir. Gut … und außer Till, doch ich bezweifelte, dass dem besonders viel daran lag, das zu ändern.

Und mir?
 

Wieso lag mir etwas daran, Milo kennenzulernen? Was hatte er nur an sich, dass ich immer mehr über ihn wissen wollte? Tamilo konnte mir doch echt am Arsch vorbeigehen. Schließlich war er nur der neue Macker der Ex-Freundin meines besten Kumpels, die ich – ich konnte es gar nicht oft genug sagen – eh noch nie gemocht hatte. Warum also dieses Interesse?

„Nik?“

Verwirrt sah ich auf. Alle am Tisch sahen mich abwartend an. Worauf warteten die denn?

„Ich habe dich gefragt, ob du am Samstag auch dabei bist!“

„Wo dabei?“ Genervt verdrehte Leonie die Augen. „Na, wovon sprechen wir denn die ganze Zeit? Samstag. Herzblut. Bist du dabei, oder nicht?“

„Klar, warum nicht?“, antwortete ich, noch bevor ich über den Sinn der Frage genauer nachgedacht hatte. Besonders begeistert klang ich wohl nicht, doch Leonie schien es auszureichen, denn sie wandte sich sofort darauf an Till, der sie unsicher und fast flehend ansah.

Auf die Frage, ob auch er käme, reagierte er zuerst gar nicht.

Dafür schnellte Caros Blick zu ihm. Ich wartete nur auf ein entschiedenes „Bestimmt nicht“ aus Tills Mund.

„Oh man, Leonie“, kam es stattdessen von ihm.

„Komm schon, das wäre bestimmt gut“, sprach sie nun sanft auf ihn ein.

„Ich werde darüber nachdenken, okay?“

Wo war nur Leonies Feingefühl geblieben?

Merkte sie denn nicht, dass Till keinen Abend mit Caro und Tamilo verbringen wollte? Wenn Till sich tatsächlich dazu entschließen sollte, mitzukommen, versprach der kommende Samstag sehr spannend zu werden.
 

Vorsichtig bewegten sich die anderen durch unverfängliche Gesprächsthemen. Ich hielt mich größtenteils zurück und war erleichtert, als sich die Runde auch schnell auflöste, nachdem Leonie und Till ihr Frühstück beendet hatten. Beim Bezahlen hoffte ich erneut, dass Till Marie eine Abfuhr erteilen würde. Dieses Anschmachten war ja nicht auszuhalten. Ich war sicherlich nicht der Einzige, der so dachte.

Abgesehen von Till, dem das Grinsen ins Gesicht getackert zu sein schien, fiel unsere Verabschiedung von Marie ebenso kühl aus, wie die Begrüßung.

Nachdem wir uns auch von Caro und Tamilo verabschiedet hatten, fiel Tills Grinsen aus seinem Gesicht, als wäre es niemals dort gewesen.
 

„Das war also Tamilo“, murmelte er, als wir wieder im Auto saßen. „Leonie, verrate mir doch bitte, warum ich am Samstag auch nur einen Fuß in das verdammte Herzblut setzen soll.“

Leonie zog eine Grimasse und erwiderte dann: „Weil ich denke, dass es dir gut tun würde. Vielleicht solltest du dir bei der nächsten Gelegenheit auch einfach Caro zur Brust nehmen und ein klärendes Gespräch mit ihr führen. Dann könntest du vielleicht auch endlich mit ihr abschließen und dich endlich wieder wirklich mit deinem eigenen Leben auseinandersetzen.“

„Ich habe keine Lust, ein klärendes Gespräch mit Caroline zu führen! Was soll denn dabei rauskommen? Ich habe echt keinen Bock von weiteren Kerlen zu erfahren, mit denen sie mich betrogen hat.“

„Till. Ich sage ja gar nicht, dass du ihr verzeihen sollst. Ich kann sehr gut verstehen, wenn du das nicht kannst. Aber das Ganze ist jetzt sieben Monate her…“

„Ich weiß…“, raunte Till. „Aber was soll es mir helfen, wenn ich noch dabei zusehe, wie glücklich sie nun mit Tamilo ist? Habt ihr gesehen, wie sie ihn angehimmelt hat?“ Till lachte trocken auf. „Natürlich habt ihr das gesehen. Das hätte selbst ein Blinder mitbekommen. So hat sie mich nie angesehen…“

„Was redest du denn da?“, fragte Leonie leise und lehnte sich vor, um ihren Kopf auf der Rückenlehne des Beifahrers abzustützen.

„Tamilo ist für Caroline etwas ganz anderes, als ich jemals war“, stellte Till nüchtern fest. „Ich habe die ganze Zeit versucht, mir vorzustellen, wie das erste Treffen mit ihr ablaufen würde. Tausend Dinge wollte ich ihr sagen und ich hatte mir vorgenommen, dass ich Caroline jede kommende Beziehung versauen würde… nun hätte ich die Gelegenheit und ich weiß nicht, ob ich sie nutzen soll...“

Leonie griff vom Rücksitz nach vorne und strich Till durch die Haare. Der wehrte sich nur halbherzig dagegen, drehte seinen Kopf aber zum Fenster.

„Was spukt dir im Kopf herum?“, fragte sie sanft.

Ich persönlich hatte auf Caro gar nicht so sehr geachtet. Wann immer ich zu ihr gesehen hatte, sah sie entweder ängstlich, oder angestrengt unbeteiligt aus. Meine Aufmerksamkeit hatte im Alex viel mehr Till und Milo gehört. Doch das Anhimmeln war mir ja bereits bei unserem Treffen im Academy aufgefallen.

Till unterbrach meine Gedanken.

„Was hat Tamilo, was Caro bei mir nicht bekommen konnte?“, fragte Till nun noch immer ans Fenster gerichtet, „wir waren so lange zusammen und sie war scheinbar nicht glücklich genug, dass ich allein ihr ausgereicht hätte. Tamilo hingegen vergöttert sie. Das war nicht zu übersehen. Aber warum? Was ist an ihm so verdammt anders?“
 

Till war nie jemand gewesen, der seine Gefühle versteckte. Vor allem nicht vor uns. Doch seine Mauern so sehr in sich zusammenfallen zu sehen, kam dennoch selten vor und es verpasste mir jedes Mal aufs Neue einen heftigen Stich. Am schlimmsten war, dass es noch immer Caro war, die scheinbar als einzige Person dieser Welt die Fähigkeit hatte, das Grinsen, das beinahe rund um die Uhr auf Tills Gesicht lag, verschwinden zu lassen, als wäre es nie da gewesen.

Ich mochte diesen traurigen Till nicht. Ich hasste Caro mehr denn je dafür, dass sie Tills Gefühle so sehr beeinflusste. Und ich hasste mich dafür, dass ich keine Worte dafür fand, um etwas daran zu ändern. Doch auf Leonie war in dieser Hinsicht wie immer Verlass.

„Hör auf, dich mit Tamilo zu vergleichen, denn das führt zu nichts, außer dass du dich selbst völlig verrückt machst! Das mit dir und Caro war nicht für die Ewigkeit bestimmt, also hör auf, die Schuld dafür bei dir zu suchen! Du weißt, ich mag Caro noch immer, doch diese Sache hat sie allein verbockt. Nun sieh endlich nach vorne und halte die Augen auf. Es wird auch die Richtige für dich kommen! Das geht aber nur, wenn du Caro endlich loslässt.“

Weiterhin hielt Till seinen Blick starr aus dem Fenster gerichtet.

„Leichter gesagt, als getan, Leonie. Wenn das so einfach wäre, würde ich keinen einzigen Gedanken mehr an Caroline verschwenden. Aber meinst du, das Loslassen ist leichter, wenn ich mit ihr und ihrem neuen Freund Party machen gehe?“, schnaubte er dann leise.

„Vielleicht. Vielleicht auch nicht.“, mischte ich mich nun doch in das Gespräch ein, „Im Zimmer verkriechen bringt offensichtlich nichts. Das hast du nun die letzten Monate bis zum Erbrechen geübt. Vielleicht musst du dich ihr stellen um mit ihr abzuschließen.“

Till seufzte leise.

„Ich will da nicht hin.“

„Ich sag dir was, Till. Du kommst mit. Wir werden sehen, wie es läuft und wenn du echt da weg willst, dann wechseln wir eben die Location. Wir haben ja genug Auswahl auf der Reeperbahn“, schlug Leonie vor.

„Ich habe doch eh keine Wahl“, murrte Till und sah Leonie nun über die Schulter an.

„Stimmt“, grinste die.

Wir näherten uns einer Kreuzung, die entschied zu wem wir fahren würden, also fragte ich: „Zu wem soll denn die Reise nun gehen?“

„Zu dir!“, antwortete Leonie sofort grinsend, „Till wirkt, als bräuchte er ein paar Minuten mit eurem dämlichen Ich-klopp-dich-tot-Spiel.“

Damit entlockte Leonie Till und mir ein Lachen und ich bog auf die Straße ab, die in die Richtung meines Hauses führte.
 

Bei mir angekommen beschlossen wir, uns aus der Küche etwas zu trinken zu holen und uns dann in mein Zimmer zu verziehen.

Als Tills Blick in die Küche fiel, bedeutete er uns grinsend leise zu sein und schlich sich dann an Sophia an, die dort gerade am Werkeln war. Sophia hatte sich ein Handtuch um die Haare gewickelt und auch ihre kurzen Shorts und das Top, das sie trug, sprachen dafür, dass sie eben unter der Dusche gewesen war. Und es war definitiv kein Outfit, das sie gewählt hätte, wenn ihr bewusst gewesen wäre, dass ich mit Leonie und Till im Schlepptau hier auftauchen würde. Ich tauschte kurz einen Blick mit Leonie und lehnte mich dann an den Türrahmen.

Till war nun knapp hinter Sophia zum Stehen geblieben, ohne, dass diese seine Anwesenheit zu ahnen schien.

Dann schlang er seine Arme um ihren Bauch und drückte ihr schnell einen Kuss auf die Wange. Sophia war erst vor Schreck beinahe in die Luft gesprungen und dann völlig erstarrt, als sie erkannte, wer sie da überfallen hatte.
 

„Fifi, findest du, das ist der richtige Aufzug, wenn offensichtlich jederzeit Männer das Haus betreten können, ohne, dass du das mitbekommst?“, grinste Till sie frech an.

Das holte sie endlich aus ihrer Starre heraus. Entschieden drückte sie Till von sich weg und kniff die Augen zusammen. „Hör endlich auf, mich Fifi zu nennen. Ich bin weder ein Hund, noch ein Kleinkind. Und normalerweise kommen hier keine Männer rein, mit denen ich nicht rechne.“

Till zog verstehend beide Augenbrauen in die Höhe. Sophia errötete und ich fragte mich, wie Till nur so blind sein konnte.

Dann wandte sie sich wieder dem Brett zu, auf dem sie Obst kleinschnitt, das dann in einer Schüssel landete. Till streckte seinen Hals und fragte: „Bekommen wir davon etwas ab?“

Sophia schob Till zur Seite und erwiderte: „Sieht das so aus, als würde das für die ganze Meute reichen? Das ist für zwei Personen gedacht.“

Grinsend drehte sich Till sofort zu uns um. „Habt ihr gehört? Ihr müsst euch selbst etwas machen! Ich esse mit Fifi Obstsalat!“

Leonie grinste zurück. „Du hast gerade gefrühstückt, Till.“

Sophia boxte Till leicht in die Seite. „Fifi isst gar nichts mit dir. Anni kommt gleich vorbei.“ Dann drehte sie sich mit einem gequälten Gesichtsausdruck zu uns um und fragte: „Wolltet ihr nicht zu Leonie?“

Grinsend zuckte ich mit den Schultern. „Kleine spontane Planänderung. Soll vorkommen.“

„Toll! Und den musstet ihr mitbringen?“, sie deutete mit einem Löffel auf Till.

Lächelnd schüttelte ich den Kopf. Es war beinahe niedlich, wie sehr Sophia gerade die Kratzbürste heraushängen ließ. Till schien das überhaupt nicht zu stören und er nahm Sophia den Löffel aus der Hand und versenkte ihn schnell im Obst. Als hätte er einen Klaps auf die Finger erwartet, brachte er sich mit dem Löffel in Sicherheit und ließ den Inhalt im Mund verschwinden.

Sophia sah ungerührt dabei zu und fing erst an zu grinsen, als Till das Gesicht verzog. Dann zog sie eine Küchenschublade auf, holte einen neuen Löffel daraus und rührte den Obstsalat um.

„Bisschen sauer, findest du nicht?“

Sophia lächelte ihn zuckersüß an. „Zitronensaft verhindert, dass die Bananen braun werden. Das kommt davon, wenn man den Löffel ungefragt überall reinsteckt.“

Anzüglich grinsend lehnte sich Till nun wieder zu Sophia und raunte: „Liebste Fifi, bisher war mein Löffel noch überall willkommen, wo ich ihn reingesteckt habe.“ Erneut wurde Sophia rot und Till lachte leise auf.

Schnell fing sie sich und erwiderte: „Schön! Dann steck deinen Löffel dahin, wo er willkommen IST, aber nicht in meinen Obstsalat. Und hör endlich auf, mich Fifi zu nennen, das meine ich ernst.“

Lachend schlang Till erneut seine Arme um Sophias Bauch und sagte dann: „Niemals… Fifi.“

Mit der Schüssel in der Hand entwand sich Sophia Tills Umarmung, um den Obstsalat im Kühlschrank zu verstauen.

„Wenn ich den Salat gleich nicht genau so vorfinde, wie er nun im Kühlschrank steht, dann stecke ich dir einen ganz anderen Löffel ganz woanders hin“, säuselte Sophia und drehte sich um, „Ich gehe mir jetzt etwas anderes anziehen.“
 

Till sah ihr hinterher, wie sie die Küche verließ und rief ihr dann hinterher: „Sophia? Wir gehen am Samstag ins Herzblut. Kommst du mit?“

„Klar!“, kam die Antwort von meiner Schwester.

„Klasse! Und ich finde Fifi süß.“

Darauf erhielt Till keine Antwort. Jedenfalls nicht von Sophia. Leonie hingegen schnaubte: „Du bist so ein Idiot.“

Damit trat sie an den Kühlschrank um eine Flasche Apfelschorle herauszunehmen.

„Mhh?“, fragte Till mit aufgerissenen Augen, „Was ist denn jetzt los?“

„Schnapp dir Gläser und dann beweg deinen Arsch nach oben!“, ordnete Leonie an und verließ die Küche.

Till sah mich verwirrt an. „Was ist der denn jetzt über die Leber gelaufen?“

Ich seufzte nur und folgte meiner Freundin nach oben.
 

Eindeutig perplex betrat Till wenig später das Zimmer und sah uns fragend an.

„Was ist denn jetzt schon wieder los? Habe ich irgendetwas verpasst?“

Leonie sah mich an und deutete auffordernd auf Till.

War ja klar. Leonie brachte den Stein ins Rollen und ich durfte den ganzen Mist dann ausbügeln. Mein Bedarf an solchen Gesprächen war für heute eigentlich ziemlich gedeckt. Blieb mir denn momentan gar nichts erspart? Ich hatte mir ja selbst vorgenommen, Till auf die Gefühle meiner Schwester aufmerksam zu machen. Allerdings hatte Leonie mir die Wahl zum Zeitpunkt dieses Gespräches gekonnt abgenommen.

Ich hatte keinen blassen Schimmer, wie ich das sagen sollte.

Seufzend begann ich: „Ich finde es nicht so toll… wenn du so mit meiner Schwester flirtest…“

Unverständnis lag auf Tills Gesichtszügen.

„Hä? Seit wann ist das denn ein Problem? Das war doch nie anders… Das ist doch nur Spaß und du solltest das wissen. Ich würde doch niemals…“

„Till, es geht doch nicht darum, dass Nik das in den falschen Hals kriegt“, unterbrach Leonie ihn, „wir wissen beide, dass du keine weiteren Absichten hast. Aber vermutlich wird es Sophia verletzen, wenn du das nicht sein lässt.“

Till sah von Sekunde zu Sekunde nur noch verwirrter aus. „Warum sollte das Sophia verletzen? Wir verstehen uns doch prima!“

Leonie präsentierte uns ihr äußerst gekonntes Augenverdrehen und erwiderte: „Till, sag mal, bist du blind? Sophia steht auf dich. Und jedes Mal wenn du sie siehst, flirtest du mit ihr. Das ist nicht unbedingt leicht für sie.“

Till runzelte die Stirn und schüttelte dann lachend den Kopf. „Du spinnst doch, Leonie. Sophia kann unmöglich… also… das hätte ich doch gemerkt wenn… das ist absoluter Blödsinn.“

Dann sah er zu mir, als wolle er sich auf diese Weise meine Unterstützung sichern. Prompt kam auch seine Aufforderung: „Nik, sag deiner Freundin, dass das Schwachsinn ist.“

Entschuldigend zuckte ich mit meinen Schultern. „Ich fürchte das ist kein Schwachsinn. Ich habe es erst auch nicht gerafft. Aber nachdem Leonie mich darauf aufmerksam gemacht hat… naja… man muss schon sehr blind sein, um das nicht zu sehen…“

Wieder schüttelte Till den Kopf.

„Ihr wollt mich verarschen.“

„Ihr spinnt doch, alle beide!“, sagte Till breit grinsend.

Genauso hatte auch ich reagiert, als Leonie mir vor einigen Wochen die Augen geöffnet hatte.

„Das habe ich zuerst auch gedacht… aber… mal ehrlich, man muss schon blind sein, um das nicht zu sehen.“

Till schien zu begreifen, dass wir ihn keinesfalls verarschen wollten und er sackte ein wenig in sich zusammen. Immer wieder schüttelte er den Kopf. „Das kann nicht sein“, murmelte er.

Kurz herrschte Stille.
 

„Scheiße.“

Leonie und ich warteten einfach ab. Wir ließen die Information erst einmal sacken.

„Wieso?“, fragte Till fassungslos nach.

Leonie lachte auf. „Ach Till, Du siehst gut aus und wann immer du Sophia siehst, flirtest du mit ihr. Wundert dich das jetzt wirklich?“

„Aber das ist doch schon ewig so…“ Noch immer hatte Till das Kopfschütteln nicht eingestellt.

Leonie zog die Augenbrauen hoch und grinste ihn an. Erst erwiderte Till den Blick verwirrt, doch dann schien er zu verstehen und schluckte. „Scheiße. Seit wann…?“

Schulterzuckend erklärte sie: „Also wirklich bewusst ist es mir seit ein paar Monaten, doch es würde mich nicht wundern, wenn ihre Begeisterung für dich sie schon durch ihre Pubertät begleitet hätte.“

Seufzend ließ Till seinen Kopf nach hinten gegen die Sofalehne sinken. „Das war doch nie meine Absicht. Warum habt ihr mir nie etwas gesagt?“, fragte er vorwurfsvoll.

„Ich dachte, das legt sich vielleicht irgendwann von alleine wieder“, versuchte ich zu erklären.

Leonie lachte spöttisch. „Das sollte sich einfach so wieder erledigen? Wie denn das? Till baggert sie doch an, sobald sie den Raum betritt. Da ist das doch kein Wunder!“

„Oh man… Wir reden hier von Fifi! Ich kenne sie, seit sie gewickelt wurde!“ Er fuhr sich überfordert durch die Haare. „Und jetzt? Was schlagt ihr vor, was ich jetzt tun soll?“

Lächelnd verschränkte Leonie die Arme. „Das kommt darauf an, was du mit dieser Information anfangen willst.“ Sie machte eine kurze Pause und wartete, bis Till sie ansah, ehe sie fortfuhr: „Dass du jetzt weißt, was Sache ist, heißt ja nicht, dass du dein Verhalten ihr gegenüber ändern musst. Wichtig ist nur, dass dir bewusst ist, was du damit auslöst.“

Ich hätte Leonie für diese Äußerung am liebsten etwas um die Ohren geschlagen. Ich wollte gar nicht, dass Till auch nur darüber nachdachte, mit meiner Schwester etwas anzufangen. Leonie hatte mir von vornherein klar gemacht, dass sie meine Meinung dazu nicht teilte. Sie würde sich freuen, Till und Sophia als Paar zu sehen.

Ich sah mich wirklich nicht als Mitläufer. Doch ich schloss mich doch der Mehrheit an, der es nicht gefiel, wenn der beste Freund sich auf eine Beziehung mit der Schwester einließ. In der Beziehung hatte ich absolut kein Interesse daran, gegen den Strom zu schwimmen.

Je länger Till nachdenklich schwieg, desto mehr wuchs in mir der Wunsch, auch ihm etwas über die Rübe zu ziehen.

Doch schließlich schüttelte Till energisch den Kopf. „Das ist absolut absurd. Sophia ist Niks Schwester. Nicht nur das… sie ist auch für mich fast schon eine Schwester.“

Beinahe wirkte Leonie etwas enttäuscht. Von mir konnte ich das nicht behaupten. Till konnte von Glück sagen, dass seine Antwort nicht anders ausgefallen war!

„Tja, wenn du das so siehst, dann solltest du Sophia einen Gefallen tun und aufhören mit ihr zu flirten!“, bemerkte Leonie.

Till nickte. „Ja. Kein Flirten mehr mit Fifi.“ Till sprach mehr zu sich selbst, als zu uns. Und ich hätte die Situation vermutlich witzig gefunden, wenn es sich nicht um meine Schwester gehandelt hätte.

„Ich habe Fifi für Samstag eingeladen, oder?“, erinnerte sich Till zerknirscht.

„Hast du“, erwiderte ich, „willst du sie jetzt wieder ausladen?“

„Wie scheiße wäre das denn? Natürlich nicht. Aber… vielleicht… sollte ich Marie wirklich anrufen und sie einladen? Vielleicht würde das ja… helfen?“

Wie bitte? Ich konnte nicht anders, als Till anzustarren. War das sein Ernst?

„Wenn du Marie unbedingt dabei haben willst, lad sie ein. Aber wenn du das tust, um meiner Schwester aufzuzeigen, dass sie keine Chancen bei dir hat, dann prügel ich dich durch den gesamten Club. Das ist mein Ernst. Ich werde nicht zulassen, dass du sie unnötig verletzt!“

„Das will ich doch auch nicht. Das war eine dämliche Idee, entschuldige“, lenkte Till auch sofort ein.

Wieder schüttelte er den Kopf.

„Ich habe keine Ahnung, wie ich mich jetzt verhalten soll“, gab er zu.

„Na, so wie immer?“, schlug Leonie vor, „ … mit etwas weniger flirten vielleicht…“

„Hättet ihr nicht einfach den Mund halten können? Dann wäre jetzt alles wie vorher. Vielleicht hätte Fifi dann bald einen netten Kerl kennengelernt und das Thema wäre vom Tisch gewesen!“, brummte Till.

„Hast du uns nicht gerade eben noch Vorwürfe gemacht, weil wir dir nicht eher was gesagt haben? Das nenne ich mal konsequent, Till“, grinste ich.

„Ja, aber diese Scheiße macht alles nur kompliziert. Bei Marie war mir das immer egal… aber bei Fifi ist das etwas anderes.“

„Warum?“, hakte Leonie sofort nach, die scheinbar die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben hatte, dass sie ein wenig Kuppelei betreiben könnte.

Nicht nur ich durchschaute sie. Auch Till sah sie nun etwas genervt an, als er sagte: „Leonie, ich will nichts von ihr! Ich habe sie aufwachsen sehen. Nein… ich bin mit ihr aufgewachsen. Nicht bei allen wird daraus eine Endlos-Lovestory wie bei euch beiden. Aber sie ist mir nicht egal. Und ich will nicht, dass sie verletzt wird. Von mir schon gar nicht!“

Darauf erwiderte Leonie nichts mehr. Sie ließ das Thema fallen und weder Till, noch ich, hatten etwas dagegen einzuwenden.
 

Das Thema Sophia wurde in stillem, gegenseitigem Einverständnis aus meinem Zimmer verbannt und wir widmeten uns dem Grund, aus dem wir beschlossen hatten, hierher zu kommen. Wir, das waren Till und ich. Leonie hatte zwar den Vorschlag gemacht, doch unsere Tekken-Session unkommentiert zu lassen, lag ihr dennoch fern.

Während Till und ich uns gegenseitig verkloppten, maulte Leonie hin und wieder irgendein Zeug über den Unterschied zwischen Männern und Frauen und die dazu proportional verlaufende Akzeptanz bezüglich Gewalt in Videospielen.

Ich dachte kurz über die Tatsache nach, dass meine Schwester Till und mich in dem Spiel mühelos fertig machte. Grinsend beschloss ich jedoch, das Thema nicht aufzugreifen, da ich die daraus resultierende Diskussion über den Sinn, oder Unsinn, dieser Spiele gerade echt nicht führen wollte. Also ließ ich Leonies Gebrabbel sein, was es war und schaffte es sogar irgendwann auch auszublenden.

Nach einer Weile gab sie es sowieso auf und mehr am Rande bekam ich mit, wie Leonie sich an meinem kleinen Bücherregal zu schaffen machte. Ich war kein großer Leser und es stand ohne Zweifel fest, dass meine Freundin von den rund zwei Dutzend Büchern, die ich besaß, deutlich mehr gelesen hatte, als ich selbst.

Vor allem sie war es, die mir hin und wieder ein Buch mitbrachte, das man laut ihrer Aussage gelesen haben sollte. Bei den ersten Büchern hatte ich mir auch noch die Mühe gegeben und sie von der ersten bis zur letzten Seite gelesen, doch irgendwann gab ich es auf. Mir fehlte einfach die Geduld. Die meisten Bücher schienen ohnehin nur zu einem Zweck den Weg in mein Regal gefunden zu haben: Damit Leonie für Situationen wie diese etwas zu tun hat.

Ich rechnete ihr hoch an, dass sie kein Mädchen war, das von seinem Freund 24 Stunden am Tag ungeteilte Aufmerksamkeit forderte.

Leonie vergrub ihre Nase also in irgendeinem Krimi und wir blieben vor weiteren Ansätzen irgendwelcher Grundsatzdiskussionen verschont.

Meine Grübelei blieb natürlich von Till nicht unbemerkt und nachdem er angemerkt hatte, dass ich unkonzentriert spielte, schenkte ich nun dem Fernseher wieder meine ungeteilte Aufmerksamkeit.

Diese wurde jedoch ein paar Runden später wieder gestört, als jemand an meine Zimmertür klopfte.

„Mhh?“, brummte ich und Till pausierte das Spiel. Unsere Blicke wanderten zu der Tür, die sich jetzt nun öffnete und den Blick auf ein grinsendes Mädchen in Sophias Alter freigab.

„Hey!“, grüßte Anni gut gelaunt, „Sophia hat gesagt, dass ihr hier seid. Habt ihr etwas dagegen, wenn wir euch Gesellschaft leisten? Oder stören wir?“
 

Irgendwie nahm mich Annis Grinsen sofort gefangen.

Wie hatte mir das Verwandtschaftsverhältnis zwischen ihr und Tamilo nur entgehen können? Das war definitiv dasselbe Grinsen und sogar die Grübchen, die mir schon bei Tamilo aufgefallen waren, konnte ich bei seiner Schwester in einer abgeschwächten Form entdecken.

Die auffälligste Übereinstimmung waren die Augen. Es war exakt der selbe warme braune Farbton, der uns nun entgegensah.

Anni war kleiner als Tamilo. Es war beinahe schon unnötig, dies festzustellen, denn Anni war kleiner als Leonie, als Till, als Sophia… Sie war definitiv kleiner als die meisten Personen, die ich kannte.

Ihre Haare waren im Gegensatz zu Tamilos platinblond. Doch da die Haarfarbe bei Anni beinahe jedes Mal, wenn wir uns sahen, eine andere war, ließ ich auch diesen Aspekt bei dem Vergleich großzügig aus.

Zum wiederholten Male in den letzten Tagen machten meine Rippen Bekanntschaft mit dem spitzen Ellenbogen meiner Freundin. „Dir nehme ich das Gegaffe gleich übel! Und du…“ Leonies Blick glitt an mir vorbei. Ich folgte ihm und erkannte, dass Till einen Punkt hinter Anni fixierte. Grummelnd reichte ich Leonies Hieb mit noch weniger Sanftheit, als ich sie erfahren hatte, an meinen besten Freund weiter. Der blinzelte verwirrt und hörte auf, meine Schwester anzustarren.

„Was euch die beiden Neandertaler neben mir mit ihrem Verhalten sagen wollten, ist: Ihr stört natürlich nicht“, sagte sie spitz, deutete auf den Fernseher, winkte mit dem Buch in ihren Händen und fügte dann spöttisch hinzu: „Wobei denn auch?“

Die Gesichtszüge der beiden Mädchen hellten sich auf.

„Nach der Runde wird gewechselt, und dann zeigen wir euch Kerlen mal,

wie der Hase läuft!“, beschloss Anni und Sophia schloss sich mit einem

siegessicheren Lächeln an.

Leonies einzige Reaktion darauf war ein Augenrollen der Spitzenklasse, ehe sie sich enttäuscht wieder ihrem Buch zuwandte. Sie sollte die beiden besser kennen, als sich in dieser Angelegenheit weibliche Unterstützung von ihnen zu erhoffen.

Mein triumphierendes Schmunzeln bekam Leonie nicht mit.

„Wenn Nik sich in seiner Konzentration nicht spürbar steigert, habt ihr heute gute Chancen auf einen Sieg“, grinste Till. Dann fiel sein Blick auf die Schüsseln, die Sophia und Anni mit ins Zimmer brachten.

„Unter einer Voraussetzung könnt ihr mitspielen!“ Annis Augenbrauen hüpften belustigt in die Höhe, während Sophia schon zu ahnen schien, worauf Till hinauswollte.

„Eine von euch beiden Hübschen muss ihr Schüsselchen wohl oder übel mit mir teilen“, forderte Till grinsend.

Anni lachte und sagte: „Na, von mir aus!“ Dann trat sie auf mich zu und setzte sich neben mich und damit außerhalb Tills Reichweite. Eindeutig war sie nicht gewillt, selbst die Person zu sein, die dieser Forderung nachkam.

Das schien auch Sophia klar zu werden, denn sie funkelte erst ihre beste Freundin an und setzte sich dann mit einer aufgesetzten Leidensmiene neben Till, der sie mit einem strahlenden Lächeln

empfing.

Sie setzte sich, seufzte und hielt ihm stumm die Schüssel entgegen. Nachdem er sich den ersten Löffel in den Mund geschoben hatte, murmelte er: „Du bist einfach die Beste, Fifi.“ Sophias Augen wurden schmal und sie nahm Till den Löffel wieder aus der Hand.

„Okay, das wars. Kein Obstsalat mehr für dich, mein Lieber. Nicht, so lange du mich Fifi nennst“, sagte sie und löffelte genüsslich weiter.

Kurz runzelte Till die Stirn, dann breitete sich allerdings ein Grinsen auf seinem Gesicht aus.

„Wenn ich nur auf ein paar Löffel von diesem zugegebenermaßen inzwischen wirklich leckeren Obstsalat verzichten muss, damit ich dich nennen kann, wie ich will, dann ist das ein Preis, den ich wirklich

gerne zahle … Fifi“

Da wir Till das Brett ziemlich wirkungsvoll vom Kopf gerissen hatten, nahm er das leichte Erröten meiner Schwester endlich wahr. Ich sah ihn schlucken. Scheinbar schien ihm nun endgültig bewusst zu werden, dass wir recht hatten und dass er gerade wieder dabei war, mit seiner Fifi zu flirten. Er brachte eilig etwas mehr Abstand zwischen sich und Sophia und warf mir dann einen kurzen Blick zu.

Ich hatte die Situation mit gemischten Gefühlen beobachtet. Einerseits war es schön, dass es Till nicht wirklich schwer fiel, sich völlig normal zu verhalten, andererseits wollte ich ja, dass er sich anders verhielt.

Ich hoffte nur, dass Sophia nicht allzu schnell erfuhr, dass Till Bescheid wusste, denn mir war klar, dass sie ihre Wut darüber kaum an Leonie auslassen würde. Nein, das dürfte dann der große Bruder ausbaden.

„Da ich ja keinen Obstsalat mehr bekomme, spielen wir weiter?“, fragte Till schließlich grinsend.

Das war mir nur recht und ich griff nach meinem Controller. Nach wenigen Augenblicken, stellte ich fest, dass nun nicht ich derjenige war, der unkonzentriert spielte. Ich verkniff mir jedoch jeglichen Kommentar.

Mit der Zeit besserte sich dies auch wieder und unsere Siege und Niederlagen gegen die Mädels blieben relativ ausgeglichen.
 

Nachdem wir etliche Runden gespielt hatten, brachte Anni die bevorstehende Geburtstagsparty von Sophia zur Sprache. Die beiden hatten sich eigentlich zur Planung der Party hier verabredet. Die Motivation schien allerdings momentan nicht allzu groß zu sein.

„Wir können doch mit euch rechnen, oder?“, wollte Anni wissen.

Zumindest über die Gästeliste schienen sie sich bereits Gedanken gemacht zu haben.

„Bisher wurde uns gegenüber noch nicht angedeutet, dass wir erwünscht sind“, entgegnete ich grinsend.

Anni machte große Augen und sie sah zu Sophia, die gerade im verbissenen Duell mit Till steckte. „Du hast sie noch nicht gefragt?“

Die Angesprochene zuckte mit ihrer Schulter, ohne den Blick vom Fernseher zu nehmen. „Hätte ich schon noch getan. Es sind ja noch drei Wochen hin…“

Seufzend schüttelte Anni ihren Kopf. „Wenn man nicht alles selbst macht…“, stieß sie theatralisch aus.

Ich musste grinsen. Anni war einfach süß. Vermutlich würde mir als erstes Adjektiv für eine Beschreibung ihrer Person auch noch süß einfallen, wenn sie ihren 40. Geburtstag feierte.

„Ihr seid nun offiziell eingeladen! Und wenn ihr nicht kommt, finde ich euch und schleife euch hierher!“, drohte Anni mit einer gespielt ernsten Miene.

„Vielleicht haben sie aber auch gar keine Lust auf die Party“, wandte Sophia leise ein.

Till sah überrascht zu ihr hinüber und fragte: „Wieso sollten wir nicht? Du feierst deinen Geburtstag. Natürlich sind wir dabei.“

Sophia nutzte seine Unkonzentriertheit aus und innerhalb von Sekunden war diese Spielrunde entschieden. Doch Till reagierte darauf überhaupt nicht, sondern fixierte meine Schwester weiterhin mit seinen Augen. „Natürlich nur, wenn du das willst“, fügte er hinzu, nachdem Sophia ihm einen vorsichtigen Blick zugeworfen hatte.

Eilig nickte sie. „Ich würde mich freuen, wenn ihr dabei wärt … aber …“

„Aber?“, hakte Till nach, als Sophia nicht sofort weitersprach.

Sophias Gesicht hatte einen Ausdruck angenommen, der mich beinahe aufspringen ließ, um mich zwischen sie und meinen besten Freund zu stellen. Meiner Schwester ging es in diesem Wortwechsel ganz und gar nicht gut.

„Naja… die … anderen Gäste sind halt alle … 2-3 Jahre jünger als ihr. Ich weiß nicht, ob ihr da Bock drauf hättet.“ Sophia sprach leise und hatte ihren Blick auf ihre Schüssel geheftet.

Was? Das war alles? Das war ihr verdammtes Problem? Sie machte sich Sorgen darum, dass uns ihre Freunde zu jung wären? Verwirrt sah ich zu Leonie hinüber. Damit fiel mein Blick auch auf Anni. Pures Mitgefühl stand in ihrem Gesicht geschrieben. Als Anni meinen Blick auf sich spürte, verschwand dieser Ausdruck. Ganz offensichtlich war er etwas, was ich nicht mitbekommen sollte. Leonie jedoch behielt diesen Blick bei und ich sah nachdenklich wieder zu meiner Schwester.

Wieso dieses Mitleid? Hatten wir nicht bereits bewiesen, dass uns dieser Altersunterschied nicht wirklich etwas ausmacht? Sonst hätten wir Sophia doch nicht des öfteren mitgenommen?

Dann traf mich die Erkenntnis wie ein riesiger Amboss in einem dieser blöden Cartoons. Sophia sprach nicht von den anderen Gästen. Und sie sprach auch nicht von dieser Party.

Natürlich sprach sie von beidem, doch die Bedeutung war eine völlig andere. Mit aller Mühe versuchte ich zu verhindern, dass sich auf mein Gesicht dasselbe Mitleid schlich, wie bei den Mädels. Das war sicherlich das allerletzte, was Sophia nun gebrauchen konnte.
 

Till schien nicht zu verstehen, dass Sophia von sich selbst sprach und ihre größte Sorge darin bestand, dass vor allem sie vor allem ihm zu jung sein könnte, denn der rief lachend: „Autsch! Soll das heißen, wir sind zu alt, um mit dir deinen Geburtstag zu feiern? So ein Blödsinn, Fifi! Ich bin mir sicher, wir werden verdammt viel Spaß haben.“

Es lagen so viele Emotionen in Sophias Gesicht, dass es mir in der Seele wehtat.

Erleichterung. Weil Till die wahre Sorge nicht erkannt hatte?

Enttäuschung. Aus demselben Grund?

Traurigkeit. Weil sie einsehen musste, dass sich an dieser Situation nie was ändern würde?

Freude. Weil Till trotzdem Interesse daran hatte, ihren Geburtstag zu feiern und Zeit mit ihr zu verbringen?

Wie konnte ein Mensch so viele Gefühle auf einmal ausdrücken?

Und wie konnte ein anderer Mensch zu blind sein, um zu sehen, was er in anderen auslöste?

Doch dann siegte das Lächeln in Sophias Gesicht.

„Also wollt ihr kommen?“, fragte sie und richtete diese Frage nun zum ersten Mal auch an uns.

Es herrschte eine allgemeine und hastige Zustimmung. Till war jedoch der einzige, der das etwas weiter ausführte.

„Na klar! Ich wäre böse gewesen, wenn du uns nicht eingeladen hättest. Und wenn es uns zu kindisch wird, ziehen wir uns mit Zigarren und Brandy zum Schachspielen zurück“, grinste er.

„Blödmann“, erwiderte Sophia und das Grinsen, das ihre Züge erhellte, löste den Knoten in meiner Bauchgegend ein wenig.

Ich liebte meine Schwester und ich sah sie verdammt noch mal einfach lieber gut gelaunt.

Auch Anni nickte zufrieden und stand dann auf.

„Wenn wir das dann schon mal geklärt haben, würde ich sagen, wir haben genug gespielt. Nun komm, Sophia, wir haben uns doch nicht verabredet um die Jungs an der Playstation fertig zu machen.“
 

Kaum hatten die beiden das Zimmer verlassen, seufzte Till auf.

„Wenn ihr mir jetzt wieder vorhalten wollt, was ich für ein Vollidiot bin… spart es euch einfach, okay?“, überraschte er uns.

Ich hatte zwar nicht vorgehabt, ihm das wie Leonie vor den Latz zu knallen, doch meine Gedanken hatte er definitiv mit überragender Treffsicherheit erraten.

Leonie dachte scheinbar dasselbe wie ich. Im Gegensatz zu mir, sprach sie es jedoch auch aus.

„Ich hatte gar nicht vor, etwas zu sagen. Aber es ist schon ein Fortschritt, dass du das selbst weißt.“

„Ich muss wirklich blind gewesen sein“, brummte Till missmutig, „War das schon immer so offensichtlich?“

Lächelnd erwiderte Leonie: „Für aufmerksame Beobachter schon. Obwohl ich selbst sagen muss, dass es schlimmer wird. Das war nun schon recht… deutlich, fand ich.“

„Ja… war es“, antwortete Till und fuhr sich durch die Haare. Dann sah er mich an und fragte: „Was sagst du eigentlich zu der ganzen Sache?“

Unwillig zog ich eine Grimasse. „Wie meinst du das?

Was sollte ich denn schon dazu zu sagen haben? Ich hielt mich ja wohl kaum aus den Gesprächen raus, weil ich heimlich Pro und Kontra Listen dazu führte, oder?

„Na, das kann dir doch nicht ganz am Arsch vorbeigehen? Ich meine… Fifi ist … deine Schwester.“

Wow. Gut kombiniert, Watson.

„Weißt du, Till, es gibt sicherlich Dinge, die auf meiner Beliebtheitsskala höher stehen, als die Tatsache, dass meine kleine Schwester ausgerechnet auf meinen besten Freund steht… aber es ist auch … kein Weltuntergang für mich. Das wird auch wieder vorbeigehen“, äußerte ich mich dann doch.

„Ich sollte mehr auf Abstand gehen, oder?“, fragte Till leise.

„Willst du das denn?“, reagierte Leonie zweifelnd.

Till sah sie lange nachdenklich an, ehe er den Kopf schüttelte.

„Nein… eigentlich nicht. Verdammt, ich mag sie echt gern. Und sie gehört doch… zu unserer Clique. Für mich gehört sie mehr dazu, als die ganzen anderen Pfeifen… aber…“, etwas hilfesuchend schaute Till zu mir hinüber.

„Wartest du darauf, dass ich dir verbiete meine Schwester zu sehen?“, wollte ich wissen, „Vergiss es! Das ist eine Entscheidung, die bei dir liegt. Ich werde sie dir auch nicht abnehmen“, sagte ich dann deutlich.

Sofort verengten sich Tills Augen.

„Was willst du damit sagen?“

Keine Ahnung, wo das plötzlich herkam, doch ich hörte mich antworten: „Dass es deine Sache ist, wie du mit der Situation umgehen willst. Was du auch vorhast… ich werde es überleben. Nur… tu ihr nicht weh.“

„Gibst du mir gerade die Erlaubnis, etwas mit deiner Schwester anzufangen?“, fragte Till ungläubig, „Vorhin hast du mir noch gesagt, es gefiele dir nicht, dass ich mit deiner Schwester überhaupt flirte!“

„Tut es auch nicht“, entgegnete ich.

Dass meine Äußerungen unlogisch waren, wusste ich selber. Dazu brauchte ich die irritierten Blicke der beiden nicht, die nun auf mir klebten.

„Aber… ich würde… irgendwie schon damit klarkommen, wenn es das sein sollte, was du willst…“, erklärte ich zögerlicher.

Leonie lächelte mich an. Klar, dass der das gefiel.

Till jedoch schüttelte nur ungläubig den Kopf.

„Du bist bekloppt“, stellte er fest, „Aber mach dir keine Gedanken. Ich habe nicht vor, etwas mit deiner Schwester anzufangen.“

„Dann ist ja gut“, murmelte ich.

Was war denn da überhaupt in mich gefahren? Von wegen, ich würde damit klarkommen. Einen Scheißdreck würde ich. Es war natürlich schön, dass sich meine Schwester mit meinen Freunden so gut verstand. Das hieß aber noch lange nicht, dass ich über eine Beziehung zwischen ihr und Till Luftsprünge machen würde.

Da ich fürchtete, Till und Leonie mit einer Klarstellung an meinem Verstand zweifeln zu lassen, beschloss ich, auf das Thema nicht weiter einzugehen.

Till wollte nichts von Sophia und ich war froh drum. Sophia würde schon darüber hinwegkommen und sich jemanden suchen, der für sie auch erreichbar war. Ganz bestimmt.

Der Rest der Woche verlief gewohnt unspektakulär. Nach diesem Wochenende war ich beinahe froh, mich in der Uni langweilen zu dürfen.

Ja, richtig gehört! Die Uni langweilte mich zu Tode. Keine Ahnung, was mich geritten hatte, als ich beschloss, mit Till zusammen BWL zu studieren. Und keine Ahnung, was ihn geritten hatte, dass ihm der öde Kram Spaß machte!

Die Hälfte meiner Kommilitonen waren absolute Langweiler und die andere Hälfte saß aus demselben Grund hier wie ich. Nämlich aus purer Verzweiflung darüber, dass alle um uns herum wussten, was sie mit ihrem Leben anfangen sollten. Ich persönlich hatte keinen blassen Schimmer.

Man sollte meinen, 13 Schuljahre wären genug, um das herauszufinden, doch stattdessen saß ich hier.

Meine Eltern hofften wohl, dass ich in der Uni entdeckte, dass Betriebswirtschaftslehre das Spannendste der Welt sei, oder, dass ich hier wenigstens schnell meine wahre Bestimmung fand.

Tja, Pustekuchen.

Es war Freitag und ich saß mit meinem besten Freund in einer Vorlesung, die auf mich eine kaum aufweckendere Wirkung hatte, als eine Überdosis Valium.

Irgendwie war ich sogar stolz darauf, dass ich dieses Studium bisher so stur durchgezogen hatte. Dass dies sogar mit recht guten Noten geklappt hatte, war einzig und allein Tills Verdienst, der mir mit schier unendlicher Geduld den ganzen Mist, den ich bei den Professoren nicht verstand, erklärte. Das machte ihm scheinbar auch noch Spaß.

Verrückte Welt.
 

Während ich kaum erwarten konnte, dass die letzte halbe Stunde endlich vorbeiging, wurde Tills Blick immer finsterer.

Und das alles wegen diesem Familiending, zu dem er mitgeschleift wurde.

Okay, seine Großtante, die ich bisher nur zweimal gesehen hatte, gehörte auch für mich nicht zu den bevorzugten Personen auf dieser schönen, großen Welt, doch Till würde diese Stunden schon überleben.

Als ich ihm auch genau das sagte, während wir den Hörsaal endlich verließen, schnaubte er abfällig.

„Klar werde ich das überleben. Ich kann mir aber wirklich eine tollere Gestaltung für mein Wochenende vorstellen. Keine Ahnung, was ich da überhaupt soll! Das Durchschnittsalter liegt bei etwa fünfzig Jahren, kochen kann die gute Frau auch nicht und vor den Torten habe ich jetzt schon Angst. Und dauernd müssen mich alle begrabschen, weil die ganzen Tanten nicht fassen können, dass man in zwei Jahrzehnten nun mal älter und größer wird. Du kennst das vermutlich nur aus dem Fernsehen, aber mir wird da tatsächlich in die Wange gekniffen.“

Bei diesem Gefühlsausbruch konnte ich gar nicht anders. Ich musste lachen!

Till fand das eindeutig weniger lustig als ich. Daraus machte er auch überhaupt kein Geheimnis.

„Sehr witzig“, zischte er.

„Ach komm… so schlimm wird es schon nicht werden“, sagte ich aufmunternd, „und morgen Abend machen wir einen drauf.“

„Ich kann es kaum erwarten“, antwortete Till trocken.

Gemeinsam gingen wir zu den Fahrradständern. Obwohl ich stolzer Besitzer eines eigenen Autos war, bevorzugte ich für die Strecke zur Uni noch immer das Fahrrad.

„Till, wenn du dich morgen Abend unwohl fühlst, gehen wir woanders hin. Das haben wir gesagt und das gilt nach wie vor, okay?“

„Prima, ich will da nicht hin! Ich fühle mich da unwohl!“, sagte Till auch prompt, „Können wir bitte woanders hingehen?“

„Boah, du verhältst dich wie ein bockiger Teenager. Du kommst mit ins Herzblut und siehst, wie es läuft. Sonst streiche ich dir dein Taschengeld.“

Till ließ ein genervtes Schnauben erklingen und schwang sich auf sein Fahrrad. Ich beeilte mich, mein Fahrrad ebenfalls aufzuschließen, ehe er noch auf den Gedanken kam, mich hier einfach stehen zu lassen.
 

Als wir an die Kreuzung kamen, an der sich unsere Wege unweigerlich trennten, schaffte ich es trotzdem, ihm das Versprechen abzunehmen, am kommenden Abend mit ins Herzblut zu gehen. Natürlich unter Vorbehalt.

Dabei hatte Till es noch einigermaßen glücklich getroffen, denn immerhin musste er nur einen Abend des Wochenendes mit seiner Ex verbringen. Ich hatte bereits in wenigen Stunden das zweifelhafte Vergnügen.

Zumal wir am Samstag sogar die Gelegenheit haben würden, Caro aus dem Weg zu gehen. Die würde vermutlich auf einem Hocker in Tamilos Nähe kleben und ihn anhimmeln.

Solange wir unsere Getränke einfach bei einem anderen Barkeeper orderten, würden wir die beiden kaum zu Gesicht bekommen.

An diesem Abend würde das nicht so einfach werden. Dafür quälte mich heute wenigstens nicht das schlechte Gewissen.
 

Zuhause empfing mich laute Musik aus dem Wohnzimmer. Für mich ein klarer Beweis dafür, dass meine Eltern beide noch am Arbeiten waren, denn Sophias bevorzugten Pop-Rock Songs gehörten nicht zur ersten Wahl meiner Eltern. Und für die Lautstärke die mir entgegenschlug, hätte sie selbst in ihrem Zimmer auf den Deckel bekommen.

Als ich das Wohnzimmer betrat, herrschte dort jedoch gähnende Leere. Genervt stellte ich die Anlage aus und brüllte: „Toller Empfang!“

Ein Lachen erklang hinter mir.

„Nur die Ruhe Bruderherz. Ich habe mir nur etwas zu trinken geholt.“

„Ja, und ganz nebenbei die halbe Stadt mit Musik versorgt. Hast du mal darüber nachgedacht, Eintrittsgelder zu verlangen?“

Sophia steckte mir nur die Zunge heraus. Ich ließ mich auf das Sofa fallen und sie machte die Musik wieder an. Jedoch in einer Lautstärke, die Gespräche nicht völlig unmöglich machte.

„Ach, stell dich nicht so an. Wie oft ist man hier schon einmal alleine? Das musste ich ausnutzen.“

„Warum bist du eigentlich schon zuhause?“, fragte ich sie.

Sophia zuckte mit den Schultern. „Stundenausfall“, antwortete sie schlicht.

„Schüler müsste man noch einmal sein“, seufzte ich theatralisch und grinste.

Sophia hob eine Augenbraue an und entgegnete: „Und das kommt von dem Studenten, der jeden Freitag um halb eins zuhause ist? Du hast ja einen Knall.“

„Bevor wir jetzt einen Pseudo-Streit vom Zaun brechen, lass uns lieber bequatschen, wie wir das morgen machen sollen“, lenkte ich das Thema in eine andere Richtung.

Ich kannte uns schließlich gut genug. Zuerst starteten wir aus Spaß einen völlig belanglosen Streit und dann sprachen wir den Rest des Tages tatsächlich kein Wort mehr miteinander, weil wir beide dann völlig genervt voneinander waren. Da hatte ich heute wirklich keine große Lust drauf.

„Wie hast du dir das denn gedacht? Ich bin davon ausgegangen, dass wir gemeinsam in die City fahren würden.“

„Das können wir auch. Allerdings musst du dann morgen zu Leonie kommen, denn ich glaube nicht, dass ich morgen nach Hause komme.“

„Seid ihr heute Abend auch unterwegs?“, fragte Sophia nach.

Ich nickte und erzählte ihr von den Plänen. Sie schien zuerst Interesse daran zu haben, sich uns anzuschließen, doch das änderte sich, als ich Carolines Anwesenheit erwähnte. Berechenbare kleine Schwester.

„Die schon wieder“, schnaubte sie abfällig.

Als ich Sophia erzählt hatte, dass Till, Caroline und Tamilo im Alex aufeinander getroffen waren, war sie darüber schockierter, als Till selbst. Dass nun auch Till mehr oder weniger mit seiner Ex-Freundin verabredet war, hatte ich meiner Schwester bisher verschwiegen.

Da ich sie aber vorher wohl kaum noch einmal sehen würde, fand ich es nun doch an der Zeit, sie zu warnen. Das Theater, das entstehen würde, sollte Sophia unvorbereitet auf Caroline treffen, wollte ich mir gar nicht erst vorstellen.

Obwohl… witzig wäre es.

Vermutlich würde Sophia das allerdings deutlich weniger amüsant finden. Und der daraus resultierende Streit, war kein Preis, den ich zahlen wollte, um Caroline eins auszuwischen.

„Sophia… fairerweise sollte ich dir sagen, dass Caroline morgen auch im Herzblut sein wird.“

Sophia erstarrte. „Bitte, was?“, fragte sie mit ausdruckslosem Gesicht.

Als ich auf ihre Frage nicht weiter einging, hakte sie nach: „Und Till weiß Bescheid?“

Langsam nickte ich.

„Toll. Und das sagst du mir erst jetzt?“ Entgeistert sah meine Schwester mich an.

„Naja, ich dachte, dass du vorbereitet sein solltest, damit es zu keiner unangenehmen Szene kommt.“

„Zu gütig“, giftete sie, „Wenn ich das vorher gewusst hätte…“

„Dann was? Hättest du Tills Einladung dann ausgeschlagen?“ Purer Zweifel schwang in meiner Stimme mit, doch das kümmerte mich nicht.

„Arschloch.“

„Zicke.“

„Ihr könnt morgen alleine fahren. Ihr braucht nicht auf mich zu warten. Ich finde alleine hin“, murrte Sophia eingeschnappt, griff nach der Fernbedienung und steigerte den Lautstärkepegel wieder deutlich.

Das Gespräch war also beendet. Die Audienz bei meiner Schwester vorbei.

Wie war das mit den Streits aus völlig banalen Gründen?

Ich liebte meine Schwester, aber hin und wieder könnte ich ihr auch heute noch an die Gurgel springen.
 

Ein paar Stunden später betrat ich mit Leonie allerdings erst mal die Große Freiheit. Zwei Abende in Folge. Das konnte doch nicht gut gehen. Mir kam es so vor, als würden wir die Caro-freie Zeit nun auf einmal nachholen müssen.

Dumpfer Bass und Gitarrenriffs hießen uns willkommen. Es war wie immer brechend voll in der Freiheit. Da Caro und Milo etwas später kommen würden, hatten die Mädels untereinander ausgemacht, dass sich Caro bei ihrer Ankunft mit einer SMS melden würde. Treffen würden wir uns dann an der Bar. Nun gut. Das sollte zu schaffen sein.

Musikalisch waren wir in unserer Clique recht anspruchslos, wenn es darum ging, zu feiern. Doch die Rock-Nächte in der Freiheit gehörten eindeutig zu meinen Lieblingsterminen. Erst in diesem Augenblick fiel mir auf, wie lange ich nicht mehr hier gewesen war. Und wie sehr ich es vermisst hatte.

Leonie und ich beschlossen erst an die Bar zu gehen und etwas zu trinken. Dort angekommen, trafen wir auf das erste bekannte Gesicht des Abends.

Der Barkeeper grinste uns an, als er uns erkannte.

„Ach was“, sagte er, „Leonie und Nik verirren sich mal wieder zu uns.“

„So lange kann es ja nicht her sein, schließlich erinnerst du dich noch an unsere Namen“, erwiderte ich ebenfalls grinsend.

„Es war hart an der Grenze! Ich musste schon fast überlegen!“

Ben war unser Lieblingsbarkeeper in der Freiheit. Wir hatten ihn hier kennengelernt und bisher auch nur in diesen Räumlichkeiten gesehen. Ich konnte mich zumindest nicht daran erinnern, ihm jemals woanders über den Weg gelaufen zu sein. Hin und wieder kam man ins Gespräch, man tauschte Namen aus und wünschte sich beim Verlassen des Clubs alles Gute. Eine reine Club-Bekanntschaft also.

„Und? Wird es mal wieder eine größere Runde?“, wollte Ben wissen, als er uns ungefragt zwei Bier hinstellte.

Leonie war es, die den Kopf schüttelte. „Nein, es kommen nur noch Caro und ihr neuer Freund. Die anderen sind alle woanders unterwegs.“

Genau in diesem Moment zog sie ihr Handy hervor und grinste. „Aufs Stichwort“, murmelte sie, tippte eine kurze Antwort und erklärte dann: „Sie kommen gerade rein.“

Leonie warf mir einen kurzen kritischen Blick zu, der mich zum Lachen brachte.

„Ich zeige mich von meiner besten Seite“, versprach ich.

Überzeugt hatte ich Leonie damit scheinbar nicht so ganz.

„Soll mich das jetzt beruhigen?“, fragte sie zweifelnd.

Ich grinste nur.
 

Tatsächlich fanden Tamilo und Caro uns ein paar Minuten später. Treffpunktabsprachen sei Dank. Ich machte die beiden genau in dem Moment aus, als Tamilos suchender Blick auf meinen traf. Ein kurzes Lächeln zuckte über sein Gesicht, das ich wie selbstverständlich erwiderte.

Ein paar Momente später hatten sie es dann auch geschafft, zu uns durchzukommen.

„Wahnsinn, wie voll das hier immer wieder ist“, bemerkte Caroline laut das Offensichtliche. Ich erinnerte mich gerade noch rechtzeitig an mein Versprechen und beschränkte mich auf eine Begrüßung.

Das Lächeln dazu fiel Caroline gegenüber noch immer etwas kühler aus, als bei Tamilo.

„Hey“, strahlte uns Caro entgegen.

Na da hatte ja jemand ausgezeichnete Laune.

Leonie wurde von beiden umarmt, bei mir verzichtete man darauf. Nicht dass ich da ein riesiges Bedürfnis nach gehabt hätte.

Leonie drehte sich zur Bar um und kämpfte um Bens Aufmerksamkeit. Nach mehrmaligem Rufen reagierte er dann auch und trat an uns heran. Sein Lächeln wich einem überraschten Gesichtsausdruck, als er Tamilo entdeckte.

„Tamilo!“, rief er aus.

„Ben... hey“, grüßte ihn Tamilo.

„Schön dich zu sehen. Wie geht es dir denn?“, wollte Ben mit einem unverschämt breiten Grinsen wissen.

„Ich kann nicht klagen“, gab Tamilo zurück.

„Hallo Ben.“

Bens Blick fiel auf Caro.

„Hey, Kleine! Wie es dir geht, muss ich wohl kaum fragen. Ich habe gehört, du bist mit deinem neuen Freund hier?“

Schmunzelnd nickte sie. Auf Bens übertriebenes Suchen reagierte sie mit einem hellen Lachen.

„Jetzt tu nicht so. Du kennst Tamilo doch.“

Nun fing auch Ben an zu lachen. Bis er zu Tamilo sah. Das Lachen verschwand.

„Was?“, fragte Ben entgeistert und sein verwirrter Blick huschte zwischen Tamilo und seiner Freundin hin und her.

Bens Blick war ähnlich verwirrt, wie der, den ich nun Leonie zuwarf. Die zuckte nur mit den Schultern und machte ein ratloses Gesicht.

„Das ist kein Witz? Ihr beide seid echt ein Paar?“, fragte Ben und wusste scheinbar nicht, in welche Richtung er mit seinem Zeigefinger deuten sollte. Seine Augen fixierten jedoch Tamilo.

„Ja, wir sind zusammen“, antwortete er. Seine Augen schienen noch einiges mehr zu sagen. Im Gegensatz zu mir, schien Ben es auch zu verstehen.

Er schüttelte leicht seinen Kopf und fragte dann spürbar kühler: „Was wollt ihr trinken?“
 

Das flüchtige Lächeln, das auf Tamilos Gesicht lag, als er uns entdeckt hatte, war unauffindbar verschwunden. Es war irgendwo in dem Gespräch oder Nicht-Gespräch mit Ben verschwunden. Tamilo kannte Ben eindeutig besser, als wir. Soviel war klar.

Oder Ben kannte Caro besser, als wir dachten. Möglich wäre es ja.

Vielleicht war das ja auch eine jüngere Geschichte. Wenn Ben zu Tamilos Freundeskreis gehörte, blieb Caro ja nur ihren Prinzipien treu.

Ich versuchte, Caros Gesicht irgendetwas zu entnehmen, was sie verriet.

Waren da irgendwelche Blicke in Bens Richtung? Verlegenheit, weil sie spürte, dass ich ihr auf der Schliche war? Verunsicherung? Irgendwas?

„Aua“, schimpfte ich.

Langsam sollte ich mich daran gewöhnen. Konnte ein Körper Hornhaut über den Rippen ansetzen? Genervt rieb ich mir über die Stelle, die Leonies Ellenbogen dieses Mal getroffen hatte.

Meine Freundin sah mich entschuldigend an.

„Entschuldige, habe ich dir weh getan?“, unschuldig blinzelte sie mich an und lächelte leicht.

„Geht schon“, grummelte ich.

Ich spürte ein leichtes Kribbeln im Nacken.

Das kam wohl kaum von dem tätlichen Angriff meiner Freundin, die neuerdings Spaß daran zu haben schien, mir Schmerzen zuzufügen.

Als ich mich umdrehte, bohrte sich Tamilos Blick in meinen. Da war sie wieder, die kleine Falte, zwischen seinen Augenbrauen.

Wieso musste ich auch immer wieder anfangen, entweder Tamilo oder Caroline dämlich anzustarren. War ja klar, dass er mit der Zeit misstrauisch wurde.

Irgendwann halfen meine verkümmerten Gehirnwindungen dann doch, dieser Situation zu entfliehen und sie erinnerten mich an die Bierflasche, die ich in der Hand hielt. Ich setzte die Flasche an und unterbrach damit den Augenkontakt zu Tamilo, der mich nach wie vor prüfend ansah. Als ich die Flasche absetzte, achtete ich tunlichst darauf, diesen Kontakt auch nicht wieder herzustellen.
 

Musikalisch kündigten sich in diesem Moment Rock-Klassiker vom Allerfeinsten an und Leonie ergriff die Gelegenheit, die Situation aufzulösen, indem sie uns zur Tanzfläche schleifte.

Ich griff nach etwas ganz anderem und zog Caro von den anderen weg und dicht an mich heran.

„Ziehst du dieselbe Scheiße etwa schon wieder ab?“, zischte ich direkt in ihr Ohr. Caro schoss zu mir herum und fragte: „Wie bitte?“

„Warst du mit Ben in der Kiste? Ja oder nein?“

„Sag mal, spinnst du?“

„Ja, oder nein, Caroline?“, wiederholte ich.

„Nein! Natürlich nicht!“, entgegnete sie fauchend, „Und jetzt lass mich gefälligst los.“

Das tat ich. Doch nicht bevor ich sie mit kalter Stimme warnte: „Ich behalte dich im Auge! Bei einem einzigen Fehltritt erfährt Tamilo alles, das schwöre ich dir!“

„Ich habe nicht vor, es soweit kommen zu lassen! Willst du diese Show jetzt bei jedem Kerl abziehen, der meinen Namen kennt?“

Unsere kleine Szene blieb natürlich nicht unbemerkt. Die Musik machte es zwar unmöglich, dass irgendjemand mitbekommen haben könnte, worum es bei unserer Auseinandersetzung ging, doch es war eindeutig, dass wir uns keine lieben Kosenamen ins Ohr geflüstert hatten.

Dass Tamilo das auch wusste, bewies sein Gesichtsausdruck, als er uns beim Näherkommen beobachtete.

Mal wieder verfluchte ich mich für mein unüberlegtes Handeln.

Unfassbare zwei Songs lang ertrug ich Tamilos bohrenden Blick auf mir, ehe ich beschloss, meine inzwischen leere Bierflasche gegen eine neue einzutauschen.

Zielsicher steuerte ich Ben an. An der Theke angekommen, wartete ich auf eine Gelegenheit, seine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken.

Plötzlich gesellte sich eine zweite Bierflasche zu meiner. Ich musste mich nicht zu ihm umdrehen, um zu wissen wer neben mich getreten war. Tamilo drängte sich in die kleine Lücke die sich rechts neben mir befand. Sie war eng genug, um auch Tamilo ziemlich eng an mir stehen zu lassen. Mein Oberarm berührte seine Brust und dieser Kontakt sorgte augenblicklich für eine Gänsehaut.

Ich versuchte ein Stückchen von ihm abzurücken, doch der Raum der zwischen uns entstand, wurde von ihm direkt eingenommen. Verzweifelt wartete ich darauf, dass Ben dieser dämlichen Blondine da endlich ihr Wechselgeld gab und seinen Blick hob.

Tamilo beugte sich gerade noch näher zu mir rüber. Ben! Endlich!

„BEN!“, rief ich nach dem Barkeeper.

Tatsächlich sah der auch direkt auf und kam zu uns herüber.

„Einmal Nachschub, bitte“, sagte ich und legte dankbar das Geld auf die Theke.

Eindeutig belustigt ließ Ben seinen Blick von mir zu Tamilo schweifen. Kurz huschte er noch mal zu mir, blieb dann aber doch auf Tamilo liegen.

„Soll ich raten, was DU willst?“, fragte er ihn grinsend.

„Du könntest natürlich raten, aber da ich nicht der Einzige hier bin, der etwas trinken möchte, gib mir einfach noch ein Bier, ja?“, gab Tamilo freundlich zurück. Ben bedachte ihn mit einem spöttischen Kopfschütteln.

Spott? Okay, die beiden schienen sich zu kennen und nicht sonderlich zu mögen. Irgendwie seltsam. Sonderlich gut kannte ich Ben zwar nicht, doch ich hatte ihn bisher für ziemlich umgänglich gehalten.

Milo nutzte den Moment, den ich Ben nachdenklich hinterhergesehen hatte, um sich wieder zu mir hinüber zu beugen.

„Hör zu Nik. Ich war mir bisher sicher, dass mir die alten Geschichten in eurer Clique egal sind. Aber langsam bin ich die ständigen Andeutungen echt leid.“

„Sorry…“, sagte ich, weil mir beim besten Willen nicht einfallen wollte, was ich darauf erwidern sollte, „… ich werde mich zukünftig zurückhalten.“

Tamilo zog fragend die Augenbrauen in die Höhe.

„Hältst du mich für dämlich? Ich hab schon kapiert, dass da irgendetwas Größeres passiert sein muss. Und ich möchte wissen, was es ist. Ich komme mir nämlich langsam etwas verarscht vor.“

„Das hat nichts mit dir zu tun, Milo…“, sagte ich ausweichend.

„Nein. Mit mir wohl nicht. Aber mit Caro… und ich denke, mit ihrem Ex-Freund. Wenn es etwas gibt, das ich wissen sollte, dann sag mir das bitte.“

„Denkst du nicht, dass Caro dir das erzählen sollte?“

Tamilo nickte nachdenklich. „Ja, das sollte sie wohl. Aber sie hat es bisher nicht getan. Und wie gesagt, bis jetzt habe ich einfach alles ignoriert, doch langsam wird es ein bisschen viel zu ignorieren. Also frage ich dich: Was hast du für ein Problem mit Caro?“

„Das ist eine lange Geschichte und es ist nicht der richtige Zeitpunkt, um sie zu erzählen“, wies ich ihn ab, „was ist das zwischen dir und Ben? Wieso könnt ihr euch nicht leiden?“

Verwirrt blinzelte Tamilo mich an.

„Ich kann Ben gut leiden“, widersprach er.

„Das hast du aber gut versteckt.“

Tamilo zuckte mit den Schultern.

„Ich fürchte, wir haben unsere Differenzen“, sagte er nur. Doch noch bevor ich ihn darauf ansprechen konnte, kehrte Ben mit unserem Bier zurück.

„Lasst es euch schmecken, Jungs“, grinste er.
 

Diesen Rat nahm ich mir zu Herzen. Ich ließ es mir schmecken. Jedes einzelne Bier an diesem Abend. Eine äußerst unkluge Entscheidung, wie sich herausstellen sollte, aber es hätte noch schlimmer kommen können.

Irgendwie befand sich Tamilo immer in Sichtweite. Musste der immer dort stehen, wo ich gerade hinsah? Alle paar Sekunden schob er sich in mein Blickfeld.

Zugegeben, vielleicht war nicht er es, der sich in mein Blickfeld schob. Meine Augen suchten völlig selbstständig nach ihm.
 

Irgendwie lief dieser Abend total an mir vorbei. Während ich mir das dritte Bier reinzog, stand ich bei der Bar und beobachtete … die Tanzfläche. Ganz allgemein natürlich!

Nur hin und wieder streifte mein Blick Tamilo, der mit Caro und Leonie auf der Tanzfläche war. Ich verbot mir einfach, allzu häufig hinzusehen. Wie würde das denn bitteschön wirken? Es war ja nun nicht so, als hätte ich irgendein Interesse an ihm. Was sollte ich auch für ein Interesse an ihm haben?

Der Kerl war aber auch unheimlich präsent auf der Tanzfläche. Dabei tat er gar nichts Besonderes. Er sang wie auch der Rest der Menge in der flackernden Beleuchtung den Refrain eines großen Musik-Klassikers, an dessen Namen ich mich gerade beim besten Willen nicht erinnern konnte und bewegte sich zu der Musik. Wie gesagt: eigentlich nichts Besonderes.

Trotzdem sah es irgendwie … toll aus. Er sah irgendwie toll aus. Rein objektiv betrachtet tat er das sowieso. Das fiel mir nicht zum ersten Mal auf.

Die Tanzfläche war voll und er verschmolz mit der Menge, die sich dort zu den harten Klängen der Musik bewegte. Und doch stach er so sehr heraus, dass ich zu keinem Zeitpunkt Schwierigkeiten hatte, ihn dort auszumachen. Selbst dann nicht, wenn ich den Kopf in den Nacken legte, um weiter an meiner Bierflasche zu nuckeln. Dass dort schon seit einigen Versuchen kein Schluck mehr herauskam, war eine Kleinigkeit, die ich sofort wieder vergessen hatte, sobald ich die Flasche wieder absetzte. Aber immerhin konnte ich nun behaupten, dass ich Dinge durchaus auch mit einigen Verrenkungen im Auge behalten konnte. Ganz großes Kino.

Hatte ich mir vorgenommen, Tamilo nicht allzu oft anzusehen?

So ein Blödsinn. Erstens hatte es offensichtlich nicht geklappt und zweitens … über was für eine Scheiße machte ich mir gerade eigentlich Gedanken? Und wieso sah ich ihn überhaupt die ganze Zeit an? Es war ja nicht so, als hätte ich in meinem Leben noch keinen gutaussehenden Mann gesehen. Ich war ja nicht blind. Zwar band ich niemandem auf die Nase, wenn ich jemanden gutaussehend empfand, aber es hatte auch noch nie jemanden gegeben, bei dem ich das bemerkenswert gefunden hätte. War das bei Tamilo anders?

Ja, er sah toll aus. Sicherlich einer der bestaussehendsten Kerle, denen ich in meinem Leben gesehen habe. Ach was, Tamilo würde es zweifellos in die Reihe der Sexiest Men Alive schaffen, wenn die Verantwortlichen dafür beim People Magazine ein Foto von ihm in die Finger bekämen. Mit der Bedingung, dass man einem gewissen Publikum bekannt sein sollte, um diesen Titel zu erhalten, den ich ganz nebenbei bemerkt für ziemlich überflüssig hielt, würden die schon irgendwie klar kommen.

Letztlich sickerte auch bei mir durch, über welchen Schwachsinn ich gerade nachdachte und ich spülte die wirren Gedanken mit einem weiteren Schluck aus meiner Bierflasche hinunter. Das heißt, ich hätte es getan, doch die Flasche war ja seit geraumer Zeit leer.

Vermutlich war das auch besser so. Denn ich dachte ohnehin bereits sehr seltsames Zeug. Genervt stellte ich die Flasche auf dem Tresen hinter mir ab. Dort wurde die sofort gegen eine volle ausgetauscht.

Verwundert sah ich auf.
 

„Wenn du mir verrätst, was es da hinten Spannendes zu sehen gibt, geht das Bier auf mich“, grinste mich Ben an. Auf einmal fand ich Ben gar nicht mehr so nett, wie vor diesem Abend. Dieses Grinsen wirkte auf mich nämlich nicht nett. Es war nicht unfreundlich. Ben war freundlich und cool wie immer. Naja fast. Denn irgendwie störte mich seine Art mich anzugrinsen. Seine Augen blitzten amüsiert. Als würde er mich … ja, als würde er mich … ausgrinsen. Gab es dieses Wort überhaupt? Vermutlich hieß es auslachen, doch Ben lachte ja gar nicht. Er grinste nur. Und ich wünschte, er würde es lassen.

Als ich ihm, statt einer Antwort, lediglich das Geld für das Bier auf die Theke legte, wurde sein Grinsen noch breiter … und wissender.

Spontan hätte ich gern irgendetwas getan, um dieses Grinsen aus seinem Gesicht zu wischen. Was wusste der schon? Ha, gar nichts! Ich hatte ihm ja nichts erzählt! Leider schien ihm das nicht so bewusst zu sein, wie mir, denn das Grinsen war trotzdem da.

Kopfschüttelnd wandte ich mich wieder von ihm ab. Doch dass ich das Gespräch, welches ja keins war, da nur er gesprochen hatte, als beendet ansah, schien ihm ebenfalls nicht bewusst zu sein, denn wenige Augenblicke später trat er neben mich. Auf der anderen Seite des Tresens. Diese Tatsache wirkte auf mich minimal besorgniserregend. Mir war klar, dass ich gar nicht hören wollte, was er mir zu sagen hatte. Das hinderte ihn allerdings nicht daran, genau das zu tun.

„Ich versteh dich“, sagte er in einem vertrauten Tonfall und nickte zu der Tanzfläche, „so auszusehen, gehört verboten.“

„Von wem sprichst du?“, fragte ich bemüht desinteressiert, obwohl ich ahnte, dass er schon an die richtige Person dachte.

Das war ja so klar. Da gaffte ich einmal in meinem Leben einen Kerl an und wurde dabei direkt erwischt und das ausgerechnet von einem Barkeeper, der diesen Kerl auch noch gut zu kennen schien. Peinlicher ging es ja wohl kaum!

Ben lachte auch nur leise und erwiderte: „Na, von wem wohl? Es kann ja durchaus sein, dass es mir entgangen ist, aber ich kann mich nicht erinnern, dass du jemals hier gestanden hast und deine Freundin so beobachtet hast.“

„Musst du nicht arbeiten?“, reagierte ich genervt.

„Die Sklaventreiber hier erlauben uns von Zeit zu Zeit eine kleine Pause“, grinste Ben.

Spöttisch schnaubte ich und sah ihn an. „Und jetzt? Zündest du mir gleich meine Zigarette an und hörst dir meine Lebensgeschichte und meine Probleme an? Du redest Unsinn. Ich starre hier niemanden an.“

„Na klar… Das Rauchen ist hier untersagt, wie du wissen dürftest. Aber eigentlich hatte ich sowieso vor, meine Pause mit einer Zigarette zu kombinieren. Wie sieht’s aus? Begleitest du mich nach oben?“

Seit ich hier war, hatte ich keine Zigarette mehr geraucht. Das war der Nachteil, wenn man in einer kleinen Gruppe unterwegs war, in der keiner außer mir rauchte. Denn um alleine nach oben in den Raucherbereich zu steigen, dazu fehlte mir irgendwie – Sucht hin oder her – die nötige Motivation. Doch wollte ich mich wirklich mit Ben zusammen vom großen Trubel entfernen? Ich fühlte mich seltsam ertappt. Wobei das eigentlich Schwachsinn war. Ich hatte schließlich nichts getan.

Ben schlug mir auf die Schulter und sagte: „Ich geh zur Not auch ohne dich. Ich will ehrlich nur eine Zigarette rauchen. Leistest du mir nun Gesellschaft dabei, oder nicht?“

Ablehnen wäre wohl blöd gewesen. Ich hatte ja auch nichts zu verbergen!

Mit einem seltsamen Gefühl im Magen drehte ich mich noch einmal zur Tanzfläche um und begegnete einem undeutbaren Blick von Tamilo.

Schnell wandte ich meinen Blick zu Ben und nickte. „Okay.“

„Na dann, komm mit. Ich hab nur ein paar Minuten Zeit“, sagte er und ging auf die Treppe zu, die zu dem Raucherbereich in der Galerie führte, die sich über dem großen Saal befand. Auf dem Weg dorthin fühlte es sich an, als ob sich meine Nackenhärchen einzeln aufstellen wollten. Ich spürte Tamilos Blick auf mir liegen. Keine Ahnung woher, doch ich wusste, dass er uns hinterher sah. Mühsam unterdrückte ich den Drang, mich noch einmal umzusehen.
 

Die Anspannung, die meinen Körper befallen hatte, fiel erst von mir ab, als wir am Türsteher vorbeikamen, den Ben im Vorbeigehen knapp grüßte, und die Tür zur Treppe hinter uns zufiel.

Erleichtert atmete ich durch und folgte Ben nach oben.

In der Galerie war sofort anderes Publikum anzutreffen und im Gegensatz zu der Rockmusik im unteren Stockwerk wirkte die Musik hier gerade im Moment eher beruhigend. Dabei stand ich gar nicht so sehr auf diese Salsa-Klänge, die uns in der Galerie Willkommen hießen.

Schweigend folgte ich Ben in den Raucherbereich, in dem andere Gäste hauptsächlich in Grüppchen zusammenstanden.

Wir fischten beide unsere Zigaretten aus der Hosentasche und steckten sie an.

Ein paar Züge lang rauchten wir schweigend.

„Soso, Milo ist also mit Caroline zusammen.“

„Ja“, antwortete ich knapp und nickte.

„Das Ergebnis seines Besuchs im Land der unbegrenzten Möglichkeiten?“ Aus irgendeinem Grund schien Ben es lustig zu finden.

„Er war in Kanada. Und scheinbar ist die Beziehung eher ein Ergebnis seiner Rückkehr.“

Grinsend zog Ben an seiner Zigarette. „Macht das einen Unterschied?“

Ich zuckte meine Schultern. „Vermutlich nicht.“

„In ein paar Wochen ist die Sache wieder vorbei“, meinte Ben zwischen zwei Zügen.

Nun horchte ich auf. Ich war eigentlich derselben Meinung. Ich gab den Beiden aber zumindest die Zeit, die ich es schaffen würde, mich davor zu drücken, das Versprechen einzulösen und Tamilo die gesamte Geschichte zu erzählen. „Die beiden wirken doch eigentlich recht … zufrieden“, entgegnete ich.

„Das kann ich nicht beurteilen. Ich hab sie nicht lange beobachtet. Aber Caroline himmelt Milo schon ziemlich an. Sehr niedlich“, sagte Ben grinsend.

Das war genau die Art von Gespräch, die ich befürchtet hatte. Nachdem ich meine Zigarette im Aschenbecher entsorgt hatte, widmete ich mich wieder der Bierflasche.

Wieso war ich Ben hier her gefolgt? Gut, einerseits hatte ich dadurch das dämliche Starren unterbrochen, bevor es richtig peinlich wurde und alle es mitbekamen. Doch andererseits stand ich hier nun mit der einzigen Person, die es bereits gemerkt hatte. Und irgendetwas sagte mir, dass er wusste, dass ich nicht heimlich irgendein hübsches Mädchen beobachtet hatte. Und dazu war kein weiteres Wort notwendig. Sein Blick reichte. Und in Kombination mit seinem Grinsen wäre ich unter diesem Blick liebend gern in irgendein Loch verschwunden. Doch wie war das mit diesen Löchern im Boden, wenn man sie benötigte? Richtig, es war unnötig sie zu erwähnen, da sie einfach nicht existierten.

Wenn er wenigstens was sagen würde, dann könnte ich es abstreiten. Aber er gab sich mit einem wachsamen, wissenden Blick zufrieden.

Warum dieses Wissen? Ich hatte doch nur die Tanzfläche beobachtet. Dass wir uns besonders gut kannten, konnte man ja auch nicht behaupten. Wir sahen uns ja nur hier. Und diese gemeinsame Zigarette, war mit Abstand das privateste Aufeinandertreffen, das wir hatten.

Wo auch immer er sich in seiner Freizeit herumtrieb, ich hatte ihn in keiner unserer Anlaufstellen gesehen.

Aufgrund einer vagen Ahnung, die es durch meinen langsam etwas schummrigen Verstand schaffte, fragte ich ihn danach.

„Ja, kann gut sein, dass wir unterschiedliche Clubs besuchen“, gab er zu. Auf meinen fragenden Blick fuhr er fort: „Wenn du neugierig bist, wo ich mich am Wochenende amüsiere, wenn ich nicht hier arbeite, nehm ich dich gerne mal mit.“

Das Grinsen auf seinem Gesicht sagte mir, dass ich an dieser Stelle einfach ablehnen und aufhören sollte, weitere Fragen zu stellen. Doch ich tat es nicht.

„Und wo würde ich dann landen?“, fragte ich und ich schaffte es wohl nicht, das Misstrauen ganz aus meiner Stimme zu verbannen, denn ich hörte es selbst raus.

Ben zündete sich eine zweite Zigarette an und da mein Bier auf wundersame Weise mal wieder verdunstet war und ich nicht wusste, was ich mit meinen Händen tun sollte, tat ich es ihm gleich.

„Für den Anfang wäre es wohl einfach nur das 136 Grad“, antwortete er schließlich.

136 Grad… „Das ist doch…“

„Ein echt lockerer Club. Und es werden auch … Touristen reingelassen.“

„Touristen…“, wiederholte ich.

Ben hatte meine Ahnung gerade bestätigt, wenn ich das richtig verstanden hatte. Hatte ich…?

„Dann… bist du…?“

„Schwul?“, half er mir mit meiner spontanen Wortfindungsstörung auf die Sprünge. „Wäre das schlimm für dich?“, fragte er herausfordernd.

„Nein, gar nicht“, beeilte ich mich zu sagen. Das wurde doch von mir erwartet, oder?

Scheinbar war es nicht allzu überzeugend, denn Ben sah mich amüsiert an.

„Ich bin… nur etwas überrascht, das ist alles. Das hätte ich irgendwie nicht erwartet…“, gab ich zu, „Aber das würde erklären, dass wir uns privat noch nicht über den Weg gelaufen sind.“

„Wie sieht es aus? Hättest du mal Lust … reinzuschnuppern?“

Einen Moment lang, dachte ich beinahe darüber nach, aber … was hatte ich dort zu suchen? Richtig. Gar nichts hatte ich dort zu suchen. Ich schüttelte den Kopf. „Nein, ich glaube, eher nicht.“

Ben nickte nachdenklich und zuckte dann die Schultern. „Wie gesagt, es ist ein lockerer Club. Du könntest dort auch problemlos mit Leonie rein. Aber es ist nur ein Angebot.“

Dann zog er einen kleinen Block und einen Stift hervor, kritzelte etwas darauf und drückte mir dann einen Zettel in die Hand.

„Wenn du es dir anders überlegen solltest, ruf mich an. Du wärst überrascht, wem man dort so über den Weg laufen kann.“

Dann sah er auf seine Uhr und drückte die halb aufgerauchte Zigarette aus.

„Ich muss wieder ran. Wir sehen uns … spätestens, wenn du dir dein nächstes Bier holst“, sagte er grinsend und verschwand wieder Richtung Treppe.

Ich sah eine Weile zu dem Durchgang, durch den Ben verschwunden war, bevor ich endlich den Blick auf den Zettel senkte. Außer der erwarteten Telefonnummer, ohne die ich ihn ja nicht hätte anrufen können, standen zwei Worte darauf.
 

Trau dich.

Auf dem Weg zurück zur Bar, um mir tatsächlich das nächste Bier zu holen, stockte ich.

Tamilo stand bei Ben und sprach auf ihn ein.

Ich zögerte, auf sie zuzugehen. Dabei hatte ich doch gar keinen Grund, einen von beiden zu meiden. Gut, Ben war scheinbar schwul… aber deswegen würde ich ihm kaum aus dem Weg gehen.

Er hatte mich dabei ertappt, wie ich Tamilo beobachtet hatte. Das war etwas peinlich. Nein, das war unglaublich peinlich, doch würde ich seine seltsamen Vermutungen nicht noch bestätigen, wenn ich ihnen nun aus dem Weg gehen würde? Über die genauen Vermutungen wollte ich gar nicht weiter nachdenken. Nachher hielt mich Ben für schwul… oder zumindest für interessiert genug, schließlich hatte er mich in einen Club eingeladen, der bekanntermaßen überwiegend homosexuelles Publikum hatte. Ein Angebot, das ich selbstverständlich nicht annehmen würde, denn ich war nicht schwul. Trotzdem befand sich Bens Zettel mit seiner Telefonnummer in meiner Hosentasche. Wieso hätte ich sie auch wegwerfen sollen?

In Hörweite der beiden angekommen, schnappte ich noch kleine Gesprächsfetzen auf.

„Du tust, was du für richtig hältst. Dasselbe gilt für mich. So einfach ist das. Mal sehen, wer von uns damit besser fährt. Dein Verhalten finde ich feige, unreif und verdammt nochmal nicht fair“, hörte ich Ben sagen.

„Du hast keine Ahnung, wovon du sprichst, also halte dich da raus. Für dich ist das alles doch ein riesengroßer Spaß“, entgegnete Tamilo.

Obwohl es mich interessiert hätte, Weiteres zu hören, trat ich entschlossen näher heran und machte mich bemerkbar.

„Hey“, sagte ich an Ben gewandt und das Gespräch der beiden verstummte, „ich dachte, du musst wieder an die Arbeit?“ Grinsend schwenkte ich meine leere Bierflasche.

„Gib mir eine Sekunde“, bat Ben schmunzelnd und verzog sich wieder hinter den Tresen.
 

„Leonie hat dich vermisst“, zischte Tamilo.

Verwundert über den ungewohnt harten Tonfall, sah ich zu ihm.

„Ich war doch nur eine rauchen“, sagte ich mit gerunzelter Stirn. Ich war mir ziemlich sicher, dass Leonie in der Galerie zuerst nachgesehen hätte, wenn sie mich tatsächlich gesucht hätte.

Tamilos Blick huschte kurz zu Ben, der sich gerade die Schürze umband und ein paar Worte mit einem Kollegen wechselte.

„Aha“, sagte Tamilo knapp.

„Ist das neuerdings ein Verbrechen?“, fragte ich nun etwas belustigt. Fing Tamilo etwa an, mir eine Szene zu machen, weil ich mit Ben zusammen eine Zigarette geraucht hatte? Was war denn hier los?

Ein suchender Blick verriet mir, dass Leonie offensichtlich auf Bekannte getroffen war und weiterhin die Tanzfläche mit ihrer Anwesenheit beehrte. Soviel zum Thema, sie hätte mich vermisst. Leonie hatte definitiv keine Probleme damit, sich auch mal ohne mich zu beschäftigen.

„Ach Quatsch. So habe ich das gar nicht gemeint“, lenkte Tamilo sofort ein, „Ich…“

Er… egal, ich erfuhr nicht, was Tamilo erklären wollte, denn Ben unterbrach ihn, indem er nun seinerseits mit einer Bierflasche vor mir wackelte. Mit einer vollen selbstverständlich.

Erst in diesem Moment wurde mir bewusst, wie nahe wir beieinander standen und beinahe ertappt brachte ich wieder etwas Abstand zwischen uns. Ich stellte fest, dass auch Tamilo auf diese Weise reagiert hatte und versuchte, mir vorzustellen, wie das auf Außenstehende wirken musste. Also auf Leute wie Ben. Der schien es jedenfalls gesehen zu haben und amüsant zu finden. Als ich ihm das Bier hastig abnahm, zwinkerte er mir zu und sagte: „Das Bier bin ich dir noch schuldig.“

Ich spürte, wie mir das Blut ins Gesicht schoss. Aus Bens anfänglichem Grinsen wurde nun ein offenes und ehrliches Lachen. Offenbar war die Beleuchtung hier besser, als ich gehofft hatte. Langsam beugte Ben sich ein Stück über den Tresen. Tamilo würdigte er keines Blickes mehr. Sein intensiver Blick bohrte sich direkt in meinen. Für meinen Geschmack war er zu intensiv. Amüsiert blitzten Bens Augen auf. Blaue Augen. Der genaue Farbton war in diesem Licht nicht genau zu erkennen. War mir seine Augenfarbe bisher überhaupt einmal aufgefallen? Ich konnte mich nicht daran erinnern. Allerdings wurde mir in diesem Augenblick bewusst, dass mich die Augenfarbe von Ben eigentlich nicht wirklich interessierte. Es war mir durch den Blickkontakt einfach nur aufgefallen.

Ich war nicht wirklich in der Lage, seinem Blick auszuweichen, als Ben sagte: „Du weißt ja, mein Angebot steht. Wenn dir nach ein wenig Abwechslung ist, ruf mich an.“

Entgeistert sah ich ihn an. Wie klang das denn? Egal, wer das hörte, musste denken, Ben machte mich an. Dabei sprach er nur von seiner Einladung… hoffte ich doch.

„Ich hätte auch gern ein neues Bier“, erklang nun eine kühle Stimme zu meiner Linken. Tamilos Lippen waren schmal und von seinem sanften Gesichtsausdruck war nicht mehr viel zu erkennen. Seine Augen waren noch kälter, als seine Stimme. Augenblicklich war ich froh, dass Ben dieser Blick traf und nicht mich.

Welche Rolle spielte Tamilo in diesem ganzen Theater?

Grinsend kam Ben seiner Pflicht nach und stellte auch Tamilo ein Bier vor die Nase.

Das Grinsen, mit dem er Bens erwiderte, wirkte mehr als gekünstelt. Tamilo kramte in seiner Tasche und legte Geld auf den Tresen.

„Stimmt so“, sagte er knapp und griff nach der Flasche.

„Man dankt“, erwiderte Ben und wandte sich anderen Gästen zu.

Tamilo sah mir fest in die Augen und sagte: „Das scheint ja eine sehr … interessante Zigarettenpause gewesen zu sein.“ Damit wandte er sich wieder von mir ab. Ich folgte ihm ein paar Schritte.
 

„Hey, wie wäre es mit weniger Bier und dafür mit mehr tanzen?“, fragte Leonie, die plötzlich mit Caro im Schlepptau neben uns auftauchte, und schmiegte sich an mich.

„Ach, wir schließen lieber eine enge Freundschaft mit dem Barkeeper“, erwiderte Tamilo und ich spürte seinen Blick auf mir liegen.

Ich versuchte, es zu unterdrücken, doch das Grinsen zupfte an meinen Mundwinkeln und ließ nicht locker, ehe die Gesichtsmuskeln vor ihm in die Knie gingen. Je mehr ich über diese absurde Situation nachdachte, desto hartnäckiger klopfte auch das Lachen an, das sich irgendwo in meinem Bauch zusammenbraute. Anfangs versuchte ich noch, das Lachen als Husten zu tarnen, doch als die Blicke der drei anderen auf mir lagen, gab ich das auf. Ich lachte darüber, dass Tamilo offensichtlich dachte, Ben hätte sich mit mir irgendwo vergnügt und mir nun eine Verabredung für … weitere Vergnügungen angeboten.

Leonie und Caroline hatten ein verständnisloses Grinsen im Gesicht und Tamilo sah mich nur mit erhobenen Augenbrauen an.

„Alles in Ordnung, Schatz? Was ist denn mir dir los?“, fragte Leonie belustigt.

Mühsam riss ich mich zusammen und atmete tief durch, während ich den Kopf schüttelte.

„Schon gut. Ben hat sich einen Spaß erlaubt und Tamilo hat das in den falschen Hals gekriegt“, erklärte ich grinsend.

„Ist aber eher ein Männerding. Ein Insider quasi. Vermutlich fändet ihr das nicht einmal lustig“, fügte ich hinzu, ehe Leonie weiter nachhaken konnte.

Eigentlich war ich überzeugt davon, dass die Mädels sich herrlich darüber amüsieren würden, doch erklären wollte ich das alles wirklich nicht. Der Gedanke daran, zu erklären, wie es zu dieser Situation gekommen war, ließ meinen Körper den Kampf gegen das Lachen endgültig gewinnen und nun war es eine neue Anstrengung, wenigstens das Grinsen in meinen Mundwinkeln zu behalten.

„Na dann… Wir besorgen uns jetzt etwas zu trinken“, rief Caro gegen die Musik an, zog Leonie zur Bar und ließ Tamilo und mich zurück.
 

„Soso, ich habe also etwas in den falschen Hals gekriegt, ja?“, fragte Tamilo und trat ein wenig näher.

„Scheint so… aber ich glaube, ich will gar nicht so genau wissen, was du dir so vorstellst“, antwortete ich und runzelte die Stirn. Tamilo grinste kurz. „Dann erspare ich dir meine Fantasien diesbezüglich lieber, aber ich gebe dir einen guten Rat“, sagte er und beugte sich noch weiter vor.

Sein Kopf befand sich nun direkt neben meinem und … scheiße, roch dieser Kerl gut. Sein Geruch schien von meiner Nase aus durch meinen gesamten Körper zu strömen, als wolle er mit jeder meiner Körperzellen Bekanntschaft machen.

Ich ertappte mich dabei, wie ich die Luft tief in meine Lungen einsog, um noch mehr von diesem Geruch aufzunehmen. Ich schluckte trocken und hielt schockiert die Luft an. Das fehlte mir gerade noch. Tamilo schien sowieso schon anzunehmen, dass ich mich mit Kerlen verabredete, um meine Freundin zu betrügen, da musste er nicht auch noch mitbekommen, dass ich drauf und dran war, hemmungslos an seinem Hals zu schnuppern.

„Wenn du ihn tatsächlich anrufst, weil dir nach Abwechslung ist, dann pass auf, dass er nichts in den falschen Hals bekommt“, raunte er mir direkt ins Ohr und sein warmer Atem, der mich streifte, traf mich völlig unvorbereitet. Ähnlich wie sein Geruch, schoss mir die Wirkung seiner Stimme und seines Atems durch sämtliche Nerven- und Blutbahnen. Sämtliche. Ach du Scheiße.

„Du scheinst dich mit Bens Hals ja bestens auszukennen.“

Mein Mundwerk funktionierte noch. Auch wenn meine Stimme verdammt heiser klang. Kein Wunder, denn so trocken, wie meine Kehle gerade war, konnte ich froh sein, dass ich überhaupt einen Ton herausgebracht hatte. Tamilo lachte leise auf und zog sich wieder ein Stück zurück.

Mir blieb nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass Tamilo den Schauer, der mir über den Rücken lief, nicht wahrnahm. Falls er es tat, ließ er sich das wenigstens nicht anmerken.

„Ich kenne Ben schon eine Weile“, erklärte Tamilo knapp und ließ mich mit diesem Satz einfach stehen.
 

Ich hatte beschlossen, einen kurzen Abstecher zur Toilette zu machen, ehe ich mich wieder in die Nähe unserer Mädels begab. Ich musste dringend… erst einmal runterkommen. Ein kurzer Blick hatte mir gezeigt, dass ich zwar keine Erektion hatte, die jedem direkt ins Auge sprang, doch es war genug, um sie mich selbst spüren zu lassen. Und irgendwie fühlte es sich falsch an, nun Leonie entgegenzutreten. Noch schlimmer fand ich es allerdings, dass es überhaupt nötig war, dass ich hier bereits seit Minuten stand, und so tat, als würde ich mir gerade schnell die Hände waschen.

Aber das kalte Wasser über meine Handgelenke laufen zu lassen, tat gut.

Was zur Hölle war bloß los mit mir? So etwas war mir noch nie passiert. Noch nie, wirklich niemals hatte ich irgendein Interesse an einem Mann gehabt.

Nicht dass jetzt ein Interesse da war. Es war … einfach nur mein Körper der absurderweise auf Tamilo reagierte. Und ich verfluchte sie beide dafür. Tamilo und meinen Körper. Das war nicht gut. Gar nicht gut.

Ein einfacher Atemzug von Tamilo hatte meinen Körper völlig aus der Bahn geworfen. Und dann noch dieser Geruch.

Frustriert stieß ich Luft aus. Na klasse. Es war gar kein Atemzug notwendig. Keiner von ihm, der meine Haut kribbelnd zurückließ und keiner von mir, der seinen Geruch in meinem Körper verteilte. Die pure Erinnerung daran verursachte, dass ich meinen Aufenthalt vor diesem blöden Wasserhahn noch ein wenig in die Länge ziehen musste.

Scheiße! Was war denn nur in mich gefahren? Das war doch alles total absurd!
 

Aufmerksam betrachtete ich mein Spiegelbild, als könnte ich darin einen Unterschied zu früher erkennen. Früher… nur ein paar Tage früher, um genau zu sein… bevor ich ihn kennengelernt hatte. Was hatte sich in dieser Zeit bloß geändert?

Mein Spiegelbild jedenfalls nicht. Ich sah dort dasselbe wie immer. Allerdings musterte mich der Kerl im Spiegel ungewohnt misstrauisch. ‚Was soll das denn werden?‘, schien dieser Blick zu fragen.

Ich hatte absolut keine Ahnung.

Was ich allerdings wusste, war, dass ich kurz vor dem dritten Jahrestag mit meiner Freundin stand. Meine Freundin Leonie, die ich liebte und die mich liebte. Fest sah ich in die blauen Augen, doch die starrten genauso erbarmungslos und entschlossen zurück. Lag Zustimmung darin? Oder Trotz?

Dass Tamilo mich zutiefst verwirrte, war mir spätestens heute klar geworden. Und auch, dass er gefährlich war. Zu gefährlich für mich. Alles, was ich selbst glaubte zu sein, alles mit dem ich bisher zufrieden zu sein schien, löste sich mit einem seiner Atemzüge völlig in Wohlgefallen auf.

Dabei war ich doch glücklich, mit dem was ich hatte! Ich hatte Leonie. Kaum ein Mensch kannte mich so gut wie sie. Wir liebten uns und ich war nicht bereit, das irgendwie zu gefährden. Wofür denn auch? Ich war schließlich nicht… nein…

Ich fragte mich erneut, welchen Platz Tamilo in diesem ganzen Spiel einnahm. Woher kannte Ben ihn?

‚Du wärst überrascht, wem man dort so über den Weg laufen kann.‘

Wieder und wieder huschte mir dieser eine Satz durch den Kopf. Konnte es sein, dass Ben Tamilo von dort kannte? Oder aus einem der anderen Clubs? Das war doch sehr unwahrscheinlich. Wenn Ben ihn aus Schwulenclubs kannte, wäre Tamilo wohl kaum mit Caro zusammen, oder? Die alleinige Tatsache, dass sie sich besser zu kennen schienen, war doch lange kein Hinweis darauf, dass auch beide schwul waren. Das war doch völliger Blödsinn.

Und wenn es doch so war? Wenn die beiden sich dort tatsächlich kennengelernt hatten?

Was trieb Tamilo dann für ein Spiel mit Caro, mit uns allen?

Ben wusste eindeutig mehr. Vielleicht sollte ich auf sein Angebot zurückkommen und versuchen mehr herauszufinden?

Aber wollte ich überhaupt mehr herausfinden?

Würde es irgendetwas ändern, wenn ich Dinge erfuhr, die bewusst vor mir und anderen Personen verborgen wurden?

Auf gar keinen Fall! Ich wollte doch gar nicht mehr wissen. Tamilo war mit Caro zusammen, ich war mit Leonie zusammen und so war doch alles wunderbar!

Am besten tat ich das, was ich schon vor einer Woche am liebsten getan hätte. Ich würde Caro und vor allem Tamilo einfach aus dem Weg gehen.

Dann hätte dieses irre Durcheinander in meinem Schädel endlich ein Ende.

„Ey, alles klar bei dir?“, wurde ich nun gefragt. Ich drehte meinen Kopf in die Richtung, aus der diese Frage kam. Ich kannte den Kerl vom Sehen, seinen Namen allerdings nicht. Er musterte mich. „Du stehst da schon eine Weile“, sagte er und trat an das Waschbecken neben mir.

„Ja klar, alles in Ordnung“, nickte ich eilig.

Der Typ hob zweifelnd eine Augenbraue und beäugte kritisch den Wasserhahn. Ich folgte seinem Blick und beeilte mich, das Wasser abzudrehen, das bereits eine halbe Ewigkeit lief.

„Alles in Ordnung“, wiederholte ich und verließ die Herrentoilette ohne ein weiteres Wort.

Sollte der doch denken, ich hätte mir irgendetwas eingeworfen.
 

Ich ließ meinen Blick suchend durch die Halle gleiten und entdeckte den Rest unseres tollen Doppeldates nicht weit von der Bar.

Wie um ihr Pärchendasein zu demonstrieren, klebten Caros Arme um Tamilos Hüfte. Er hatte ebenfalls seine Arme um Caro gelegt, schien sich aber mit Leonie zu unterhalten. Sie standen dort, wie ein ganz normales Paar. Ein ganz normales Paar… wie sich das anhörte… das waren sie doch auch… Tamilo spielte Caro doch nichts vor. Was hätte er schon davon?

Während ich mich ihnen näherte, betrachtete ich das Paar.

Caroline hatte ihren Kopf an Tamilos Brust gelehnt. Neben Till hatte sie nie so winzig gewirkt. Irgendwie wirkte das so unpassend. Daran änderte auch die Hand nichts, die Caro besitzergreifend in eine der hinteren Hosentaschen von Tamilos Jeans geschoben hatte. Nein, die änderte absolut nichts daran, dass das Bild falsch aussah. Wie auf Knopfdruck hob Caro nun ihren Kopf und ich war nahe genug, um das Lächeln zu sehen, mit dem sich Tamilo zu ihr hinunterbeugte und sie küsste.

Entzückend. Es war doch alles bestens.

Eilig schloss ich zu ihnen auf und drückte Leonie einen Kuss auf die Haare.

„Da bist du ja“, rief Leonie und schlang ihre Arme um meinen Nacken, um mich zu einem Kuss an sich zu ziehen. Als ihre Zunge auf meine traf, hätte ich beinahe erleichtert aufgeseufzt. Leonie zu küssen, fühlte sich noch immer gut an. Na, dann war ja noch nicht alles verloren oder?

Was ich allerdings wenig später als verloren ansehen musste, war meine Bierflasche, die ich vor meinem ausgedehnten Waschbecken-Besuch noch gehabt hatte. Kurz spielte ich mit dem Gedanken, sie zu holen und unter diesem Vorwand Tamilo aus dem Weg zu gehen, doch alles in mir sträubte sich gegen die Idee, aus der Flasche, die nun schon einige Minuten unbeaufsichtigt im Männerklo stand, auch nur noch einen Schluck zu trinken. Also holte ich mir eine neue Flasche. Ich war nicht unglücklich darüber, dass der Barkeeper in nächster Nähe nicht Ben hieß. Denn den steckte mein Gefühl zusammen mit Tamilo in die gefährliche Schublade.
 

Mein Kopf schmerzte und Haare kitzelten meine Nase.

Ein leichter Kaffeeduft lag in der Luft. Leonie lag friedlich an mich geschmiegt und schlief noch tief und fest. Ihre Haare lagen über meinem nackten Brustkorb verstreut. Ganz leise war ihr leichtes Schnarchen zu hören. Trotz Kopfschmerzen musste ich lächeln. Leonie war so niedlich, wenn sie schlief.

Vorsichtig, um sie nicht aufzuwecken strich ich die Haare, die an meiner Nase lagen zur Seite. Wie spät war es eigentlich?

Ich drehte meinen Kopf zur Seite und bereute es sofort. Mit einem Hämmern wollte mein Schädel mich eindeutig für den gestrigen Abend bestrafen. Die Ziffern auf dem Wecker sagten mir außerdem, dass es viel zu früh war, um mich mit diesen Kopfschmerzen auch nur einen Meter aus dem Bett zu bewegen. Deutlich langsamer drehte ich meinen Kopf wieder zurück, schloss die Augen und lauschte Leonies Mini-Schnarchen.

Plötzlich wünschte ich mir, ich hätte mehr getrunken. Die Kopfschmerzen waren zwar nicht angenehm, doch ich hätte auch das volle Programm mit Übelkeit, Erbrechen und Schwindel in Kauf genommen, wenn ich im Gegenzug wenigstens einen kleinen Filmriss erhalten hätte.

Doch mit Filmrissen verhielt es sich wie mit Erdlöchern. Sie waren nie da, wenn man sie brauchte.

Dabei hätte ich den vergangenen Abend gern in voller Länge aus meiner Erinnerung gestrichen. Ich hatte mich den restlichen Abend immerhin nicht mehr weiter zum Affen gemacht. Was daran liegen könnte, dass ich Milo konsequent aus dem Weg gegangen war. Soweit es möglich war, denn natürlich konnte ich nicht andauernd vor ihm die Flucht ergreifen.
 

Irgendwie schaffte ich es nicht, erleichtert über den überstandenen Abend zu sein, denn ich hatte nicht vergessen, dass mir die zweite Runde erst noch bevorstand. Diesen Abend galt es noch zu überstehen, bevor ich meinen Plan verfolgen konnte, Tamilo einfach so weit wie möglich von meinem Leben fernzuhalten.

Vielleicht fand ich ja noch eine Möglichkeit, mich zu drücken. Das wäre natürlich um Einiges besser.

Doch mit keiner meiner Ideen wäre ich durchgekommen.

Eine plötzliche, dringende Familienangelegenheit konnte ich mir abschminken. Schließlich war meine Schwester mit von der Partie und auf deren Unterstützung konnte ich nicht hoffen, denn Till hatte sie eingeladen. Das war keine Verabredung, die sie ohne Erklärung sausen gelassen hätte. Und eine Erklärung kam nicht in Frage.

Till hatten wir auch so lange bequatscht und zum Mitkommen gedrängt, dass der ebenfalls eine Erklärung fordern würde, wenn ich plötzlich nicht mehr dorthin wollte. Und auch bei meinem besten Freund war das definitiv keine Option.

Meine momentanen Kopfschmerzen vorzuschieben, hätte vermutlich ebenfalls keinen Erfolg gehabt. Leonie und Till hätten mich sicherlich voller Schadenfreude erst recht mitgeschleppt.

War ja meine eigene Schuld und wir alle kannten bei so etwas kein Erbarmen. Außerdem würden sich die Kopfschmerzen nach einem Frühstück sowieso wieder in Luft auflösen. Vor allem, da ich bereits beschlossen hatte, dass mein heutiges Frühstück in erster Linie aus zwei Aspirin bestehen würde.

Ich hätte natürlich meiner Freundin einfach erklären können, warum ich nicht besonders scharf darauf war, erneut auf Tamilo zu treffen.

Leonie würde bestimmt begeistert sein, wenn ich ihr erklärte, dass ich gemerkt hatte, welche Wirkung Tamilo auf mich hatte.

Meine Freundin war sehr verständnisvoll, doch irgendwo lagen wohl auch bei ihr Grenzen.

Dass ich heute Nacht dennoch mit ihr geschlafen hatte, würde sie in dem Fall wohl auch nicht besänftigen.

Ja, ich hatte mit Leonie geschlafen. Und es hatte alles funktioniert, wie es sollte. War das nicht großartig? Es war auch schön gewesen, wie immer, eigentlich. Es war doch alles in bester Ordnung.

Wieso fühlte ich mich also gerade so mies?

Da war doch gar nichts gewesen… nichts Erwähnenswertes jedenfalls.

Mein Magen zog sich zusammen, wenn ich nur daran dachte, dass ich Tamilo heute Abend schon wieder sehen würde.

‚Nur noch dieses eine Mal!‘, sagte ich mir, ‚dann gehst du dem Kerl einfach aus dem Weg und alles ist wieder okay.‘

So schwer konnte das doch nicht werden, oder?

Vielleicht sollte ich heute Abend einfach besonders ätzend sein, damit Leonie ihre tollen Versöhnungspläne endlich begrub. Mit Till im Schlepptau würde das bestimmt blendend funktionieren.

Die ganzen Gedanken waren wahrscheinlich sowieso völlig überflüssig, schließlich handelte es sich hier um Tamilos Arbeitsplatz und der würde am Abend ohnehin nicht viel Zeit haben, uns mit seiner Anwesenheit zu beehren.
 

Dass ich noch einmal einschlafen würde, erkannte ich langsam als unwahrscheinliches Wunschdenken. Außerdem machten sich so langsam andere Bedürfnisse bemerkbar. Am verlockendsten wirkte momentan das Badezimmer auf mich. Toilette, Zahnbürste, Dusche. Außerdem hatte ich Durst und das würde ich mit dem Bedürfnis nach Aspirin verbinden können. Doch erst mal musste ich Leonies Klammergriff lösen, ehe ich auch nur einem der vielen Bedürfnisse nachgehen konnte.

Als ich ihren Griff um mich löste, murrte sie widerwillig, drehte sich aber noch im Halbschlaf tatsächlich von mir weg und gab mich damit frei. Ein paar Minuten blieb ich noch liegen, obwohl ich wusste, dass Leonie dennoch spätestens 20 Minuten später müde in ihre Kaffeetasse blinzeln würde. Trotzdem stieg ich leise aus dem Bett, zog mir Shorts und das Shirt über, sammelte meine restlichen Klamotten ein und holte mir frische aus Leonies Kleiderschrank, in dem sie ein Fach geopfert hatte, um auch auf spontane Besuche vorbereitet zu sein.
 

Nach dem Duschen fühlte ich mich bereits deutlich besser. Als ich Leonies Zimmer betrat, verriet mir ein Blick auf das verlassene Bett, dass Leonie tatsächlich aufgestanden war. Also hatte ich sie doch aufgeweckt. Ich fand sie im Wohnzimmer, wo sie tatsächlich in eine Kaffeetasse starrte.

„Guten Morgen, Schnarchnase“, rief ich und folgte ihrem Beispiel und holte mir eine Tasse Kaffee. Außerdem löste ich mir tatsächlich eine Aspirin auf und kehrte mit beidem wieder in das Wohnzimmer zurück.

„Es ist neun Uhr. Wieso bist du so früh wach?“, brummte Leonie, „Da hätten wir auch bei dir übernachten können.“

„Tut mir leid, dass ich dich geweckt habe. Ich konnte einfach nicht mehr schlafen“, entschuldigte ich mich und ließ mich neben meiner Freundin aufs Sofa sinken.

„Der Abend war irgendwie seltsam“, murmelte Leonie, als sie sich an mich lehnte.

„Wie meinst du das?“

„Die Stimmung war einfach nicht die selbe. Es war alles total verkrampft. Das hast du doch bestimmt selbst gemerkt. Du hast selbst schließlich die ganze Nacht an der Bar geklebt. Es wundert mich, dass wir dich nicht aus dem Club schleppen mussten.“ Ein leiser Vorwurf lag in ihrer Stimme versteckt.

Wieder verspürte ich den Drang, mich bei ihr zu entschuldigen, doch ich wusste nicht, wofür ich mich alles entschuldigte, also ließ ich es sein.

„Ist es so schlimm für dich, wenn wir uns mit Caro treffen?“, seufzte Leonie, „Was ist mit Tamilo? Ich hätte gedacht, dass ihr euch wirklich gut versteht. Hast du nicht selbst gesagt, dass er ein netter Kerl ist?“

Nun war es an mir zu seufzen. „Ach Leonie… Du weißt, dass ich mich mit Caro noch nie sonderlich gut verstanden habe. Das ändert sich doch nicht, nur weil sie nun einen neuen Freund hat. Und Tamilo… ja, sicherlich ist er ein netter Kerl und … wirklich in Ordnung… aber irgendwie stimmt einfach die Chemie nicht wirklich, zwischen uns.“

Gelogen war das nicht. Zumindest meine Chemie stimmte ganz und gar nicht. Doch ich ließ Leonie ihre eigenen Schlüsse ziehen.

Hätte ich ihr gesagt, wo mein eigentliches Problem lag, hätte Leonie mich sicherlich ebenfalls vor weiteren Treffen mit Tamilo bewahrt, aber ich war mir nicht sicher, ob sie dann noch gesteigerten Wert auf Treffen mit mir legen würde.

„Ich kann nicht verstehen, dass du ihn nicht magst.“

Ich hätte so einiges dafür gegeben, wenn dem so wäre.

„Wieso gibst du dir da so viel Mühe? Wir müssen doch nicht alles gemeinsam machen. Es ist okay, wenn du die beiden sehen willst, aber ich muss doch nicht zwingend dabei sein. Du hast dich doch vorher auch alleine mit Freunden getroffen. Warum ist das jetzt anders?“

„Es geht dabei gar nicht so sehr um dich, Schatz“, gab Leonie zögernd zu, „Es ist die Clique, oder besser das, was aus ihr geworden ist. Wir haben früher alles zusammen gemacht. Alle waren dabei. Und jetzt gehe ich entweder mit denen feiern, oder wir hocken bei Till oder sonst irgendwo auf der Couch. Ich will einfach, dass es wieder so wird, wie es einmal war.“

Ich nahm Leonie die Kaffeetasse aus der Hand und stellte sie gemeinsam mit meiner auf dem Wohnzimmertisch ab, um Leonie anschließend auf meinen Schoß zu ziehen. Sie wirkte geknickt und enttäuscht. Und ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich wusste, dass ich dafür verantwortlich war.

Leonies selbstauferlegter Job als Friedensbotschafterin wäre völlig erfüllt gewesen, wenn Caros Freund irgendjemand gewesen wäre, der mir einfach nur sympathisch war. Denn Caro war mir, ehrlich gesagt, ziemlich egal. Ich musste sie ja nicht ins Herz schließen, um Zeit mit ihr zu verbringen. Und nur aus Loyalität Till gegenüber, weiter gegen sie zu hetzen, wurde mir langsam zu anstrengend. Hätte sich Caro irgendeinen Christian oder Max oder Moritz ausgesucht, wäre Leonies Plan vermutlich sogar aufgegangen.

Doch Tamilo musste ich aus dem Weg gehen. Nicht zuletzt für Leonie, doch das konnte ich ihr nicht sagen.

„Wie könnte es denn wieder werden, wie früher? Es ist einiges schief gelaufen damals. Würdest du wirklich wollen, dass die Dinge im Verborgenen genauso weitergelaufen wären? Es wurden Gefühle verletzt und manches braucht einfach Zeit. Und so toll deine Absichten auch sind, du wirst dich damit abfinden müssen, dass du nichts daran ändern kannst. Lass den Dingen ihren Lauf und genieße, dass du weiterhin mit allen Kontakt hast. Wer weiß schon, wie sich das alles entwickelt? Menschen verändern sich. Lass einfach allen die Zeit, die sie brauchen und es wird alles gut.“

Noch immer wirkte Leonie niedergeschlagen, doch sie nickte.

„Danke… so eine Alles-wird-gut-wenn-du-dich-endlich-raushältst-Rede habe ich jetzt gebraucht“, sagte sie in schmollendem Tonfall. „Soll ich Caro für heute Abend absagen?“, fragte sie dann aber, „wir könnten ja… irgendwas anderes machen… auf irgendeiner Couch rumhängen, oder so.“

Im Bett hatte ich noch überlegt, wie ich um den heutigen Abend rumkommen konnte, und nun war es Leonie, die vorschlug, ihn sausen zu lassen.

Ich war versucht, ihr zuzustimmen, doch mein Körper war da anderer Meinung, denn ehe ich mich versah, schüttelte ich den Kopf.

„Das ist doch Blödsinn… wir haben Till überredet bekommen, sich Caro zu stellen. Vielleicht ist das ja gar nicht mal so schlecht. Außerdem freut sich Sophia schon auf den Abend. Sollte es richtig schlimm werden, können wir immer noch woanders hingehen. Der Kiez ist groß.“

Wie lahm war das denn? Ich hätte die Gelegenheit beim Schopf packen können und hatte es nicht getan. Wieso sprach ich mich nun auch noch FÜR diesen Abend aus?

Ich erntete dafür ein Schulterzucken. „Okay. Von mir aus müssen wir das auch nicht abblasen.“

„Was hältst du davon, wenn wir mit dem Auto fahren? Heute Abend werde ich garantiert keinen Alkohol anrühren, also können wir uns das Taxi oder die Warterei auf die erste Bahn auch sparen“, schlug ich vor.

„Gute Idee“, erwiderte Leonie grinsend.

Ich fragte nicht nach, ob sie vom Alkohol oder von der vorgeschlagenen Autofahrt sprach.
 

Den restlichen Tag verbrachten wir faul auf dem Sofa. Ich war erleichtert, dass auch Leonie keine großen Unternehmungen geplant hatte. Trotzdem verging die Zeit sehr schnell und viel zu früh stellte ich meinen Wagen in eine der vielen Parkgaragen auf der Reeperbahn ab.

Till, den wir auf dem Weg eingesammelt hatten, unterhielt uns mit neuen Geschichten über seine Horror-Großtante. Als wir schließlich ausstiegen, waren Leonie und ich deutlich besser gelaunt als Till. Der nahm es uns ein wenig übel, dass wir uns über sein schweres Leiden so sehr amüsieren konnten.

Auf dem Weg zum Herzblut verschwand ein Teil dieser ausgelassenen Stimmung jedoch wieder. Gleichzeitig verfluchte ich mein Herz dafür, dass es mit jedem Schritt, der uns dem Club näher brachte, noch einen Zahn zulegte. Völlig grundlos natürlich. Es war ja nicht so, als würde ich dort drinnen aufgefressen werden.

„Fifi!“, rief Till plötzlich aus. Er hatte meine Schwester entdeckt, die vor dem Club auf uns wartete und nun mit finsterer Miene auf uns zukam.

„Musst du diesen blöden Spitznamen auch noch durch die gesamte Reeperbahn brüllen?“, zischte sie, ließ sich aber bereitwillig von Till in eine Umarmung ziehen.

„Ihr habt euch Zeit gelassen“, murrte sie.

Schließlich wurde sie auch von der grinsenden Leonie umarmt, die sagte: „Till ist schuld, der hat getrödelt. Außerdem liegen Fünf Minuten definitiv innerhalb der Toleranzgrenze.“

„War ja klar, dass Till schuld ist. Aber gut, euch beiden sei verziehen“, gestand uns Sophia großzügig zu.

„Hey, was soll das denn heißen? Ich bin doch fast immer pünktlich“, beschwerte sich Till, „Was sind denn schon fünf Minuten?“
 

Als wir das Herzblut betraten, hoffte ein Teil von mir noch, dass das ganze Chaos am gestrigen Abend auf den Alkohol zurückzuführen war. Für heute hatte ich mir vorgenommen keinen einzigen Schluck anzurühren. Der Autoschlüssel in meiner Hosentasche war eine sehr gute Entschuldigung. Es musste der Alkohol gewesen sein. Eine andere Möglichkeit gab es gar nicht.
 

Wir waren bisher nicht häufig im Herzblut gewesen. Dabei war es hier echt schön. Bereits um 13 Uhr öffnete es jeden Tag seine Pforten, um die frühen Gäste im Restaurantteil mit gutem Essen zu verwöhnen. Tagsüber war der Raum in warmes orangenes Licht getaucht. Der Designer, der diese in das verwandelt hatte, hatte ganze Arbeit geleistet. Man fühlte sich hier wohl, sobald man einen Fuß über die Schwelle gesetzt hatte. Nachts wurde es hier bunter, doch an Wärme ging dadurch nichts verloren. Der Innenarchitekt hatte hier auf jeden Fall ganze Arbeit geleistet.

Ein Blick auf die Bar ließ mir dann das Blut in den Adern gefrieren. Oder kochen? Scheiße, scheiße, scheiße.

Ich entdeckte ihn sofort und begrub die Hoffnung, die kurz wie ein letzter Rettungsring in meinem Blickfeld aufgetaucht war. Was musste das für ein Gefühl sein, wenn der Gegenstand, der einem das Leben retten könnte, einen um mehrere Meter verfehlte? Ich hatte nun eine vage Vorstellung davon. Ich war nüchtern und trotzdem völlig machtlos, gegen die Wirkung, die Tamilo auf mich hatte.

Mein Blick klebte an ihm, wie er gekonnt einen Cocktail mixte. In anderen Bars hätte ich vermutlich das Spiel seiner Armmuskeln bestaunen können, doch die Arbeitskleidung der hier arbeitenden Barkeeper verbargen diese Muskeln. Dieser Umstand machte das alles jedoch kein Stück besser.

Am liebsten wäre ich umgedreht um mich schnellstmöglich in Sicherheit zu bringen. Stattdessen war ich völlig erstarrt, unfähig, einen weiteren Schritt zu machen, oder auch nur meinen Blick von Tamilo zu lösen. Das schwarze Hemd, das er trug unterstrich seine helle Haut auf gruselige Art und Weise. Nicht, dass Tamilo gruselig aussah. Gruselig fand ich die Tatsache, dass er mir in diesem Ausmaß gefiel und dass ich mir nicht einmal selbst etwas vormachen konnte, indem ich den gestrigen Abend auf den Alkohol schob. Kombiniert mit der roten Krawatte, die jeder Barkeeper hier trug, strahlte dieses schwarze Hemd eine Eleganz aus, die ich nicht erwartet hätte. Vermutlich hätte ich mit einem Muskelshirt besser umgehen können, als mit diesem Anblick.
 

„Wo bleibst du denn? Ist alles okay?“

Till war wieder neben mich getreten und klang ungeduldig.

„Ich habe völlig vergessen, wie die hier herumlaufen“, würgte ich mit staubtrockenem Mund hervor und hätte mich im selben Moment am liebsten geohrfeigt. Endlich schaffte ich es, den Blick von Tamilo zu reißen, doch Tills Augen waren meinem Blick bereits gefolgt.

Unangenehm klopfte mein Herz und ich hoffte, dass Till die Bedeutung meiner dämlichen Worte nicht verstanden hatte. Nach ein paar Sekunden drehte Till seinen Kopf wieder zu mir und sah mir in die Augen. Verwirrt und forschend.

Unbarmherzig gruben sie nach etwas, das ich am liebsten noch weiter verborgen hätte. Selbst als ich die Augen senkte, spürte ich Till weiter starren.

Ich wollte nicht, dass Till mich durchschaute. Ben hatte es sofort getan und Till kannte mich noch viel besser, als dieser Barkeeper, den ich alle paar Wochen einmal sah.

Halb erwartete ich, dass Till in Gelächter ausbrach, halb fürchtete ich es. Ein anderer Teil hoffte, dass er nur lachen würde, anstatt sich angewidert von mir zu distanzieren. Doch nichts davon passierte. Er legte einfach nur seine Hand auf meine Schulter und übte einen leichten Druck auf sie aus.

„Komm schon, Nik“, forderte er mich ruhig auf und zog mich weiter.

Da war tatsächlich noch ein kleiner, blödsinniger Funke Hoffnung, dass Till diese Sache auf sich beruhen lassen würde, doch Till wäre nicht er selbst, wenn er das täte. Ich war mir sicher, dass ich zumindest an diesem Abend damit verschont bleiben würde, doch ich sollte mir dringend eine glaubhafte Geschichte zurechtlegen, denn die Wahrheit kam gar nicht in Frage.

Was war denn auch schon die Wahrheit? Die Wahrheit war, dass ich nach diesem Abend keinerlei Kontakt mehr zu Tamilo haben würde, also gab es gar keinen Grund für mich, irgendjemandem mein Gefühlschaos offenzulegen.

Mit den Händen tief in meinen Taschen vergraben folgte ich Till stumm, der uns zu unseren Mädels führte. Die standen selbstverständlich in unmittelbarer Nähe Tamilos. Caro war ebenfalls schon da und rührte mit einem Strohhalm in ihrem Cocktail.

Mit einem scheuen Lächeln in unsere, und vor allem in Tills, Richtung begrüßte sie uns. Recht einsilbig erwiderten wir ihren Gruß.
 

Allzu viel war hier noch nicht los und so hatte Tamilo die Zeit, sich uns zuzuwenden, nachdem er zwei andere Gäste mit Getränken versorgt hatte. Mit einem Lächeln auf den Lippen grüßte er erst Leonie und Till. Dann blieb sein Blick an mir hängen und sein Lächeln wurde etwas schmaler. Er setzte zum sprechen an, doch bevor er einen Ton rausbrachte, fiel sein Blick auf meine Schwester. Verblüfft hoben sich Tamilos Augenbrauen.

Auch Sophia schenkte er nun ein strahlendes Lächeln, wie er es bei jedem tat… außer bei mir. Ich versuchte, das Grummeln, das sich irgendwo in meiner Bauchgegend entwickelte zu ignorieren. Das hatte dort eh nichts verloren. Es konnte mir doch völlig am Allerwertesten vorbeigehen, ob Tamilo sich genauso freute mich zu sehen, wie den Rest der Truppe.

Dass es genau das jedoch nicht tat, half mir ehrlich kein Stück weiter.

„Sophia, dich hätte ich hier heute nicht erwartet! Bist du mit Anni unterwegs?“, fragte Tamilo.

Sophia schüttelte ihren lockigen Kopf und deutete auf uns. „Nee, heute mal nicht. Heute bin ich mit diesen Chaoten hier unterwegs“, erwiderte sie grinsend.

Wieder schien Tamilo überrascht. „Ach, ihr kennt euch auch? So klein ist die Welt.“

„Die Welt ist noch viel kleiner, als du denkst. Sophia ist meine Schwester“, informierte ich ihn patzig.

Patzig? Ich hatte überhaupt keinen Grund, patzig zu reagieren. Super, Nik, du reagierst wie ein kleines bockiges Kind, weil es nicht genug Aufmerksamkeit von seinem neuen Superhelden bekommt, schalt ich mich in Gedanken.

Das wurde ja immer besser. Mehrere Augenpaare lagen auf mir. Das konnte ich auch absolut nachvollziehen, schließlich machte ich gerade einen riesengroßen Idioten aus mir.

Ich versuchte es mit einem Grinsen in Sophias Richtung. Dabei fing ich einen resignierten Blick meiner Freundin ein. Meine Schwester störte sich jedoch nicht großartig an meinem etwas missglückten Tonfall und grinste zurück. Braves Kind.

„Dann kennen wir uns ja doch schon recht lange“, sagte Tamilo und zog meine Aufmerksamkeit schlagartig wieder auf sich.

„Was?“

„Ich war bis vor einigen Jahren häufiger mit meinen Eltern bei euch zu Besuch“, erklärte Tamilo nun grinsend.

„Warst du das? Ich … kann mich nicht mehr daran erinnern…“, gab ich ehrlich zu.

Tamilo lachte. „Das wundert mich, ich habe bei meinem letzten Besuch ein schreckliches Theater veranstaltet, fürchte ich.“

Auf meinen verständnislosen Blick hin erklärte er weiter: „Vielleicht erwarte ich zu viel. Das ist ja inzwischen… über 15 Jahre her. Deine Eltern haben eine Gartenparty geschmissen und … naja, ich bin da wohl in eine Wespe getreten… seitdem war ich nicht mehr bei euch.“

Till verkniff sich ein Lachen und dunkel blitzte die Erinnerung nun auch bei mir auf.

Dieser hysterisch schreiende Junge war also Tamilo gewesen? Stark war die Erinnerung daran nicht mehr, doch das Geschrei war wohl das Highlight des Tages gewesen.

„Du bist also… wegen einer Wespe… all die Jahre nicht mehr bei uns gewesen?“, fragte ich und musste gegen meinen Willen doch grinsen.

Wieso fand ich das jetzt so… süß?

Tamilo zuckte grinsend mit den Schultern. „Ich mag die Viecher nicht sonderlich…“

„Scheint so, wenn du seitdem nicht mal mehr in die Nähe unseres Hauses kommen wolltest“, erwiderte ich noch immer schmunzelnd.

Ich konnte mir nicht vorstellen, was Tamilo für einen Aufstand gemacht haben musste, dass seine Eltern ihn nicht trotzdem ins Auto gesteckt und mit zu uns genommen hatten.

„Naja, es hat ausgereicht. Im Nachhinein finde ich das etwas schade.“

Was fand er schade? Dass er nicht häufiger bei uns war? Wozu? Wegen Caro? Wegen unserer Clique?

Und was sollte ich darauf antworten?

‚Ja, ich finde es auch schade, dass ich dir nicht bereits viel früher hinterhersabbern konnte‘?

‚Wir hätten uns bestimmt gut verstanden‘?

‚Bloß nicht! Ich dreh ja schon die letzten Tage am Rad‘?

„Tja, lässt sich nun nicht mehr ändern.“ Ach ja, das war doch eine Meisterleistung! Ich konnte stolz auf mich sein!

Wieder wurde Tamilos Lächeln schwächer. „Stimmt“, nickte er simpel.
 

Hatte ich eben tatsächlich noch gegrinst? Wo war die gute Laune denn auf einmal hin. Gerade noch hatten wir uns doch was zu erzählen.

Hätte ich Tamilo vor Jahren kennengelernt, wäre ich inzwischen schlichtweg ein nervliches Wrack. Ich war ja nach Tagen bereits nahe daran.

Bildete ich mir das ein, oder wich Tamilo meinem Blick aus? Vielleicht hätte ich doch anders antworten sollen und alle damit in eine endlose Verwirrung stürzen sollen.

„Tja. Tamilo, du arbeitest doch hier, wenn ich das richtig sehe“, sagte Till grinsend, „dann kann man bei dir sicherlich auch ein Bierchen ordern.“

Einer von Tamilos Mundwinkeln hob sich zu einem Grinsen, ehe er in die Runde blickte. „Und was darf es bei euch sein?“

Die Mädels verzichteten noch auf Getränke, da sie möglichst schnell auf die Tanzfläche wollten. Ich bestellte eine Cola.

„Genug Bier gehabt gestern?“, fragte Tamilo grinsend nach.

„Erstens das und zweitens sind wir mit dem Auto da. Einer muss ja nüchtern bleiben.“

Till übernahm das Zahlen unserer Getränke. Es hatte sich in unserem Freundeskreis so eingebürgert, dass die Autofahrer hin und wieder Getränke ausgegeben bekamen, wenn sie schon gezwungen waren, ihren Freunden beim Trinken zuzusehen und sie eventuell dann sogar betrunken wieder nach Hause zu befördern.

Tamilo sah sich kurz nach anderen Gästen um, trat dann etwas näher zu mir und sagte: „Ich nutze schnell die ruhige Zeit. Hast du vielleicht gerade zwei Minuten für mich?“

„Na klar.“

Tamilos Blick huschte kurz zu Till hinüber, bevor er mich dann wieder eindringlich ansah.

Auch ich sah meinen besten Freund an, achtete jedoch darauf, keine Aufforderung in diesen Blick zu legen, uns alleine zu lassen.

„Schieß ruhig los“, forderte ich Tamilo grinsend auf. Den Gedanken, dass es vielleicht gar nicht so unklug wäre, Till aus dem Gespräch raus zu halten, schob ich eilig beiseite. Alles wäre besser, als ein Gespräch mit Tamilo unter vier Augen.

Er schien einzusehen, dass Till sich nicht einen Meter von uns wegbewegen würde.

„Also schön“, seufzte Tamilo, „ich wollte mich eigentlich auch nur wegen gestern entschuldigen.“

„Musst du nicht“, sagte ich knapp und hoffte, dass Tamilo das Thema nicht weiter vertiefen würde. Hatte ich es ehrlich für eine gute Idee gehalten, Till bei dem Gespräch an meiner Seite zu lassen? Till hatte sowieso schon genug mitbekommen. Selber schuld, Nik.

„Doch, das finde ich schon“, widersprach Tamilo mir, „Ich will nicht, dass du was falsches von mir denkst.“

„Was sollte ich denn nach gestern von dir denken, Milo?“ Ich zwang mich selbst zu einem Lächeln und merkte selber, dass es etwas frostig ausfiel.

Tamilos Augen verengten sich etwas und Tills Blick sprang einfach verwirrt zwischen uns hin und her.

„Vergiss es. Ich wollte einfach nur klarstellen, dass ich kein… Problem mit… Ben habe, okay?“

Sprachen wir nun von Ben oder von Schwulen?

„Nun, es schien mir gestern schon so, als hättest du ein gewisses Problem mit ihm“, entgegnete ich stirnrunzelnd, „aber ich denke, ich weiß worauf du hinaus willst?“

„Ja, ich wollte nur, dass das nicht falsch rüberkommt.“

Ich nickte. „Ja, man kann schon einiges in den falschen Hals bekommen“, sagte ich dann und konnte mir ein Grinsen nicht ganz verkneifen.

Auch Tamilo grinste und wandte sich dann einer Gruppe zu, um deren Getränkebestellung aufzunehmen.

„Verschluck dich nicht“, warnte er mich noch, als ich meine Cola ansetzte. Ich verdrehte meine Augen musste aber trotzdem wieder grinsen. Tamilo richtete seine Aufmerksamkeit nun endgültig auf die neuen Gäste und Till sah mich verwirrt an.

„Welcher Ben?“, lautete seine erste Frage.

„Der Barkeeper aus der Freiheit.“

„Wieso sollte Tamilo mit dem ein Problem haben?“

Ich zuckte mit den Schultern.

„Er hat jedenfalls kein Problem mit ihm, weil er schwul ist.“

Tills Augen wurden groß.

„Ben ist schwul?“, fragte er erstaunt.

„Ja“

Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Ben ein Problem damit hatte, dass ich Till davon erzählte. Der schien seine Sexualität ja nicht unbedingt zu verheimlichen.

„Wer hat dir das erzählt? Tamilo?“

Ich schüttelte den Kopf. „Ben.“

„Ben hat dir das selbst erzählt? Wie seid ihr denn auf das Thema gekommen?“

Mein Blick huschte zu Tamilo, der routiniert irgendeinen Cocktail mixte.

„Wenn ich das nur wüsste“, murmelte ich.

„Ich glaube, ich kann mir ziemlich gut vorstellen, wie Ben auf das Thema gekommen ist. Ich glaube wir führen das Gespräch lieber woanders fort. Genießen wir erst einmal diesen tollen Abend in dieser tollen Gesellschaft. Und ich dachte, der Abend würde nur für mich scheiße werden… Oh man… aber dir ist schon klar, dass wir darüber reden werden, oder?“

Was hatte ich schon für eine Chance? Vormachen brauchte ich Till definitiv nichts mehr. Und keine Ausrede der Welt wäre gut genug, dass er sie schlucken würde.

Mit meinem resignierten Nicken war das Thema für Till erst einmal abgeschlossen. Mein bester Freund war an diesem Abend einfach super.

Ich musste ihn gar nicht erst darum bitten, die weiteren Getränke bei einem von Tamilos Kollegen zu ordern.

Er stellte keine weiteren Fragen und hielt sich auch mit prüfenden Blicken in meine Richtung zurück. Die, die er mir doch ab und zu schenke, ignorierte ich. Auch dass ich spürte, wie sich Tamilos Blick immer wieder in mich bohrte, gab ich vor zu ignorieren.
 

Mal tanzten wir mit den Mädels, wobei Till deutlichen Abstand zu Caro hielt, mal tanzten die Mädels allein. Wenn die Mädels alleine tanzten, standen wir an der Bar und ließen unseren Blick über die Tanzfläche gleiten. Leonie hielt sich kaum zurück und tanzte mit beinahe jedem, der sich ihr näherte. Auch Sophia konnte sich kaum vor Interessenten retten. Erstaunt stellte ich fest, dass Caro zwar durchaus auch mit anderen tanzte, ihnen allerdings nach kurzer Zeit schon wieder die kalte Schulter zeigte. Doch sie wäre auch dumm gewesen, vor Tamilo anders zu reagieren.

Zweimal sah ich, wie sich Typen, die mit meiner Schwester tanzten, ihr irgendetwas ins Ohr flüsterten. Was das genau war, wollte ich vermutlich gar nicht so genau wissen, aber Sophia schüttelte beide Male einfach nur den Kopf und wandte sich mit einem Grinsen von ihnen ab.

Wo Sophia auftauchte, wurden Herzen gebrochen. Immer wieder konnte ich das beobachten. Definitiv hätte sie sich nach einem Abend aussuchen können, wo sie einen Schlafplatz fand. Vielleicht hielt sie sich auch nur zurück, wenn sie mit mir unterwegs war, doch bisher war sie noch jedes Mal anschließend mit uns heim gegangen.

Ich hatte zwei ihrer Freunde kennengelernt. Denen hatte sie allerdings ebenfalls immer nach eher kurzer Zeit wieder völlig genervt den Laufpass gegeben. Vermutlich konnte in ihren Augen einfach niemand Till das Wasser reichen.

Gerade schienen Caro, Leonie und Sophia sich zu verständigen, zu uns an die Bar zu kommen. Als sie sich in Bewegung setzten, wurde Sophia vom letzten Kandidaten am Arm festgehalten. Auch er rief ihr nun etwas ins Ohr. Ich sah Sophias bedauerndes Lächeln und ihr Kopfschütteln.

Sie war geübt darin, Männern freundliche Abfuhren zu erteilen. Dennoch war ich wohl zu sehr großer Bruder, um sie tatsächlich aus den Augen zu lassen. Auch Till schien sich in der Rolle des Beschützers äußerst wohl zu fühlen, denn er hatte die Szene ebenfalls im Blick und grinste mitleidig, als er den ungläubigen Gesichtsausdruck des Kerls sah, der von meiner Schwester soeben vermutlich einen Korb erhalten hatte.

Der Kerl schien jedoch so schnell nicht aufgeben zu wollen und hielt sie abermals am Arm zurück, als sie sich wieder von ihm abwandte.

Dieses Mal entzog sie sich ihm energischer und schüttelte wieder ihren Kopf. Entschlossen ging sie auf uns zu und strafte den Kerl, der ihr hinterherging mit Nichtachtung. Als er auf halben Weg zu uns erneut nach meiner Schwester griff, stieß sich Till von der Bar ab und näherte sich ihnen. Till sah vielleicht nicht aus, als würde er jeden freien Nachmittag im Fitnessstudio verbringen, doch wenn er sich vor jemandem aufbaute, reichte das für gewöhnlich. So auch dieses Mal. Der blonde Kerl, der Sophias Ablehnung nicht akzeptiert hatte, hob geschlagen die Hände und verzog sich wieder auf die Tanzfläche. Es kam selten vor, dass wir Sophia aus den Fängen irgendwelcher Kerle befreien mussten. Die meisten nahmen ihre Niederlage enttäuscht, aber gelassen hin.

Sophia war bereits wieder bei uns. Als auch Till wieder hinzustieß, blitze Sophia ihn böse an.

„Ich hätte das auch alleine hinbekommen, Till.“

Erstaunt hoben sich seine Augenbrauen.

„Ich wollte doch nur helfen“, erwiderte er.

„Danke, aber lass es einfach sein. Ich habe schon einen großen Bruder, der sich als Beschützer aufspielt, ich brauche nicht noch einen.“

Offenbar war Till zu verblüfft, als dass ihm darauf etwas einfiel. Es hatte sich zwischen den beiden eingebürgert, dass sie sich gegenseitig aufzogen und ärgerten, allerdings war der Ton, den sie ihm gegenüber nun anschlug völlig ungewohnt.

Sophia drehte sich zur Bar um und stieß prompt mit einem anderen Mädchen zusammen.

Meine Schwester erstarrte und fluchte dann laut. „Scheiße! Kannst du nicht aufpassen?“

Das Mädchen, das mit ihr zusammengestoßen war schlug erschrocken ihre freie Hand vor den Mund. Tamilo hatte das Missgeschick mitbekommen und war sofort mit Servietten zur Stelle.

„Verdammt, das wollte ich nicht! Das war wirklich keine Absicht! Scheiße, das tut mir ehrlich leid“, stammelte die kleine Rothaarige immer wieder und stellte ihr Glas auf der Bar ab, welches, wie ich nun sah, nicht einmal mehr zur Hälfte gefüllt war und der Rest sah… verdammt nach zuckrig-klebrigen Gemisch aus Bananen- und Kirschsaft aus.

Ungeschickt versuchte nun auch die Besitzerin des Getränks mit einer Serviette Sophia von dem Saft zu befreien.

„Lass es einfach sein“, wimmelte Sophia sie ab.

Genervt tupfte sie ihr Oberteil ab und drehte sich zu uns um. Das helle Top war, für diesen Abend jedenfalls, völlig ruiniert.

„Ich bin mal auf der Toilette“, sagte sie und lief bereits los.

Leonie folgte ihr und das Mädchen, das Sophia mit ihrem Kiba getauft hatte, war anzusehen, dass ihr das Ganze noch immer sehr unangenehm war. Freundinnen redeten auf sie ein, und das arme Ding sah aus, als würde es gleich in Tränen ausbrechen.

„Milo?“, sprach ich ihn nach einiger Zeit das erste Mal wieder an. „Machst du der Kleinen einen neuen Saft? Geht auf mich“, sagte ich grinsend.

Eine seiner Augenbrauen hob sich an, doch dann zuckte er nur mit den Schultern und kam der Aufforderung nach.

Auf den verwunderten Blick des Mädchens deutete Tamilo nur in meine Richtung und wandte sich dann wieder anderen Gästen zu.

Scheu blinzelte das Mädchen zu uns hinüber.

„Niedlich. Darf die eigentlich um diese Uhrzeit überhaupt noch hier sein?“, fragte Till grinsend.

Tatsächlich war das Mädel niedlich und jung. Es wirkte beinahe so, als wäre das ihr erster großer Disco-Besuch. Ich hatte einfach Mitleid mit ihr. Sie wirkte nach dem Zusammenstoß mit Sophia einfach fürchterlich eingeschüchtert.

Ich zwinkerte ihr noch einmal aufmunternd zu und wandte mich dann wieder Till und Caro zu, die nun alleine neben mir standen.

Bevor die Situation allerdings unangenehm wurde, tauchten Sophia und Leonie wieder auf.

Der Besuch des Waschbeckens hatte das Ganze nur noch schlimmer gemacht, soweit ich das beurteilen konnte. Das Wasser hatte letztlich nur dafür gesorgt, dass Sophia nun beinahe transparent vor uns stand.

Tills Mundwinkel zuckten, doch klugerweise hielt er sich mit spöttischen Bemerkungen zurück. Sophia hätte ihn unangespitzt in den Boden gerammt.

„Leute, nehmt es mir nicht übel, aber für mich ist der Abend gelaufen. Ich klebe… und… naja…“, seufzend besah sie ihr inzwischen durchsichtiges Top, „Ich fahre nach Hause.“

„Aber bestimmt nicht alleine“, entgegnete Till.

„Ich bin ein großes Mädchen, es fahren noch Züge. Ich schaffe das schon“, gab Sophia erneut giftig von sich.

Doch Till verabschiedete sich bereits von uns. Mich zog er am Schluss auch kurz in eine Umarmung und fragte mich: „Kommst du auch alleine klar?“

„Ich denke, ich kann mich gerade noch beherrschen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir noch ewig hier bleiben“, reagierte ich augenrollend.

Till nickte und sagte dann noch: „Ich ruf dich an.“

War das ein Versprechen, oder eine Drohung? Vermutlich eine gesunde Mischung aus Beidem.

Sophia hatte ihre Arme vor der Brust verschränkt. Zum Teil sicherlich, um den Blick auf ihre Unterwäsche zu versperren. Andererseits wirkte sie damit etwas bockig.

„Du musst mich ehrlich nicht begleiten. Bleib ruhig hier.“

„Fifi, entweder, du gehst jetzt mit mir, oder ich rufe dir ein Taxi. Aber ich du wirst nicht im durchsichtigen Top alleine durch die besoffenen Idioten dort draußen laufen. Und jetzt tu mir einen Gefallen und hör auf zu diskutieren, das wird echt anstrengend.“

Ohne weitere zickige Einwände abzuwarten, legte Till einen Arm um Sophias Schultern und schob sie weiter. Im Vorbeigehen winkte er auch Tamilo noch zu.

Leonie legte ihre Arme um mich und rief mir ins Ohr: „Jetzt gib es schon zu, die beiden passen einfach zusammen. Und ich sag dir, das wird noch was!“

„Till und Sophia?“, fragte Caro mit weit aufgerissenen Augen. „Im Ernst?“

„Quatsch.“ Ich warf Leonie einen bösen Blick zu. „Leonie hätte das nur ganz gern. Zwischen den Beiden läuft nichts. Und selbst wenn…“

Den Rest des Satzes konnte ich mir sparen, ich wollte ja nun nicht noch einen Streit anfangen. Und was ich hatte sagen wollen, wurde durchaus verstanden, wenn ich den etwas pikierten Gesichtsausdruck richtig deutete, der nun Caros Gesicht zierte.

Wie auf Kommando ließen wir drei das Thema fallen.
 

Eine Weile standen wir recht schweigsam beieinander. Es fühlte sich so an, als hätte mit Till und Sophia auch die gute Laune die Heimreise angetreten. Ich riskierte einen Blick auf die Uhr. Es war doch schon später, als ich gedacht hätte. Halb zwei. Das war doch eigentlich schon eine Zeit, zu der man mit gutem Gewissen langsam aufbrechen konnte, oder?

Genau das teilte ich Leonie auch mit. Ich hatte mit einem flehenden Gesichtsausdruck gerechnet, oder auch mit einem zustimmenden Nicken, der uns in absehbarer Zukunft in mein Auto befördert hätte, doch nicht damit, dass Leonie nun diese Frage an Caro weiterreichte und diese fragte, wie sie nach Hause kommen würde. Sah ich aus wie ein Taxi? Ein Taxifahrer bekam wenigstens Geld dafür, dass er sich nicht aussuchen konnte, wer bei ihm einstieg.

Caro sah nun ebenfalls auf die Uhr.

„Naja, wenn ihr jetzt geht, dann warte ich vermutlich nur noch darauf, dass Milo Feierabend hat und dann schwingen wir uns in ein Taxi und fahren zu ihm. So war der bisherige Plan. Allerdings wären wir wohl noch ein wenig hier geblieben, wenn ihr länger durchgehalten hättet“, grinste Caro.

Nun wurde ich von einem Taxifahrer davor gerettet, Taxifahrer zu spielen. Sollte mir recht sein.

„Wann hat Milo denn Feierabend?“, fragte Leonie weiter.

„Regulär in einer halben Stunde. Kann aber um ein paar Minuten abweichen. So genau kann man das nicht sagen.“

Das war also nicht der erste Abend, den Caro hier mit Tamilo verbrachte. Das war nur mehr als logisch. Und es nervte mich. Und dass es mich nervte, nervte mich erst recht.

„Ach, die halbe Stunde können wir auch noch auf euch warten. Wir können euch dann ja mitnehmen. Milo wohnt doch in der Nähe von der Uni, oder? So ein riesiger Umweg ist das auch nicht.“

Und wieder einmal wurde ich nicht gefragt. Ich hatte keine Ahnung, wo Milo wohnte und eigentlich wollte ich das auch gar nicht wissen.

„Ach quatsch. Wir wollen euch doch keine Umstände machen. Wenn ihr nach Hause wollt, fahrt ruhig. So schlimm ist das nicht. Wir wären nachher sowieso mit dem Taxi gefahren“, erklärte Caro.

Wenigstens sie hatte vermutlich begriffen, dass ich keinen Bock darauf hatte, sie durch die Gegend zu kutschieren. Allerdings brachte das alles nichts, denn Leonie hatte sich das bereits in den Kopf gesetzt. Anscheinend hielt sie das für einen gelungenen Abschluss dieses Abends.

„Blödsinn“, widersprach sie auch schon, „Wir müssen sowieso in die Richtung, da könnt ihr euch das Geld für das Taxi sparen, oder wäre das ein Problem, Schatz?“

Ich schüttelte den Kopf. Was hätte ich auch anderes tun sollen?
 

Und so saßen wir eine knappe Stunde später zu viert in meinem Wagen. Selbstverständlich hatte sich Tamilos Feierabend um etwas mehr als ein paar Minuten verschoben.

Tamilo saß neben mir auf dem Beifahrersitz, um mir die Richtung besser weisen zu können.

„Gut, dann sag mal an, wo ich genau hin muss.“

„Ich wohne in der Amandastraße. In der Nähe der Sternschanze. Fahr am besten über die St.Pauli Station die Budapester Straße hoch. Und dann einfach geradeaus.“

Ich nickte einmal zufrieden. Brauchbare Richtungsangaben waren mit Leonie als Beifahrerin leider Mangelware.

In der Stille des Wagens war mir Tamilos Nähe noch bewusster als am vorigen Abend in der Disco. Dabei hatten wir schon deutlich näher beieinander gestanden. Seltsam, was für einen Unterschied die Umgebung machen konnte. Kaum lief laute Musik bei flackernder Beleuchtung, schon war es kein großes Problem, wenn sich zwei Körper wirklich nahe kamen. Nun reichte es bereits aus, ihn auf meinem Beifahrersitz zu haben, damit sich meine Nackenhaare aufstellten.

Die Blicke, die auch im Auto zwischendurch immer wieder auf mir landeten, waren dazu nicht einmal notwendig. Am Liebsten hätte ich Tamilo gesagt, er solle endlich aufhören, mich ständig anzusehen. Stattdessen erwiderte ich seinen Blick, wann immer ich seinen auf mir spürte aus den Augenwinkeln.

Heute brauchten wir keine roten Ampeln, um mir die Fahrt ewig vorkommen zu lassen. Meine Nerven waren völlig überstrapaziert. Keiner von uns sagte ein Wort. Es war diese Stille, die in der Regel nur von einem „was für ein Abend“ oder einem „man, bin ich erledigt“ unterbrochen wurde. Aber selbst das sparten wir uns heute.

„Hier einfach auf dieser Straße bleiben“, durchbrach Tamilo leise die Stille. Wieder nickte ich. Und wieder breitete sich anschließend ein ätzendes Schweigen im Wagen aus.

Vermutlich war das Schweigen nur für mich ätzend.

Endlich kam ich auf die Idee, das Radio einzuschalten. Wenigstens etwas.

Ich fuhr einfach weiter und wartete auf weitere Anweisungen meines Beifahrers. Obwohl ich darauf wartete, fuhr ich leicht zusammen, als sie dann kamen.

„Nach der Kreuzung die nächste Straße rechts, ich wohne ziemlich am Anfang der Straße.“

Meinetwegen hätte Tamilo seine Wegbeschreibung ähnlich ausführlich formulieren können, wie Leonie es immer tat. Seine Stimme war angenehm, tief und genauso warm wie seine Augen. Konnte man Stimmen denn mit Augen vergleichen? Offensichtlich schon.

Mir fiel selbst auf, wie dämlich es nun war, zu bedauern, dass Tamilo nicht mehr sprach. Erstens hatte ich seiner Stimme gar nicht so verzückt zu lauschen und zweitens hätte ich verdammt noch mal selbst ein Gespräch starten können. Also war Jammern völlig fehl am Platz. Selbst wenn ich es nur im Stillen tat.

Ich setzte den Blinker und fuhr dann in die kleine Straße ab, in der Tamilo wohnte.

„Hier kannst du halten.“ Wieder so leise wie zuvor.

Als ich schließlich anhielt, erklärte ein verschlafenes Murmeln von der Rückbank, die Stille während der Fahrt. Caro hatte es anscheinend in Rekordzeit geschafft, einzuschlafen. Leonie weckte sie nun endgültig auf.

„Caro aufwachen, ihr seid schon zuhause“, sagte sie sanft.

Dann beugte sie sich vor, um aus dem Fenster zu sehen. „Und wo wohnst du nun, Milo?“

Tamilo deutete auf eines der Häuser. Und obwohl ich es eigentlich nicht wissen wollte, achtete ich darauf, auf welches er zeigte.

Inzwischen war auch in Caro wieder Leben gekommen. Weiß der Geier, wie sie auf der kurzen Strecke so tief schlafen konnte.

„Danke fürs Fahren, Nik“, sagte sie leise, ehe sie und Leonie ausstiegen.

„Ja… danke…“ Tamilos Hand lag am Türgriff, öffnete sie jedoch noch nicht.

Stattdessen sah er noch einmal zu mir hinüber.

„Wieso bist du mir heute so aus dem Weg gegangen? Wegen gestern?“, fragte er nach.

„Ich… bin dir nicht aus dem Weg gegangen…“, log ich. Wenn er das schon so nannte, wollte ich gar nicht wissen, was er zu dem Plan sagen würde, welchen ich ab diesem Abend verfolgen würde.

„Aha.“ Tamilo glaubte mir kein Wort. „Naja, wie gesagt: Dankeschön. Und, ich denke man sieht sich.“

„Nicht dafür“, murmelte ich. Und wir würden uns nicht mehr sehen. Nicht, wenn ich das verhindern konnte.
 

Tamilo stieg aus, Leonie stieg ein und ich setzte erneut den Blinker. Dieses Mal führte mein Weg in eine gesündere Richtung. Ich konnte es kaum erwarten, nach Hause zu kommen.

Das Leben geht weiter.

So hieß es doch immer, oder? Egal, was passierte, das Leben nahm weiterhin seinen Lauf. Vorausgesetzt natürlich, es geschah nichts, was dem Leben ein Ende setzte.

So etwas war mir natürlich nicht passiert. Mir war überhaupt nichts Schlimmes zugestoßen. Eigentlich war mir sogar gar nichts zugestoßen.

Alles war wie immer. Man lernte neue Leute kennen. Vielleicht traf man den einen oder anderen noch ein paar Mal und dann entschied sich, ob man sich weiterhin mit diesen Leuten treffen wollte, oder auch nicht.

Ich hatte meine Entscheidung getroffen und wollte Tamilo nicht mehr sehen. Also, es war nichts Weltbewegendes geschehen.

Es war auch noch gar nicht so lange her.

Dienstag.
 

Drei Tage war es her und es war beinahe so, als wäre ich Tamilo nie begegnet. Wieso sollte sich auch durch einen einzigen Menschen mein ganzes Leben verändern? Die Menschen um mich herum waren noch dieselben. Marmelade schmeckte auch nicht neuerdings nach Schokolade und es regnete auch keine Milch oder irgendetwas anderes seltsames.

Nein, ich ging ganz normal zur Uni, ich aß ganz normal und ich verhielt mich ganz normal.

Alles war ganz normal.

Selbst Till, der mich bisher noch nicht auf dieses ganze Desaster angesprochen hatte, verhielt sich ganz normal.

Nur ich selbst, ich fühlte mich nicht ganz normal. Egal, wie sehr ich wünschte, dies über mich sagen zu können.

Es war eben nicht alles ganz normal.

Denn in dem Fall hätte ich Tamilo nicht aus dem Weg gehen müssen. Ich hätte nicht diese beschissenen Gefühle, sobald dieser Kerl in meiner Nähe war. Ich würde nicht auf den Gängen Ausschau nach ihm halten, obwohl ich wusste, dass ich ihm dort rein theoretisch überhaupt nicht über den Weg laufen konnte. Ich hätte mir keine Ausreden für meine Freundin einfallen lassen müssen, für den Fall, dass sie am kommenden Wochenende mit mir weggehen wollte.

Und ich hätte verdammt nochmal keine Probleme, endlich einzuschlafen, anstatt mir über diese Scheiße wieder und wieder den Kopf zu zerbrechen.

Wenn doch einfach nur alles ganz normal gewesen wäre…

Ich sah auf den Wecker. Mittwoch… seit ein paar Minuten.

Erfahrungsgemäß würde ich in etwa zwei bis drei Stunden endlich einschlafen.

Konnte man nach drei Tagen bereits von Routine sprechen? Wohl kaum. Allerdings kannte ich die Gedanken, die diese Zeit füllen würden, bereits in- und auswendig. Doch vielleicht konnte mir das auf Dauer auch beim Einschlafen helfen.

Der komische Ruhe-Tee meiner Mutter, mit den lächerlichen Zuckerherzchen in der Teemischung, hatte es jedenfalls nicht getan.

Ich kam mir allerdings schon beim Aufkochen so behämmert vor, dass es mich schwer gewundert hätte.

Zuckerherzchen in einer Teemischung… wer dachte sich so etwas überhaupt aus? Was war mit denen, die ihren Tee lieber ungesüßt tranken? Hatten die kein Recht auf einen Ruhe-Tee?

Und überhaupt… wieso Herzchen? Was hatten die denn mit Ruhe zu tun? Sollten die Zuckerflocken nicht eher die Form kleiner Baby-Schafe haben? Meinetwegen auch die verschiedenen Mondphasen. Aber wieso Herzchen? Und wieso waren die rosa eingefärbt?

Und wer hatte diesem Tee diesen beschissenen Namen gegeben? Ich war doch der beste Beweis dafür, dass dieser Tee nicht gerade beruhigend wirkte, oder?

Verdammt. Ich war echt reif für die Klapse.

Ich wollte doch einfach nur schlafen und einen weiteren ganz normalen Tag verbringen.

Ich wollte nicht erst gegen halb drei einschlafen, nur um dann vier Stunden später wieder aufzuwachen.

Ich konnte nur hoffen, dass das nicht ewig so weiter gehen würde.

Mir graute schon jetzt vor dem nächsten Blick in den Spiegel. Irgendwann würde sich mein Körper holen, was er brauchte und dafür sorgen, dass ich wichtige Vorlesungen verschlief.
 

An diesem Morgen verschlief ich nicht. Gut geschlafen hatte ich allerdings auch nicht. Vielmehr war mein Körper irgendwann in eine Art Dämmerzustand gefallen.

Wie lange konnte man so ein Schlafverhalten durchhalten?

Meinem Spiegelbild nach zu urteilen nicht mehr sehr viele Nächte.

Augenringe vom Allerfeinsten, fahle Gesichtsfarbe… um es abzukürzen: Ich sah mächtig beschissen aus. Auch die Dusche half nicht großartig weiter.

Vielleicht sollte ich mal das Make-Up meiner Schwester ausprobieren. Versprachen die einem in den Werbespots nicht stets sowas wie langanhaltende, ebenmäßige, frische Teints?

Sollte also gegen meine leicht ungesunde Hautfarbe und die Augenringe helfen. Oder brauchte man für Augenringe noch mal andere Kosmetik?

Das wäre doch eine Entwicklung… ein Augenring-Abdeck-Stift. Ha.

Nein, selbstverständlich rührte ich die Schminke meiner Schwester nicht an. Ich beendete meinen ganz normalen Badezimmeraufenthalt, nahm mein ganz normales Frühstück zu mir, ehe meine Schwester mir mitleidig sagte, wie beschissen ich aussah und dass ich vielleicht lieber zuhause bleiben sollte und machte mich nach diesem Ratschlag auf den ganz normalen Weg zur Uni.
 

Till wartete bereits an unserem alltäglichen Treffpunkt und betrachtete mich nur kurz, bevor er sein Fahrrad direkt wendete.

„Scheiße, das kann ja kein Schwein mit ansehen“, schimpfte er. Dann schien er kurz zu überlegen und fuhr ein Stück von mir fort. Definitiv die falsche Richtung für den ganz normalen Weg zur Uni.

„Till, wo willst du hin? Die Uni…“

„Die Uni kommt heute ohne uns aus“, erwiderte Till schlicht.

Ich bewegte mich nicht von der Stelle.

„Aber die Uni…“, einfallsreich, wie ich war versuchte ich es noch einmal.

„Halt die Klappe!“, würgte Till mich auch dieses Mal ab und zückte sein Handy.

„Hey Olli, Till hier. Nik und ich schaffen es heute nicht in die Vorlesungen, kann ich deine Notizen für heute kopieren?

Till sah mich nach einer Erwiderung unseres Kommilitonen streng an.

„Ja… genau… mache ich. Danke, du hast was gut bei mir.“

Nachdem er das Handy wieder eingesteckt hatte, sagte er zu mir: „Ich soll dir von Olli gute Besserung wünschen. Er meinte, es wundere ihn nicht, dass du heute ausfällst, so scheiße, wie du gestern schon ausgesehen hast.“

„Blödsinn, ich habe nur schlecht geschlafen“, gab ich genervt von mir. Ich wollte einfach nur in die Uni, war das zu viel verlangt?

Hätte ich zuhause bleiben wollen, hätte ich doch auf den Rat meiner Schwester gehört.

„Schlecht geschlafen?“, Till sah mich ungläubig an, „Montagmorgen sahst du aus, als hättest du schlecht geschlafen. Gestern hast du schon ausgesehen, als hättest du dir irgendeinen fiesen Virus eingefangen. Heute siehst du aus, wie ein Zombie. Hast du in den letzten Tagen überhaupt geschlafen? Und hast du mal in den Spiegel gesehen?“

Tills Stimme klang vorwurfsvoll und gleichzeitig besorgt.

„Ja, ich habe jede Nacht geschlafen… was hast du nun genau vor?“

„Ich nehme dich mit zu mir. Meine Eltern sind auch schon beide weg“, erklärte Till.

„Und dann? Singst du mich in den Schlaf?“

„Hättest du wohl gern“, grinste Till nun doch.

„Ich weiß ja zu schätzen, dass du dir Sorgen machst, aber mir geht es gut. Ich habe einfach nur schlecht geschlafen. Und im Gegensatz zu dir kann ich es mir nicht leisten einen ganzen Tag in der Uni zu schwänzen.“

Ich wollte nicht behandelt werden, wie ein Baby und mit Till alleine sein, wollte ich erst recht nicht. Ich wollte nicht mit ihm reden. Ich wollte doch nur einen ganz normalen…

„Willst du mich verarschen? Du glaubst doch nicht im Ernst, dass du in der Lage bist, dem Stoff in deinem Zustand auch nur fünf Minuten lang zu folgen. So wie du aussiehst, kippst du noch während der ersten Vorlesung aus den Latschen. Spar es dir einfach, du kommst jetzt mit zu mir“, sprach Till ein Machtwort.
 

„Was möchtest du trinken?“, fragte mich mein bester Freund, als wir seine Haustür hinter uns schlossen.

„Kaffee wäre unglaublich toll“, antwortete ich. Zwar hatte ich heute bereits zwei Tassen intus, doch ohne Kaffee würde ich diesen Tag ehrlich nicht durchstehen.

Till schüttelte aber lachend den Kopf.

„Kaffee ist nicht das Richtige für Zombies wie dich. Du musst dich nicht krampfhaft wachhalten. Wenn du einschläfst, dann schläfst du halt ein. Von mir bekommst du heute sicherlich kein Koffein. Wie wäre es stattdessen mit einer warmen Milch mit Honig?“

Als ich fahrig nach ihm schlug, lenkte er ein. „Vielleicht tut es auch ein Tee.“

„Meinetwegen“, murmelte ich und folgte ihm in die Küche, „solange keine rosa Zuckerherzchen drin sind…“

Belustigt drehte sich Till zu mir um.

„Rosa Zuckerherzchen? Hast du Angst vor denen? Dir ist doch echt nicht mehr zu helfen.“

„Vergiss es einfach.“
 

Wenige Minuten später verzogen wir uns mit dampfenden Tassen auf Tills unendlich gemütliches Sofa. Vielleicht wurde aus mir ja doch noch ein Fan des Uni-Schwänzens.

Till pustete völlig entspannt in seine Tasse und ich starrte einfach nur den feinen Dampf an, der aus meiner emporstieg. Ich wusste, dass Till mich musterte, doch ich schenkte ihm keine Beachtung.

„Verrätst du mir nun, warum du nicht mehr schlafen kannst?“, fragte Till schließlich leise.

„Ich schlafe doch“, wich ich aus. Ein strenger Blick landete auf mir.

„Du hattest seit Samstag Zeit, dich auf dieses Gespräch vorzubereiten. Ich sehe doch, dass dir irgendetwas an die Nieren geht und du kommst hier nicht raus, bevor ich die ganze Geschichte kenne.“

Scheiße, ich wollte doch gar keine Geschichte erzählen. Was gab es denn schon großartig zu erzählen? Ich würde Tamilo sowieso nicht mehr sehen. Es war doch alles okay.

„Ich wüsste nicht, was es zu erzählen gäbe.“

„Ich helfe dir gern auf die Sprünge. Wenn ich mich nicht irre, ging es um Tamilo. Es sei denn, du hast am Samstag meine Ex so angestarrt. In diesem Fall haue ich dir jetzt eine runter und das Thema ist erledigt.“

Mein etwas angewiderter Gesichtsausdruck brachte Till wieder zum Lachen.

„Also bleiben wir beim Thema Tamilo.“ Till wurde wieder ernst und musterte mich.

„Was soll mit ihm sein?“ Irgendwie schaffte ich es sogar, den Blick meines besten Freundes zu erwidern.

„Das musst du mir jetzt erklären“, forderte mich Till unbarmherzig auf.

Betont gleichgültig zuckte ich mit den Schultern.

„Keine große Sache. Ich werde mit ihm nicht wirklich warm. Und da ich auf Caros Gesellschaft eh keinen großen Wert lege, darf sich Leonie gerne weiterhin mit den beiden treffen… aber ohne mich.“

Till legte den Kopf schief und sah mich mit gerunzelter Stirn prüfend an. Dann nickte er. „Okay, das könnte klappen, wenn du es Leonie so erzählst. Aber mir erzählst du jetzt bitte die Wahrheit.“

„Man Till!“, schnaubte ich frustriert.

Merkte der denn nicht, dass ich über Tamilo nicht sprechen wollte? Eigentlich wollte ich nicht einmal über ihn nachdenken.

Kurze Zeit schwieg Till tatsächlich. Zu kurz, für meinen Geschmack.

„Nik, ich will dich wirklich nicht beunruhigen, aber Leonie hat auch schon gemerkt, dass irgendetwas mit dir nicht stimmt. Sie hat mich gestern Abend gefragt, ob ich wüsste, was mit dir los ist. Es wundert mich, dass sie dich noch nicht selbst darauf angesprochen hat.“

Entsetzt riss ich die Augen auf. „Was hast du…“

„Natürlich habe ich ihr nichts gesagt. Ich weiß doch selbst nicht genau, was eigentlich Sache ist. Hätte ich ihr sagen sollen, dass ich dich dabei erwischt habe, wie du Tamilo angestarrt hast, als wäre er irgendeinem Unterwäscheprospekt entsprungen? Egal, was du mir im Vertrauen erzählst, das bleibt auch bei mir, das weißt du genau. Es ist egal, was ich davon halten mag. Ich kann dir nur anbieten, dir zuzuhören und für dich da zu sein. Aber dazu musst du mir den Gefallen tun, endlich deine Fresse aufzumachen und mit mir zu reden.“

„Da gibt es nichts zu reden. Ich werde ihn nicht mehr sehen. Thema beendet.“ Die Verzweiflung in meiner Stimme konnte ich selbst hören.

Till lehnte sich zurück und sagte leichthin: „Wenn ich es nicht besser wüsste, käme ich nun auf den Gedanken, dass du dich verknallt hast.“

Verknallt. Blödsinn! Ich schüttelte heftig den Kopf. Ich liebte Leonie. Tamilo brachte mich nur durcheinander. Und das ohne auch nur irgendetwas zu tun, außer einfach da zu sein.

„Ich… scheiße… ich habe keine Ahnung, was das ist… aber… ich habe mich nicht verknallt! Tamilo ist ein Kerl und ich… ich liebe Leonie!“

„Und was ist das dann zwischen euch beiden?“

„Zwischen uns ist gar nichts. Tamilo ist mit Caro zusammen und ich mit Leonie. Da war gar nichts. Es… es bin nur ich, der irgendwie auf ihn reagiert…“

Ich starrte wieder in meine Tasse, aus der ich noch keinen einzigen Schluck getrunken hatte.

„Und… wie äußert sich das genau?“, wollte Till wissen.

Ich sah wieder zu ihm auf. Mein Blick verriet ihm wohl alles, denn seine Augen weiteten sich und er räusperte sich kurz, ehe er weiter sprach.

„Okay… ehm… dann… was war das mit Ben?“, lenkte er das Gespräch in weniger peinliche Bahnen. Wobei bei diesem Thema der erträgliche Grad an Peinlichkeit sowieso schon lange überschritten war.

„Korrigier mich, wenn ich falsch liege, aber ich habe ein Bild vor Augen. Vermutlich hast du Tamilo ähnlich angestarrt, wie Samstag und Ben hat das mitbekommen, habe ich Recht?“

Ich sah ein, dass ich hier eh nicht mehr rauskam und allein die Erinnerung daran, wie Ben mich sofort durchschaut hatte, war mir so unangenehm, dass ich die Hitze in meine Wangen schießen konnte. Ohne Till anzusehen nickte ich.

Er seufzte langgezogen. „Oh man, Nik… also gut… Wie hat Ben darauf reagiert und was hat Tamilo mit ihm zu tun?“

„Ich habe keine Ahnung, was Tamilo mit Ben zu tun hat. Ich weiß nur, dass die beiden sich wohl schon länger kennen… und Ben hat mich eingeladen, mit ihm auf Piste zu gehen…“

„…soll heißen?“

„Er hat mir angeboten… ihn ins 136 Grad zu begleiten.“

„136 Grad? Ist das nicht dieser…?“

„Ben sagte, es wäre ein echt lockerer Club und dass ich sogar mit Leonie dort rein könnte“, erklärte ich spöttisch.

„Mit Leonie? Klasse Idee“, meinte Till zweifelnd. „Was hast du dazu gesagt?“

„Na, was wohl? Ich habe dankend abgelehnt.“

Ohne darauf weiter einzugehen, stellte Till die nächste Frage. Offensichtlich hatte er sich auf dieses Gespräch besser vorbereitet als ich.

„Und wofür hat sich Tamilo am Samstag bei dir entschuldigt?“

Verwirrt sah ich zu Till auf. Seine Fragen kamen völlig zusammenhangslos und wirkten, als hätte er ein Interview vorbereitet.

Als ich realisierte, wonach mich Till gefragt hatte, wanderten meine Gedanken zu eben dieser Situation und in meinem Kopf sammelte sich noch mehr Blut. Selbst wenn ich mit Till offen über Tamilo sprach, so wollte ich gewisse Abschnitte trotzdem für mich behalten und ich war mir sicher, dass Till auch gar nicht alles so genau wissen wollte.

Also ließ ich meinen Toilettenbesuch und den Grund dafür völlig aus, erzählte ihm aber von Bens und meiner Unterhaltung während seiner Zigarettenpause, von den Gesprächsfetzen, die ich aufgeschnappt hatte und von Teilen des Gesprächs zwischen Milo und mir.

Till hörte aufmerksam zu, ohne mich zu unterbrechen. Nachdem ich ihm auch von Milos seltsamen Äußerungen über Ben erzählt hatte, schwieg ich einfach und nahm endlich einen Schluck von meinem Tee.

Till tat es mir gleich. Erst nach einer Weile stieß er geräuschvoll einen tiefen Atemzug aus seinen Lungen.

„Wow. Nik, ich… ich weiß gar nicht richtig, was ich dazu jetzt sagen soll. Ich… bin etwas überrascht.“ Till gluckste leise. „Ich muss zugeben, ich war schon sehr auf die Geschichte gespannt, mit der du dich rausreden würdest. Ich hatte damit gerechnet, dass du mir irgendeinen Mist auftischst.“

Schlagartig wurde Till wieder ernst und sah mich durchdringend an. „Wie… geht es dir?“

War diese Frage sein Ernst? Entgeistert erwiderte ich seinen Blick.

„Na bestens!“, antwortete ich sarkastisch, „ich kann schließlich mit jedem darüber reden und außerdem schlafe ich in letzter Zeit so gut.“

Was hatte ich denn davon, meinem besten Freund jetzt noch irgendetwas vorzumachen?

Wenn schon erbärmlich, dann wenigstens richtig!

„Was wirst du nun tun?“, fragte mich Till völlig unbeeindruckt.

„Was soll ich schon tun? Ich werde Tamilo aus dem Weg gehen und warten, bis alles wieder vorbeigeht.“

„Und du glaubst, dass du das so einfach kannst? Nik, das ist keine unbedeutende Kleinigkeit. Du… hast dich ganz offensichtlich in einen Kerl verknallt.“

„Wie oft denn noch? Ich bin nicht verknallt!“, entfuhr es mir heftig.

Till widersprach mir nicht. Dafür schenkte er mir einen mitleidigen Blick.

Hallo? Sah ich etwa so aus, als bräuchte ich beschissenes Mitleid?

Also gut, für die wenig hübschen Augenringe bemitleidete ich mich selbst, doch die hatte ich gar nicht gemeint.

Langsam ahnte ich, wie sich meine Schwester bei unseren mitleidigen Blicken ging und ich schwor mir, sie nie, nie wieder so anzusehen.

Das fühlte sich an, als läge man bereits am Boden und musste dennoch weitere Tritte über sich ergehen lassen.

„Ich kriege das alles schon wieder auf die Reihe“, murmelte ich noch, um überhaupt etwas zu sagen. Dieses Schweigen war nämlich unerträglich.

„Ja, sicher. Indem du vor Tamilo und der ganzen Situation wegläufst?“

„Ich nenne es nicht weglaufen. Ich konzentriere mich auf die Dinge, die wichtig sind. Und da ich Leonie liebe, konzentriere ich mich auf sie. Alles andere… ist unwichtig und regelt sich von allein.“

Wenn ich andere davon überzeugte, vielleicht klappte das ja irgendwann auch bei mir selbst, oder? Vielleicht konnte ich dann ja irgendwann auch wieder mal mehr als vier Stunden am Stück schlafen.

„Bullshit. Würdest du dich auf Leonie konzentrieren, hätte sie mich kaum auf dich angesprochen. Du gehst doch seit Samstag auch ihr aus dem Weg. Was meinst du, wie lange sie das mit sich machen lässt, bevor sie nachhakt?“

Es war nicht zu übersehen, dass Till inzwischen etwas verärgert war.

„Es kommt hin und wieder vor, dass wir uns ein paar Tage lang mal nicht sehen. So ungewöhnlich ist das auch wieder nicht“, rechtfertigte ich mich.

„Nein, nicht die Tatsache, dass ihr euch nicht trefft. Aber irgendetwas scheint an deinem Verhalten ihr gegenüber nicht zu stimmen. Leonie ist nicht dumm, das solltest du am besten wissen. Mach nicht den Fehler, sie zu unterschätzen. Ich schwöre dir, wenn du so weiter machst, hat sie es gerafft, noch bevor du dir selbst eingestehst, was hier vor sich geht!“

Als ich darauf nichts erwiderte, setzte er noch einen oben drauf.

„Findest du, Leonie hat es verdient, dass du so etwas vor ihr verheimlichst? Du solltest ehrlich mit ihr sein und mit ihr sprechen.“

„Wozu denn? Um sie unnötig zu verletzen? Zwischen Tamilo und mir war nichts, da ist nichts, und da wird auch nie etwas sein. Ich werde ihn nicht mehr treffen und alles ist gut.“

„Ich wäre mir da nicht so sicher…“, murmelte Till.

„Was meinst du damit?“

Till zögerte, schüttelte dann aber den Kopf.

„Vielleicht solltest du Ben doch anrufen?“, schlug er vor.

„Warum das denn?“

„Um auf sein Angebot zurückzukommen? Vielleicht wäre das ja eine gute Idee… also das mit dem Club…“

„Spinnst du?“

Ich würde bestimmt nicht in diesen Club gehen. Keine zehn Pferde würden mich da reinkriegen. Das überließ ich gern Ben und seinen Freunden, ich war schließlich nicht schwul.

„Ich denke einfach, du solltest schleunigst herausfinden, was das alles zu bedeuten hat. Tamilo aus dem Weg zu gehen ist sicherlich eine Möglichkeit mit der ganzen Sache umzugehen. Aber was machst du, wenn dann irgendwann… ein anderer Kerl auftaucht, der dich… reizt? Willst du diese Spielchen dann wieder spielen, um aus der Situation rauszukommen? Vielleicht solltest du wirklich einmal in diesen Club… Und wenn du da nicht mit Ben alleine hin willst… wenn der Club echt so locker ist… ich könnte mitkommen, wenn du willst…“, bot Till zögerlich an.

„Bietest du mir gerade an, mit mir auf Männerjagd zu gehen? Was soll ich denn da? Willst du mir etwa dabei helfen, einen Kerl zu finden, den ich noch geiler finde, als Tamilo? Ich werde keinen einzigen Fuß in diesen Club setzen. Ich gehe doch nicht Tamilo extra aus dem Weg, nur um mich direkt in eine Meute schwuler Männer zu stürzen.“

Wieso zum Teufel reagierte Till so verständnisvoll? Ich hätte mit vielem gerechnet. Ich dachte, es kämen schwere Vorwürfe wegen Leonie. Ich hätte mir auch vorstellen können, dass Till völlig entsetzt reagierte, wenn ich ihm seinen Verdacht bestätigte. Stattdessen bot er mir an, mich in einen Schwulenclub zu begleiten, um mir die Möglichkeit zu geben, herauszufinden, was ich wirklich wollte? Es war ja toll, dass er mich unterstützen wollte, aber die Unterstützung hätte lieber so aussehen sollen, dass er mir half, Milo aus dem Weg zu gehen. Das wäre ein sinnvolles Hilfsangebot gewesen.

„Ich will nur, dass du weißt, dass du auf mich zählen kannst, egal was passiert. Solltest du deine Meinung wegen dem Club ändern… du weißt, wie du mich erreichst.“

Ich seufzte. „Werde ich nicht… ich bin nicht schwul, aber danke für das Angebot.“

„Na klar“, murmelte Till, der mit seinen Gedanken offenbar ganz woanders war.

„Glaubst du, die beiden hatten mal was miteinander?“, fragte er nach einer Weile.

„Wer?“

„Na Ben und Tamilo.“

Darüber hatte ich mir auch schon den Kopf zerbrochen. Tamilo jedenfalls kannte Ben wohl ziemlich gut. Und Bens Reaktion auf Caro war sehr seltsam.

„Mir egal“, behauptete ich schnell.

Till verdrehte seine Augen.

„Ich habe keine Ahnung, ob Tamilo mit Ben im Bett war. Momentan geht er jedenfalls mit Caro ins Bett. Das wirkt nicht besonders schwul, wenn du mich fragst“, führte ich es dann doch weiter aus.

„Es ist ja auch möglich, dass er auf beides steht.“

„Das ist mir egal“, sagte ich erneut.

„Mhm… Nik, darf ich dich noch etwas fragen?“

Nach all den Fragen bat er jetzt noch um Erlaubnis für eine Weitere?

Fragend sah ich ihn an.

„Naja… der Sex mit Leonie…“

Meine Augenbrauen schossen in die Höhe. Abgesehen von unserem ersten Mal, das ja etwas unerwartet kam, war mein Sex mit Leonie nie ein Thema zwischen uns. Ich hatte nie das Bedürfnis, mit anderen über mein Sexualleben zu sprechen und auch Till hatte mich nie danach gefragt. Vielleicht lag es daran, dass Till selbst schon seit Ewigkeiten mit Leonie befreundet war.

„Das letzte Mal hat es noch immer funktioniert und es war schön, wie immer. Falls es das ist, worauf du hinaus wolltest“, brummte ich.

„Sorry Kumpel…“, sagte Till grinsend, „ich wollte auch gar keine genauen Einzelheiten, aber wenn ich an den Sex mit einer Frau denke, fallen mir andere Dinge ein, als es funktioniert und schön ein.“

„Schlaft ihr oft miteinander?“, fragte Till unbeirrt weiter.

„Das kommt ganz darauf an, was für dich oft ist.“

Till grinste breit. „Naja, es gab Zeiten, in denen Caro und ich kaum aus dem Bett rausgekommen sind. Wir hatten selten weniger als 2-3 Mal in der Woche Sex… eher mehr.“

Wow. Man sollte meinen, dass Caro mit Till völlig ausgelastet gewesen sein sollte und trotzdem hat sie sich nebenher noch durch den halben männlichen Freundeskreis gevögelt. Respekt. Solche Phasen wie bei Till und Caro hatte es bei Leonie und mir nicht wirklich gegeben. Und nein, scheinbar hatten wir nicht wirklich oft Sex. Bei Leonie und mir war es selten häufiger, als einmal in der Woche… eher weniger. Nun könnte man meinen, nach drei Jahren wäre das normal, doch für uns war das schon immer normal gewesen. Wir sind auch am Anfang unserer Beziehung nicht hungrig übereinander hergefallen. Leonie war allerdings auch nicht Caroline. Till brauchte ich das vermutlich auch nicht um die Ohren zu werden. Ich fühlte mich bei dem Thema irgendwie nicht wirklich wohl. „Scheinbar nicht so oft, wie Caro und du“, murmelte ich also etwas verspätet, „ich habe aber wirklich keine Lust, das Thema jetzt mit dir auseinander zu nehmen.“

Ich nahm einen Schluck von meinem Tee. Lauwarm. Igitt!

Tills Tasse stand geleert auf dem Couchtisch und ich stellte meine kaum angerührte dazu, bevor ich mich auf dem Sofa lang machte.

Wenn ich schon dazu genötigt wurde zu schwänzen, wollte ich wenigstens faulenzen. Und nach meinem kleinen Seelenstriptease hatte ich das ja wohl verdient. Sicherlich hatte ich nicht jede von Tills Fragen zu dessen Zufriedenheit beantwortet und auch mich verfolgten nun neue Fragen, aber ich fühlte mich trotzdem irgendwie erleichtert.

Vielleicht schaffte ich es ja sogar, für ein paar Minuten die Augen zu schließen…

Gerade, als ich es ausprobieren wollte, scheuchte Till mich wieder auf.

„Nik, geh ins Bett. Den Weg kennst, und schaffst du noch. Ich weck dich dann irgendwann… ich will ja nicht daran schuld sein, dass du heute Nacht wieder nicht schlafen kannst.“

Till machte seine Couch nur dann zu einem Schlafplatz, wenn es wirklich nicht anders ging. Dabei luden die weichen Kissen förmlich dazu ein, sich hinein zu kuscheln und einzuschlafen. Platz genug war hier auf jeden Fall. Auf diesem Sofa fanden locker vier Personen Platz, ohne sich dabei zu sehr auf die Pelle zu rücken, das wusste ich aus Erfahrung. Doch Tills Bett war frei und dies hier kein Notfall, also stand ich ohne Gegenwehr auf und wanderte zu seinem Bett. Schnell entledigte ich mich wenigstens meiner Jeans und schlüpfte unter die Bettdecke… definitiv kein schlechter Tausch. Und nein, ich hatte nicht urplötzlich ein Problem damit, mich vor Till auszuziehen.

„Danke Till“, murmelte ich und merkte, wie meine Lider wirklich endlich schwerer wurden.

„Jederzeit“, hörte ich die leise Erwiderung und wusste, dass Till das auch ganz genau so meinte. Ich hatte keine Ahnung, womit ich so einen besten Freund verdient hatte, der so bedingungslos hinter mir stand.
 

Vier Stunden hatte Till mich schlafen lassen. Als er mich dann weckte, fühlte ich mich zwar nicht komplett erholt, doch ich spürte auf jeden Fall eine deutliche Verbesserung.
 

Der Rest der Woche verlief besser, als der Anfang.

Leonie sprach mich nach wie vor nicht auf meine momentane Stimmung an und ich gab mir Mühe, mich normaler zu verhalten, um ihr dafür auch keinen Grund zu liefern.

Das Wochenende verbrachte ich größtenteils mit Till, während Leonie sich tatsächlich alleine mit Caro und Milo traf. Ich konnte nur hoffen, dass sie nicht jedes Wochenende mit den Beiden verbringen wollte.

Sie hatte mich zwar auch dieses Mal gefragt, ob ich sie begleiten wollte, doch sie hatte es auch einfach hingenommen, dass ich das Wochenende bereits mit Till verplant hatte.

Auch die folgenden zwei Wochen liefen ähnlich ab. Außerdem half ich meiner Schwester und Anni beim Planen der Party und traf mich auch ganz normal mit meiner Freundin.

Ich musste mir noch immer Mühe geben, doch nach außen hin war wirklich alles ganz normal.

Ich konnte sogar wieder schlafen. Das Leben ging halt weiter… auch ohne Tamilo.

Wer hätte daran gezweifelt?

Als es erneut klingelte, stöhnte ich beinahe genervt auf. Waren nicht inzwischen wirklich genug Leute hier?

Da ich Sophia als selbstgewählte Beschäftigungstherapie bei den Vorbereitungen ihrer Party geholfen hatte, kannte ich die Anzahl der eingeladenen Gäste ziemlich genau. Eine grobe Einschätzung der Lage ergab allerdings, dass es bereits ein wenig mehr waren.

Doch galt eine Party nicht erst dann als gelungen, wenn sich die einen oder anderen Gäste ungeplant selbst einluden? Trotzdem hätte das Klingeln langsam aber sicher aufhören können. Statt der eingeladenen 25 Gäste tummelten sich hier nämlich geschätzte 40 Personen und irgendwo hatte auch unser Haus seine Grenze erreicht.

Eilig ging ich zur Tür und öffnete… und war kurz davor, sie sofort wieder zuzuschlagen. Vielleicht hätte ich das sogar getan, wäre ich nicht völlig erstarrt.

Inzwischen hatte ich es fast drei Wochen geschafft, eben diesem Moment aus dem Weg zu gehen und nun tauchte er einfach vor unserer Haustür auf. Und ich hatte, wie immer, nichts Besseres zu tun, als ihn anzustarren, als wäre er von einem anderen Stern.

Was in Tamilos Kopf vorging, wusste ich natürlich nicht doch nach ein paar Sekunden gegenseitigen Anstarrens, begann er zu grinsen.

„Was machst du denn hier?“, fragte ich, als ich meine Sprache endlich wiedergefunden hatte.

"Ich stehe auf der Gästeliste. Deine Schwester hat mich eingeladen, ihren Geburtstag zu feiern“, erwiderte Tamilo noch immer grinsend.

"Nun, ich wusste nicht, dass sie dich ebenfalls eingeladen hatte."

Erst gestern hatten wir doch noch aufgestellt, wer alles eingeladen war.

Wieso hatte sie Tamilo nicht erwähnt?

"Bist du alleine gekommen?", fragte ich verwirrt.

Tamilo tat so, als würde er sich suchend umsehen und zuckte dann mit den Schultern. "Sieht so aus."

"Ehm.. ich meinte…"

"Caroline hat sie, wie mir scheint, sehr bewusst nicht erwähnt, falls du das meinst", unterbrach Tamilo mich mit leicht verengten Augen.

Ich konnte nur abwesend nicken und nahm mir vor, ein ernstes Wörtchen mit meiner Schwester und Anni zu wechseln. Ich ahnte, dass die beiden Freundinnen etwas ausgeheckt hatten.

Dass sie Caro nicht eingeladen hatten, wunderte mich nicht. Ganz im Gegenteil: es hätte mich sehr überrascht, sie hier zu sehen.

"Darf ich nun reinkommen? Es wäre doch sehr unhöflich, wenn ich die ganze Zeit hier draußen verbringen würde, ohne dem Geburtstagskind zu gratulieren."

Ich trat aus dem Weg, damit Tamilo an mir vorbei konnte.

Ich ließ ihn im Flur stehen und ging auf meine Schwester zu. Dann war ich gerade halt unhöflich. War ja nicht so, als wäre Tamilo mein Wunschgast gewesen.
 

„Sophia? Kann ich dich einen Moment sprechen?“

Eine Antwort wartete ich gar nicht erst ab, sondern zog meine Schwester von der Gruppe weg, mit der sie sich gerade unterhielt.

Ich zog sie in die Küche, verscheuchte drei andere Partygäste und fragte dann: „Ich will jetzt eine direkte und ehrliche Antwort von dir haben. WAS hat Tamilo hier zu suchen? Was bezweckt ihr damit?“

Sophia sah mich mit großen Augen an.

„Hätten wir ihn nicht einladen sollen?“, reagierte sie bewusst unschuldig mit einer Gegenfrage. Sophia war eine gute Schauspielerin, doch ich kannte sie schon zu lange, als dass ich noch darauf reinfallen würde.

„Sophia, es ist doch kein Zufall, dass du ihn bisher nicht erwähnt hast…“, knurrte ich verärgert.

Meine Schwester wich trotzig meinem Blick aus. Dann schien sie jedoch erkannt zu haben, dass sie die Küche ohne Antwort nicht so einfach wieder verlassen würde, und sah mir fest in die Augen.

„Als Tamilo Caroline das erste Mal zu seinen Eltern nach Hause gebracht hat, hat sie ein Gespräch mit Anni gesucht. Es war wohl ziemlich herzzerreißend. Jedenfalls hat sie es irgendwie geschafft, Anni zu überreden, Tamilo nichts über die Beziehung mit Till zu erzählen. Wenn ich an ihrer Stelle gewesen wäre, hätte ich sie vor ihren Eltern bloßgestellt.“

Das konnte ich mir lebhaft vorstellen.

„Was genau hat diese Geschichte damit zu tun, dass ich gerade Tamilo die Tür geöffnet habe?“
 

„Naja. Anni hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass sie Caroline nicht leiden kann. Aber Tamilo wollte davon nichts hören. Annis Meinung hat ihn schlichtweg nicht interessiert. Ich werde mich da ebenfalls nicht einmischen. Ich mag Tamilo, aber die Geschichte geht mich nichts an und ich weiß durchaus, wann ich mich einfach raushalten sollte.“

„Sophia. Komm zum Punkt", unterbrach ich ungeduldig den Redefluss meiner Schwester.

Nun wich Sophia meinem Blick aus.

„Es war Annis Idee. Naja... Till ist heute Abend ja auch hier. Und sie dachte, wenn Till und Tamilo mal ohne Caroline aufeinander treffen würden... naja... der Plan ist, dass die Beiden einmal Gelegenheit bekommen, offen miteinander zu sprechen. Weiter nichts.“

„Weiter nichts? Seid ihr denn total bescheuert?“

„Wieso denn? Findest du nicht, er hat das Recht zu erfahren, mit was für einer Schlampe er sich eingelassen hat? Du tust so, als würden wir ihm das direkt unter die Nase binden. Fakt ist, er wird von uns nichts erfahren. Und wir haben auch Till nicht dazu angestiftet, ihm alles zu erzählen. Wenn die beiden sich über Caroline unterhalten, haben wir unser Ziel erreicht. Wenn Till entscheidet, ihn weiter im Dunkeln tappen zu lassen: auch gut. Aber wir werden euch nicht nacheifern, indem wir versuchen, die ganze Geschichte unter den Teppich zu kehren. Und jetzt will ich von DIR eine ehrliche Antwort haben: Denkst du wirklich, wir haben das Falsche getan?“

Nein, das hatten sie nicht. Ich selbst hatte Till doch mal gesagt, dass ich Tamilo die Geschichte erzählen würde, sollte er mich jemals danach fragen. Ich wollte doch ebenfalls, dass Tamilo erfuhr, was Caroline für ein Mensch war. Das Problem war, dass mir das eigentlich egal sein sollte. Solange ich keinen Kontakt mit Tamilo hatte und er mit Caroline zusammen war, stellte er für mich keine Gefahr dar.
 

Der Plan, Till und Tamilo auf neutralem Boden zusammen zu führen, war super. Nur irgendwie hatte ich die böse Vorahnung, dass es nicht an Till hängen bleiben würde, Tamilo alles zu erzählen.

Schließlich hatte Tamilo mir gegenüber bereits angedeutet, dass er irgendwann die Wahrheit erfahren wollte. Und ich hatte es ihm zugesagt.

Ich strich mir mit der Hand durch das Gesicht. „Nein. Ihr habt das Richtige getan. Klasse Idee.“

Damit drehte ich mich um und verließ ohne ein weiteres Wort die Küche.

Vor der Küche stieß ich beinahe mit Tamilo zusammen. Und wieder verwandelte ich mich in eine Salzsäule. Wie laut waren Sophia und ich in der Küche geworden? Hatte Tamilo dem Gespräch zugehört? Hatte er es vielleicht sogar bewusst belauscht? Und wenn er etwas gehört hatte, wie viel konnte er sich nun zusammenreimen?

Ein Blick in Tamilos Gesicht genügte um einige Fragen zu beantworten.

Meine Schwester und ich waren laut genug gewesen. Tamilo hatte definitiv etwas gehört. Und er schien sich genug zusammenreimen zu können, dass mir schlagartig klar wurde, dass irgendwann nun gekommen war.

Mit zusammengezogenen Augenbrauen sagte er entschlossen: „Ich bin dafür, dass wir Zwei uns jetzt ein ruhiges Plätzchen suchen und dann reden wir. Oder muss ich wirklich Till suchen gehen? Nachdem unsere Schwestern ja offensichtlich das Richtige getan haben, solltest du dich ihnen anschließen, meinst du nicht?“

Die Wärme, die ich immer in Tamilos Blick gespürt hatte, war vollkommen verschwunden. Sie war einer Kälte gewichen, die mir mal wieder eine Gänsehaut bescherte. Scheinbar war es völlig egal, wie Tamilo mich ansah. Die Gänsehaut war in seiner Nähe immer präsent.

Ich atmete noch einmal tief durch und nickte dann.

„Also gut. Komm mit“, gab ich mich tonlos geschlagen.

Ich schob mich an ihm vorbei und ging langsam die Treppe zu meinem Zimmer hinauf. Mit jeder Stufe schien der Knoten in meinem Magen größer und verworrener zu werden. Auch wenn ich wusste, dass Anni und Sophia das Beste beabsichtigt hatten, würde ich ihnen dafür die Hölle heiß machen. Ich wollte nicht mit Tamilo allein sein. Das war echt eine dumme Idee.
 

Vor meiner Zimmertür zögerte ich. Ich versuchte mein wild klopfendes Herz zu ignorieren, als ich mich zu Tamilo umdrehte. Wieso schlug es überhaupt so schnell? Mein Herz hatte nicht schneller zu schlagen.
 

„Und du bist dir sicher?“, gab ich Tamilo noch die Gelegenheit, mich aus dieser beschissenen Situation zu befreien.

Statt einer Antwort griff Tamilo an mir vorbei nach der Türklinke und schob mich dann ins Zimmer.

Die Zimmertür fiel hinter Tamilo ins Schloss und das Zimmer lag im Dunkeln. Unangenehm wurde mir Tamilos Nähe bewusst und ich streckte die Hand nach dem Lichtschalter aus. Auf diesem lag die Hand, die logischerweise Tamilo gehören musste, es sei denn, wir beide waren nicht allein im Zimmer. Die Berührung sandte eine erneute Gänsehaut über meinen Körper, aber das war ja bereits Gewohnheit. Sofort beschleunigte sich mein Herzschlag abermals und es wirkte wie eine Ewigkeit auf mich, die Tamilo und ich benötigten, den nötigen Druck auf den Schalter auszuüben, um an den Lichtverhältnissen in meinem Zimmer etwas zu ändern. Wer es schließlich war, konnte ich nicht mehr sagen. Denn in meinem Kopf herrschte gerade sowieso gähnende Leere. Doch die Deckenbeleuchtung sprang an und ich fuhr leicht zusammen. Hastig riss ich die Hand von dem Lichtschalter. Ich konnte noch immer ein Kribbeln an der Stelle fühlen, die Tamilo berührt hatte. Noch immer stand Tamilo nah bei mir und als ich meinen Blick auf ihn richtete, meinte ich, einen Hauch der vermissten Wärme in seinen Augen erkennen zu können.

Ich konnte sehen, wie Tamilo schluckte. „Also...?“, raunte er leise.

„Also... was?“, erwiderte Dominik.

Selbst in meinem Zustand wusste ich noch, dass das eine dumme Frage war. Ich sollte Tamilo irgendetwas erzählen. Krampfhaft versuchte ich, mich daran zu erinnern was das gewesen war. Mein Kopf war einfach komplett leergefegt.

„Tu nicht so. Jetzt sind wir hier. Also lass es uns einfach hinter uns bringen, ja?“, antwortete Tamilo kühl.

Es entstanden Bilder in meinem Kopf. Bilder, von Dingen, die ich jetzt nur zu gerne hinter mich bringen würde. Dinge, die nichts mit der Kälte zu tun hatten, die wieder Besitz über Tamilos Gesichtszüge und Augen übernommen hatte.

Entsetzt beeilte ich mich, einen sicheren Abstand zu meinem Gegenüber zu erhalten.

Was war bloß mit mir los?

So viel hatte ich bisher definitiv nicht getrunken. Bei weitem nicht genug, um den Wunsch… nein, beinahe das Verlangen zu spüren, einen Mann zu küssen. Gott, war das eine absurde Situation. Was war denn nur in michgefahren?

Alles was ich in diesem Moment tun wollte war zu fliehen. Einfach wegzulaufen vor dieser Situation und vor dem, was ich eigentlich noch viel lieber täte. Ich zwang mich, aus dem Gefängnis auszubrechen, in das Tamilos Blick mich gesperrt hatte. Ich wandte meine Augen von ihm ab und drehte mich um, um aus dem Fenster zu sehen. Viel sah ich nicht, doch es war um einiges besser, als Tamilo voller Verlangen anzustarren. Deswegen waren wir nicht hier. Es ging um... Caroline. Tamilos Freundin.
 

Durch die Reflexion der Glasscheibe konnte ich sehen, wie Tamilo sich auf mein Sofa zubewegte und sich in der Mitte niederließ. Dann traf sein Blick genau auf meinen eigenen. Ertappt zuckte ich zusammen.

Das war vollkommen lächerlich. Ich war doch schließlich mutig genug, ihm die gewünschten Informationen direkt ins Gesicht zu sagen. Seufzend drehte ich mich um und folgte Tamilo zu meiner Couch. Ich setzte sich so weit von Tamilo entfernt, wie es das Sofa nur zuließ und sah ihn dann an.

Tamilo sagte nichts, erwiderte meinen Blick stumm und wartete.

Er wartete darauf, dass ich ihm Horrorgeschichten über seine Freundin erzählte.

Klasse. Aber da musste ich nun wohl durch.

Irgendwie schaffte ich es, Tamilo fest in die Augen zu blicken, als ich ihn fragte: „Wie viel weißt du über die Trennung von Till und Caroline?“

„Ich weiß beinahe gar nichts. Ich habe es hin und wieder versucht, zur Sprache zu bringen, nachdem ich realisiert habe, dass das scheinbar eine größere Geschichte ist. Aber aus niemandem ist auch nur ein Wort herauszubekommen“, antwortete Tamilo völlig ruhig.

„Wen hast du gefragt?“, wollte ich wissen.

„Ist das wichtig?“, fragte Tamilo verständnislos.

„Vielleicht.“

„Ich habe natürlich Caroline gefragt. Aber sie sagte, sie wolle nicht mit mir über diese Beziehung sprechen. Sie sagte auch, dass das Thema ihr immer noch nahe gehen würde. Wie dem auch sei, aus ihr habe ich nichts herausbekommen.“ Tamilo klang verärgert.

„Schwach…“ schnaubte ich verächtlich.

„Ich habe meinen Cousin gefragt. Schließlich habe ich Caroline über ihn kennengelernt. Doch er hat gesagt, er könnte mir in der Sache nicht behilflich sein, und es sei nicht seine Aufgabe mir davon zu erzählen.“

Mühsam unterdrückte ich ein Grinsen. Irgendetwas sagte mir, dass ich das Verhältnis zwischen Marc und seinem Cousin, das gerade erst enger geworden war, wieder dem Erdboden gleich machen würde. Das war definitiv ein schlechter Zeitpunkt, den Humor darin zu sehen, dass Tamilo ausgerechnet einen der Kerle gefragt hatte, mit denen Caroline im Bett gewesen war.

„Ich habe auch meine Schwester gefragt, aber sie hat mir zu verstehen gegeben, dass sie sich da nicht einmischen wird und, dass das ein Thema ist, über das ich mit Caroline sprechen müsste. Sie hätte versprochen sich aus dem Thema rauszuhalten. Aber das weißt du ja auch, wie ich eben mitbekommen habe. Den einen oder anderen aus eurer Clique habe ich ebenfalls gefragt. Es war nur zu deutlich, dass jeder Bescheid weiß, aber niemand vor hat, mir etwas zu sagen. Deine Freundin gehört mit zu diesen Leuten. Vor drei Wochen habe ich dich gefragt, wie du dich eventuell noch dunkel erinnern kannst. Und du mich fragst, ist jetzt der perfekte Zeitpunkt es zu erzählen. Dominik, ich will es jetzt wissen. Sag mir bitte, was damals passiert ist.“

Ich wollte das nicht tun. Wie war ich in der Situation gelandet, diesem Kerl alles erzählen zu müssen?
 

„Caroline hat Till betrogen“, brachte ich es hinter mich.

Ich versuchte, Tamilos Gesichtsausdruck zu deuten, doch der zeigte keinerlei Regung.

Schließlich nickte er. „Ich habe mir eigentlich schon gedacht, dass es so etwas ist. Aber das erklärt noch nicht, warum ihr alle solch ein Geheimnis daraus macht. War es eine längere Geschichte?“

Dann spannte er sich plötzlich an. „Doch nicht mit dir, oder?“

Meine Augen weiteten sich verblüfft und dann lachte ich auf.

„Gott. Niemals. Glaub mir, in dem Fall wäre ich nicht mehr mit Till befreundet.“

Tamilo wirkte erleichtert und ich erkannte, wie die Anspannung sich sofort wieder löste.

„Soweit wir wissen, war keine längere Geschichte dabei. Aber wir ahnen, dass wir bei Weitem noch nicht alles wissen und vermutlich auch niemals alles erfahren werden.“

„Es ist also nicht nur einmal vorgekommen“, vermutete Tamilo gefasst.

„Schön wäre es“, murmelte ich.

„Wie hat Till davon erfahren?“, fragte er mit gerunzelter Stirn.

Na, bisher lief das Gespräch doch ausgesprochen gut. Tamilo regte sich nicht auf und er nahm einfach alles hin, was ich ihm erzählte. Ich war gespannt, wie er auf die gesamte Geschichte reagieren würde. Gleichzeitig war ich mir darüber bewusst, dass das hier eigentlich nicht meine Aufgabe war.

„Erinnerst du dich an die Kellnerin im Alex?“, fragte ich.

„Die, mit der Till geflirtet hat?“

„Genau die. Einer der Kerle, mit denen Caroline Till betrogen hat, hat ihr davon erzählt. Er hat ihr auch gesagt, dass das eine einmalige Sache war und dass er Till gegenüber ein wahnsinnig schlechtes Gewissen hätte. Die beiden waren gut befreundet, also hat Marie beschlossen, ihr Wissen für sich zu behalten, obwohl kaum jemand ein größeres Interesse am Scheitern der Beziehung zwischen Caro und Till hatte, als sie.“

Tamilo nickte langsam und bedeutete Dominik weiter zu erzählen.

„Auf einer Party hat sie dann eine recht eindeutige Szene zwischen Caroline und… einem Freund von uns beobachtet.“

Nun wich ich Tamilos Blick aus und musterte meinen Teppich.

„Wer?“, fragte Tamilo auch prompt nach.

Ich verfluchte mich für mein Zögern und schüttelte den Kopf.

„Das ist nicht wichtig. Jedenfalls hat Marie die beiden nicht zur Rede gestellt und auch diese Beobachtung vorerst für sich behalten. Vor ... acht Monaten etwa haben wir uns in einer gemütlichen Runde bei Till getroffen. Marie war auch da. Caroline natürlich auch. Genauso wie beide Kerle, von denen Marie wusste, dass sie etwas mit Caroline gehabt hatten.“ Ich sah nun wieder zu Tamilo auf. Verwirrung stand in sein Gesicht geschrieben.

„Warte mal. Beide Kerle waren Freunde von euch? Freunde von Till?“, fragte er bestürzt.

„Jetzt nicht mehr“, antwortete ich klar und hoffte und fürchtete zugleich, dass Tamilo daraus die richtigen Schlüsse ziehen würde.

Tatsächlich huschte etwas über sein Gesicht. Doch bevor er irgendetwas sagen konnte, klopfte es.
 

Unsere Köpfe wandten sich beide zur Tür, als sie geöffnet wurde und Till hereinschaute.

„Nik! Hier bist du, ich...“, dann fiel sein Blick auf Tamilo, der ihn entgeistert anstarrte.

Sofort blickte Till wieder zu mir. „Was macht ihr hier?“, fragte er und sah mich ernst an.

Ich verdrehte die Augen. Tamilo und ich saßen gute zwei Meter voneinander entfernt. Till hatte also keinen Grund mich so anzusehen.

„Nik erzählt mir gerade eine interessante Geschichte“, übernahm Tamilo das Antworten.

Till blinzelte und schien nicht sofort zu verstehen, doch dann veränderten sich seine Gesichtszüge. „Oh… ehm… Wo seid ihr?"

„Wir sind bei einer gemütlichen Runde bei dir zuhause", erklärte Tamilo, „Willst du dich zu uns setzen?"

Till schien darüber nachzudenken, schüttelte dann aber energisch den Kopf… „Nein danke. Ich habe die Szene deutlich genug vor Augen, das muss ich mir heute echt nicht anhören. Die Party hier ist nett. Ich wollte nur sehen, wo du steckst, Nik. Lasst euch bloß nicht stören… ehm… du machst das schon…“

Einen Moment erwiderte er meinen flehenden Blick, war dann jedoch genauso schnell wieder verschwunden, wie er aufgetaucht war.
 

Tamilo sah Till nachdenklich nach. Schließlich sah er mich wieder an und ich wurde unter seinem Blick etwas nervös und ich wich ihm aus.

„Dann mach mal weiter. Ich nehme an, Marie hat die Bombe platzen lassen?", nahm Tamilo das Gespräch wieder auf, als wären wir nie unterbrochen worden.

Ich räusperte mich, denn irgendwie vertraute ich meiner Stimme nicht ganz. Ich fürchtete, dass mein Herzschlag eher zu hören war, wenn ich den Mund öffnete. Doch Tamilo wartete eindeutig auf eine Antwort auf seine Frage.

„Ja… Das hat sie. Ich nehme an, sie hat das geplant. Total beiläufig sagte sie mitten in dem Film den wir uns angesehen haben: 'Till. Ich denke du solltest wissen, dass Caroline dich mehrfach betrogen hat.‘

„Vor versammelter Mannschaft?"

„Ja."

„Wow. Nett.“

Ja, wir hatten das alle nett gefunden.

„Sie hat es sich auch nicht nehmen lassen, beide Kerle zu offenbaren... Ich denke, ich muss dir nicht erklären, was in diesem Zimmer los war. Caroline hatte wenigstens den Anstand es direkt zuzugeben. Und ein Dritter hat Till später gebeichtet, ebenfalls mit Caroline geschlafen zu haben. Das sind die Drei von denen wir wissen.“

„Und wir reden hier von der selben Caroline?“, fragte Tamilo schockiert,

„Scheiße. Das hätte ich von ihr nie erwartet.“

„Wir hatten auch keine Ahnung. Till ging es ziemlich beschissen. Die Beziehung zwischen den beiden war damit natürlich vorbei. Und mit den Kerlen haben wir heute nichts mehr zu tun.“

Tamilo schwieg und ich konnte es hinter seiner Stirn arbeiten sehen.

„Sei ehrlich“, bat Tamilo, „Was hat Marc mit der Geschichte zu tun? Er... war der, den Marie mit Caroline erwischt hat, stimmt‘s?"

Ausweichend senkte ich den Blick und hörte Tamilo wütend schnauben.

„Also ja“, stellte er fest.
 

Dann erhob er sich und begann im Zimmer herumzulaufen.

„Jeder um mich herum wusste Bescheid, oder? Anni wusste es. Ihr alle wusstet das natürlich ganz genau und keiner von euch hat es für nötig gehalten, mir auch nur ein Wort davon zu verraten? Hat euch das Spaß gemacht? Habt ihr vielleicht sogar eine kleine lustige Wette am Laufen?“, fragte Tamilo mit böse funkelnden Augen. „'Wie lange dauert es wohl, bis Caroline auch Tamilo hintergeht? Und wie lange wird er brauchen, um zu realisieren, was Caroline für ein Spielchen mit ihm spielt?' Das ist wirklich toll! Ihr müsst euch ja wahnsinnig über mich lustig gemacht haben“, Tamilos Stimme wurde immer lauter.

„Was? So ein Blödsinn!", entfuhr es mir. Auch ich erhob mich.

Dachte er das wirklich? Bis gerade eben hatte Tamilo sehr gefasst auf alles reagiert und erst jetzt flippte er aus?

„Was soll ich denn bitteschön davon halten? Nicht einmal Caros betrogener Ex-Freund hat es geschafft, die Fresse aufzumachen. Der muss sich ja genau in diesem Moment ins Fäustchen lachen. Kein Wunder, dass er sich nicht zu uns setzen wollte. Vermutlich hätte er es nicht geschafft, sein schadenfrohes Grinsen zu verstecken.“

"Halt die Klappe!", schrie ich, „Du hast absolut keine Ahnung! Weißt du, wie sehr ich gehofft habe, du wärst ein Arschloch? Ich habe es Caroline so gewünscht, an einen Kerl zu geraten, der sie nach Strich und Faden verarscht, wie sie es mit meinem besten Freund getan hat und der ihr all die Monate, in denen es Till richtig dreckig ging, ordentlich heimzahlt. Noch bevor wir uns im Academy getroffen haben, nahm ich mir vor, dich zu warnen, wenn du ein netter Kerl wärst."

Tamilo blieb stehen und sah mich nun wieder ruhig an. „Das hast du aber nicht getan. Damit weiß ich ja, was du von mir hältst“, sagte er mit eiskalter Stimme.

Das lief absolut falsch. Irgendetwas lief hier ganz gehörig schief.

„Du hast ja keine Ahnung, wie falsch du damit liegst.“

„Dann erkläre es mir, denn ich versteh gerade gar nichts mehr", forderte Tamilo mich auf und kam auf mich zu, bis er noch einen halben Meter von mir entfernt stand.

Wie sollte ich ihm erklären, was ich selbst nicht verstand?

Ich konnte ihm nicht alles erklären. Das würde ihn wohl endgültig schockieren.

„Wenn ich dich nicht leiden könnte, dann hätten wir uns im Academy das erste und letzte Mal gesehen. Tatsache ist aber, dass ich dich ziemlich gut leiden kann und ich weiß, dass auch die anderen dich mögen. Es hofft garantiert niemand, dass es dir genauso ergeht wie Till. Ich habe gerade in den letzten drei Wochen so oft darüber nachgedacht, es dir zu erzählen. Mir war klar, dass du mich irgendwann danach fragen würdest. Ich habe es dir bisher nicht verraten, eben WEIL ich dich mag."

„Na klar. Das ist dann wohl der Grund, aus dem du seit Wochen bei unseren Treffen mit Leonie mit Abwesenheit glänzt", höhnte Tamilo, doch ich ließ mich davon nicht beirren.

„Ich fand es nicht fair, von Rachegelüsten getrieben, eine Beziehung zu zerstören, die scheinbar gut läuft. Ich hätte große Lust gehabt, Caroline richtig einen reinzudrücken, glaub mir. Aber das ist ein Kampf den ich nicht auf deinem Rücken austragen wollte. Es ist möglich, dass Caroline sich nicht ändert. Aber jeder sieht, dass du für Caroline etwas völlig anderes bist, als Till es je war. Selbst Till hat nicht einmal eine Stunde mit euch gebraucht, um das festzustellen. Es ist beinahe ekelerregend, wie sehr Caro dich anhimmelt. Es ist nicht in meinem Interesse, dass die Beziehung zwischen dir und Caro in die Brüche geht."

Als Tamilo darauf nichts erwiderte trat ich noch näher an ihn heran und versuchte mein wild klopfendes Herz zu ignorieren. Mal wieder.

„Ich kann dir nur eins versprechen. Wenn ich irgendwann mitkriegen sollte, dass Caroline Scheiße baut, erfährst du es als Erstes."
 

„Und ich soll darauf warten, dass das passiert, ja?“, fragte Tamilo leise. Tamilo war mir so nah, dass ich dessen warmen Atem spüren konnte. Vergeblich versuchte ich gleichmäßige Atemzüge zu nehmen. Das hier lief so unglaublich verkehrt.

Ich wusste, dass ich kurz davor war, eine riesige Dummheit zu begehen. Es war nicht nur dumm, nein es würde auch verdammt peinlich werden, wenn ich sich jetzt vorbeugen würde und… Eine kleine hysterische Stimme in seinem Kopf schrie: 'Beweg dich! Geh einfach! Zieh dich doch wenigstens ein paar Schritte zurück, aber steh da nicht so rum!'

Doch mein Körper nahm keine Befehle von kleinen hysterischen Stimmen an. Er sah es überhaupt nicht ein, sich von hier wegzubewegen. Mein Körper fühlte sich hier nämlich ausgesprochen wohl. Genau hier an dieser Stelle. Vielleicht noch ein wenig näher. Nur ein wenig mehr von diesem Geruch. Etwas mehr von dieser Wärme, die in immer kürzeren Abständen mein Gesicht streifte. Ich wollte noch tiefer in diesen warmen, dunklen Augen versinken.

Ja, die war wieder da, diese Wärme, die Tamilo für meinen Geschmack zu häufig irgendwo verschloss. Diese dunkelbraunen Augen huschten unruhig über mein Gesicht und schienen immer näher zu kommen. Eine ausgeprägte Gänsehaut zog sich über meinen ganzen Körper. Diese kreischende Stimme in mir brüllte, tobte und schimpfte. Ich versuchte zu verstehen, was sie mir sagte, doch die Anziehungskraft dieser Gestalt vor mir war so groß, dass sie mir selbst die Bedeutung wirrer Worte in meinem Inneren entzog. Gleichzeitig geriet auch mein eigener Körper immer mehr in die Fänge dieser Kraft. Tamilos Blick hatte nun offenbar sein Ziel erreicht und auch ich ließ seine Augen über das Gesicht seines Gegenübers gleiten. Mein Blick wurde geradezu magisch angezogen von diesem Mund, der nun leicht geöffnet war und immer wieder erzitterte. Es trennten uns nur noch Zentimeter voneinander.

Ein Schaudern ging durch meinen Körper, als warme Lippen einen sanften Druck auf meine eigenen ausübten. Leider stieß mich diese Berührung aber auch unsanft in die Realität zurück. Das waren nicht die Lippen, die ich sonst küsste.

Leider? Heilige Scheiße! Erschrocken riss ich die Augen wieder auf, die sich wie von selbst geschlossen hatten und endlich reagierten meine Beine auf meine innere Stimme, die ihnen immer noch befahl, dem ganzen endlich ein Ende zu setzen. Bebend wich ich einen Schritt vor Tamilo zurück, der noch immer mit geschlossenen Augen da stand und seine Lippen nun fest aufeinander presste. Immerhin war ich nicht der Einzige, der scheinbar über das entsetzt war, was hier gerade geschehen war.

Ohne darüber nachzudenken, drehte ich mich wortlos um und verließ schwer atmend das Zimmer.
 

Erst auf der Treppe brachen die Gedanken über mir zusammen.

Das war doch jetzt nicht wirklich passiert, oder?

Wie dumm konnte man denn sein?

WAS WAR DAS DENN?

Da ging ich dem wochenlang aus dem Weg und tat so etwas?

Ich verfluchte mich dafür, dass ich mich nicht besser unter Kontrolle gehabt hatte. Ich hatte tatsächlich Tamilo geküsst. Und der hatte nichts unternommen, um das zu unterbinden. War nicht sogar er es gewesen, der die letzte Distanz überbrückt hatte?

Hart und schnell pochte mein Herz in meiner Brust. Ich hatte einen Mann geküsst, mich von einem Mann küssen lassen. Dabei hatten wir doch gerade noch über Tamilos Beziehung gesprochen. Seine Beziehung, die eventuell gar keine mehr war. Die Beziehung, die ich zerstört haben könnte.

Nein, daran gab ich mir nicht die Schuld. Tamilo wollte alles wissen. Er hatte ein Recht, alles zu erfahren. Wenn jemand verantwortlich war, dann war es Caroline.

Und der Kuss.. Ach was, das war ja nicht einmal ein Kuss gewesen. Gut, unsere Lippen hatten sich kurz gestreift, ganz kurz berührt, aber wir waren beide durcheinander und aufgebracht gewesen, da konnte so etwas doch passieren, oder? Es war halt passiert. Aber das war kein Grund eine große Sache daraus zu machen. In ein paar Wochen würden Tamilo und ich uns ansehen und verlegen grinsend den Kopf schütteln. Auch bei Tamilo hatte ich die Gänsehaut gesehen. Bekam man die nicht auch bei eher unangenehmen Dingen?

Am Fuß der Treppe kam ich zum Stehen und blickte verwirrt auf, als ich realisierte, dass ich angesprochen wurde.

Till sah mich besorgt an.

„Was?", fragte ich und räusperte mich, als ich selbst hörte, wie rau meine Stimme klang.

„Wie es gelaufen ist, habe ich gefragt."

„Ganz klasse", gab ich zurück, „Ich brauche jetzt was zu trinken. Tamilo ist noch oben."

„Ist… alles in Ordnung?“, fragte Till uns sah mich weiterhin so besorgt an.

„Ja, es ist alles in Ordnung“, nickte ich, „Ich… komm gleich… lass mir bitte gerade ein paar Minuten.“

Damit ließ ich Till stehen und begab mich in die Küche.
 

Dort griff ich nach einem Glas und der Wodkaflasche. Ich goss einen großzügigen Schluck mit Orangensaft auf und setzte das Glas an.

Nein, ich neigte nicht dazu, mich in schwierigen Situationen zu betrinken. Außerdem war mir das Risiko definitiv zu groß, dass ich eine noch größere Dummheit anstellte. Alkohol war in Tamilos Nähe offensichtlich nicht das Klügste. Wieso konnte Leonie nicht einfach schon hier sein? Sie würde es sicher schaffen, diese zweite Stimme in mir zum Schweigen zu bringen, die höhnisch verlauten ließ, dass ich ein feiger Idiot gewesen war, als ich den Kuss abgebrochen hatte.

Ich hörte, wie die Küchentür geschlossen wurde und schon war ich wieder der feige Idiot, der nicht in der Lage dazu war, sich umzudrehen.

Ich brauchte es auch gar nicht. Ich wusste auch so, wer hinter mir die Küche betreten hatte. Und ich wusste, dass es nicht Till war. Es gab nur diese eine Person, die durch ihre pure Anwesenheit ein Kribbeln meinen Nacken hinunter jagen konnte.

Mit einem letzten Zug leerte ich das Glas und stellte es dann vor mir auf die Arbeitsplatte.

„Was willst du denn?", fragte ich leise, ohne den Blick von dem leeren Glas zu nehmen.

Mit allen Sinnen konzentrierte ich mich auf die Gestalt, die irgendwo hinter mir im Raum stand. Mein ganzer Körper war angespannt und bereit. Bereit zu flüchten, bereit... irgendetwas zu tun.

„Nik, ich.."
 

Nun drehte ich mich doch zu Tamilo um und fragte erneut: „Tamilo, was willst du?" Auf den harten Klang meiner Stimme war ich beinahe stolz.

„Keine Ahnung… aber wir sollten über das reden, was da gerade passiert ist...", murmelte Tamilo und klang verwirrt und hilflos.

„Da ist nichts passiert, über das wir reden müssten", wehrte ich ab. Das war kein Gespräch, das ich führen wollte. Eigentlich wollte ich die Szene einfach nur aus meinem Kopf verbannen. Ich wandte mich wieder von ihm ab. Ich konnte nicht in diese Augen sehen. Nicht jetzt.

„Nichts passiert? Das sehe ich etwas anders. Dominik, wir haben uns geküsst", widersprach Tamilo schwach.

„Wen hast du geküsst?", fragte Till, der sich natürlich einen perfekten Zeitpunkt ausgewählt hatte, die Küchentür zu öffnen.

Erschrocken fuhren Tamilo und ich herum und starrten Till beide an.

Schnell wurde ihm klar, dass seine Anwesenheit in diesem Raum gerade störte und seine Augen sprangen verwirrt zwischen Tamilo und mir hin und her. Ich spürte eine Hitze in meinen Wangen aufsteigen, die schlimmer wurde, je mehr ich versuchte, sie zu unterdrücken.

Tills Gesicht wurde kurz völlig ausdruckslos, ehe seine Augen sich weiteten. „Boah, Scheiße, Nik… ich dachte…", durchbrach er die Stille und ich sah ihn nach Luft schnappen. „Das ist... ehm... ich lass euch mal besser allein..."

Mit schüttelndem Kopf wollte er wieder den Rückzug antreten.

„Nein, Till. Warte..."

Ich riss mich zusammen und folgte meinem besten Freund, der tatsächlich stehen geblieben war, zur Tür. Dort angekommen, drehte ich mich noch einmal um.

„Da gibt es nichts zu reden. Vergiss es einfach. Bitte."

„Nik, wir sollten…“, setzte Tamilo noch einmal an, doch ich ließ die Tür hinter mir nachdrücklich wieder ins Schloss fallen.

Till befand sich bereits auf dem Weg nach oben und zum zweiten Mal an diesem Tag stieg ich die Treppe herauf, um ein Gespräch zu führen, vor dem ich am liebsten einfach nur davon laufen wollte.

„Bist du denn von allen guten Geistern verlassen?“, fragte Till, kaum, dass ich meine Zimmertür hinter uns geschlossen hatte. „Leonie könnte jederzeit hier auftauchen und du hast nichts Besseres zu tun, als mit Tamilo rumzuknutschen?“, zischte er leise.

Selbst wenn Till die Worte geflüstert oder auch nur aufgeschrieben hätte, wäre ich unter dem Wortlaut zusammengezuckt.

Ganz hatte ich noch nicht realisiert, was in diesem Zimmer wenige Minuten zuvor geschehen war.

„Wir haben nicht rumgeknutscht“, wehrte ich mich gegen diese Formulierung. Das war ja kaum ein Kuss gewesen, von Rumknutschen konnte also gar keine Rede sein.

„Es ist mir relativ egal, was ihr hier genau gemacht habt. Ich weiß nur eines: solange du mit Leonie nicht gesprochen hast, hat dein Mund nicht einmal etwas in der Nähe von Tamilo zu suchen.“

Ich hörte, wie sauer Till auf mich war, auch wenn er noch immer bemüht war, seine Stimme möglichst leise zu halten. Damit wollte er allerdings nur einen absoluten Partyskandal verhindern. Wären wir woanders, wäre Till die Lautstärke vermutlich völlig egal gewesen.

„Wie zur Hölle ist das passiert? Als ich bei euch war, habt ihr noch brav mit einem riesigen Abstand zueinander auf der Couch gesessen. Ihr habt nicht wirklich gewirkt, als hätte ich Anstandsdame spielen müssen. Ach Nik, das ist doch echt scheiße.“

Till war, wie ich auch, völlig mit der Situation überfordert.

„Ja, ich weiß“, murmelte ich und ließ mich auf das Sofa fallen und vergrub mein Gesicht in den Händen.

Ja, wie hatte das nur passieren können? Was war mit meinen ganzen guten Vorsätzen? Warum musste der Kerl ausgerechnet in meinem Haus auftauchen? Verdammte Scheiße.

„Wie ist das passiert, Nik?“, fragte auch Till mich erneut, klang dabei allerdings nicht mehr ganz so vorwurfsvoll.

Ich zog die Schultern hoch und schüttelte den Kopf, der noch immer in meinen Handflächen lag.

„Ich weiß es nicht. Im einen Moment standen wir voreinander und haben uns angeschrien und dann… verdammt… ich habe überhaupt nicht mehr nachgedacht… Fuck!“

Till seufzte.

„Nik, willst du mir ehrlich noch erzählen, du wärst nicht verknallt?“

„Ich bin nicht verknallt“, erwiderte ich flüsternd und wusste im selben Augenblick, dass ich einen ziemlich erbärmlichen Versuch unternommen hatte, meinen besten Freund und auch mich selbst zu belügen.

Aber ich durfte nicht verknallt sein. Schließlich war ich in einer festen Beziehung. Außerdem machte es doch absolut keinen Sinn, sich in einen Kerl zu verlieben, der selbst eine Freundin hatte und vielleicht, vielleicht aber auch nicht, mal etwas mit Kerlen gehabt hatte.

Oh mein Gott. Tamilo und ich hatten uns geküsst.

Kurz zwar, sehr kurz, aber ich konnte den sanften, zaghaften Druck noch jetzt auf meinen Lippen spüren. Diesen Druck, den nicht nur ich ausgeübt hatte. Nein, Milo war mindestens zur Hälfte daran beteiligt.

Welcher Hetero ließ sich einfach so auf einen Kuss mit einem anderen Mann ein?

Shit… falsche Frage.

Was ging in diesem Moment wohl in Tamilo vor? War er genauso aufgewühlt wie ich?

Tamilo war es gewesen, der direkt im Anschluss darüber sprechen wollte. Ich wollte das nicht. Ich hatte ihn abblitzen lassen.

Und warum? Weil ich feige war. Ich hatte vor dem Gespräch einen unglaublichen Schiss. Ich hatte Angst davor, dass auch Tamilo dieses wahnsinnige Herzklopfen hatte, dass auch er in dieser Stimmung gefangen war, die vorhin so plötzlich zwischen uns geherrscht hatte.

Gleichzeitig hoffte ich, dass es ihm nicht anders ging, als mir. Und vor dieser Hoffnung hatte ich wiederum Angst. Ich hatte Angst, dass diese Hoffnung begründet war und mindestens genauso sehr fürchtete ich mich davor, dass sie sich nicht erfüllte.

Wieso hatte ich zugelassen, dass dieser Kuss stattfand? Und wieso hatte ich diese Gelegenheit nicht genutzt und es einfach geschehen lassen?

Und wie konnte es sein, dass meine Gedanken so unfassbar widersprüchlich waren?

Wie konnte ich den Wunsch verspüren, diesen Kuss noch einmal zu erleben, ohne vor Milo wegzulaufen und gleichzeitig jenen, es niemals so weit kommen gelassen zu haben?

Wo war die nächste Wand, gegen die ich meinen Kopf schlagen konnte?

Ich wollte diese Gedanken nicht haben. Ich wollte mich mit diesem Scheiß gar nicht auseinandersetzen. Gab es nicht irgendwo einen Schalter, den man betätigen konnte, damit alles wieder aufhörte?
 

Mit sanfter Gewalt zog Till meinen Kopf aus meinen Handflächen. Die Anwesenheit meines besten Freundes hatte ich schon beinahe vergessen. Doch er war da. Und er sah so viel mehr, als ich bereit war, zu zeigen. Dies wiederum konnte ich in seinen Augen erkennen. Im Gegensatz zu mir, bemühte er sich allerdings auch nicht, irgendetwas vor mir zu verstecken.

Er sah mir ernst in die Augen und wusste es, wusste alles. Vielleicht sogar mehr als ich selbst.
 

Und wie sehr ich ihn dafür hasste… und liebte.

Viel mehr Bruder hätte er für mich in diesem Augenblick nicht sein können, selbst wenn wir tatsächlich Geschwister gewesen wären. Vielleicht war es besser für uns, dass wir nicht wirklich verwandt waren, denn so konnte jeder von uns in die Rolle des großen Bruders schlüpfen. So wie ich es vor ein paar Monaten getan hatte, tat es nun Till, indem er mich einfach in den Arm zog, ohne ein überflüssiges Wort zu verlieren. Er zog mich an sich und gab mir keine Chance, mich wieder in mein Schneckenhaus zu verkriechen. Schnell gab ich auch auf, es zu versuchen und sackte zusammen, lehnte mich gegen ihn und versuchte wenigstens, die Tränen zurückzuhalten, die darauf lauerten, meine Augen zu verlassen.

Till musste sie gesehen haben, da machte ich mir gar nichts vor, doch ich wollte sie nicht auch noch für Andere sichtbar machen.

Nicht für meine Schwester, nicht für Anni, nicht für ihre restlichen Partygäste und vor allem nicht für Leonie oder Tamilo.

Tamilo.

„Was soll ich tun, Till? Was soll ich jetzt tun?“ Die Worte stolperten aus meinem Mund.

Till zog mich noch enger an sich und wieder stritten in mir völlig gegensätzliche Emotionen.

Die Wut auf die Schwäche, die ich gerade zeigte und in die ich mich verkroch. Ich fand Schutz in dieser Schwäche und war dankbar und erleichtert, mich an die einzige Person klammern zu dürfen, die diese Schwäche kannte. Die Gewissheit, dass der Schutz lediglich geborgt war, dass ich ihn immer wieder in Anspruch nehmen konnte und dass er doch niemals ewig andauern würde, löste wieder Furcht in mir aus. Furcht vor dem Moment, in dem ich die schützende Umarmung wieder verlassen musste, ohne auch nur ein kleines Stückchen des Trosts mitnehmen zu können, den ich jetzt noch so deutlich spüren konnte.

So wie ich mich an Till klammerte, so sehr klammerte ich mich an die Illusion, dass ich ein winziges Bisschen vom Trost der Umarmung mit mir aus diesem Zimmer nehmen konnte. Und diese Illusion war es, die meine Atmung wieder beruhigte. Darauf schien Till gewartet zu haben.

„Ich kann dir nicht sagen, was du tun sollst. Ich kann dir nur eines raten: Hör auf, dir selbst etwas vorzumachen. Eine Flucht nach vorne gibt es nicht… wegzulaufen bringt dich nie vorwärts. Du kannst dich vor anderen verstecken, aber nicht vor dir selbst und vor dem, was du bist. Du belügst dich, wenn du versuchst, dir einzureden, du hättest keine Gefühle für Tamilo. Und solange du dich belügst, belügst und betrügst du andere, die das nicht verdient haben. Also versuch einfach ehrlich zu dir selbst zu sein. Alles Andere kommt dann mit der Zeit. Ich kann nicht vollkommen nachvollziehen, welche Gedanken dich verfolgen. Wenn ich das könnte, wäre ich in der Lage, dir bessere Ratschläge zu geben. Ich weiß auch nicht, wie hart das alles für dich wird, doch je länger du so tust, als wäre nichts, desto schlimmer wird es für alle Beteiligten, doch am Schlimmsten wird es für dich.“

Till atmete tief durch und hielt mich weiterhin fest im Arm.

„Ich kenne dich nicht so aufgewühlt. Die letzten paar Wochen bist du nicht du selbst gewesen. Es ist echt hart für mich, zu sehen, wie du versuchst, Dinge zu wollen, die dich nicht mehr glücklich machen können. Und noch härter ist das Wissen, dass ich nichts weiter tun kann, als für dich da zu sein wenn du es brauchst. Jeden Tag versuchst du, uns vorzumachen, dass du es nicht brauchst, aber ich sehe es so deutlich, dass es auch mir weh tut. Dominik, ich bin es leid, mit anzusehen, was du dir antust. Also hör auf damit. Hör bitte auf!“
 

Jedes Wort, egal, wie sanft er es sprach, wirkte wie ein Peitschenhieb auf mich. Und ich wusste, jedes Einzelne entsprach der Wahrheit. Einzelne Tränen hatten es nun doch geschafft auszubrechen. Sie hatten sich nicht einsperren lassen.

Die Spuren der Tränen konnte ich verstohlen fortwischen.

Die Spuren, die Tills Worte hinterlassen hatten, jedoch nicht. Sie zeigten sich nicht als feuchte Linien auf meinem Gesicht. Diese Worte nagten tiefer in mir. Sie fraßen sich in meinen Kopf, in mein Gewissen und mein Herz. Innerhalb weniger Minuten hatte ich mit Tills Hilfe Antworten auf einige der Fragen gefunden, die mir alleine wochenlang scheinbar unlösbare Rätsel aufgegeben hatten.

Eine Erkenntnis traf mich härter als die Andere und einmal mehr wünschte ich mir, ich hätte Tamilo niemals getroffen. Wäre ich ihm nicht über den Weg gelaufen, hätte ich weitermachen können, wie bisher.

Ich liebte Leonie wirklich. Doch die Leidenschaft, die ich in unserer Beziehung niemals vermisst hatte, fehlte mir jetzt. Sie war nie da gewesen. Ich hatte sie nie kennengelernt. Und wie konnte man etwas vermissen, von dem man keine Ahnung hatte? Leonie und ich hatten so viel Anderes, was uns verband. Das war nichts Neues für mich, doch durch eine einzige Begegnung wurde es mir erst richtig bewusst.

Ja, ich liebte Leonie… ich liebte sie noch genauso sehr, wie vor unserer Beziehung und auf exakt dieselbe Art und Weise.

Ich liebte die Vertrautheit zwischen uns. Ich liebte diesen Menschen, der Leonie hieß. Doch ich liebte sie nicht als die Frau an meiner Seite. Ich liebte sie nicht auf die Art, die sie verdiente und nicht annähernd so, wie sie mich liebte.

Drei Jahre lang hatte sie einfach genommen, was sie von mir bekommen konnte. Nie hatte sie mehr verlangt. Sie hatte aber auch nie auf etwas verzichtet. In ihrem Sanftmut, der sie so ausmachte, hatte sie nie gefordert, immer nur gegeben. Vorsichtig hatte sie eingesammelt, was ich bereit war, zu geben.
 

Kannte ich Leonie wirklich so gut, wie ich dachte?

War sie glücklich gewesen? Oder hatte sie geahnt, dass jedes Gefühl, das sie mir zu intensiv zeigte, mich von ihr forttreiben würde? Wusste sie, dass der Tag kommen würde, an dem mir die Vertrautheit zwischen uns nicht mehr reichen würde, mir nicht mehr reichen konnte? Dieser Tag, an dem ich realisieren würde, dass diese wunderbare Frau mich niemals glücklich machen konnte?

Ich war in unserer Beziehung nie unglücklich gewesen. Ich war zufrieden, mit dem was wir hatten, doch galt das auch für meine Freundin? Hatte sie deshalb nur Till auf meine Stimmung angesprochen? Hatte sie die Ahnung, mit zu genauen Fragen alles zu beschleunigen, davon abgehalten?
 

Mein Herz zog sich zusammen und ich hatte Angst, dass genau diese Befürchtungen zutrafen.
 

Nein, Leonie hatte gar nicht so selbstlos gegeben. Wenn ich mit meinen neuen Vermutungen richtig lag, dann hatte sie durch ihr Schweigen bewiesen, wie egoistisch sie sich verhalten hatte.

Niemals hatten wir darüber gesprochen, was das zwischen uns war. Ich hatte es nicht getan und auch sie hatte es nie versucht.

In Gedanken versunken löste ich mich von Till und rückte von ihm ab. Wortlos ließ er es geschehen.
 

Hatte es wirklich Leute gegeben, die uns um diese riesige Lüge beneidet hatten? Eine mittlerweile drei Jahre andauernde solide Beziehung. So ein unglaublicher Schwachsinn.

Wenn ich ehrlich zu mir selbst war, hatte ich Leonie drei Jahre lang benutzt. Mir wurde es erst jetzt bewusst, doch ich war mir sicher, dass sie es gewusst hatte. Die ganze Zeit. Und sie hatte es ihrerseits ausgenutzt.

Sie musste gewusst haben, dass dieser Tag kommen würde, an dem ich mich verlieben würde. Natürlich hatte sie das. Und doch war sie nicht bereit, mich früher als nötig gehen zu lassen. Weil sie genauso egoistisch war, wie ich. Diesen Egoismus in ihrem Handeln zu erkennen, schmerzte. Die Erkenntnis tat so unglaublich weh, dass sich mir die Brust zusammenzog.

Ich hatte meine Freundin unterschätzt. Ich hatte ihre Gefühle unterschätzt. Und ich hatte ihre Gefühle nicht verdient. Wieso hatte sie das nicht erkannt? Wieso hatte sie zugelassen, dass ich drei Jahre ihres Lebens verschwendete? Leonie hatte anderes verdient. Besseres, viel Besseres.
 

Wie konnte es sein, dass ich sie hier, in ihrer Abwesenheit, so viel besser kennenlernte, als in den gesamten drei Jahren Beziehung?

Leonie war die beste Schauspielerin von uns allen. Sie hatte nie das ganze Ausmaß ihrer Gefühle preisgegeben. Sie hatte es bewusst vor mir verborgen. Ebenso ihre eigenen Ängste.

Ich kannte Leonie. Ich hatte mir nur nie Mühe gegeben, ihr Handeln zu verstehen. Es hatte nie einen Anlass dazu gegeben. Nicht, solange ich zufrieden mit unserer Beziehung war.

Doch nicht nur sie war unfähig, mich glücklich zu machen. Wie unglücklich musste sie gewesen sein? Und vermutlich würde sie nicht einmal kämpfen, weil sie sich schon zu lange damit abgefunden hatte, dass es eines Tages enden würde.
 

„Ich war so blind“, sprach ich es endlich aus, „Ich liebe sie… aber ich war niemals in sie verliebt… und sie wusste das ganz genau… und es war ihr völlig egal…“

Es auszusprechen half nicht gegen die Enge in meiner Brust. Doch es wurde realer… endgültiger.

Meine Beziehung mit Leonie war vorbei. Sie wäre besser niemals eine gewesen. Hätten wir nicht diesen Fehler begangen, miteinander zu schlafen, hätte ich sie nicht die ganze Zeit über unwissentlich immer wieder verletzt. Vermutlich säße sie in diesem Fall zusammen mit Till an meiner Seite, um mir den Mut zuzusprechen, den ich für diese Situation brauchte.
 

Ich hatte mich verliebt. Natürlich hatte ich das. Ich war nur zu feige gewesen, es wirklich einzusehen.
 

Tills verständnisloser Blick bewies mir, dass Leonie nicht nur mich getäuscht hatte.

Auf einmal hatte ich Angst davor, Leonie unter die Augen zu treten, doch noch heute Abend würde ich das tun müssen. Till und ich waren schon einige Zeit in meinem Zimmer. Vermutlich war Leonie sogar bereits eingetroffen. Vielleicht hatte sie Tamilo entdeckt und wartete nun auf mich. Und darauf, dass ich ihr sagte, dass es vorbei war.

Das war etwas, was ich tun musste, nun da ich es selbst so deutlich erkannt hatte.

Doch wenn ich es irgendwie verhindern konnte, würde dies nicht auf der Geburtstagsparty meiner kleinen Schwester passieren.

Leonie hatte ein ruhiges Gespräch verdient und meine Schwester eine Party, ohne bitteren Nachgeschmack. Das war das Mindeste, was ich tun konnte.

Ich richtete mich auf und sah meinen besten Freund an, der schon lange nichts mehr gesagt hatte. „Kann ich mich so dort unten blicken lassen?“, fragte ich ihn.

Nickend versicherte er mir: „Du hast schon schlimmer ausgesehen und dich trotzdem unters Volk gemischt.“

„Willst du denn schon wieder runter?“, fragte er dann und sah mich besorgt an.

Ich hatte mich lange genug verkrochen. Ich war lange genug den einfachen Weg gegangen. Ich würde mich der Situation dort unten stellen, egal, wie diese nun aussah.

„Ja.“

Till runzelte die Stirn. „Geht es dir denn gut?“

„Nein, nicht wirklich“, gab ich zu, „aber das ist egal. Wenn wir nicht bald wieder auftauchen, wird irgendjemand ohnehin nach uns suchen, und darauf kann ich verzichten.“

„Was wirst du nun tun?“, fragte Till mich.

„In erster Linie werde ich jetzt da runter gehen und versuchen, die Party nicht zu ruinieren, indem ich ein riesiges Drama verursache.“

„Okay… gehen wir“, antwortete Till nur und erhob sich nun ebenfalls.

„Danke. Danke für alles. Ohne dich wäre ich wirklich aufgeschmissen“, sagte ich ernst.

„Ich weiß“, antwortet Till schmunzelnd.

„Das glaube ich nicht“, widersprach ich ihm.
 

Durch meine geschlossene Zimmertür war die Musik gedämpft gewesen, doch kaum hatte ich sie geöffnet, erinnerten das Gelächter und die lautere Musik daran, was das hier war.

Ich würde meiner Schwester nicht ihre Geburtstagsparty versauen. Vorsichtshalber stattete ich dem Badezimmer noch einen Besuch ab. Till hatte nicht gelogen… ich hatte schon schlimmer ausgesehen. Zwar auch durchaus besser, aber es war noch vertretbar, mich wieder nach unten zu begeben. Ich fuhr mir mit kaltem Wasser durchs Gesicht und kehrte dann zu Till zurück, der vor dem Bad auf mich gewartet hatte.

Gemeinsam stiegen wir die Treppen hinab. Ein paar neue Gesichter waren natürlich noch dazu gekommen.

Überall standen kleine Grüppchen und der ein oder andere hatte offensichtlich bereits zu tief ins Glas geschaut.

Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass wir eine knappe Stunde in meinem Zimmer verbracht hatten. Leonie wollte spätestens vor einer halben Stunde hier gewesen sein.

Mit sehr gemischten Gefühlen hielt ich nach ihr Ausschau und fand sie, selbstverständlich zusammen mit Tamilo im Wohnzimmer.

Tamilo sah zu uns auf, kaum, dass wir den Raum betreten hatten. Unsere Blicke trafen sich.

Ich verfluchte mein klopfendes Herz, das mir wieder etwas sagte, was ich mir inzwischen bereits eingestanden hatte.

Ja, ich hatte mich verliebt!

Ich hatte keine Ahnung, ob mir das irgendetwas bringen würde, doch zumindest würde ich aufhören, mir etwas vorzumachen, denn das brachte niemandem etwas. Mir nicht, und der wundervollen Frau, die neben Tamilo stand, ebenfalls nicht.

Nun drehte auch sie sich zu uns um. Ich sah sie an und schämte mich so sehr, dass ich beinahe wieder davon gelaufen wäre.

Leonie erwiderte meinen Blick und runzelte die Stirn, als wüsste sie, was in mir vorging. Ich hatte Leonie viel zu lange, viel zu sehr unterschätzt. Dieser Fehler würde mir nicht noch einmal unterlaufen.

Sie stand dort neben dem Kerl, in den ich mich verliebt hatte und lächelte mir sanft entgegen, wie sie es immer tat.

Dieses Mal dauerte das Lächeln nicht lange an. Je näher wir ihr kamen, desto grimmiger zogen sich ihre Augenbrauen zusammen.

Ich versuchte meinen Gesichtsausdruck neutral zu halten, denn die ganzen Schuldgefühle, die ich ihr gegenüber auf einmal hatte, hatten hier heute nichts zu suchen.

Ich spürte Tills Hand auf meiner Schulter und wie sie einen leichten Druck ausübte.
 

Leonie deutete anklagend mit einem Zeigefinger erst auf mich und dann auf Tamilo.

„Darüber reden wir noch, Nik!“

„Ähm...“

Wenig einfallsreich, aber mir fiel beim besten Willen nichts Besseres ein. Tamilo hatte doch nichts von dem Kuss erzählt?

Mein Blick schnellte zu ihm, doch er sah meine Freundin an und sagte: „Mach Nik keine Vorwürfe, das geht auf meine Kappe!“

Ich spürte eine leichte Übelkeit aufsteigen.

„Er hätte es trotzdem nicht tun dürfen. Und erzähl mir nicht, du hättest ihn dazu gezwungen. Es war noch immer seine eigene Entscheidung. Und diese Entscheidung war falsch!“, sagte Leonie in einem scharfen Tonfall.

„Ich… Leonie…“

Ich hatte mir doch vorgenommen, dieses Gespräch nicht auf dieser Party zu führen. Leonie hatte ich in diesem Plan jedoch nicht wirklich berücksichtigt. Und Tamilo offenbar auch nicht. Ich versuchte den Kloß in meinem Hals herunterzuschlucken und einen halbwegs vernünftigen Satz zu formulieren. Ich hatte gehofft, mich auf dieses Gespräch vorbereiten zu können. Ich hatte nicht wirklich damit gerechnet, dass ausgerechnet Tamilo mich so ins offene Messer rennen lassen würde.

„Leonie, wollen wir nicht woanders darüber sprechen? Das muss doch nicht hier sein.“

Tamilo sah mich an und seine Augenbrauen zogen sich zusammen, ehe er seine Augen aufriss.

„Äh, ich finde, ihr müsst das doch nicht jetzt klären. Ihr habt damit überhaupt nichts zu tun. Und ich bin froh, dass Nik mir das mit Caroline erzählt hat. Ich werde das mit ihr klären. Aber für heute können wir das Thema doch ruhen lassen, oder nicht? Ich wollte da auch keinen Streit zwischen euch heraufbeschwören. Es tut mir leid, dass ich dich da mit reingezogen habe, Nik.“

„Caroline?“

Nur langsam begriff ich. Oh mein Gott. Es war nie die Rede von dem gewesen, was zwischen Milo und mir vorgefallen war. Konnte ich denn nicht einmal im Leben nachdenken, bevor ich reagierte?

Ich war beinahe sauer auf Tamilo gewesen, weil ich dachte, er hätte Leonie alles erzählt.

„Ich hol mir mal was zu trinken. Soll ich euch was mitbringen?“, bot Till an. Ich kannte meinen besten Freund gut genug, um zu wissen, dass er sich über die Situation, so scheiße sie auch sein mochte, köstlich amüsierte und sich stark zusammenreißen musste, um das nicht zu zeigen.

Mir war nach einem Wodka. Oder irgendetwas anderem, das meine Nervosität beruhigen konnte. Ich war definitiv nicht der Typ, der seinen Partner betrog und dann einfach weitermachen konnte, wie zuvor. Dabei war zwischen Milo und mir kaum etwas gewesen. Meine Nerven waren trotz allem völlig überstrapaziert.

„Keiner? Okay, ich bin gleich wieder da“, sagte Till, als niemand auf sein Angebot reagierte.

Leonies Blick lag auf mir und ich konnte mir ausmalen, dass mir das schlechte Gewissen ins Gesicht geschrieben stand.

Wollte ich nicht ebenfalls etwas trinken? Vielleicht hätte ich Till in die Küche begleiten sollen. Ich riskierte einen kurzen Blick zu Milo und ich konnte mich irren, doch der wirkte ebenfalls etwas nervös.

Die Situation war vollkommen ruiniert und ich hatte keinen blassen Schimmer, wie ich sie retten konnte.

Ein Klirren schreckte uns auf. Einer von Sophias Partygästen hatte ein Glas umgeworfen.

Fluchend und erleichtert zugleich eilte ich zu den Servietten, die wir glücklicherweise massenhaft im Haus verteilt hatten und beseitigte die Sauerei.

„Shit. Das tut mir leid“, sagte der Kerl und machte Anstalten, mir zu helfen.

„Lass nur, ich mache das schon“, wies ich ihn ab. Viel zu dankbar war ich für die kleine Ablenkung, die mich davor bewahrte, mich weiterhin dieser seltsam angespannten Stimmung auszusetzen.
 

Als ich zwischendurch aufsah, war Leonie wieder verschwunden.

„Wo ist Leonie hin?“, fragte Till, als er mit einem Becher in der Hand, zurück ins Wohnzimmer kam.

Gute Frage! Ich hatte keine Ahnung. Ich hatte ja nicht einmal mitbekommen, dass sie den Raum überhaupt verlassen hatte.

Till sah zu, wie ich die Scherben in einer Serviette sammelte und hob grinsend seinen Plastikbecher an.

„Ich habe euch ja gesagt, ihr sollt die Gläser verstecken.“

„Aus Fehlern lernt man“, erwiderte ich und zuckte mit den Schultern.

Der Tollpatsch vom Dienst kehrte ebenfalls zu uns zurück und war mit einem feuchten Lappen bewaffnet.

Wieder erklärte er, wie leid es ihm täte. Dafür hatte ich gerade absolut keinen Nerv.

„Das kann passieren… es wäre etwas Anderes, wenn du ein Glas aus dem Set erwischt hättest, das meine Mutter zum Hochzeitstag geschenkt bekommen hat und das sie so liebt…“

Ich stockte und öffnete die Serviette ein Stück, um einen Blick auf die Scherben werfen zu können.

Entsetzt keuchte ich auf. „Oh Shit, die bringt uns um…“

Die Augen des dunkelhaarigen Jungen weiteten sich ängstlich und es tat mir schon fast wieder leid. Hinter mir schnaubte Till.

„Felix, lass dich nicht auf den Arm nehmen. Ich habe bestimmt auch schon eins von den Gläsern auf dem Gewissen. Das ist ein stinknormales Glas von Ikea.“

Noch immer sah der Junge verunsichert zu uns und erinnerte mich an das Mädchen, das vor ein paar Wochen ihr Getränk in Sophias Ausschnitt gegossen hatte.

Ich verdrehte die Augen und richtete mich wieder an den schüchternen Partygast meiner Schwester, der offenbar Felix hieß.

„Hol dir einfach etwas Neues zu trinken… und tu mir einen Gefallen und nimm einen der Plastikbecher, okay?“

Eilig nickte er, nuschelte noch einmal: „Sorry“, und verzog sich in die Küche.
 

Ich konnte froh sein, wenn es bei ein paar vergossenen Getränken blieb. Auf Alkoholleichen, die sich in anderen Räumlichkeiten erbrachen, als in unserem Badezimmer, konnte ich absolut verzichten. Sollten die Unglücklichen dann auch noch die Geistesgegenwart besitzen, unsere Toilette zu treffen, konnte man durchaus auch von Dankbarkeit meinerseits sprechen.
 

„Du kennst den?“, fragte ich Till.

„Naja… ich kenne zumindest seinen Namen. Ich habe etwas mehr Zeit hier unten verbracht, als du…“, murmelte er, bevor er auflachte. „Der Kleine ist total in Fifi verschossen… armer Kleiner!“

Auch ich musste bei dem Gedanken grinsen. „Wer weiß… vielleicht findet sie ja Gefallen an ihm“, entgegnete ich.

Ich zweifelte daran. Der Junge war definitiv zu schüchtern, als dass meine Schwester etwas mit ihm anfangen könnte.

„Das ist doch nicht dein Ernst!“ Till lachte noch lauter. „Ich wäre schwer enttäuscht von ihr, wenn sie Interesse an solch einem Bübchen hätte.“

Dann wurde Till wieder ernst.

„Du, Nik… ich glaube… ich habe deine Schwester ins Kino eingeladen…“, sagte er leise.

Fragend hob ich meine Augenbrauen. „Du glaubst…?“

Till schüttelte leicht seinen Kopf. „Nein, das glaube ich nicht… ich… habe deine Schwester ins Kino eingeladen.“

„Warum? Und… warum erzählst du mir das… so? Das klang wie eine Beichte.“, antwortete ich und verzog leicht das Gesicht.

„Naja, sie hat Geburtstag und ich dachte, sie würde sich vielleicht darüber freuen.“

„Das tut sie ganz sicher… aber hältst du das für eine gute Idee?“, fragte ich nachdenklich.

„Das wird sich herausstellen, wenn es soweit ist. Mir war es nur wichtig, dass du es weißt.“

„Till, ich möchte nicht, dass sie sich Hoffnungen macht und dann enttäuscht wird“, erklärte ich ihm.

Ich wusste nicht so recht, was ich von Tills Einladung halten sollte.

„Das habe ich nicht vor, Nik. Vertrau mir bitte.“

„Das tue ich… aber…“ Aber was?

Ich seufzte. „Das tue ich“, wiederholte ich mich.

Sollte sich etwas zwischen den beiden entwickeln, konnte ich es sowieso nicht verhindern. Und wem würde ich meine Schwester eher anvertrauen, als meinem besten Freund?
 

„Wo ist Leonie denn nun? Vorhin war sie noch hier.“, fragte Till erneut. Für ihn war das Thema Sophia offensichtlich fürs Erste beendet.

„Leonie ist draußen. Sie sagte, sie wolle kurz an die frische Luft“, mischte sich Tamilo ein, der die ganze Zeit wenige Schritte entfernt stand, und unserem Gespräch anscheinend gefolgt war.

Mein Blick traf auf seinen und ich musste schlucken.

Er erwiderte den Blick ruhig.

Was wusste ich eigentlich von ihm?

Sehr viel war es nicht.

Vor mir stand ein junger Mann, der den Wunsch hatte, Lehrer zu werden und der viel Zeit im Ausland verbracht hatte. Er kannte meine Schwester besser als mich, da er der Bruder ihrer besten Freundin war. Und ich hatte ihn all die Jahre nicht gesehen, weil er bei uns von einer Wespe gestochen wurde, als er klein war und seitdem Angst vor ihnen hatte. Vermutlich wurde daraus dann einfach die Gewohnheit, dass seine Eltern ihn nicht mit zu uns nahmen. Diese irrationale Angst vor unserem Haus schien es nicht mehr zu geben, schließlich stand er vor mir.

Und ich wusste, dass er verdammt gut roch.

So gut, dass mir die Erinnerung daran beinahe den Atem raubte.

Er schien den schwulen Barkeeper aus der Freiheit näher zu kennen und es schien ihm nicht zu passen, wenn ich Kontakt zu Ben hatte. Zwar hatte er sich für die kleine Szene entschuldigt, doch hatte mir nicht meine Großmutter einmal gesagt, dass die ersten unüberlegten Reaktionen mehr über den Menschen aussagten, als die, die nach einer Bedenkzeit folgten?

Wusste ich genug über diesen Kerl, um mich in ihn zu verlieben?

Eigentlich nicht… doch es war längst passiert und diese Erkenntnis war nicht halb so schockierend, wie ich gedacht hätte.

Noch immer ruhte Tamilos Blick auf mir.

„Lass uns bitte darüber reden“, bat er leise.

Ich ignorierte mein hämmerndes Herz, so gut es ging und nickte. „Ja. Aber nicht jetzt.“
 

Stattdessen wandte ich mich von Till und Milo ab und trat durch die Terrassentür nach draußen in den Garten. Vereinzelt standen Leute auf der Terrasse, unterhielten sich und rauchten dabei. Doch mein Ziel lag weiter im unbeleuchteten Teil des Gartens.

Ich ahnte, dass ich Leonie dort antreffen würde. Und tatsächlich saß sie auf der alten Hollywoodschaukel, die meine Mutter an unserem kleinen Gartenteich hatte aufstellen lassen. Wir hatten hier schon viele Stunden gemeinsam verbracht und uns über Gott und die Welt unterhalten. Nur nicht über uns. Das hatten wir irgendwie immer verpasst, oder vermieden.

Ich war froh, dass die übrigen Gäste nicht ebenfalls auf die Idee gekommen waren, sich hierhin zurückzuziehen und setzte mich neben meine Freundin.

„Hey Süße… alles okay?“, fragte ich vorsichtig.

„Sicher“, ertönte ihre Antwort.

Eine Weile saßen wir schweigend nebeneinander, bis es mir unangenehm wurde. Wir hatten durchaus unsere Momente, in denen wir gemeinsam schweigen konnten und in denen es einfach nur vertraut war. Doch an dieser Situation war nichts Vertrautes. Zumindest nicht für mich, denn für mich hatte sich in den letzten Tagen endgültig alles verändert.
 

„Till hat Sophia ins Kino eingeladen…“, erzählte ich, weil mir gerade nichts Besseres einfallen wollte.

Ein zaghaftes Lächeln breitete sich auf Leonies Gesicht aus.

„Ich wusste es! Es war doch nur eine Frage der Zeit“, sagte sie.

„Das bedeutet noch gar nichts. Die beiden gehen ins Kino… na und?“

Leonie lachte leise. „Du solltest deinen besten Freund besser kennen. Till mag vielleicht manchmal etwas schwer von Begriff sein, was solche Dinge anbelangt… aber mit Sicherheit hat er sich diesen Schritt sehr gut überlegt. Er würde nicht mit ihr ins Kino gehen, jetzt da er weiß, wie ihre Gefühle für ihn aussehen, wenn er es ausschließen würde, ihre Gefühle erwidern zu können. Desinteresse zeigt er anders.“

„Mhm… Ich werde schon irgendwie damit klar kommen“, murmelte ich.

Schließlich hatte ich Till das zugesagt.

„Ja“, stimmte Leonie mir zu und wandte sich mir zu. Sie sah mich lange an, ohne irgendetwas zu sagen. Schließlich beugte sie sich zu mir und drückte mir ihre Lippen auf die Schläfe.

„Das… gilt auch für mich“, flüsterte sie, „ich liebe dich und ich fürchte, du könntest tun, was du willst, es würde nichts daran ändern.“

Noch einmal küsste sie meine Schläfe, erhob sich und ging zurück ins Haus, ohne auf eine Erwiderung meinerseits zu warten.

Eine Erwiderung die nicht folgen konnte.

Nicht, weil ich nicht so empfand, sondern weil ich wusste, dass sie für uns beide nicht dasselbe bedeutete.
 

Ich zog mein Handy hervor, um auf die Uhr zu sehen, doch die Ziffern erreichten mein Gehirn nicht wirklich. Stattdessen löste ich die Tastensperre und wählte.

Ein paarmal klingelte es, ehe abgehoben wurde.

„Ja?“

„Hey… ehm… hier ist Nik.“

Auf der anderen Seite der Leitung blieb es kurz still.

„Wow… ich muss zugeben, ich hätte kaum noch damit gerechnet, dass du anrufst. Darf ich davon ausgehen, dass du deine Meinung geändert hast, und meine Einladung nun doch annimmst?“, traf Ben den Nagel direkt auf den Kopf.

„Ich… denke schon.“

„Okay… nächsten Freitag, hast du da Zeit?“

Ben wollte offensichtlich nicht zulassen, dass ich es mir doch noch anders überlegte und machte sofort einen Termin fest.

„Ich hatte bisher noch nichts vor“, antwortete ich. Ich musste nicht wirklich darüber nachdenken, denn ich hatte die letzten drei Wochen meine Zeit hauptsächlich zuhause verbracht, und bis heute eigentlich auch nicht vor gehabt, das so schnell zu ändern.

„Dann Freitag. Ich sag ein paar Leuten Bescheid und wir gehen ein wenig auf die Piste.“

„Okay… Ben? Wäre es okay… wenn ich noch jemanden mitbringe? Ich weiß noch nicht, ob ich es tue, aber das wäre doch in Ordnung, oder?“

Ich war mir noch nicht sicher, ob ich Till tatsächlich fragen würde, doch ich wollte auch nicht unangemeldet mit einer weiteren Person auftauchen.

„Sicher, kannst du jemanden mitbringen.“

Dann zögerte er hörbar. „Nik, ist irgendetwas passiert, dass du deine Meinung geändert hast?“

„Ja… nein… ach… ist auch egal… ich würde einfach nur gern mit“, gab ich zurück und Ben akzeptierte, dass ich nicht darüber reden wollte.

„Na gut… ich habe ja jetzt deine Nummer… ich melde mich die Woche nochmal bei dir, in Ordnung?“

„Ja… mach das… Danke, Ben.“

„Nicht dafür… bis dann“, sagte er und legte auf.

Ich atmete tief durch und ließ mich in die Kissen der Schaukel zurücksinken.
 

„Leonie lässt dir ausrichten, dass sie bereits nach Hause gefahren ist und dass du sie morgen anrufen sollst.“

Milos Stimme ließ mich zusammenfahren.

Ruckartig drehte ich mich zu ihm um. Er stand keine drei Meter von mir entfernt und hatte seine Arme vor der Brust verschränkt. Unweigerlich ging ich das eben geführte Telefonat mit Ben durch, denn ich hatte keine Ahnung, wie lange Milo bereits dort stand.

„Und sie hat dich geschickt, um mir das zu sagen?“, fragte ich schließlich.

„Nun, sie hat Till gebeten, es dir auszurichten, wenn er dich sieht, aber ich dachte ich übernehme das und kam direkt zu dir heraus. Nicht, dass du deine Freundin womöglich vermisst… aber die Sorge war wohl unbegründet.“ Tamilos Stimme war völlig emotionslos.

Was hätte ich darauf schon groß erwidern sollen?

‚Es ist nicht so, wie du denkst‘?

Ich zog es vor, zu schweigen.
 

Tamilo seufzte und sagte: „Hör zu, Nik… ich weiß, du wolltest jetzt nicht darüber sprechen… aber mir ist das gerade ziemlich egal. Du musst nichts dazu sagen, aber hör dir an, was ich dazu denke… Ich weiß nicht, was bei dir im Moment los ist und mir ist auch nicht ganz klar, wie das vorhin passieren konnte. Aber eines steht fest: Es wird nicht wieder passieren. Und wenn du jemanden zum Experimentieren suchst, ist Ben sicherlich der perfekte Ansprechpartner. Aber komm nicht auf die Idee, diese Person in mir zu suchen. Da habe ich nämlich ehrlich keinen Bock drauf.“
 

Ich fühlte mich im ersten Moment dermaßen vor den Kopf gestoßen, dass ich wieder nicht in der Lage war, brauchbare Sätze zu formulieren.

Milo störte sich allerdings auch nicht weiter daran.

„Das war auch alles, was ich dazu sagen wollte“, sagte er, hob eine Hand und fügte dann hinzu: „Ich denke, man sieht sich.“

Dann wandte er sich zum Gehen.

„Milo… warte bitte.“ Gerade rechtzeitig fand ich meine Stimme wieder und vermutlich hörte er das Flehen in meiner Stimme. Jedenfalls blieb er tatsächlich stehen.

„Es… es ist nicht so, wie du denkst…“, sprach ich die Worte, die ich Augenblicke zuvor noch verworfen hatte, nun doch aus.

Erst reagierte er überhaupt nicht, doch nach einer gefühlten Ewigkeit sah er mich über seine Schulter an. „Sicher… das ist es nie“, sagte er und ging.
 

Und zum zweiten Mal an diesem Abend, wurde ich von einer Person hier sitzen gelassen, mit der ich dringend über meine Gefühle sprechen sollte. Ich schien wirklich ein Talent dafür zu haben, diese Menschen zu vergraulen. Ob ich mein Hobby zum Beruf machen konnte?

Professioneller Vergrauler oder so…

Ich hatte gerade eine ganz klare Abfuhr von Milo erhalten, ohne, dass ich auch nur ein Wort über meine Gefühle für ihn verloren hatte. Doch auf die Enttäuschung, die sich in meinem Bauch breitmachen würde, wartete ich vergeblich. Sicherlich war mir nicht danach, um den Teich zu hüpfen und zu singen und zu tanzen, doch irgendetwas sagte mir, dass dies nicht das letzte Gespräch darüber gewesen sein würde. Das letzte Wort war noch nicht gesprochen. Dazu hatte er zu bemüht beherrscht gewirkt, als dass es ihm egal sein konnte.

Ich konnte ihm nicht egal sein.

Ich durfte ihm nicht egal sein und vor allem wollte ich es nicht.
 

Bildete ich es mir nur ein, oder hatte Milo erneut gereizt auf Ben reagiert? Wäre das Gespräch vielleicht sogar ganz anders verlaufen, hätte er das Telefonat nicht mit angehört? War er zu mir heraus gekommen, um mir diese Abfuhr zu erteilen? Oder hatte er sich erst dazu entschlossen, nachdem er irgendwelche Schlüsse aus den Wortfetzen gezogen hatte?

Nachdenklich sah ich noch immer in die Richtung, in die Milo verschwunden war.

Er hatte gesagt, es würde nicht noch einmal zu einem Kuss kommen. Ich hoffte sehr, dass er sich damit irrte. Denn ich hatte nicht die Absicht, es bei diesem einen Kuss zu belassen.

Außerdem hatte er keine Lust, mich bei eventuellen Experimenten zu unterstützen.

Doch ab wann war etwas ein Experiment?

Ich hatte mich verliebt. War das ein Experiment?

War es ein Experiment, wenn man sich in einen anderen Mann verliebte?

Ich wollte nicht experimentieren, ich wollte IHN. Wobei der Gedanke ans Experimentieren mit ihm, und zwar nur mit ihm, ziemlich reizvoll war.

Und dabei ging es mir nicht einmal um Sex. Bei dem Gedanken wurde mir irgendwie doch noch etwas mulmig.

Ich war aufgeklärt und ich hatte eine relativ genaue Vorstellung, wie das zwischen zwei Männern ablief.

Wollte ich das? War es das gewesen, was mir beim Sex mit Leonie gefehlt hatte? Würde ein Mann mir das geben können? Würde Tamilo mir das geben können? Würde er das wollen?

Noch immer schaffte ich es nicht, Caros Bedeutung einzuordnen.

Klar, sie war seine Freundin. Vielleicht war es völliger Schwachsinn, dass ich mir trotzdem die Hoffnung hatte, dass die ganze Geschichte für mich ein Happy End haben würde. Irgendetwas war da zwischen uns. Und ich würde nicht aufgeben, bevor ich nicht herausgefunden hatte, was das war!
 

Nach einer Weile stand ich auf und ging zurück ins Haus. Mir war klar, dass Tamilo die Party bereits verlassen hatte. Sein Abschied hatte nicht danach geklungen, als hätte er vor, mir heute noch einmal über den Weg zu laufen.

Dafür tat es Till, der sich, als er mich entdeckte, schnell aus einem Gespräch mit meiner Schwester löste und auf mich zukam. „Mensch, du bist der absolute Partykiller. Erst flüchtet Leonie und direkt im Anschluss sucht auch Tamilo das Weite. Was hast du schon wieder angestellt, hm?“, fragte er sofort und schwankte sichtlich zwischen Belustigung und Besorgnis.

„Nicht mehr, als ich heute bereits getan habe“, gab ich murmelnd zurück.

Mein bester Freund kniff die Augen zusammen und fragte: „Ihr habt doch nicht schon wieder…?“

„Nein, haben wir nicht!“

Ich erzählte ihm davon, was Tamilo im Garten zu mir gesagt hatte.

„Oh“, war Tills einziger Kommentar dazu.

Dann landeten Lippen auf meiner Wange und meine Schwester schlang ihre Arme um mich. Offensichtlich waren die paar Gäste nicht die Einzigen, die bereits ein wenig betrunken waren.

„Brüderchen, wenn du noch einmal irgendwohin verschwindest, werde ich sehr, sehr böse“, drohte sie lachend, „und wehe, ihr haut auch ab!“

„Keine Angst, irgendjemand muss doch auf euch betrunkenen Kids aufpassen“, erwiderte ich und musste grinsen.
 

Sophia hatte Recht. Ich hatte mich an diesem Abend schon genug mit mir und meinen Problemen beschäftigt. Es hatten sich zwar einige kleine Dramen abgespielt, von denen die anderen Gäste und auch meine Schwester jedoch nichts mitbekommen hatte. Und das sollte so bleiben. Ich hatte zwar eigentlich keine große Lust mehr auf die ganze Party, doch meine Schwester konnte dafür nichts. Also nahm ich mir vor, für die restlichen Stunden ein guter großer Bruder zu sein und zu versuchen, wenigstens noch ein wenig Spaß zu haben.
 

Mit dem Spaß wurde es nicht wirklich etwas, doch ich war ein guter Aufpasser und scheuchte ein Pärchen aus dem Schlafzimmer meiner Eltern. Es war mir herzlich egal, wobei ich sie gerade störte, und dass den beiden das Ganze eher weniger passte, doch fremde Schlafzimmer sollten auf Partys einfach egal sein.

Direkt im Anschluss verschloss ich eben diese Zimmer und steckte die Zimmerschlüssel zu meinem und dem Zimmer meiner Eltern ein. Das Gästezimmer ließ ich bewusst unverschlossen. Es war schließlich nicht ich, der morgen die Betten neu beziehen durfte.

Sophias Schlüssel drückte ich ihr in die Hand.
 

Gegen vier Uhr war der größte Teil der Gäste verschwunden. Ein paar Leute hatten sich einen Schlafplatz gesucht und Till, Sophia und ich saßen erschöpft auf meiner Couch. Für das Chaos in der Küche hatten wir alle nur einen müden Blick übrig gehabt und waren vor dem Anblick geflohen.

Till hatte bereits angeboten, hier zu übernachten und uns am nächsten Tag beim Aufräumen zu helfen. Unnötig zu erwähnen, dass wir das Angebot dankbar angenommen hatten. Denn die, die unten auf der Wohnzimmercouch schliefen, würden sicherlich das Talent der üblichen Partygänger beweisen und verschwinden, bevor wir fit genug waren, das Chaos zu bewältigen.
 

Sophia hing bereits auf dem Sofa, wie ein Schluck Wasser in der Kurve und ließ ihren Kopf müde auf Tills Schulter sinken.

Lächeln legte der seinen Arm um sie und ihr Kopf fand auf seinem Oberschenkel Platz.

Leonie hatte Recht. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Sophia ihr Ziel erreichen würde. Und als Till vorsichtig durch Sophias Haare strich, wurde mir bewusst, dass diese Zeitspanne vermutlich ziemlich kurz geworden war.

Till sah mir in die Augen und mir blieb nichts Anderes übrig, als es zu akzeptieren.

Ich seufzte auf und sagte: „Also mir ist egal, was ihr jetzt macht, aber ich hau mich ins Bett. Morgen wartet eine Menge Arbeit auf uns.“

Till nickte und gab meiner Schwester einen leichten Klaps auf den Arm. „Na komm, ab ins Bett mit dir. Du schläfst doch eh schon fast.“
 

Sophia brummte unwillig. „Nur noch ein bisschen“, bat sie schläfrig und rührte sich nicht von der Stelle.

Till lachte leise.

„Entweder du gehst jetzt freiwillig, oder ich trage dich ins Bett… Fifi.“

Provokant betonte er ihren Spitznamen, doch Sophia grinste nur und erwiderte: „Ich glaube, ich lasse es darauf ankommen.“

Dieses schelmische Grinsen passte überhaupt nicht zu dem Dämmerzustand, den sie an den Tag legte. Till erkannte das ebenfalls, doch ließ er sich auf ihr Spielchen ein und machte sich von ihr los.

Zu mir sagte er: „Ich bringe sie eben rüber… bin gleich wieder da.“

Ich nickte nur und erhob mich, um ins Bett zu gehen.

Till hob Sophia tatsächlich auf seine Arme und ächzte gespielt.

„Du hattest Recht. Du bist definitiv kein Kleinkind“, keuchte er und erntete dafür einen Schlag auf die Schulter.

Auch das brachte ihn wieder zum Lachen.

„Sieh mal einer an. Dornröschen ist wach genug, um mich zu schlagen.“

„Wenn du so frech wirst…“, brummte sie und schmiegte sich an Till, der sie nun grinsend durch mein Zimmer trug.
 

Hatte ich etwas verpasst? Hatte ich zu viel Zeit abseits des Partygeschehens verbracht? Sobald Till zurückkehrte, würde ich das in Erfahrung bringen.

Doch nach einer ganzen Weile siegte die Müdigkeit.

Ich erwachte allein. Dafür immerhin ohne Kater. Ein Blick auf die andere Betthälfte verriet mir, dass Till nicht nur vor mir aufgestanden war, sondern dass er gar nicht erst in meinem Bett gelegen hatte.

Ich hatte eine grobe Vorstellung davon, wo ich ihn finden würde.

Mein Wecker teilte mir mit, dass ich gerade mal sechs Stunden geschlafen hatte. Wieso zur Hölle war ich also schon wach?

Unmotiviert ließ ich mich in die Kissen zurückfallen.

Doch die fehlende Motivation kehrte mit einem Mal zu mir zurück, als ich daran dachte, dass wir heute dringend noch das Chaos bewältigen sollten, das in unserem Haus herrschte. Man konnte es auch Zwangsmotivation nennen.

Seufzend schlug ich die Decke zurück und stand auf.

Ich war noch etwas unschlüssig, ob ich zuerst duschen, oder Kaffee trinken wollte. Außerdem sollte ich nach unseren Übernachtungsgästen im Wohnzimmer sehen und nebenbei noch meinen besten Freund aus dem Bett meiner Schwester holen. Die Dusche setzte sich zielstrebig an die Spitze meiner Prioritätenliste.

Es war ein seltsames Gefühl, an der Zimmertür meiner Schwester vorbeizugehen und zu wissen, dass mein bester Freund sich seit Stunden ebenfalls dahinter befand. Das war schließlich noch nie vorgekommen. Eindeutig eine Situation, an die ich mich erst gewöhnen musste, denn es war anzunehmen, dass dies nun häufiger der Fall sein würde.

Als ich nach einer ausgiebigen Dusche erneut vor Sophias Tür stand, fand ich die Situation noch immer gewöhnungsbedürftig und ich zögerte zu klopfen.

Sollte ich die beiden überhaupt stören, oder lieber in Ruhe lassen?

Einerseits wollte ich den beiden gern die Zeit geben, andererseits hatte ich nicht vor, mit dem Aufräumen alleine zu beginnen.

Ich entschied mich schließlich für den Mittelweg. Ich würde einfach leise klopfen. Sollte niemand reagieren, würde ich zuerst die beiden anderen Punkte meiner Liste abarbeiten. Nämlich einen großen Becher Kaffee zu mir nehmen und nachsehen, ob Sophias Freunde bereits vor demungemütlichen Teil einer Party geflohen waren. Zaghaft hob ich die Hand und klopfte leise.
 

„Ja?“, erklang Tills Stimme gedämpft.

‚Ja?‘ Hieß das nun, ich sollte von hier draußen mein Anliegen vortragen? Oder konnte ich reinkommen? Das war eine völlig neue Situation für mich.

Vorsichtig öffnete ich die Tür, spähte ins Zimmer und hätte beinahe erleichtert aufgeatmet. Till befand sich in einer halbwegs sitzenden Position auf Sophias Bett und meine Schwester hatte fast schon besitzergreifend ihre Arme um ihn geschlungen und nutzte Tills Bauch als Kopfkissen. Und zu meiner unendlichen Erleichterung waren beide noch vollständig bekleidet. Till schien meinen Gesichtsausdruck richtig zu deuten und flüsterte: „Es ist absolut nichts passiert, Nik.“

Mein bester Freund sah verdammt müde aus. Hatte er denn die ganzen letzten Stunden so dagesessen?

„Hast du überhaupt geschlafen?“, fragte ich im selben Flüsterton.

„Nicht sehr viel“, gab Till grinsend zu, „diese Haltung scheint sich mit Tiefschlafphasen nicht sehr gut zu verstehen.“

Ebenfalls grinsend schüttelte ich den Kopf.

Ich ließ den Anblick auf mich wirken und so ungewohnt es auch war, konnte ich nicht anders, als mich darüber zu freuen. Wenn schon bei mir alles drunter und drüber ging, so sollten doch wenigstens die Zwei ihr Glück auskosten.

Sophia hatte nun lange genug auf Till gewartet und ihn angehimmelt und er hatte sowieso nach all der Zeit verdient, endlich mit Vergangenem abzuschließen und nach vorne zu sehen. Und wenn meine Schwester diejenige war, die das schaffte, dann war ich ihr verdammt dankbar.
 

„Ich setze mal Kaffee auf… kommt einfach runter, wenn sie dann irgendwann wach ist und du sie dazu überredet bekommst“, raunte ich lächelnd und trat den Rücktritt an. Ich hatte hier gerade nichts verloren.Ich würde wohl anfangen müssen, meinen besten Freund ernsthaft mit meiner Schwester zu teilen. Also konnte ich ja jetzt schon mal damit anfangen.

Ich begab mich nach unten und sammelte auf der Treppe die ersten Plastikbecher ein. Der Boden war stellenweise etwas klebrig und mir wurde bewusst, womit wir den größten Teil dieses Tages verbringen würden.
 

Das Wohnzimmer war, wie ich erwartet hatte, bereits verlassen. Was ich allerdings nicht erwartet hatte, war, hier bereits von frischem Kaffeeduft empfangen zu werden. Und das Wohnzimmer sah definitiv nicht mehr so schlimm aus, wie ich es von den frühen Morgenstunden in Erinnerung hatte.

Ich folgte dem Ruf des Kaffees in die Küche und fiel in Gedanken vor der Person, die ihn aufgesetzt hatte, auf die Knie.

Noch vor der Küchentür hörte ich Geschirr klappern. Okay, es waren scheinbar doch nicht alle geflohen. Irgendwer schien bereits aufzuräumen.

Verwundert öffnete ich die Tür und begegnete wieder einmal diesen herrlichen braunen Augen, die mich vergnügt und sehr ausgeschlafen anblitzten.
 

Anni war eigentlich immer gut gelaunt und versprühte eine Energie, die einfach immer ansteckend war. „Guten Morgen“, strahlte sie mich an, „Kaffee?“

„Auf jeden Fall!“, nickte ich dankbar und näherte mich der Arbeitsplatte. Ich strubbelte Anni durch ihre noch unfrisierten, derzeit pinken Haare.

„Du bist ein Engel. Aber ich finde es nicht so toll, dass du schon angefangen hast, aufzuräumen. Das hättest du nicht tun müssen.“

Doch Anni zuckte nur mit den Schultern. Da sie sich relativ früh das Gästezimmer unter den Nagel gerissen hatte, hatte ich ihre Anwesenheit schon völlig vergessen.

„Ich bin schon eine Weile wach und ich wusste nichts mit mir anzufangen. Schläft Sophia noch?“

Ich nickte.

„Und Till ist auch noch da?“, fragte Anni lauernd.

Wieder ein Nicken meinerseits. „Keine Ahnung, wann die beiden runterkommen. Könnte noch eine Weile dauern, glaube ich…“

Lächelnd schenkte Anni uns beiden eine Tasse Kaffee ein, mit der wir uns am Küchentisch niederließen.

„Das war eine tolle Party. Schade nur, dass Leonie und mein Bruder so schnell wieder weg waren. Das muss für euch echt langweilig gewesen sein“, murmelte Anni.

„Mhm…“ Ich wusste nicht genau, was ich dazu sagen wollte. Schließlich war ich an dem Verschwinden der beiden nicht ganz unschuldig.
 

Apropos… „Das war eine ziemlich hinterlistige Nummer für euch, Tamilo einzuladen.“

Anni verzog ihr Gesicht zu einer Grimasse.

„Ich weiß“, sagte sie schuldbewusst, „die Idee war vielleicht nicht so großartig…“

„Stimmt.“ Nachdenklich legte ich meinen Kopf schief und stellte Anni eine Frage, die mich nun schon länger beschäftigte: „Wenn dir so wichtig war, dass Milo Bescheid weiß, wieso hast du es ihm nicht einfach erzählt?“

Tamilos Schwester seufzte und löste in ihrem Kaffee so viel Zucker auf, dass ich fast schon vom Zuschauen einen Zuckerschock erlitt.

„Ich wollte ja… Aber er wollte nichts davon hören. Wir haben uns deswegen sogar ziemlich in die Haare bekommen. Er hat mir deutlich zu verstehen gegeben, dass ich mich nicht in sein Leben einzumischen habe“, erzählte sie niedergeschlagen und es war weder zu überhören, noch zu übersehen, dass Milo sie in diesem Streit ziemlich verletzt hatte.

Anni rührte ein paarmal in Gedanken versunken ihren Kaffee, ehe sie fortfuhr.

„Und dann hat er sie mit zu uns nach Hause gebracht, um sie unseren Eltern vorzustellen. Das hat er noch nie gemacht.“

Sie warf mir einen kurzen, unsicheren Blick zu, als wüsste sie nicht, ob sie weiter erzählen sollte.

Doch ich war bereit, jede noch so kleine Information, in mich aufzusaugen.

Dann legte Anni geräuschvoll ihren Löffel zur Seite.

„Gott, du hättest meine Mutter erleben sollen. Die war völlig aus dem Häuschen und hat Caro so behandelt, als wäre sie das achte und neunte Weltwunder zugleich“, schnaubte sie. „Tamilo war vorher einfach nie eine Beziehung so wichtig, als dass er sie auch seiner Familie vorgestellt hätte. Meine Mutter hat zwar nicht wirklich was gesagt, aber sie schien so unglaublich erleichtert und es hätte nicht viel gefehlt, um sie in Tränen ausbrechen zu lassen, als sie Caro in die Arme gerissen hat. Es war richtig beängstigend.“

„Erleichtert? Warum denn?“, hakte ich nach. Anni schürzte die Lippen und zuckte mit den Schultern. „Vielleicht hatte sie Angst, dass Milo nie die richtige Frau finden würde. Ich freue mich ja für ihn, aber mal ehrlich: Musste es ausgerechnet Caro sein? Mir gefällt das einfach nicht…“

Mir gefiel das vermutlich noch weniger, aber das behielt ich wohl besser für mich.
 

„An dem Abend, als Caro das erste Mal bei uns war, wollte sie dann unbedingt mit mir sprechen. Sie hat mich angefleht, ihr eine Chance zu geben. Sie sagte, dass Tamilo für sie etwas ganz Besonderes wäre und dass sie gern beweisen würde, dass sie sich verändert hat und dass sie nie wieder so auf den Gefühlen anderer herumtrampeln würde. Und ich… habe es ihr irgendwie abgekauft. Also habe ich ihr versprochen, meinem Bruder nichts von der Geschichte zu erzählen. Unter der Voraussetzung, dass sie es irgendwann selbst tut.“
 

Im Groben kannte ich die Geschichte aus den Erzählungen meiner Schwester. Doch nun konnte ich mir die Szene beinahe bildhaft vorstellen. Und so wenig mir der Gedanke auch gefiel, ich glaubte Caro ebenfalls.
 

„Aber Tamilo hat mir erzählt, er hätte dich direkt darauf angesprochen?“, fragte ich weiter.

Milde Überraschung zeigte sich auf Annis Gesicht, doch dann nickte sie langsam. „Ja, das hat er. Aber erstens halte ich meine Versprechen, egal wem ich sie gebe. Und ich habe ihm auch gesagt, dass er das mit Caro persönlich klären muss. Außerdem… hab ich ihm den Streit immernoch etwas übel genommen“, gab sie zerknirscht zu.
 

„Warum dann diese Aktion mit der Party?“

Anni schwieg eine Weile, schien sich die Worte genau zurechtzulegen.

„Ich weiß auch nicht“, sagte sie schließlich, „Tamilo hat sich so verändert, seit er nach Kanada gegangen ist. Und seit er mit Caro zusammen ist, ist das noch schlimmer geworden. Du kennst ihn jetzt erst seit ein paar Wochen. Aber glaub mir, vor ein paar Monaten war er… anders. Er ist so ernst geworden. Wahrscheinlich hat das nicht einmal was mit Caro zu tun, aber… ach, ich habe keine Ahnung, was mit ihm ist. Aber mir war der alte Tamilo lieber.“
 

Ich musste schlucken. Dieses Mädchen mit den pinken Haaren machte mir gerade völlig unbeabsichtigt bewusst, wie wenig ich eigentlich von Tamilo wusste. Hatte ich mich in eine Person verliebt, die er nur vorgab, zu sein? Hätte der alte Tamilo, wie Anni ihn nannte, dieselbe Wirkung auf mich? Ich war mir nicht sicher, ob ich mehr erfahren wollte, oder ob alles was ich weiter über ihn hören würde, deutlich machte, dass ich völligen Hirngespinsten nachjagte. Ich wollte mehr über ihn wissen, ich wollte ihn besser kennenlernen, ich wollte wissen, wer der wahre Tamilo ist. Mich interessierte nicht, wie der alte Tamilo und wie der neue Tamilowar. Ich wollte den echten Tamilo kennenlernen. Was sonst sollte mir helfen über meine Gefühle klar zu werden? Milo wirkte auf mich mehr und mehr wie ein Phantom das einfach niemand wirklich kannte. Doch diese Tatsache schreckte mich weniger ab, als dass sie mich einfach nur noch neugieriger machte.
 

„Ich will dich nicht mit meinen Familiengeschichten langweilen. Wir haben auch genug zu tun“, sagte Anni und noch bevor ich widersprechen konnte, hatte sie sich erhoben und räumte die Spülmaschine weiter aus.

Wie hätte ich mein ungemeines Interesse an ihrem Bruder auch erklären sollen? Am besten gar nicht. Also stand ich ebenfalls auf und machte mich ebenfalls ans Aufräumen.
 

Eine halbe Stunde später kamen auch Sophia und Till hinunter. Anni und ich hatten das gröbste Chaos bereits beseitigt. Erstaunt weiteten sich Sophias Augen. „Ihr habt ja schon angefangen, aufzuräumen“, stellte sie das Offensichtliche fest, „Warum habt ihr mich denn nicht geweckt?“

Ich grinste sie breit an. „Schwesterherz, du hast so niedlich geschlafen, da wollte ich nicht stören.“

Prompt lief Sophia rot an und auch auf Tills Gesicht breitete sich ein Grinsen aus.

Anni, blickte uns mit verengten Augen abwechselnd an, ehe auch sie begriff, was Sache war. „Soso…“, flötete sie.

„Nichts ‚Soso‘“, brummte Sophia, hatte aber nach wie vor die Gesichtsfarbe einer überreifen Tomate.

Anni ersparte ihrer besten Freundin weitere Kommentare, bekam aber das Grinsen ebenfalls nicht aus dem Gesicht gewischt. Vermutlich hatte sie in diesem Moment die wildesten Vermutungen, was in dieser Nacht alles vorgefallen war, doch Till und ich machten uns nicht die Mühe, das aufzuklären. Das konnte Sophia später übernehmen. Vorher hatten wir genug damit zu tun, dafür zu sorgen, dass unsere Eltern nicht aus allen Wolken fielen, wenn sie am Abend nach Hause kamen.
 

Weitere Stunden später fielen wir erschöpft aufs Sofa und schworen uns, bei der nächsten Party nur die eingeladenen Gäste hereinzulassen. Das war allerdings etwa genauso ernst zu nehmen, wie der verkaterte Vorsatz, nie wieder Alkohol anzurühren.

Wir stellten aber fest, dass wir trotz der ganzen Unordnung eine ziemlich zivilisierte Feier hinter uns gebracht hatten. Kaputt gegangen war außer ein paar Gläsern zum Glück nichts und Sophias Freunde hatten es insgesamt mit dem Alkohol nicht wirklich übertrieben. Ausnahmen gab es natürlich auch hier, doch die hatten zumindest keine große Sauerei veranstaltet. Alles in allem war es doch eine sehr gelungene Party gewesen. Von meinen persönlichen Dramen mal ganz abgesehen.

Bald darauf verabschiedete sich Till, da er, wie er sagte, dringend eine Dusche, frische Klamotten und vor allem eine Portion Schlaf brauchte.

Till versprach, sich noch bei mir zu melden und erinnerte mich daran, dass ich auch noch einen anderen Anruf zu erledigen hätte. Dann folgte eine seltsame Verabschiedung zwischen ihm und meiner Schwester. Keiner der beiden schien so recht zu wissen, wie er sich verhalten sollte. Schließlich zog Till sie in seine Arme und es wirkte beinahe wie immer. Das heftige Erröten meiner Schwester und sein gemurmeltes „Ich ruf dich an“, zerstörten diesen Eindruck jedoch wieder.

Nichts war wie immer. Und Anni hatte ein vergnügtes Funkeln in den Augen, das mir verriet, dass sie noch nicht gehen würde. Nicht bevor sie jede noch so winzige Kleinigkeit aus ihr herausgequetscht hatte.
 

Ich machte mir allerdings überhaupt keine Hoffnung, dass Sophia auch mich auf den neuesten Stand der Dinge bringen würde, also verzog ich mich recht bald in mein Zimmer und tat das, wofür ich bisher gute Entschuldigungen hatte, es noch nicht zu tun. Leider gab es nun nichts mehr, was mich davon abhalten konnte, Leonie anzurufen.

Dabei hatte ich keinen blassen Schimmer, was ich ihr sagen sollte.

Sollte ich um ein Treffen bitten? Möglichst formell, um ihr auch sofort klar zu machen, worum es mir ging?

Nein! Wenn Leonie etwas verdient hatte, dann, dass das hier ordentlich ablief. Wenigstens so ordentlich, wie es möglich war.

Fühlte es sich immer so beschissen an, eine Beziehung zu beenden? Vielleicht sollte ich mich einfach nie wieder auf eine einlassen. Ich machte mir ja nicht einmal vor, dass es mit Tamilo in diese Richtung gehen könnte.
 

Ja, ich fand Tamilo toll und er berührte irgendetwas in mir, von dem ich nicht einmal gewusst hatte, dass es überhaupt existierte.

Aber eine Beziehung? So richtig mit verliebten Blicken in irgendeinem Café, Händchenhalten bei Spaziergängen, Kissenschlachten, bei denen nach einer halben Stunde keiner mehr wusste, wie sie eigentlich zustande gekommen waren? Streit Wegen unbedachten Äußerungen, Vorstellen bei den Eltern, Gemeinsam duschen, Frühstück im Bett… Sex?

Ich konnte nicht vermeiden, dass sich bei den letzten Punkten meiner imaginären Liste mein Gesicht immer mehr verzog.

Ganz sicher war ich mir noch immer nicht, ob ich mir das bis ins Detail vorstellen wollte. Auch wenn da offensichtlich jemand eine ganz andere Meinung hatte. Der schien den Gedanken daran, Tamilos Körper unter der Dusche zu erkunden scheinbar ziemlich interessant, aber mein Schwanz hatte gerade definitiv Sendepause.

Diese Gedanken hatten in meinem Kopf auch absolut nichts zu suchen, während ich darüber nachdachte, wie ich am besten mit Leonie Schluss machen sollte. Allerdings brachten mich diese Überlegungen auch nicht weiter, also rief ich sie einfach an.

Wir telefonierten schließlich nicht das erste Mal und eigentlich wollte ich mich ja auch nur mit ihr verabreden.
 

„Hey Nik“, grüßte sie mich, als sie an ihr Handy ging.

„Hey“, erwiderte ich klug, denn kaum hatte ich ihre Stimme gehört, erinnerte ich mich an ihren Abgang am vorigen Abend und wusste plötzlich absolut nicht, was ich sagen sollte.

„Wie war die Party noch?“, erkundigte sich Leonie.

„Ganz nett eigentlich. Für Sophia wohl ein voller Erfolg… sieht jedenfalls ganz danach aus…“

„Till…?“, riet sie.

„… hat heute Nacht nicht in meinem Zimmer geschlafen.“

„Nein!“, rief Leonie erstaunt aus.

„Doch. Aber ich wollte sie heute Morgen wecken und Till lebt noch, also…“

Leonie lachte. Und irgendwie fand ich es seltsam dieses Geräusch zu hören. „Er war also brav. Wolltest du das damit sagen?“

Ich konnte ihr Grinsen noch immer hören. Leonie freute sich über diese Entwicklung vermutlich deutlich mehr als ich.

„Scheint so. Aber vermutlich weiß Anni in diesem Moment mehr darüber als ich. Ich weiß auch gar nicht, ob die beiden nun wirklich…“

„Schon verstanden… ich halte meine Klappe“, versprach Leonie.

Dann hörte ich Papierrascheln im Hintergrund.

„Ich störe dich beim Lernen, oder?“

„Naja… also ehrlich gesagt… aber… ich wollte sowieso gerade eine Pause einlegen. Ich sitze schon seit Stunden daran.“

„Schon gut. Ich will dich nicht vom Lernen abhalten. Ich wollte auch eigentlich nur fragen, ob wir uns morgen Abend sehen“, erklärte ich.

Leonie zögerte. „Ich… weiß es noch nicht. Ich muss mich auf ein paar Klausuren vorbereiten und morgen ist ein stressiger Tag in der Uni… außerdem habe ich noch eine Hausarbeit zu erledigen.“

„Okay… wie sieht es mit Dienstag aus?“

Es war ungewohnt, dass Leonie Treffen ausschlug. Umso sicherer war ich mir, dass Leonie zumindest ahnte, was passieren würde.

„Ich habe diese Woche wirklich viel zu tun… ich weiß nicht, ob es diese Woche klappt… ich… melde mich bei dir, okay?“
 

Ich glaubte Leonie kein einziges Wort. Sicherlich hatte sie sich auf Klausuren vorzubereiten. Aber es war noch nie vorgekommen, dass sie sonntags ein Treffen unter der Woche schon quasi ausschloss. Und sie wusste, dass ich ihr das nicht abnahm. Wir kannten uns einfach viel zu gut um einander wirklich etwas vorzumachen.

Ich begann sauer zu werden, doch einen Streit wollte ich am Telefon auch nicht starten. Ich atmete einmal tief durch und sagte dann: „Alles klar. Ruf mich einfach an, wenn du zwischendurch Zeit findest. Bis dann.“
 

Damit legte ich auf. Und ich hatte Leonie wohl auch damit gezeigt, was ich davon hielt.

„Scheiße!“, fluchte ich und warf mein Handy frustriert aufs Bett. Immerhin blieb es darauf liegen. Wer hatte gedacht, dass diese Trennung einfach werden würde? Ich nicht. Aber ich hatte nicht damit gerechnet, dass es Leonie sein würde, die es so schwer machen würde.

Vielleicht war es unfair von mir, nun sauer auf Leonie zu sein. Wenn sie ahnte, worauf das hier hinauslief, konnte ich verstehen, dass sie es hinauszögern wollte. Doch was brachte das schon?

Würde es besser werden, wenn sich das Unausweichliche um eine Woche verschob? Nein. Es wurde mit Sicherheit nicht besser, oder leichter, oder weniger schmerzhaft. Ich wollte es einfach nur hinter mich bringen.

Sehr wahrscheinlich war ich unfair und egoistisch. Aber eine Beziehung aufrecht zu erhalten, die keine mehr war, konnte doch auch nicht in Leonies Interesse sein.

Ich wollte keine Gründe suchen, weshalb es besser wäre, vielleicht noch ein wenig zu warten.

Es gab keine Gründe dafür. Ich wusste, dass die Beziehung mit Leonie nicht das war, was ich wollte und jeder weitere Tag, an dem ich ihr das verschwieg, machte alles nur noch schlimmer. Zumindest für mich.
 

Gut, ich hatte also noch Zeit vor dem Gespräch. Dann konnte ich auch noch etwas für die Uni tun. Hatte ich auch ziemlich nötig. Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und nahm mir meine Unterlagen hervor.

Wirkliche Motivation sah allerdings anders aus. Was hatte ich mir nur dabei gedacht, dieses langweilige Studienfach zu wählen? Am liebsten würde ich das Studium einfach hinschmeißen. Was sollte ich schon damit anfangen? Ich würde ganz bestimmt niemals in irgendeiner Bank arbeiten, oder als Unternehmensberater oder sowas enden. Mit Sicherheit nicht. Ich verschwendete hier doch nur meine Zeit. Und ganz nebenbei auch noch das Geld meiner Eltern, die mir das Studium bezahlten.

Gab es überhaupt irgendetwas, was in meinem Leben so lief, wie es sollte?

Noch bevor ich die Unterlagen wirklich angesehen hatte, schob ich sie auch wieder von mir. Ich war wütend. Wütend auf BWL, wütend auf Leonie, wütend auf Tamilo und vor allem wütend auf mich selbst.

Musste ich denn immer so eine verdammt lange Leitung haben?

Welcher Mensch brauchte 23 Jahre, um zu erkennen, was er wollte, oder auch eben nicht wollte?

Bevor ich nun allerdings noch eine dumme Entscheidung traf, und mein Studium in einer Kurzschlussreaktion tatsächlich an den Nagel hing, brauchte ich dringend Ablenkung.

Mein Blick fiel auf meinen Laptop.
 

Wenn ich mich schon nicht um mein BWL-Studium kümmerte, dann konnte ich mich ja wenigstens in anderen Bereichen weiterbilden. Konnte wohl kaum schaden, wenn ich mir etwas vor Augen führte, worauf ich mich einlassen würde, oder?

Die bunten Buchstaben der Suchmaschine lachten mich an.

Nach ein paar Suchbegriffen wusste ich etwas mehr.

Das erste Gesicht zum Suchbegriff schwul war Taylor Lautner. Man konnte homosexuelle Veranlagung anhand der Länge der Zeige- und Ringfinger erkennen, wenn man einer Witzeseite Glauben schenkte und die BRAVO war bemüht, hilfreiche Antworten auf die großen Fragen der Jugendlichen zu finden.

‚So verlieben sich Schwule‘

‚So leben Schwule Beziehungen‘

‚So haben Schwule Sex‘

Die Ausführungen dieser interessant wirkenden Überschriften waren ziemlich dürftig und halfen mir auch absolut nicht weiter. Aber vermutlich gehörte ich auch nicht zur Zielgruppe dieser Jungendzeitschrift. Schwul oder nicht.

Auch interessierte mich nicht, welche Prominenten schwul waren, oder welche Prominenten die Fans gern schwul hätten.

Nach einer Weile war ich noch schlauer.

Schwule hatten scheinbar immer riesige Penisse, hatten öfter Sex zu dritt, als zu zweit und hatten Waschbrettbäuche.
 

Und ich hatte mir zum ersten Mal in meinem Leben aus wirklich eigenem Antrieb einen Porno angesehen. Natürlich war es nicht das erste Mal, dass ich überhaupt einen gesehen hatte. Auch ich hatte mit Freunden zusammen welche gesehen. Doch sie hatten mich nie wirklich erregt. Und auch die, in denen zwei, oder mehr Männer die Hauptrollen spielten, wirkten nun eher verstörend auf mich. Doch ich war immerhin klug genug, um zu wissen, dass die Wirklichkeit von diesen Videos meistens ziemlich stark abwich. Wann war schon der Sex mit Leonie so gewesen, wie in einem der Pornos, die ich als Jugendlicher gesehen hatte?

Richtig, er war nie so gewesen. Ich schloss den Browser wieder, bevor ich noch auf die Idee kommen konnte, mir irgendwelche SM-Videos zu Gemüte zu führen. Das hätte mir vermutlich auch den Rest gegeben.
 

Rein theoretisch war ich nun genauso schlau wie vorher. Mit dem kleinen Unterschied, dass ich jetzt äußerst lebhafte Bilder vor Augen hatte.

Mein Handy klingelte.

Dankbar für jede Ablenkung griff ich danach. Ein Teil in mir hoffte darauf, dass Leonie es sich anders überlegt hatte und nun bereit war, sich mit mir zu treffen. Doch es war Till. Auch gut.

„Hast du Leonie schon angerufen?“, lautete seine erste Frage.

So viel zum Thema Ablenkung. Ich erzählte ihm von Leonies Ausweichmanöver und erntete ein Seufzen von Till.

„Ich habe gerade keine große Lust über Leonie zu reden“, unterbrach ich ihn, als er mir vermutlich einen klugen Ratschlag geben wollte, „Erzähl mir lieber, was zwischen dir und meiner Schwester läuft.“

„Da läuft gar nichts“, wehrte Till ab, „und da ist auch heute Nacht nichts gelaufen. Ich habe sie ins Bett gebracht, sie hat mich gebeten noch ein paar Minuten zu bleiben und dann ist sie auf mir eingeschlafen. Ende der Geschichte.“

Ich bezweifelte, dass dies das Ende der Geschichte war. Viel mehr hatte die Geschichte wohl gerade erst angefangen.

„Und jetzt?“, fragte ich nach.

„… und jetzt würde ich wohl mit meinem besten Freund mein weiteres Vorgehen diskutieren, wenn es sich bei ihm nicht um den Bruder des Mädchens handeln würde“, erklärte Till mir gut gelaunt.

„Der Bruder dieses Mädchens wäre aber glücklich darüber, zumindest ein wenig auf dem Laufenden zu sein.“

Offensichtlich war die gute Laune, die ich heute so vermisste, restlos bei meinem besten Freund gelandet.

Immerhin konnte er noch lachen.
 

„Na schön. Ich werde mich mit Fifi treffen. Wohl nicht nur zum Kino. Wir unternehmen etwas zusammen, gehen was trinken und schauen, wohin uns das bringt. So lautet jedenfalls der Plan. Und mehr kann ich dir auch nicht sagen, denn mehr habe ich auch mit Fifi noch nicht geklärt. Aber Nik, ich werde es langsam angehen lassen. Ich habe nicht vor, irgendetwas zu überstürzen.“

Das klang vernünftig. Doch irgendwie war mir das trotzdem etwas zu schnell gegangen. Vor drei Wochen war Till noch völlig schockiert gewesen, als er von Sophias Gefühlen für ihn erfahren hatte.

Als ich ihn danach fragte, wann er sich genau dazu entschlossen hatte, mehr Zeit mit ihm zu verbringen und wieso er nichts dazu gesagt hatte, seufzte er wieder.

„Nik. Du hattest die letzten Wochen genug mit dir selbst zu tun. Und… so wirklich habe ich diese Entscheidung erst heute Nacht getroffen. Ich hatte ein paar Stunden zum Nachdenken. So spät bin ich also gar nicht dran, dir das zu erzählen.“
 

„Aber du hast schon vorher entschieden, dass ein romantischer Abend im Kino vielleicht genau das Richtige Geburtstagsgeschenk für meine Schwester sein könnte“, gab ich zu bedenken.

Wieder lachte Till. „Ein romantischer Abend im Kino? So wie ich deine Schwester kenne wird es in dem Film mehr blutige Szenen geben, als romantische. Nicht unbedingt eine sehr kuschelige Atmosphäre, wenn du mich fragst. Aber du hast Recht. Natürlich habe ich da schon beschlossen, dass es vielleicht gar nicht so schlecht wäre, mal Zeit mit ihr alleine zu verbringen. Ich habe mir die letzte Woche den Kopf darüber zerbrochen, was ich ihr schenken könnte. Und ich weiß zwar, welche Musik sie mag, und was sie gern liest, aber ich wollte ihr keine CD oder ein Buch schenken. Und alles was darüber hinausgeht, entzieht sich völlig meiner Kenntnis. Ich mag deine Schwester und ich würde ihr zum nächsten Geburtstag vielleicht etwas Persönlicheres schenken können, als einen Kino-Gutschein.“
 

Till machte mir bewusst, dass ich ein wirklich beschissener bester Freund gewesen war. Vor allem in den letzten Wochen, in denen ich, wie er schon sagte, genug mit mir selbst zu tun hatte. Es wurde echt Zeit, dass ich mein Leben endlich in den Griff bekam.

„Und was wirst du jetzt tun?“, fragte er.

„Was meinst du genau?“

„Leonie? Tamilo? Dich?“, schlug Till ein paar Themen vor.

„Abwarten. Abwarten. Abwarten.“

„Na, dann warte mal schön auf das Leben“, spottete Till über meine abwechslungsreichen Antworten.

„Ich habe gestern noch Ben angerufen und seine Einladung angenommen.“

„Für diesen Schwulenclub?“

„Genau dafür.“ Ich klang etwas bissiger, als ich es eigentlich wollte.

„Das war doch nicht böse gemeint“, sagte Till sofort besänftigend.

„Weiß ich doch. Ich bin nur momentan… etwas überfordert mit der ganzen Situation. Heute ist auch irgendwie nicht mein Tag. Sag mal… steht dein Angebot noch?“, fragte ich ihn.

Till verstand sofort, wovon ich sprach. „Ich soll dich begleiten?“

„Wenn du willst… irgendwie mag ich da nicht alleine hingehen. Ich habe mir zwar Bilder von dem Club angesehen, aber ich weiß trotzdem nicht so wirklich, was mich dort erwartet. Ich kann aber auch verstehen, wenn du keine Lust hast, mit mir…“

„Dominik. Ich habe dir angeboten dich zu begleiten. Und ich stehe zu meinem Wort. Ich muss zugeben, ich bin selbst ziemlich neugierig. Wann geht es los?“

„Freitagabend. Ben meldet sich noch deswegen.“

„Geht klar. Dann machen wir also am Freitag einen Schwulenclub unsicher.“

„Sieht so aus… aber wenn du es dir anders überlegen solltest…“

„Werde ich nicht“, unterbrach mich Till erneut, „Ich meinte das ernst, ich kann es kaum erwarten, meinen Horizont zu erwarten. Das wird bestimmt lustig.“

„Abwarten… Danke Till. Ich wüsste nicht, was ich ohne dich tun würde.“

„Das kann ich dir sagen“, antwortete er lachend, „du würdest… abwarten.“

Die folgende Woche lief so, wie die letzte geendet hatte. Ziemlich beschissen. Die Uni war wie immer sterbenslangweilig und meine Überlegungen das Studium hinzuschmeißen wurden immer ernsthafter. Das verschwieg ich allerdings allen. Ich wollte mir nicht vorstellen, wie meine Eltern auf solch eine Eröffnung reagieren würden. Nicht einmal Till traute ich mich, das zu sagen. Ich hatte keine großen Probleme, ihn zu fragen, ob er mich zu meinem ersten Besuch in einem Schwulenclub begleiten würde, aber wehe es ging ums Studium. Das war doch irgendwie seltsam.
 

Mein Handy klingelte die Woche einige Male. Meistens war es Till, der mich anrief. Auch Ben hielt sein Wort und meldete sich bei mir, um sicher zu gehen, dass ich keinen Rückzieher machte, einen Treffpunkt und eine Zeit für Freitag auszumachen. Zum Abschluss fragte er noch beinahe nebenbei, ob er mir nun einen oder zwei Plätze freihalten sollte.

Zwei. Er fragte nicht, wer mich begleiten würde und ich erwähnte es auch nicht. War wohl auch nicht weiter wichtig.
 

Auf Leonies Anruf wartete ich allerdings vergeblich.

Mein persönlicher Tiefpunkt war erreicht, als ich Mittwoch Abend bei Leonie zuhause anrief und ihre Mutter mir sagte, dass sie sich mit Caro treffen wollte. Ich hinterließ die Nachricht, dass Leonie mich zurückrufen sollte und legte sauer auf.

Zu wissen, dass Leonie mich unter einem Vorwand nicht traf und es zu wissen waren zwei völlig verschiedene Paar Schuhe. Und dass der erwartete Rückruf bis heute nicht erfolgt war, holte mich aus meinem kleinen Stimmungstief auch nicht wirklich raus.

Dass ich nun auch noch vor meinem Schrank stand und nicht wusste, was ich anziehen sollte, setzte dem ganzen die Krone auf.

Das Klopfen an meiner Zimmertür riss mich aus den Gedanken darüber, wie eng die Jeans in einem solchen Club sein durfte, wenn man eigentlich nicht auffallen wollte.
 

Mein bester Freund streckte seinen Kopf ins Zimmer und grinste, als er mich in meinen Shorts vor dem Schrank stehen sah. Als er mein Zimmer endgültig betrat und die Tür hinter sich schloss, stöhnte ich gequält auf. Till hatte sich offensichtlich vorgenommen, aus diesem Abend einen riesengroßen Spaß zu machen.

Eine engere Jeans hatte ich an ihm noch nie gesehen und das T-Shirt erkannte ich als ein Scherzgeschenk wieder, das nach seinem letzten Geburtstag ungetragen verschwunden war.

Um das T-Shirt in drei Worten zu beschreiben: rosa, glitzernd, eng.

„Wie siehst du denn aus?

Till schenkte mir ein strahlendes Lächeln.

„Die Frage wollte ich dir gerade stellen. Ich wollte dieses Shirt schon immer mal anziehen. Ich habe nur auf den perfekten Anlass gewartet. Also, wie sehe ich aus?“, fragte er und drehte sich einmal um die eigene Achse.


„Du siehst aus, als würde ich dich heute in diesen Club begleiten müssen. Und meine Mutter hat dich so rein gelassen?“

„Nö“, sagte Till immer noch grinsend, „dein Vater hat aufgemacht.“

Es konnte ja kaum noch schlimmer kommen.

„Nicht aufregen. Er denkt, ich habe eine Wette verloren. Und er schien es eigentlich ganz witzig zu finden.“

„Nur gut, dass meine Schwester heute bei Anni ist… ich glaube, sie würde weinend zusammenbrechen, wenn sie dich so sehen würde“, murmelte ich.

„Seit wann stehst du da schon?“, fragte Till, ohne auf meine Bemerkung einzugehen. „Kaum stehst du auf Männer, brauchst du Stunden, um dich fertig zu machen.“

Ich warf ihm einen vernichtenden Blick zu. „…sagte der Kerl im rosa-Glitzer-Shirt.“

Irgendwie war ich mir nicht mehr sicher, ob ich Till wirklich hätte fragen sollen. Doch mein bester Freund störte sich nicht wirklich an meiner miesen Stimmung.

„Ich habe nicht einmal fünf Minuten gebraucht, um mein Outfit für heute Abend zusammenzustellen.“

„Das glaube ich sofort.“

„Versuch erst gar nicht, mir meine gute Laune zu nehmen. Ich habe vor, den Abend zu genießen. Und nun lass mich mal an deinen Schrank. Wäre doch gelacht, wenn…“

„Auf gar keinen Fall!“, widersprach ich, doch Till schob mich einfach zur Seite.

„Ich weiß zwar nicht wirklich, worauf Männer bei anderen Männern so stehen, aber da es nach wie vor Männer sind…“

„Hör auf, mir auf den Hintern zu glotzen!“, schnauzte ich.

Doch Till lachte nur, richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf meinen Schrank und zog eine Jeans hervor, die bei meiner Prüfung wohl durchgefallen wäre.

Hatte ich etwa ernsthaft geglaubt, Till würde diesen Abend erträglicher machen?
 

„Willst du dir das nicht auch nochmal überlegen mit den Frauen?“, fragte ich gehässig und nahm das Shirt entgegen, das Till mir nun reichte.

Wieder grinste er breit. „Soll das ein Angebot sein?“

Ich schlug mit dem Shirt nach ihm.

„Man Nik, nun sei doch mal ein wenig lockerer und lass mir meinen Spaß. Ich habe schon nicht vor, dich zu blamieren. Ich verspreche dir, dass ich mich benehmen werde… also einigermaßen.“
 

Tja, was sollte ich schon großartig dazu sagen? Ich war ja selbst schuld. Ich hatte mich selbst in diese Lage gebracht, als ich ihn gebeten hatte, mich zu begleiten, also biss ich mir auf die Zunge und schlüpfte in die Klamotten, die Till rausgesucht hatte.

„Na, ich weiß nicht“, sagte ich zweifelnd, als ich an mir heruntersah.

„Was denn? Also ganz ehrlich Nik, du siehst aus, wie immer. Wieso solltest du dich für das 136 Grad anders anziehen, als für die Freiheit? Wovor hast du eigentlich Angst? Dass ein böser Junge kommt und dich in den Darkroom zerrt? Meinst du der Club hat einen Darkroom?“

„Keine Ahnung“, zischte ich, „Woher soll ich das denn wissen? Wieso kennst du dich da eigentlich so gut aus?“

Nun wurde Tills Gesicht doch ernster.

„Ich weiß seit ein paar Wochen, dass mein bester Freund scheinbar schwul ist. Ich habe mich informiert. Über alle Risiken und Nebenwirkungen. Ich will schließlich wissen, was bei meinem Freund in seinem neuen Leben so los ist.“

„Das wirst du auch weiterhin wissen. Daran ändert sich doch nichts.“

Till nickte und legte den Kopf schief.

„Ähm Nik… Ich meinte das ernst, mit dem Informieren. Und ich fand bestimmt nicht alles toll, was ich so gelesen habe. Manches hätte ich vielleicht auch lieber nicht lesen sollen…“ In einer verlegen wirkenden Geste kratze er sich am Kopf. Und ich wollte mir gar nicht so genau vorstellen, was er genau gelesen hatte. Beinahe hätte ich seine Geste kopiert.

„Ich sage dir das jetzt auch nur einmal. Ich will, dass du mir versprichst, dass du auf dich aufpasst. Du bist mir wichtig und deine Gesundheit ist mir ebenfalls wichtig. Und ja… versprich es mir einfach, okay?“

Echte Sorge lag in Tills Gesichtszügen und ließ meinen Ärger über seine mangelnde Ernsthaftigkeit verpuffen. Und ich konnte ihn nur sprachlos ansehen.

„Keine Sorge… die volle Diskussion bezüglich Safer-Sex überlasse ich deiner Mutter, wenn du es ihr dann irgendwann sagst.“

Wenn ich es meinen Eltern erzählen würde… bei diesem Gedanken wurde mir etwas anders. Ich hatte keine Ahnung, wie sie darauf reagieren würden.

Vielleicht sollte ich ihnen einfach sagen, ich wäre schwul. Und wenn sie es schlecht auffassten, konnte ich noch immer zurückrudern und sagen: „Hey, war nur ein Scherz, aber ich schmeiße die Uni.“

Und wenn sie die erste Neuigkeit einigermaßen gut auffassten, dann konnte die Uni sie auch nicht mehr schockieren.
 

„Ich passe schon auf mich auf“, versprach ich Till ernst.

„Gut. Dann… mach dich mal fertig, und dann sollten wir zusehen, dass wir los kommen.“
 

Im Erdgeschoss ersparte uns mein Vater Kommentare zu Tills Auftreten, doch sein Grinsen sagte alles. Fast alles. Es verriet mir zwar, dass er Tills Aussehen amüsant fand. Doch mir wurde klar, dass wir in diesem Haus nie über Homosexualität gesprochen hatten. Wieso denn auch? Bisher hatten meine Eltern ja auch keinen Grund anzunehmen, dass das Thema eines ihrer Kinder betreffen könnte.

Ich konnte überhaupt nicht abschätzen, wie sie auf dieses Geständnis reagieren würde. Und ich war auch nicht sonderlich scharf darauf, es so schnell herauszufinden. Bevor ich nicht wirklich sicher war, was die Zukunft für mich bereithielt würde ich einen Teufel tun und meine Eltern schockieren. Das war sicherlich nicht das, was ich jetzt noch gebrauchen konnte.
 

Ich nahm meine Jacke von der Garderobe und drehte mich an der Tür noch einmal um.

„Ähm… ich habe noch keine Ahnung, ob ich heute Nacht nach Hause komme.“

„Dachte ich mir schon“, nickte mein Vater.

Meine Eltern hatten es zwar gern, wenn wir samstags und sonntags gemeinsam frühstückten, doch meine Schwester hatten mit unserer Volljährigkeit natürlich gewisse Freiheiten erlangt. Es gab lediglich ermahnende Worte, wenn wir unter der Woche lange weg blieben. Den berühmt-berüchtigten Satz ‚So lange du deine Füße unter meinen Tisch stellst…‘ hörten wir lediglich im Spaß.

Till hatte offensichtlich ebenfalls nicht vor, in diesem Aufzug über die Reeperbahn zu laufen. Grinsend nahm ich zur Kenntnis, dass er sich eine Jacke von mir von der Garderobe nahm und sie überzog.

Ich spielte mit dem Gedanken, sie ihm wieder abzunehmen. Das wäre eigentlich die gerechte Strafe dafür, dass er den Abend so ins Lächerliche zog. Doch ich war trotzdem dankbar dafür, dass er überhaupt mitkommen wollte und nahm mir selbst eine Jacke und folgte ihm aus dem Haus.
 

Wir fuhren mit der U-Bahn ins nächtliche Herz Hamburgs. Die Fahrt dauerte keine zehn Minuten und die Bahn war wie jedes Wochenende gut gefüllt mit Menschen, die alle möglichen Ziele hatten. Die meisten jedoch stiegen mit uns gemeinsam aus, um sich einen schönen Abend auf dem Kiez zu machen. Wie genau dieser Abend für all die Leute um uns herum aussehen würde, wusste ich nicht. Die Reeperbahn war vielseitig.

Man konnte essen gehen, mit oder ohne erotische Show. Man konnte in schicker Abendgarderobe ins Musical gehen und sich Sister Act ansehen, das zurzeit im Operettenhaus aufgeführt wurde, mich allerdings überhaupt nicht reizte. Theater, Comedy, Kabarett, tanzen, saufen… das Angebot war grenzenlos. Und egal, wofür man sich entschied, man hatte immer noch eine Menge Auswahl. Und die bemitleidenswerten Männer unter uns ließen sich an den Seitenstraßen von Frauen ansprechen, die peinlich genau darauf achteten, Markierungen, die sie von der Reeperbahn selbst fernhielten, nicht zu übertreten und die versuchten, jeden Mann für ein paar Minuten Spaß um ihr Geld zu erleichtern. Und das taten diese Frauen relativ aufdringlich. Wir hatten uns darum nie gekümmert. Wir hatten uns vielmehr darüber lustig gemacht, dass die Mädels in den Seitenstraßen alle gleich aussahen.

Und wenn es in unserem Bekanntenkreis Männer gab, die mit diesen Frauen einmal mitgegangen waren, und sei es nur aus Neugierde, so hatte ich es jedenfalls niemals erfahren.
 

Ich würde es auf jeden Fall niemals tun. Denn so wie es aussah, würde ich für Sex mit Frauen sicherlich nicht auch noch Geld bezahlen.

Die Reeperbahn war schon am Tag sehr lebendig. Doch nachts rief sie nach einem. Überall blinkte und strahlte es. Alle paar Schritte veränderte sich die Geräuschkulisse. Und alle paar Schritte veränderten sich die Angebote, die den Besuchern gemacht wurden.

Es war bunt. Es war laut. Es war toll.

Ich mochte die Reeperbahn und ich war mir durchaus bewusst, dass dieser Überfluss an Möglichkeiten, die wir in Hamburg hatten, uns ins Nachtleben zu stürzen nicht ganz normal war. Sicherlich hatte so ziemlich jede große Stadt in Deutschland eine kleine Partymeile, aber die Reeperbahn war etwas Besonderes. Es war beinahe eine eigene kleine Stadt.
 

Als Till und ich etwa die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatten, rief ich Ben an.

„Seid ihr da?“, fragte er als er abnahm.

„In fünf Minuten etwa“, antwortete ich.

„Alles klar. Ich steh dann am Pizza Hut. Bis gleich.“
 

Pizza Hut“, wiederholte ich für Till. Langsam spürte ich eine gewisse Nervosität aufsteigen.

„Was machst du eigentlich, wenn im 136 Grad auch Leute feiern gehen, die wir kennen?“, fragte Till nachdenklich.

Über diese Möglichkeit hatte ich bisher nicht eine Sekunde lang nachgedacht. Die Gefahr, dass wir dort auf bekannte Gesichter treffen könnten, hatte ich einfach nicht gesehen. Wer sollte dort auch feiern gehen? Und wieso?

Andererseits würden Till und ich diesen Club ja nun auch zum ersten Mal betreten. Ganz unmöglich war es also nicht, dass wir dort jemanden trafen, den wir eigentlich nicht treffen wollten. Es war zwar unwahrscheinlich, aber dass die Möglichkeit theoretisch bestand, sorgte nicht dafür, dass das flaue Gefühl in meinem Magen abnahm.
 

Allerdings musste ich mir in diesem Fall wohl die geringeren Sorgen machen.

„Weißt du“, sagte ich und bemühte mich um einen unbekümmerten Tonfall, „wenn wir dort jemanden treffen, dann sage ich einfach, dass du da unbedingt hin wolltest und mich gezwungen hast, dich zu begleiten. Und so wie du rumläufst, wird mir das ohne Zweifel jeder sofort glauben.“

Ich sagte das nur, um Till wegen seiner Kleidungswahl noch einmal aufzuziehen und er wusste das.

Er lachte auf. „Ach du scheiße. Na ich kann nur hoffen, dass wir wirklich niemandem über den Weg laufen. Sonst ist mein Ruf im Eimer, würde ich sagen. Aber was soll’s… wird schon schief gehen.“
 

Vor dem Pizza Hut wartete Ben tatsächlich bereits auf uns. Als er uns entdeckte weiteten sich seine Augen ungläubig.

Schließlich blieb sein Blick auf mir liegen. „Man, du machst ja echt Nägel mit Köpfen, was?“, fragte er lächelnd.

„Ich… nein… ich wollte nur…“, stammelte ich etwas ungeschickt rum.

Doch Ben kümmerte sich nicht groß darum, sondern begrüßte Till.

„Mit dir hätte ich hier eigentlich nicht gerechnet“, gab er schmunzelnd zu.

„Mit wem denn dann?“, fragte Till und konnte ein schmunzeln auch nicht ganz verbergen.

Ich hatte eine vage Vorstellung davon, wen Ben … ja was eigentlich… erwartet… erhofft hatte?

„Jemand anderen“, sagte Ben, „Aber das wäre wohl zu viel des Guten gewesen.“

„Und jetzt bist du enttäuscht?“, wollte Till wissen.

Ben schüttelte ernst den Kopf. „Nein, ich bin froh, dass Nik trotzdem jemanden hat, der ihn begleitet. Das hilft ungemein.“

„Können wir dann?“, unterbrach ich ihr Gespräch. Es gefiel mir nicht, dass die beiden über mich sprachen, als wäre ich nicht anwesend. Und länger als notwendig wollte ich hier auch nicht herumstehen... vor dem Pizza Hut. Ich wurde wohl langsam etwas paranoid.

„Sicher“, gab Ben zurück und steuerte auf die Tür direkt neben der Pizzeria zu. Die Tür war sehr unscheinbar und verriet nicht, was sich dahinter verbarg.

„Im Obergeschoss ist ein ganz normaler Club“, informierte uns Ben, als er merkte, wie ich mich umsah, „Unser Ziel ist der Keller. Mit eurem Studentenausweis kommt ihr kostenlos rein.“

Kostenlos war immer gut.

Die Räume waren geflutet von dem Licht aus riesigen rosa und blauen LED Flächen. Wegen Tills Shirt machte ich mir ab der ersten Sekunde überhaupt keine Sorgen mehr. Obwohl alles so … rosa war, fand ich es umwerfend. Im Keller nahm dieser Eindruck noch zu. Die Einrichtung war sehr extravagant und erinnerte mich spontan an die 20er Jahre. Abgesehen von der Tatsache, dass die Tische in der Zeit wohl kaum rosa geleuchtet hätten. Ich wusste gar nicht wo ich zuerst hinsehen sollte.
 

Im Raum waren einige Säulen verteilt, die ebenfalls beleuchtet waren und am Rand der Tanzfläche befanden sich einige Sitzgruppen, die mit rotem Samt bezogen waren. Sehr pompös und extrem einladend. Wenn die Ecken nur halb so gemütlich waren, wie sie aussahen, konnte ich mir sehr gut vorstellen, mich hier durchaus wohlfühlen zu können.

„Ich dachte, wir fangen mit einer kleinen gemütlichen Runde an“, sagte Ben zu mir, als wir uns einer Sitzecke näherten.

Eine kleine gemütliche Runde bedeutete wohl, dass wir heute zu fünft waren, wenn nicht noch jemand dazu kam. Zwei Freunde von Ben sahen uns erwartungsvoll entgegen. Falls sie ebenfalls jemand anderen neben mir erwartet hatten, ließen sie sich das nicht anmerken. Ich schätzte, dass beide, so wie auch Ben 2-3 Jahre älter waren, als Till und ich. Am Tisch angekommen, stellte Ben uns vor.

„Jungs, dass sind Nik und Till.“
 

Die Angesprochenen warteten nicht darauf, dass Ben sie ebenfalls vorstellte.

Den Anfang machte ein Rothaariger Kerl mit Sommersprossen und gab uns die Hand. „Hey, ich bin Jonas.“ Sein Händedruck war fester, als ich es aufgrund seiner eher zierlichen Statur vermutet hatte.

Dem Zweiten traute ich ohne Weiteres einen noch deutlich festeren Händedruck zu. Sein Oberkörper verriet mir zwei Dinge.

Er verbrachte eindeutig regelmäßig Zeit im Fitnessstudio und noch mehr Zeit hatte er scheinbar in einem Tattoo-Studio abgesessen. Auf seinen Armen tobte ein wahres Flammeninferno und ich war bereit, jede Wette einzugehen, dass das Tattoo an seinen Oberarmen nicht endete. Ich zwang mich dazu meinen Blick von seinen Armen zu lösen.

Und seine Augen verrieten mir noch etwas.

Ich mochte ihn. Noch bevor er ein Wort gesagt hatte.

„Ich bin Olli“, stellte er sich lächelnd vor. Er hatte eine angenehm ruhige, tiefe Stimme, die ihren Teil dazu beitrug, dass sich meine Nervosität etwas legte.

Als wir unsere Jacken auszogen, blieb Bens Blick an Tills Shirt hängen. Ein Grinsen zupfte an seinen Mundwinkeln und fragend sah er zu mir hinüber. Ich verdrehte nur kopfschüttelnd die Augen. Als wäre dies Antwort genug gewesen, nahm sein Gesicht einen wissenden Ausdruck an und das Grinsen verschwand.
 

Ben sah Till mit verengten Augen an und seine Stimme klang schärfer, als ich es von ihm gewohnt war, als er Till fragte: „Willst du dich über uns lustig machen?“

Till schien völlig überrumpelt zu sein und sah erst unsicher zu mir, bevor er Ben ungläubig anstarrte. „Was? Nein… ich…“, sagte er und schüttelte den Kopf.

Ben beugte sich nun etwas näher zu meinem besten Freund. „Dachtest du, wenn du schon einen Abend unter Schwuchteln verbringen musst, kannst du dich wenigstens passend anziehen? Findest du das etwa witzig?“, zischte er.

Auch Jonas und Olli schienen von Bens heftiger Reaktion überrascht zu sein. Wir alle starrten Ben mit großen Augen an.

Schließlich räusperte sich Olli. „Meinst du nicht, dass du gerade ein wenig übertreibst?“

Doch Ben ignorierte den Einwurf seines Freundes und löste seinen Blick nicht eine Sekunde von Till, der sich spürbar unwohl fühlte.

„Ben, es war bestimmt nicht meine Absicht, mich über irgendjemanden lustig zu machen.“

Ich wollte gerade meinem besten Freund verbal zur Hilfe eilen, als Ben mich ansah und mir zuzwinkerte.

Ich ließ mich in das weiche Rückenpolster sinken und wartete ab.

„Du hast echt Glück, dass ich dir das glaube, Till.“, erlöste ihn Ben aus der Situation, „Und mal ganz unter uns gesagt: eigentlich finde ich es sogar ganz witzig.“
 

Till brauchte ein paar Sekunden, ehe er begriff, dass Ben ihn gerade auf den Arm genommen hatte und entließ dann seinen Atem. Nun ließ auch er sich zurücksinken und schüttelte ungläubig den Kopf.

„Ben, du bist ein verdammtes Arschloch“, stieß er hervor, lachte dann aber erleichtert auf.

„Das war echt fies“, stimmte ihm Jonas tadelnd zu, „Selbst ich habe dir das abgekauft.“

Auch ich fand die Aktion ziemlich gemein, fand aber gleichzeitig, dass Till diesen kleinen Dämpfer verdient hatte.

Ben grinste zufrieden. „Übrigens, das Teil steht dir echt gut.“

Till schnaubte. „Du glaubst doch nicht, dass ich dir nach dem Theater auch nur noch ein einziges Wort glaube.“

„Sorry, ich konnte einfach nicht widerstehen. Dafür gebe ich euch was zu trinken aus. Was wollt ihr?“

„Darf man hier auch Bier trinken?“, fragte Till, der seine gute Laune erstaunlich schnell wiedergefunden hatte.

„Treib es nicht auf die Spitze, Freundchen“, drohte Ben grinsend und wandte sich dann an mich.

„Ich nehme an, du trinkst auch Bier?“

Ich nickte lächelnd. Es hatte durchaus seine Vorteile, wenn man mit jemandem unterwegs war, der einen in anderen Locations mit Getränken versorgte. Seine Freunde fragte er erst gar nicht.

„Gut, das sollte ich gerade so hinkriegen. Ich bin gleich wieder da“, sagte er und erhob sich um sich zu einer der … drei Bars durchzukämpfen.
 

Ich ließ meinen Blick nun etwas ausführlicher durch den Raum gleiten. Eben war ich noch durch die ganzen Lichter abgelenkt, doch nun sah ich mir das Publikum etwas genauer an.

Es waren tatsächlich Frauen hier. Wenige, aber ein paar konnte ich entdecken. Hauptsächlich waren es allerdings Männer, die sich auf der Tanzfläche vergnügten. Einzelne Paare engumschlungen, manche tanzten nur für sich und blendeten ihre Umgebung scheinbar völlig aus.

Es war also eigentlich wie überall sonst auch. Lediglich der Männeranteil war hier deutlich höher, als in den Clubs, in denen ich mich sonst aufhielt.

„Ben hat uns erzählt, dass er Nik aus der Freiheit kennt, aber wer du bist, musst du uns noch verraten, fürchte ich“, hörte ich Jonas sagen und ich richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf unsere Sitzecke.

„Da gibt es eigentlich nicht viel zu sagen“, antwortete Till, „Nik ist mein bester Freund und er hat mich gefragt, ob ich mitkommen will. Und da ich ein guter bester Freund bin, der seine Aufgaben sehr ernst nimmt, bin ich jetzt hier.“

„Seelischer Beistand?“, fragte Jonas grinsend nach.

„Sowas in der Art“, erwiderte Till.

„In dem Aufzug? Wärst du mein bester Freund und hättest das damals mit mir gemacht… ich glaube, ich hätte dir den Hals umgedreht“, sagte Olli lachend.

„Wieso denn?“, schmollte Till, „Ich hatte es im Schrank und mir war danach, es anzuziehen.“

„Na dann…“, grinste Olli und leerte seine Bierflasche.
 

„Studierst du auch BWL?“, fragte Jonas. Wieder an Till gerichtet. Was ich studierte, war wohl allgemein bekannt.

Er nickte und ich hatte das seltsame Gefühl, dass über mich eine Menge gesprochen worden war. Was Ben alles erzählt hatte, wollte ich eigentlich nicht so genau wissen, doch ich konnte mir trotzdem nicht verkneifen nachzuhaken.

„Gibt es eigentlich irgendetwas, was ihr von mir noch nicht wisst?“

Olli und Jonas wechselten einen kurzen Blick.

„Keine Sorge, allzu viel konnte Ben uns über dich auch nicht sagen. Wir kennen zum Beispiel keine peinliche Kindheitsstory“, gab Olli zurück.

„Ich hätte davon einige auf Lager“, grinste Till.

„Wag es dich nicht.“
 

Bens Rückkehr rettete die Situation. Oder er rettete mich davor, dass Till tatsächlich alte Geschichten auspackte. Oder er rettete Till davor, von mir diverse blaue Flecken zugefügt zu bekommen.

Vermutlich ein wenig von Allem.

Er stellte fünf Bierflaschen auf dem rosa Tisch vor uns ab und setzte sich dann.

„Hatte ich erwähnt, dass ich eigentlich nur eine kleine Runde und einen ruhigen Abend geplant hatte? Daraus wird wohl nichts.“

„Das klingt so, als würde sich unsere Runde gleich vergrößern?“, fragte Olli und sah sich um.

„Feli steht noch an der Bar, kommt aber gleich zu uns rüber. Und er ist etwas beleidigt, weil wir ihm nicht gesagt haben, dass wir uns hier treffen.“

Lachend deutete Olli auf Ben. „Was habe ich dir gesagt? Lad ihn besser ein! Am Ende findet er uns doch.“

„Das nächste Mal höre ich auf dich.“

„Das sagst du immer, wenn Olli mal wieder Recht hatte“, grinste Jonas.

Die nächsten Worte richtete Ben an Till und mich.

„Also Felix ist… sagen wir es so: er gibt sich reichlich Mühe, sämtliche Klischees zu erfüllen.“

Dem Grinsen der beiden anderen nach zu urteilen, schien Ben nicht zu untertreiben.

„Versteht mich bitte nicht falsch. Wir lieben Feli wie er ist und ich will ihn gar nicht anders haben… aber ich wollte euch nicht direkt am ersten Abend überfordern. Und lasst euch nicht von seiner Laune abschrecken. Er kann auch ganz anders… aber jetzt ist er wohl ein wenig…“

„Zickig?“, schlug Ben schmunzelnd vor.

„Shhhh“, zischte Jonas und rief dann lauter: „Feli!“

Ich sah auf und verstand die ganze Aufregung nicht wirklich.
 

Gut, die Jeans bewies, dass es eindeutig noch enger ging, als ich es bei Till gesehen hatte und ich versuchte erst gar nicht zu begreifen, was wahllos platzierte Reißverschlüsse an Pullovern zu suchen hatten, außer … wahllos platziert zu wirken, aber das war nun wirklich Geschmacksache.

Seine ganze Erscheinung strahlte Stolz aus. In seinem Gesicht lag nun tatsächlich eher die verletzte Variante. Ich konnte in dem Licht nicht wirklich feststellen, ob er schwarze Haare mit roten Strähnen hatte, oder umgekehrt. Ich war mir auch nicht sicher, ob es mir bei besseren Lichtverhältnissen gelingen würde. Die Haare standen wirr zu allen Seiten ab und es sah verdammt gewollt aus. Und zu sagen, dass es ihm nicht stand, wäre eine fette Lüge gewesen.

Als er näher kam, sah ich, dass er geschminkt war. Nicht viel, aber so, dass seine großen Augen noch größer wirkten. Und auch hier musste ich mir eingestehen, dass er es wirklich tragen konnte. Und ich hatte gedacht, es gäbe niemanden, der begabter war, seine Gefühle mithilfe der Augenbrauen auszudrücken, als meine Schwester. Ich hatte mich geirrt. Ganz sicher.

Es waren allerdings nicht nur die Augenbrauen. Sein ganzes Gesicht befand sich im Schmoll-Modus.
 

Mit verschränkten Armen blieb er am Tisch stehen und blitzte Ben böse an.

"Feli, komm, setz dich zu uns", forderte ihn Jonas auf.

Feli zog es wohl vor, zu stehen. Ein Seitenblick zu Till verriet, dass er sich alle Mühe gab, ein Grinsen zu unterdrücken. Seine Mundwinkel jedenfalls zuckten sehr verdächtig.

Der Neuankömmling hatte bisher scheinbar seine gesamte Aufmerksamkeit seinen Freunden und seinem eigenen Schmollen geschenkt. Erst jetzt bemerkte er uns.

„Ja, hallo, wer seid ihr denn?“, fragte er und wirkte direkt um einiges freundlicher als zuvor.

„Das sind Nik und Till“, versuchte Ben uns vorzustellen, doch Feli unterbrach ihn. „Ich habe nicht mit dir geredet“, fauchte er fast schon.
 

Olli lachte leise und beugte sich dann vor, um nach Felis Hand zu greifen und ihn an sich zu ziehen.

Er zierte sich zwar etwas, doch es war nur zu deutlich, dass er nichts dagegen hatte, dass Olli ihn zu sich auf den Schoß zog. Vermutlich hatte die allgemeine Aufmerksamkeit ihn bereits wieder etwas versöhnt. Till beobachtete das kleine Schauspiel amüsiert und auch ich konnte ein leichtes Grinsen nicht wirklich verhindern. Feli war definitiv eine kleine Diva.

„Das sind Nik und Till“, wiederholte Olli Bens Worte, „Ben kennt die beiden aus der Freiheit und sie sind heute das erste Mal hier. Jonas und ich haben sie auch erst vorhin kennengelernt. Also zeig dich von deiner besten Seite, Kleiner.“

Wären diese Worte nun von Ben gekommen, hätten sie wohl den nächsten zickigen Ausbruch ausgelöst, doch Olli schien im Gegensatz zu seinem Freund bei Feli noch nicht in Ungnade gefallen zu sein.

„Das hätte ich auch, wenn ihr mich heute Abend mit eingeplant hättet“, brummte Feli. Dann musterte er uns neugierig. Till musterte er allerdings noch ein wenig neugieriger als mich. Und da das selbst mir auffiel, blieb es natürlich auch den anderen nicht verborgen.

„Versuch es erst gar nicht“, riet ihm Ben grinsend, „der spielt im falschen Team.“
 

Till schien es nicht großartig zu stören, dass er Felis Interesse geweckt hatte. Er schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. „Tut mir leid“, grinste er ihn an.

Feli sah aus, als bedauerte er diesen Zustand zutiefst, doch dann riss er die Augen auf und sein Kopf fuhr zu seinen Freunden herum.

„Apropos falsches Team… ihr werdet niemals erraten, wen ich gesehen habe“, sagte er und fuchtelte dazu theatralisch mit seinen Armen umher.

„Müssen wir auch nicht“, sagte Ben trocken,„du wirst es uns mit Sicherheit gleich verraten.“

„Ich habe es erst nicht geglaubt! Erst verschwindet der Kerl, ohne sich von uns zu verabschieden und dann sehe ich den Kerl Monate später einfach so auf der Straße. Und jetzt haltet euch fest: Tami… AUA!" Feli fuhr zu Olli herum, der ihn scheinbar gekniffen hatte. Ich war längst hellhörig geworden und erkannte es als einen Versuch, Feli zum Schweigen zu bringen. Dumm nur, dass ihn das nicht davon abhielt, den Satz einfach neu zu beginnen.

„Tamilo hat eine Freundin!“ Feli betonte das Wort fast so, als wäre es ein Schimpfwort.

„Nein! Hast du das gehört?“, raunte Till zu und tat schockiert. Außer mir nahm das allerdings nur Ben wahr, der seine Augen nun auf uns gerichtet hatte.

Diese Reaktion zeigte mir, dass Feli nicht etwa von einem anderen Tamilo sprach, als den, den auch wir kannten. Doch das hätte mich bei dem Namen auch schwer gewundert.
 

„Das soll vorkommen“, startete Jonas einen müden Versuch, irgendwie auf die Neuigkeit, die wohl für niemanden von uns eine Neuigkeit war, zu reagieren, „wurde ja auch Zeit, dass er sich mal auf etwas Festes einlässt.“

„Aber ausgerechnet mit einer Frau?“

„Tamilo kann vögeln, wen er will. Uns geht das nichts an“, sagte Ben deutlich, „und könnten wir jetzt bitte das Thema wechseln?“

„Du hast gut Reden. Du hattest das Vergnügen ja bereits“, gab Feli schnippisch zurück.

„Olli, stopf dem Kleinen bitte das Maul! Ist mir völlig egal, womit!“

Olli lachte kehlig auf. „Sehr verlockend… aber warum denn? Noch mehr kann er doch eh nicht ausplaudern.“

Im Gegensatz zu Ben und Jonas schien er die Situation ziemlich amüsant zu finden.

„Ich wusste, der Abend würde interessant werden. Aber damit hatte ich nun auch nicht gerechnet“, grinste mein bester Freund.

Ich brauchte einen Moment um das Gehörte zu sortieren. Prima, ich wusste nun also mit Sicherheit, dass Ben mit Milo geschlafen hatte. Obwohl eine gewisse Ahnung ja bereits vorher vorhanden war, hätte ich einiges dafür gegeben, dieses Wissen nicht zu haben. Wahnsinnig toll fand ich das nämlich nicht. Aber nun wusste ich auch, woher Ben Milo kannte und dass der durchaus Erfahrungen mit Männern hatte. Und ich verstand, warum Ben so überrascht gewesen war, als Caro Milo als ihren Freund vorgestellt hatte. Und die kurze Diskussion zwischen beiden, die ich in der Freiheit unterbrochen hatte. Mir hatte es völlig die Sprache verschlagen. Was für ein Spiel spielte Tamilo? Und welche Rolle spielte Caro bei der ganzen Sache? Je mehr ich erfuhr, desto weniger wusste ich, ob ich das überhaupt wollte.

So wie es aussah, kannte jeder der Anwesenden Tamilo recht gut. Wie gut Ben ihn kannte, darüber wollte ich gar nicht nachdenken.

„Warum ist Tamilo mit Caro zusammen? Er scheint hier ja genug Fans zu haben, oder nicht?“, stellte Till vergnügt die Frage, die mir ebenfalls im Kopf herumschwirrte.

„Welche Caro?“, fragte Feli und drehte sich zu uns um, sah Till verwirrt an.

„Tamilos Freundin. Caroline“, klärte Till ihn auf. Felis bereits verwirrter Gesichtsausdruck nahm noch weiter zu.

„Keine Ahnung. Das habe ich ihn auch gefragt. Aber eigentlich geht uns das nichts an“, mischte sich Ben nun doch in die Diskussion mit ein.

Felis Kopf fuhr nun ruckartig zu Ben um. Er schien zu begreifen, dass seine riesengroße Enthüllung keinen von uns überraschte und schnappte nach Luft.

„Soll das heißen, ihr wusstet das schon? Ihr habt gewusst, dass Tamilo jetzt einen auf Oberhete macht und ihr habt mir das nicht erzählt?“, fauchte Feli.

„Vielleicht ist Tamilo ja wirklich die neue Oberhete und steht auf Caro?“, warf Till ein. Ich vermutete, dass er damit einfach verhindern wollte, dass Feli sich in einen hysterischen Anfall hineinsteigerte. Ich hatte keine Lust mich an dieser Diskussion zu beteiligen, doch weghören konnte ich auch nicht.

Feli schnaubte. „Tamilo steht nicht auf Frauen. Er hat nie… nee… der nicht! Sagt mal… woher kennt ihr Tamilo überhaupt? Ich dachte, ihr seid zum ersten Mal hier?“

„Nun…“, grinste Till, „Wir kennen Tamilo auch gar nicht von hier. Wir kennen ihn durch meine Ex-Freundin Caroline, mit der er jetzt zusammen ist. Dass er hier so bekannt ist, wissen wir erst durch dich.“

„Dann stimmt es? Seit wann sind die beiden zusammen?“, fragte Feli in weinerlichem Ton. Für ihn schien gerade seine kleine schwule Welt zusammenzubrechen. Dass er Tamilo damit gerade mehr oder weniger geoutet hatte, schien ihn nicht weiter zu kümmern.

„Soweit ich weiß, haben die beiden sich auf einer Party kennengelernt, die Freunde von Tamilo geschmissen haben, nachdem er aus Kanada zurückkam. War doch so, oder Nik?“

Angesprochen konnte ich nicht mehr wirklich schweigen. Ich nickte. „Ja, so haben die beiden es erzählt“, bestätigte ich knapp und widmete mich dann wieder meinem Bier.

Ich fing einen Blick von Ben auf. Er sah mich prüfend an, als wartete er auf irgendeine Reaktion von mir. Doch wie sollte ich schon reagieren? Wie Ben vorher gesagt hatte: Milo konnte doch schlafen mit wem er wollte. Und wenn das vor einiger Zeit Ben gewesen war, dann war das halt so. Und jetzt schien es halt Caro zu sein. Er war ja nicht der erste Mann, der mit beiden Geschlechtern etwas anfangen konnte. Aber war das so? Hatte er wirklich Gefühle für Caro? Oder benutzte er sie, um vor seinem alten Leben davonzulaufen?
 

„Allzu enge Freunde können das ja nicht gewesen sein“, meinte Feli schnippisch, „ich habe nichts von einer Party gehört. Und in den Clubs war er seitdem auch nicht. Ich wüsste mal gern, welche Laus dem über die Leber gelaufen ist. Ich glaube, ich mag Kanada nicht. Man betritt als stolzer Homo das Land und kommt als Hete wieder. Das ist doch gruselig.“

Till schien den Kommentar witzig zu finden und auch Olli grinste, als er entgegnete: „Na, Kanada wird kaum daran schuld sein. Wir haben Tamilo doch schon vorher ein paar Wochen nicht mehr zu Gesicht bekommen. Das ist nicht erst so, seit er wieder da ist. Und ich für meine Person, kann auch nicht sagen, dass das ein unüberwindbarer Verlust ist.“

„Ich mochte Tamilo. Und er fehlt hier“, schmollte Feli.

„Weiß ich doch, Kleiner.“

„Vielleicht kriegt er sich ja auch wieder ein. Irgendwas muss ja vorgefallen sein. Er wird wohl kaum eines Morgens aufgestanden sein und sich gedacht haben: 'So, ab jetzt stehe ich auf Frauen'“, murmelte Jonas nachdenklich.
 

Till warf mir einen Blick zu. Ob Till gerade an das dachte, was auf Sophias Geburtstagsparty geschehen war?

Tamilo hatte mit mir sprechen wollen. Ich fragte mich, ob ich mehr erfahren hätte, hätte ich ihm einfach die Chance gegeben. Immerhin war es zu einem Kuss gekommen, der sicherlich nicht ganz so schnell vorbei gewesen wäre, wenn ich nicht einfach vor ihm weggelaufen wäre. Seine Reaktion im Garten zählte nicht wirklich, da war ich mir sicher. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass Tamilo eigentlich mehr dazu sagen wollte, als 'das wird nicht wieder geschehen.'
 

„Egal, was geschehen ist, wir werden es hier sowieso nicht herausfinden. Was haltet ihr davon, wenn wir das Thema Tamilo für heute abhaken? Das ist nämlich irgendwie echt ein Stimmungskiller. Außerdem ist dieses Getratsche echt schlimm", kam es nun von Olli.

Feli wirkte nicht, als wollte er das Thema begraben, doch als Ben und Jonas zustimmend nickten, sah er seine Niederlage wohl ein.

Stattdessen wandte er sich nun an Till und mich.

„Na dann seid ihr zwei wohl gerade zum interessantesten Thema des Abends geworden. Also wenn Till eine Hete ist… bist du schwul?“, fragte er mich direkt und rutschte dabei von Ollis Schoß und setzte sich neben ihn auf die Sitzfläche.

„Ähm… ich…“

Irgendwie war ich nicht in der Lage einfach 'ja' zu sagen. War ich denn schwul? Nur weil ich Milo aufregend fand? Wer sagte mir denn, dass mir das nicht auch bei einer Frau passieren konnte? Vielleicht war ich der Richtigen einfach noch nicht über den Weg gelaufen. Aber auch das konnte ich nicht laut sagen. Weil ich es selbst nicht wirklich glaubte.

Feli sah mich nun verständnisvoll an. Es war der pure Wahnsinn, was der Kerl mit seinem Gesicht anstellen konnte. Es war, als würde er je nach Situation einfach eine Maske aufsetzen, die dazu passte. Und irrsinniger weise wirkte es dennoch nicht aufgesetzt. Ich konnte mir gut vorstellen, dass der Kleine von seinen Freunden, trotz seiner zickigen Art, die ich ja auch schon kennenlernen durfte, sehr gemocht wurde. Er trug sein Herz einfach auf dem Gesicht.
 

Feli ließ seinen Blick einmal durch den Club streifen, bevor seine Augen wieder auf mir zu liegen kamen. „Haben dir die anderen schon den Club gezeigt?“, fragte er und legte den Kopf schief.

Verwirrt blickte auch ich mich um. „Was gibt es denn da zu zeigen?“, fragte ich vorsichtig nach. Ich hatte zwar nicht wirklich viel Erfahrung mit Gayclubs, doch dieser schien mir zumindest nicht so, als würden sich die Typen irgendwo zurückziehen können, um…

Meine Gedankengänge konnte man mir vermutlich an der Nasenspitze ansehen, denn Feli grinste schelmisch und stand auf. Einladend hielt er mir die Hand hin. „Ich zeig dir jetzt, was man in diesem Club so machen kann“, kündigte er an und als ich nicht sofort nach seiner Hand griff, tat er es. Ich wagte einen Blick in die Runde. Alle anderen waren nur am Grinsen und Olli nickte mir ermunternd zu. „Was auch immer der Kleine vor hat, es kann nichts sein, was dich schockieren würde“, sagte er, „vermutlich will er dich nur an die Bar entführen, damit du ihm was zu trinken ausgibst.“

„Wenn Nik möchte, kann er auch das tun. Aber ich dachte, ich lasse mich jetzt von ihm auf die Tanzfläche zerren, denn ich will wissen, ob er auch tanzen kann.“

„So wie Nik gerade aussieht, kannst du froh sein, wenn du es schaffst, ihn auf die Tanzfläche zu zerren“, grinste Jonas.

„Ich zerre niemanden, wie sähe das denn aus?", fragte Feli entrüstet. Dann sah er mich an und sagte: „Und deswegen solltest du jetzt aufstehen, denn es wirkt seltsam, wenn man von jemandem entführt wird, der keine Anstalten macht, sich zu bewegen. Ich würde mich nur ungern blamieren.“

Völlig überrumpelt sah ich zu ihm auf.

„Wenn Nik nicht will, ich stelle mich gerne zur Verfügung“, grinste Olli. „An deiner Stelle würde ich mir allerdings gut überlegen, ob du Feli abblitzen lässt. Erstens wird er dir das ewig vorhalten und zweitens, kann unser Kerlchen das verdammt gut.“

Nervös blickte ich zur Tanzfläche, die auf einmal riesig auf mich wirkte. Dabei fiel mir auf, dass die pinke Beleuchtung inzwischen verschwunden war. Stattdessen leuchteten die sich bewegenden Körper nun und gelb und grün auf. Undgeduldig wippte Feli auf seinen Füßen, zog an meiner Hand und gewann dadurch meine Aufmerksamkeit zurück. „Also? Kommst du nun?“
 

Ich wagte einen hilfesuchenden Blick zu meinem besten Freund, der diesen jedoch nur milde lächelnd und kopfschüttelnd erwiderte.

„Geh nur. Ich komme schon zurecht“, flötete er grinsend. Daran zweifelte ich keine Sekunde. Ich war mir nur nicht so sicher, wie ich damit zurechtkommen würde. Noch nie war ich von einem Mann zum Tanzen aufgefordert worden.

Etwas widerwillig erhob ich mich dann doch. Feli schien nämlich nicht die Absicht zu haben, auf Ollis großzügiges Angebot einzugehen. Und Till machte keinerlei Anstalten, mich aus dieser Lage zu befreien.

Als ich schließlich vor ihm stand, trat Feli einen Schritt zurück, ohne meine Hand dabei loszulassen und ließ seinen Blick langsam über meinen Körper gleiten. Fast erwartete ich, dass er mich darum bat, mich umzudrehen, doch er schürzte die Lippen und nickte.

„Ja, mit dir kann man sich eindeutig sehen lassen.“

Sofort konnte ich spüren, wie ich rot wurde. Solche Dinge von einem anderen Mann zu hören, war mehr als ungewohnt für mich. Auch, wenn Feli nicht unbedingt der Typ war, der meine Vorstellungen vom Durchschnittsmann traf.

Feli wandte sich zu den anderen, die uns grinsend beobachteten, um und sagte: „Ich lasse mich für ein paar Minuten entführen, stellt nichts Unanständiges an an!“

„Nur, wenn du nichts anstellst“, gab Ben grinsend zurück.

Der Blick, den Feli ihm daraufhin zuwarf, verriet, dass er ihm noch nicht vollständig verziehen hatte. Doch er drehte sich wieder zu mir um und deutete mit der freien Hand auf die Tanzfläche. „Nach dir“, strahlte er mich an. Kurz überlegte ich noch, mich wieder hinzusetzen und mich einfach zu weigern. Doch aus welchem Grund sollte ich das tun?

Es war ja nur tanzen. Und auch, wenn ich nicht der begnadetste Tänzer des Planeten war, konnte ich mich immerhin zu Musik bewegen, ohne einen vollkommenen Deppen aus mir zu machen. Und irgendwie wollte ich den Feigling in mir hinter mir lassen. Also verstärkte ich den Druck auf seine Hand und zog ihn tatsächlich auf die Tanzfläche.
 

Ich hatte dabei das Gefühl, meine ersten Schritte in ein völlig neues Leben zu machen. Und irgendetwas ließ ich bereits jetzt hinter mir zurück.

Es war seltsam einen anderen Kerl auf die Tanzfläche zu ziehen, doch ich wagte diesen Sprung. Hielt diesen jungen Mann, der hinter mir auf die Tanzfläche trat, an der Hand.

Die Leute um uns herum, schenkten uns kaum Beachtung. Wieso denn auch?

Trotzdem schlug mein Herz schneller als gewöhnlich. Deutlich schneller. Denn auch, wenn die Feiernden und Tanzenden uns nicht weiter beachteten, ich nahm sie wahr und war mir darüber im Klaren, dass dies nicht mein gewohntes Umfeld war.
 

An unserem Ziel angekommen entzog mir Feli seine Hand. Sofort schaffte er es, sich völlig in die Musik fallen zu lassen. Für mich persönlich war die Musik eigentlich zu elektronisch. Zuhause besaß ich solche Musik nicht einmal, doch in Clubs lud sie zum Tanzen ein und in der richtigen Beleuchtung und Umgebung machte es mir sogar wirklich Spaß.

Auch mir fiel es nicht sehr schwer, mich auf die Musik einzulassen. Ich achtete anfangs stark darauf, möglichst jeden Körperkontakt zu den Personen um mich herum zu verhindern. Ziemlich bescheuertes Vorhaben auf einer vollen Tanzfläche. Ich war mir bewusst, dass neben uns eine Männer tanzten, von denen die deutliche Mehrheit vermutlich schwul war.
 

Felis völlig vertiefter Eindruck täuschte. Zumindest erwischte ich ihn zweimal dabei, dass er Kerle, die sich mir näherten spielerisch antanzte, nur um sie anschließend wieder von sich zu schieben. Irgendwie fand ich die Tatsache süß, dass diese kleine Diva versuchte, mich vor aufdringlichen Kerlen zu schützen. Und es führte tatsächlich dazu, dass ich lockerer wurde.

Zumindest bis Feli scheinbar beschloss, dass meine Schonfrist abgelaufen war und er selbst zum Angriff überging. Beim Tanzen war er mir immer näher gekommen und bewegte sich nun so dicht vor mir, dass weitere Annäherungsversuche durch andere Tänzer erst gar nicht mehr gestartet wurden. Ich schaffte es einigermaßen, mich durch diese Veränderung nicht merklich aus dem Konzept bringen zu lassen. Feli quittierte seinen bisherigen Erfolg mit einem zufriedenen Schmunzeln und wandte sich von mir ab, als Britney Spears begann, von irgendwelchen Giften zu singen.

Die Mehrzahl der Männer hier mochte schwul sein, doch musikalisch war die Frauenquote in diesem Club verdammt hoch. Feli ließ mir jedoch keine Zeit, diesen Gedanken weiterzuspinnen. Stattdessen spürte ich seinen Hintern, mit dem er mir einmal in einer kreisenden Bewegung ziemlich gezielt über den Schritt rieb. Mir entwich ein überraschtes Keuchen und völlig selbstständig fanden meine Hände an seine Hüfte. Ich fühlte mich von dieser Aktion etwas… nein… ziemlich überfahren. Nachdem Feli mich vor ähnlichen Manövern durch andere beschützt hatte, hatte ich nicht damit gerechnet. Ein paar meiner Gehirnzellen stritten miteinander, was sie von dieser Annäherung hielten, während der Großteil der anderen einen spontanen Kurzurlaub einreichten.

Meine Hände an seiner Hüfte verhinderten allerdings, dass Feli diese spezielle Tanzeinlage wiederholen konnte. Er entwand sich meinem Griff allerdings, drehte sich zu mir um und legte mir seine Arme um den Hals.

Die Gehirnzellen, die momentan außer Betrieb waren, waren wohl hauptsächlich die, die für die Bewegungsvorgänge in meinem Körper zuständig waren. Ich stand völlig erstarrt da, während Feli mich mit einem mitleidigen Kopfschütteln bedachte.

Er beugte sich vor und rief mir ins Ohr: „Jetzt sind wir schon auf der Tanzfläche. Weißt du, was du unbedingt als nächstes tun solltest?“

Zu mehr als einem Kopfschütteln war ich nicht in der Lage.

„Wir sind hier, um Spaß zu haben, richtig?“, fuhr Feli fort, beantwortete seine eigene Frage, dann aber direkt im Anschluss selbst. „Ja, das sind wir. Und weißt du wie das viel besser funktioniert?“

Schmunzelnd sah er mich an. Dann tippte er mir mit dem Zeigefinger gegen die Stirn. „Wenn du dem da oben mal ein paar Minuten Ruhe gönnst. Du denkst zu viel nach.“

Einerseits hatte Feli da sicherlich recht. Schließlich war ich unter anderem hier, um zu sehen, ob mein Interesse an Männern auch allgemein galt, oder eher auf spezielle Artgenossen ausgerichtet war. Die Experimentierfreudigkeit hielt sich dennoch eher in Grenzen. Was vielleicht auch nicht zuletzt daran liegen konnte, dass Feli zwar sicherlich ein niedlicher Kerl war und ein sehr einnehmendes Wesen zu haben schien, aber trotzdem absolut nicht mein Typ war.

Und ja, so weit war ich dann doch schon. Dass das im Umkehrschluss bedeutete, dass ich durchaus einen Typ hatte, war soweit ja nichts Neues für mich.

Mit dem Vorwurf, ich würde zu viel nachdenken, wollte Feli bestimmt nicht bezwecken, dass ich nun vollständig ins Grübeln verfiel. Doch meine Gehirnzellen kümmerten sich nicht großartig darum, was Feli bezweckte. Feli seufzte auf, als er das ebenfalls erkannte und beugte sich erneut vor, um etwas zu sagen, doch ich löste meine Hände nun von seiner Hüfte und griff nach seinen Handgelenken, um seine Arme von meinem Hals zu lösen.

Entschuldigend sah ich ihn an. „Sorry, ich…“
 

Ich wusste nicht, was ich ihm sagen sollte. Ich fühlte mich plötzlich mit der ganzen Situation wieder überfordert. Mir war ja klar, dass Feli einfach nur mit mir tanzen hatte wollen. Es war ja nicht so, dass er mich damit direkt nach Hause mitnehmen wollte. Er erwartete allerdings auch keine großartige Entschuldigung. Jedenfalls tat er es mit einem verständnisvollen Blick ab.

Als ich mich von ihm abwenden wollte, um die Tanzfläche wieder zu verlassen, hielt er mich am Arm zurück und brachte sich mit einer geschmeidigen Bewegung wieder vor mich.

„Wir probieren das in ein paar Wochen noch einmal“, rief er mir ins Ohr und entließ mich dann, nicht ohne vorher seine Lippen auf meine zu drücken. Seltsamerweise brachte mich das weniger durcheinander, als seine Annäherung beim Tanzen. Bevor ich mir auch nur Gedanken darüber machen musste, den Kuss zu unterbrechen war er auch schon wieder vorbei. Feli zwinkerte mir noch einmal zu und schenkte seine Aufmerksamkeit den anderen Männern, offensichtlich auf der Jagd, nach jemandem, der es länger auf der Tanzfläche aushielt als ich.

Ich bezweifelte, dass Feli lange alleine bleiben würde und trat den Rückzug an. Zwei erhobene Augenbrauen und drei amüsierte Gesichter empfingen mich an unserem Tisch. Scheinbar waren wir nicht zu tief im Gedränge verborgen, als dass Felis letzter Überfall unbemerkt geblieben wäre.

Die erhobenen Augenbrauen gehörten beide meinem besten Freund der auch direkt fragte: „Was war das denn?“

Es klang nicht verurteilend, sondern hauptsächlich verwirrt und erstaunt.

„Das war Felis Art zu zeigen, dass Nik gern weitere Abende mit uns verbringen darf“, erklärte Olli grinsend.

„Ach? Na, ich hoffe, das galt für uns beide. Ich glaube ich kann darauf verzichten, dass er mir das auf die gleiche Weise zeigt.“
 

„Ich glaube, da musst du dir keine großen Sorgen machen. Zur Not gibst du ihm einen ordentlichen Klaps, wenn er es versucht“, lachte Ben.

„So ein Kuss, hat für Feli keine tiefere Bedeutung“, versicherte er mir.

„Hat sich auch nicht so angefühlt“, gab ich zu.
 

Eine Vibration in meiner Hosentasche kündigte einen Anruf an. Noch bevor ich das Handy aus der Tasche fischte, ahnte ich, wer anrief.

Ein Blick auf das Display bestätigte meine Vermutung. Ich starrte auf Leonies Namen, der mir auf dem hektisch blinkenden Bildschirm angezeigt wurde.

Till sah auf mein Handy und dann zu mir.

Wieder war ich nicht in der Lage einen Finger zu rühren. Weder, um das Telefonat anzunehmen, noch um es abzulehnen. Ich starrte einfach auf das Handy, bis das Blinken erstarb. Zum Telefonieren war es hier definitiv zu laut. Doch das hätte ich Leonie auch in einer SMS mitteilen können. Stattdessen steckte ich das Handy wieder zurück.

„Das war ja mal eine interessante Reaktion auf einen Anruf. Erfolgreich tot gestellt“, scherzte Jonas, „gehst du mit deinem Handy immer so um?“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein.“

„Leonie?“, fragte Ben lediglich.

„Ja“, antwortete Till für mich.

„Ich nehme an, sie weiß nicht, dass du hier bist, oder?“, fragte er weiter.

Auf mein Kopfschütteln nickte er. „Das dachte ich mir.“

„Wir hatten diese Woche auch nicht sonderlich viel Kontakt“, murmelte ich.

Vermutlich hätte ich es ihr auch dann nicht erzählt, wenn es anders gewesen wäre. Allerdings wären wir in diesem Fall auch nicht mehr zusammengewesen.
 

Ben ließ diesen Satz einfach so stehen und wechselte das Thema.
 

Niemand zwang mich an diesem Abend erneut zum Tanzen und wir beließen es bei lockeren Gesprächen. Die Jungs waren einfach klasse. Der Abend wurde auch eigentlich sehr witzig. Abgesehen, von dem schlechten Gewissen, das mich plagte, nachdem ich Leonies Anrufe stur ignoriert hatte.

Sie hatte es fünf Mal versucht. Es schien so, als war Leonie nun bereit, mit mir zu reden. Und auch, wenn Leonie natürlich nicht hätte wissen können, wo ich steckte, konnte ich mich einfach nicht überwinden, ans Telefon zu gehen, während ich mich viel zu sehr in meinem neuen Leben befand.

Zu diesem Leben gehörten, wie es aussah auch Ben und seine Freunde. Wir hatten lange vor der Verabschiedung bereits unsere Telefonnummern ausgetauscht. Und Till hatte sich an dem lustigen Zahlenspiel begeistert beteiligt. Die Chancen standen sogar gut, dass er sich noch daran erinnerte, wessen Nummern da nun plötzlich in seinem Handy gespeichert waren.

Allerdings hatte er bereits angemerkt, dass man sich ja nicht nur in solchen Clubs treffen müsse. Kurzum: Till mochte die Jungs und war offensichtlich bereit, sich einen neuen Freundeskreis aufzubauen. Vielleicht hatten wir eine neue Truppe gefunden, mit denen wir die gemütlichen Filmeabende bei Till wieder einführen konnten. Zu einem Ersten hatte Till jedenfalls bereits aufgefordert und unsere neuen Bekanntschaften hatten begeistert zugestimmt.
 

Ich war sehr gespannt, wie unsere Filmauswahl an dem Abend aussehen würde. Aber ich freute mich schon darauf, diese Pläne in die Tat umzusetzen.

Ich war froh, als ich am Nachmittag endlich wieder nach Hause kam.

Till und ich hatten noch ein kurzes, verdammt spätes Frühstück hinter uns gebracht, bevor ich nach Hause fuhr. Till hatte der Abend beinahe mehr zugesetzt, als mir. Bei mir gehörte zu den Nachwirkungen jedoch kein brummender Schädel. Naja, eigentlich schon, doch bei mir lag es weniger am Alkohol, als an den rasenden Gedanken, die mich noch ewig wach gehalten hatten, während Till neben mir friedlich geschnarcht hatte.

Das bevorstehende Telefonat bereitete mir ebenfalls ein wenig Kopfschmerzen. Meine Familie würde wohl aus allen Wolken fallen, wenn sie von der Trennung erfuhr, die ich einfach nicht weiter hinausschieben konnte.

An meinen Eltern schob ich mich mit ein paar Worten vorbei und ging in mein Zimmer. Obwohl ich liebend gern direkt unter die Dusche gesprungen wäre, beschloss ich, erst das Telefonat mit Leonie hinter mich zu bringen.

Ein paar Minuten hielt ich mein Handy in der Hand und starrte mehrmals so lange auf das Display, dass die Beleuchtung wieder erlosch. Ich wollte dieses Telefonat nicht führen. Ich wollte es absolut nicht. Seufzend drückte ich endlich die Taste, die die Verbindung herstellte und lauschte dem Tuten.
 

„Nik! Hey…“, meldete sie sich.

„Ich hab gestern versucht, dich anzurufen…“, murmelte sie direkt weiter.

„Ja, ich hab es gesehen, aber… es ist gestern Abend ziemlich spät geworden, da hätte ich dich vermutlich nur aus dem Schlaf gerissen.“

Ich hätte ihr ja immerhin eine SMS schreiben können. Aber ich war ja nicht einmal dazu in der Lage gewesen. Idiotisch.

„Oh… wo warst du denn?“, fragte Leonie zögerlich nach.

In einem Schwulenclub.

Wie einfach wäre es gewesen, genau das einfach zu sagen. Aber etwas feinfühliger wollte ich dann doch an die Sache herangehen.

„Ich war mit Till und ein paar Jungs was trinken“, sagte ich stattdessen.

„Oh… ach so…“ Leonie klang irgendwie… erleichtert.

Diese Erleichterung zu hören, machte es mir irgendwie nicht leichter, es auszusprechen.

„Leonie… ich würde dich gerne sehen… wir müssen wirklich reden…“

Einen Augenblick lauschte ich nur Leonies ruhigen Atemzügen.

„Okay“, sagte Leonie leise, „heute ist es aber schlecht… ich bin in einer Stunde mit Caro verabredet… Wie wäre es morgen? Du könntest morgen zu mir kommen… oder ich komme zu dir… Natürlich kann ich Caro auch absagen, dann treffen wir uns heute noch…“

„Nein, triff dich ruhig mit Caro“, unterbrach ich ihren plötzlichen Redefluss, „Seht ihr Milo wieder beim Arbeiten zu?“

„Soweit ich weiß, muss der heute nicht arbeiten, aber Caro und ich haben einfach einen ruhigen, gemütlichen Abend vor dem Fernseher geplant. Ganz ohne Kerle“, antwortete Leonie.

„Ach… okay, dann viel Spaß dabei.“

„Mhm… ja…“, murmelte sie leise.

„Soll ich dann morgen zu dir kommen? Gegen 15 Uhr vielleicht?“, fragte ich.

„Ja, klar, komm einfach vorbei.“

„Okay, dann sehen wir uns morgen. Ich wünsche dir einen schönen Abend mit Caro.“

Ein leises Schnauben ertönte, doch Leonies Stimme klang völlig ruhig, als sie erwiderte: „Danke… dir auch einen schönen Abend. Bis morgen.“

„Bis morgen…“

„Nik?“, erklang Leonies Stimme gerade, als ich den Hörer vom Ohr nehmen wollte, noch einmal.

„Ich liebe dich.“

Obwohl wir diese Worte in unserer Beziehung keinesfalls inflationär gebrauchten, öffnete sich mein Mund beinahe automatisch, um sie zu erwidern. Es war ja auch nicht so, dass ich plötzlich keine Gefühle mehr für Leonie hatte, doch ich verstand diese Gefühle inzwischen besser.

Ich musste schlucken und jegliche Reaktion auf ihre Worte, blieb mir im Hals stecken.

Leonie seufzte.

„Bis morgen, Nik“, wiederholte sie und schon verkündete mir mein Handy mit einem Signalton, dass sie das Gespräch beendet hatte.
 

Nach dem Telefonat fühlte ich mich mies. Doch immerhin war der erste Schritt jetzt getan. Ich machte mir absolut nichts vor. Ich war mir sicher, dass Leonie genau wusste, was kommen würde. Vermutlich ahnte sie es schon eine ganze Weile. Doch nun war einfach der Zeitpunkt gekommen, an dem wir beide es nicht weiter vor uns herschieben konnten.

Das hatte ich Leonie durch das Ausbleiben einer Erwiderung auf ihre Worte wohl auch nur allzu deutlich gemacht

So viel zum Thema feinfühlig, doch was hätte ich tun sollen?

Ich hatte mir und damit auch Leonie lange genug etwas vorgemacht. Es war an der Zeit, endlich damit aufzuhören. Auch wenn ich keine Ahnung hatte, wie ich das am nächsten Tag am besten anstellen sollte.
 

Ich konnte auch noch nicht wirklich abschätzen, wie Leonie die Trennung nun auffassen würde und wie viel sie letztlich tatsächlich ahnte.

Als ich Tamilo im Gespräch erwähnt hatte, gab es kein Stutzen ihrerseits, kein Stocken vor der Antwort, das darauf schließen ließ, dass sie wusste, welche Wirkung Milo auf mich hatte. Und wenn ich es irgendwie verhindern konnte, würde ich daran auch nichts ändern.

Einerseits war das sicher feige, andererseits wollte ich Milo auch nicht einfach in die Sache reinziehen und ihn mit einer eventuell wütenden Leonie konfrontieren, die vor Caro wilde Vermutungen in den Raum warf.

Zwar traute ich Leonie ein solches Verhalten nicht wirklich zu, doch bisher waren wir auch nie in der Situation gewesen, dass ich mich von ihr trennte.

Ich würde also versuchen, so ehrlich wie möglich zu ihr zu sein, ohne ihr alles zu erzählen. Toll.
 

Was Tamilo wohl an diesem Abend machen würde?

Er hatte heute frei und mit Caro traf er sich nicht. Vermutlich nutzte er die Zeit, um etwas für die Uni zu tun. So wie es am Vorabend geklungen hatte, wäre er vor ein paar Monaten wohl noch in anderer Gesellschaft um die Häuser, oder vielmehr durch die Clubs gezogen.

Und es klang nicht danach, als wäre Milo damals ein Kind von Traurigkeit gewesen.

Was hatte sich für ihn nur verändert? Warum schlief er nun mit Caro, statt mit Ben oder irgendeinem anderen Kerl? Wieso hatte er sich von seinen alten Freunden zurückgezogen? Es musste doch einen Auslöser gegeben haben.

Ich hatte von Feli jeden Verdacht bestätigt bekommen und wusste nun nichts mit dem Wissen anzufangen.

Das passte doch alles nicht zusammen.

Ob das mit Ben und Milo eine längere Geschichte war?

Wäre dann das Treffen der beiden in der Freiheit nicht etwas anders verlaufen?

Ich konnte mir absolut keinen Reim auf all das machen. Mir fehlten noch wichtige Puzzleteile, damit alles einen Sinn ergab. Doch ich würde schon dahinter kommen.
 

Ich ließ mir Zeit mit der Dusche und verschanzte mich anschließend wieder in meinem Zimmer. Meine Gedanken wanderten allerdings immer wieder zu Milo, der sich in meinem Kopf ziemlich breit gemacht hatte und scheinbar nicht vorhatte, mich so schnell wieder in Frieden zu lassen.

Es war völlig egal, was ich versuchte, um mich davon abzulenken. Ich versuchte sogar, mich wieder ein wenig mit BWL zu befassen. Gut, der Versuch blieb mit etwa 15 Minuten Zeitaufwand ziemlich halbherzig, doch war es nicht der Wille der zählte?

Vom Musikhören war ich innerhalb kürzester Zeit ebenfalls ziemlich genervt, da ich nicht in der Lage war, auch nur ein Lied durchzuhören. Völlig entnervt stand ich irgendwann vor meinem DVD-Regal, aber auch hier wurde ich nicht wirklich fündig. Ich brauchte dringend neue Filme.
 

Nachdem ich mir ewig meine Zeit mit aktivem Nichtstun vertrieben hatte, klopfte es an der Tür.

Sophia betrat mein Zimmer und informierte mich, dass es bald Abendbrot geben würde.

Erstaunt sah ich auf die Uhr.

„Danke… aber ich… kann nicht mitessen. Ich muss noch mal weg“, sagte ich und griff kurzentschlossen nach meinem Schlüssel.

„Okay…“, kam es von meiner verwirrt klingenden Schwester, als ich an ihr vorbei aus dem Zimmer ging.

Eilig lief ich die Treppe herunter und sagte meinen Eltern Bescheid. Sie waren zwar nicht begeistert, doch das war mir in diesem Moment gleichgültig. Ich wusste, dass mich der Mut verlassen würde, wenn ich bis nach dem Abendbrot wartete. Schnell zog ich mir meine Schuhe an und verließ das Haus.
 

Der Verkehr schien mich in meinem Vorhaben ebenfalls unterstützen zu wollen und etwa zehn Minuten später suchte ich mir einen Parkplatz in der Amandastraße. Auch als ich mein Auto verschloss, war ich noch fest entschlossen, das einfach durchzuziehen.

Doch jeder Schritt, der mich dem Backsteinhaus näher brachte, auf das Tamilo einmal gezeigt hatte, ließ mir das Herz schneller und stärker schlagen.

Wieso zur Hölle saß ich jetzt nicht mit meiner Familie am Esstisch? Was hatte mich bloß geritten?

Ich wusste ja nicht einmal, welche Wohnung Tamilo gehörte. Ich wusste auch nicht, ob er überhaupt zuhause war. Die Frage, wie begeistert er wohl über meinen Besuch sein würde, stellte ich mir lieber gar nicht.

Trotzdem trieben meine Schritte mich näher an die Eingangstür. Erleichtert nahm ich zur Kenntnis, dass dieses Wohnhaus über keine Gegensprechanlage verfügte. Die Chancen standen also gar nicht schlecht, dass ich erst im Hausflur abserviert werden würde, anstatt direkt auf der Straße.
 

Zwischen neun Namen konnte man wählen. Neun abgegriffene Messingknöpfe warteten darauf, einmal mehr gedrückt zu werden.

Doch nur Tamilos Nachname neben einem der Knöpfe hatte eine gewisse Anziehungskraft auf mich. Allerdings brauchte ich gar nicht klingeln, denn genau in diesem Moment wurde die Tür geöffnet und ein Mann trat heraus. Er musterte mich kurz, nickte mir dann zu und ging einfach weiter, ohne sich darum zu kümmern, dass ich die Gelegenheit ergriff und ins Haus schlüpfte, ohne mich zuvor bei einem der Bewohner anzukündigen.
 

Milos Name hatte auf der vorletzten Klingel gestanden. Ich hoffte einfach, dass ich nicht alle drei Stockwerke nach der richtigen Tür absuchen musste.

Aufmerksam sah ich mich um. Hier im Erdgeschoss befanden sich keine Wohnungen. Unter dem Treppenabsatz standen ein Kinderwagen, ein Buggy und mehrere Fahrräder. Aufgeregt stieg ich die Stufen zur ersten Etage hinauf. Ich hatte gleich doppeltes Glück. Die Türen waren auch noch einmal mit Namensschildern versehen und direkt hinter der zweiten Tür befand sich mein Ziel.

Nervös versuchte ich, zuzuordnen, welche Fenster zu dieser Wohnung gehörten. Hatte Licht gebrannt?

Vermutlich. Zumindest klang diese Wohnung nicht verlassen. Leise Geräusche verrieten, dass Tamilo zuhause war. Ob es Musik war, oder der Fernseher, konnte ich nicht ausmachen.

Mein Mut begann gerade endgültig, sich von mir zu verabschieden. Andernfalls würde ich mir wohl kaum über solch unwichtigen Dinge Gedanken machen, statt einfach zu klingeln.

Diese kleine Stimme in meinem Kopf, die erst mit Tamilo in mein Leben getreten war, war bereits dabei, mich fürchterlich auszulachen.

Weil ich kurz davor war, mich umzudrehen und einfach wieder zu verschwinden, als wäre ich nie hier gewesen? Oder weil ich überhaupt vor dieser Tür stand?

An der Kommunikation musste diese Stimme definitiv noch arbeiten.

Okay. Eigentlich war es völlig egal, aus welchem Grund sie mich auslachte. Die Stimme hatte Recht. Es war dumm, hierher zu kommen. Doch wenn ich nun den Schwanz einzog, würde ich nie wieder in den Spiegel sehen können.

Ich atmete einmal tief durch und klingelte.

„Fehler! Fehler!“, kicherte meine innere Stimme hysterisch.

Es war dringend an der Zeit, dass ich ihr einen Namen gab. Offensichtlich würde ich noch häufiger in den Genuss kommen, ihr zu lauschen. Doch ich blieb stehen und lauschte auf Geräusche aus der Wohnung.

Alles was ich jedoch hören konnte, war mein eigener Herzschlag, der mir unangenehm in den Ohren rauschte.
 

Ein Summen an der Eingangstür ließ mich zusammenschrecken und im selben Moment öffnete sich die Tür, vor der ich stand.

Einige Augenblicke herrschte ein verblüfftes Schweigen, das ich nicht in der Lage war, zu brechen.

Tamilos weit geöffnete braune Augen lagen ungläubig auf mir.

„Was machst du denn hier?“, fragte er schließlich leise. Diese beinahe sanfte Tonlage befand sich im absoluten Gegensatz zu seinem bohrenden Blick. Oh ja. Den strengen Lehrerblick musste Milo nicht mehr üben. Den beherrschte er ausgezeichnet.

„Ich…“

Was für eine Begrüßung hatte ich auch erwartet, wenn ich hier einfach unangemeldet vor seiner Tür auftauchte?

„Was willst du hier, Nik?“, fragte Tamilo erneut und klang bereits etwas ungeduldiger.

Ich rief mir Felis absolut schockiertes Gesicht ins Gedächtnis, als er von Tamilo und Caro erzählt hatte. Ja, deswegen war ich hier, und ich würde nicht gehen, ohne ein paar Antworten erhalten zu haben. Und Fragen hatte ich wahrlich genug.

Ich erwiderte Milos Blick nun fest und antwortete: „Ich will mit dir reden.“
 

Milo zuckte gleichgültig mit den Schultern, doch seine Augen huschten wachsam über mein Gesicht, als er entgegnete: „Ich wüsste nicht, worüber wir reden müssten. Es wurde bereits alles gesagt.“
 

Doch ich war gewiss nicht hier, um mich innerhalb weniger Atemzüge wieder abwimmeln zu lassen.

„Glaub mir, ich finde genügend Gesprächsthemen für uns beide zusammen. Darf ich reinkommen?“

„Also ehrlich gesagt…“

„Hör zu, Milo. Ich hatte wirklich ein sehr spannendes und aufschlussreiches Wochenende. Und darüber würde ich sehr gerne mit dir sprechen. Also entweder wir reden hier im Hausflur, oder du bittest mich herein.“

Tamilos Augen verengten sich.

„Du hast dich mit Ben getroffen“, stellte er fest.

„Auch“, erwiderte ich lächelnd.

„War ja klar, dass der Kerl seine Fresse nicht halten kann“, brummte Milo finster.

Ich lächelte ihn weiterhin an und sagte: „Och, wenn es nach Ben gegangen wäre, hätte ich vermutlich gar nichts erfahren.“

Milo musterte mich noch einmal kurz, ehe er schnaubend zurücktrat und die Tür einladend ein Stück weiter öffnete. Hinter mir ließ er die Tür wieder zufallen.

„Schuhe aus“, befahl er knapp und verschwand in einem offenen Türbogen am Ende des Flurs.

Ich sah ihm hinterher und stellte fest, dass er wieder einmal verboten gut aussah. Selbst wenn er in seinem ärmellosen Shirt und der Jogginghose nicht so wirkte, als hätte er heute noch Besuch erwartet.

Ich streifte meine Schuhe ab und beeilte mich, Milo zu folgen.

Diese Wohnung roch so sehr nach ihm, dass ich mich schon wohl fühlte, bevor ich sein Wohnzimmer betrat. Vielleicht war ich heute zum ersten und gleichzeitig letzten Mal in dieser Wohnung, aber irgendetwas in mir hatte die Hoffnung, dass dem nicht so war.

Zwischen uns war irgendwas. Irgendetwas passierte zwischen uns.
 

„Willst du etwas trinken?“, fragte Milo, als ich das Wohnzimmer betrat.

Kopfschüttelnd verneinte ich und ließ meinen Blick durch den Raum gleiten, den er gerade verließ.

Milos Wohnung war ein typischer Altbau, wie er in Hamburg oft zu finden war.

Dielenboden, hohe Decken, große mehrteilige Fenster. Fast erwartete ich, an den Decken auch Stuck zu finden, doch hier wurde meine Erwartung enttäuscht.

Der Raum war relativ groß und Tamilo hatte wohl kein Interesse gehabt, ihn mit unnötigen Möbelstücken zu füllen.

Der Fernseher und die Musikanlage, aus der die Geräusche stammten, die ich vor der Tür bereits gehört hatte, waren in einem gut gefüllten Bücherregal eingerahmt, das sich beinahe über die gesamte Stirnseite des Raums erstreckte und lediglich die Tür zu einem weiteren Zimmer aussparte, das rein theoretisch auch durch den Flur erreichbar sein müsste, wenn mich die Aufteilung dieser Wohnung nicht täuschte. Ich vermutete hinter dieser Tür das Schlafzimmer.
 

Vor einem der Fenster stand ein Schreibtisch, auf dem die Lampe noch brannte und mehrere Bücher ausgebreitet waren. Offensichtlich hatte ich Milo tatsächlich beim Lernen gestört.

An den Wänden hingen einige gerahmte Schwarz-Weiß Fotografien. Es waren keine Fotografien von Menschen. Ich kannte manche der Motive. Es waren ein paar Londoner Sehenswürdigkeiten, wie der Big Ben, die Tower Bridge und das London Eye. Außerdem entdeckte ich eine Fotografie der Hollywood Hills. Hatte Tamilo bei unserem ersten Treffen nicht erzählt, dass er auf einer Sprachreise in Los Angeles war?

Einige der Bilder konnte ich nicht genau zuordnen. Doch eines der Bilder zeigte Kanada, wie es sich wohl jeder vorstellte. Berge, Wälder und Wasser vereint auf einem wunderschönen Bild.

Ich hatte den Verdacht, dass all diese Bilder von ein und demselben Fotografen stammten. Diese Fotos zu betrachten machte deutlich, wie viel Milo bereits herumgekommen war.

Es gab nur ein farbiges Bild in diesem Raum, das allein schon wegen seiner Größe aus den anderen herausstach. Es war die nächtliche Skyline irgendeiner Stadt, die ich beim besten Willen nicht bestimmen konnte.

Dieses Panorama hing über einem schlichten grauen Sofa und erstreckte sich beinahe über die gesamte Breite dieses Möbelstücks.

Die kühle Wirkung, die das Zimmer bei dieser Einrichtung haben sollte, wurde durch die Beleuchtung erfolgreich verhindert. Kurz fragte ich mich, ob Milo sogar getönte Glühbirnen verwendete, um diesem Effekt entgegenzuwirken.

„Setz dich doch“, murmelte Tamilo, als er mit einer Flasche Wasser und zwei Gläsern zurückkehrte.

„Hast du die ganzen Bilder selbst gemacht?“, fragte ich, seine Aufforderung ignorierend und unfähig, das Staunen aus meiner Stimme zu verbannen.

Milo legte den Kopf schief und deutete auf das Panorama, das gerade meine Aufmerksamkeit fesselte.

„Alle, bis auf dieses. Das habe ich gekauft.“

„Welche Stadt ist das?“, fragte ich und folgte Milo mit den Augen, als er zu seinem Schreibtisch ging und die Lampe ausschaltete.

„Calgary“, antwortete er knapp.

Ich überlegte kurz. „Kanada?“

Nickend kehrte Milo zum Sofa zurück und setzte sich. „Ja, dort habe ich mein Auslandssemester absolviert.“

Nun ließ auch ich mich auf das Sofa sinken und stellte fest, dass es um einiges bequemer war, als es aussah.

„Wieso hast du es nicht selbst fotografiert? Wenn ich mir die anderen Bilder so ansehe, wirkt es nicht, als hättest du es nicht gekonnt.“

Milo lächelte leicht. „Ich hab es auch selbst fotografiert. Aber kurz vor meinem Abflug habe ich dieses Bild in einem Geschäft entdeckt. Und es ist besser als meine Fotografie. Irgendwie bin ich nicht daran vorbeigekommen.“

Milo warf mir einen kurzen Blick zu.

„Wir haben jetzt lange genug über Bilder gesprochen, oder? Also, wieso bist du hier? Schieß los.“

„Was spielst du hier für ein Spiel?“

Sehr diplomatisch ausgedrückt. Als Antwort erhielt ich auch prompt zwei hochgezogene Augenbrauen.

„Was glaubst du denn, was ich für ein Spiel spiele?“

„Keine Ahnung. Was soll das mit Caro genau sein?“

„Eine Beziehung“, antwortete Milo trocken.

„Da gibt es ein paar Leute, die nicht wirklich an die große Liebe glauben“, bemerkte ich.

„Und was denkst du?“, wollte er wissen und sah mir forschend in die Augen.

„Ich denke, dass du seit ein paar Monaten in gewissen Clubs schmerzlich vermisst wirst“, entgegnete ich offen.

Tamilo schnaubte amüsiert. „In gewissen Clubs? Wo zur Hölle hat dich Ben hingeschleppt?“

„Wir haben uns im 136 Grad getroffen.“

Milo nickte verstehend und seine Mundwinkel zuckten. „Na, das geht ja noch. Wer war alles dabei?“, fragte er weiter.

„Till hat mich begleitet und Ben war mit Jonas und Olli dort.“

„Olli“, wiederholte Milo tonlos.

Ein harter Ausdruck erschien auf seinen Gesichtszügen.

„Dann ist ja alles klar. Hat ihm bestimmt Spaß gemacht, meine geheime Vergangenheit auszuplaudern. Und ich wette, er war ganz begeistert von dir.“

Stirnrunzelnd warf ich Milo einen Blick zu. Das Olli und Milo nicht gerade die besten Freunde waren, hatte ich bereits gestern geahnt. Scheinbar waren die beiden sich da einig.

„Was soll das denn heißen?“, fragte ich verwirrt.

Milo zuckte die Schultern. „Nur das, was ich gesagt habe. Ich kenne Olli schon eine Weile und kann seinen Typ ganz gut einschätzen. Du passt genau in sein Beuteschema. Hätte mir klar sein sollen, dass Ben euch einander vorstellt.“

Ich versuchte, mich an irgendeine Situation zu erinnern, die Milos Worte bestätigten. Doch da war nichts gewesen. Jedenfalls hatte ich nichts mitbekommen. Keine Worte, keine Gesten, keine Blicke.

„So ein Blödsinn“, widersprach ich schließlich.

„Du wirst schon noch sehen. Falls ihr euch wiederseht. Also, was hat er erzählt?“
 

Das war doch lächerlich. Olli war derjenige gewesen, der das Gespräch über Milo schnell hatte unterbinden wollen. War nicht er es gewesen, der sich gegen das Getratsche hinter Milos Rücken ausgesprochen hatte?

Als ich Milo genau das erzählte, zuckte der gelangweilt mit den Schultern. Seine Meinung über Olli schien sehr festgefahren zu sein. Doch diese Abneigung beruhte wohl im Allgemeinen auf Gegenseitigkeit.

Ich fragte mich, was zwischen den beiden vorgefallen war.

Ich hatte Olli sofort gemocht und konnte nicht verstehen, wie es jemandem anders ergehen könnte, doch dies hier war vermutlich nicht die passende Gelegenheit, herauszufinden, welches Problem sie miteinander hatten.
 

„Wenn es nicht Olli war, wie zum Geier seid ihr auf mich zu sprechen gekommen?“, fragte Milo kopfschüttelnd, „hattet ihr nichts Besseres zu tun, als mein Verhalten zu interpretieren?“

„Oh, ich habe das Gefühl, dass du von Ben im Vorfeld zum Tabu-Thema erklärt wurdest. Doch dann kam eine theatralische, quirlige Prinzessin, die Ben nicht eingeladen hatte“, grinste ich.

Tamilo hob die Augenbrauen, ehe er ebenfalls grinsend die Augen verdrehte. „Feli?“, vermutete er.

„Genau der.“

„Lass ihn bloß nicht hören, dass du ihn so nennst“, riet er mir schmunzelnd.

„Feli hat dich mit Caro gesehen“, erklärte ich, um langsam zum Punkt zu kommen, „Er war entsetzt. Er dachte, er erzähle seinen Freunden etwas Neues. Und es war für ihn eine völlig absurde Vorstellung, du könntest ein ernstes Interesse an Caro haben. Die Überraschung war natürlich riesengroß, als sich herausstellte, dass Till und ich dich durch Caro kennen. Ich glaube, wir haben damit ein kleines bisschen sein Herz gebrochen. Er vermisst dich anscheinend sehr.“

Milo schob die Augenbrauen zusammen. „Nächste Woche wird seine kleine Welt wegen etwas anderem zusammenbrechen. Er ist und bleibt eine Dramaqueen“, erklärte er lächelnd, doch das Lächeln erreichte seine Augen nicht. Ich meinte Bedauern darin erkennen zu können.

„Seit wann machst du einen auf Oberhete?“, fragte ich provokant, doch als er mich daraufhin wütend anfunkelte schob ich schnell hinterher: „Das sind nicht meine Worte. Das war quasi ein Zitat.“

„Es ist mir scheißegal, wessen Worte das sind. Ich mag Caro und ich denke nicht, dass ich meine Beziehung zu ihr irgendwie rechtfertigen muss. Nicht vor Feli, nicht vor Ben und auch nicht vor dir.“

„Nein, das musst du nicht“, stimmte ich ihm zu, „Letzten Endes musst du sie nur vor dir selbst rechtfertigen. Wenn du davon überzeugt bist, dass es das ist, was du willst, ist ja alles in bester Ordnung.“

Mich nervte der bittere Klang in meiner Stimme und auch Tamilo entließ genervt die Luft aus seiner Lunge.

„Verdammt, Nik. Was willst du von mir?“
 

Ich wollte so einiges von Tamilo, was ich nicht in Worte fassen konnte und wollte. Ich wollte Gewissheit, dass ich mir das Ganze nicht nur einbildete. Ich wollte, dass die Wärme in Tamilos Blick häufiger zu finden war, dass er sie nicht irgendwo verschloss, wo ich keinen Zugriff darauf hatte. Ich wollte mir diese Spannung, die zwischen uns herrschte, nicht einfach nur einbilden. Ich wollte, dass Tamilo ehrlich zu mir war. Ich wollte, dass er sich von Caro trennte.

Ich wollte ihn berühren dürfen.

Nicht nur seinen Körper.

In erster Linie wollte ich sein Herz.

Ihn.
 

Ich konnte nicht sagen, wie viele meiner Wünsche er aus meinem Blick hatte lesen können, doch er wich meinem Blick aus. Milo schwieg und presste seine Lippen aufeinander.

Er hatte genug verstanden. Zumindest ahnte er wohl, was er in mir auslöste.

Dass Tamilo sich weigerte, den Augenkontakt zu mir wiederherzustellen, half mir, auf seine Frage zu antworten. Wenn auch nicht in dem Maße, wie meine Gedanken es gern gehabt hätten.
 

„Ich will es einfach nur verstehen. Ich will dich verstehen. Ich wüsste gern, was geschehen ist, dass du deine alten Freunde von jetzt auf gleich so hängen lässt. Das waren sie doch, oder? Deine Freunde. Menschen, die sich, wie ich, fragen, was geschehen ist. Die sich Sorgen um dich machen. Sie wissen vermutlich um einiges mehr von dir, als ich und trotzdem sind sie ratlos. Du hättest Feli mal sehen sollen. Vielleicht ist er eine Dramaqueen. Aber du fehlst ihm. Und vermutlich einigen anderen ebenfalls.“

„Es sollte reichen, wenn ich es verstehe“, entgegnete Milo nun sanfter, den Blick noch immer auf den Boden geheftet. „Ich könnte versuchen, es dir zu erklären, doch ich denke nicht, dass du es nachvollziehen könntest. Vermutlich würdest du mich für meine Beweggründe noch mehr verurteilen, als du es ohnehin schon tust.“
 

„Probier es doch. Ich würde gerne versuchen, es zu verstehen.“

Nun saß ich hier und bettelte Milo förmlich an, mir von seinem Leben zu erzählen. Wie erbärmlich war ich eigentlich? Ich hätte einfach zu Hause bleiben sollen.
 

„Eigentlich sollte ich dich einfach wieder vor die Tür setzen“, schnaubte Milo.

Dieser Satz klang so sehr nach einem aber, dass ich ihn einfach erwartungsvoll ansah.

Milo seufzte. „Meine Erklärung wird dir nicht viel weiterhelfen. Ich habe auch ehrlich meine Zweifel daran, dass du es nachvollziehen kannst“, fuhr er mit einem bitteren Klang in der Stimme fort.

„Wieso?“

Milo sah mich ernst an.

„Nimm mir das jetzt bitte nicht übel, aber du studierst BWL, weil dir nichts Besseres eingefallen ist.“

Ich musste schlucken. Ich wusste das ja selbst und hatte auch keine Probleme damit, das selbst auch genauso zu sagen, doch irgendwie traf mich diese schlichte Feststellung dennoch. Tamilo schien mir das auch anzusehen.

„Das war nicht böse gemeint. Wirklich nicht. Es ist okay, aber auf mich trifft das einfach nicht zu. Ich will dieses Studium unbedingt. Ich will Lehrer werden. Ich hatte es echt nicht leicht, diesen Berufswunsch zuhause durchzusetzen. Das war seit langer Zeit der einzige ernsthafte Streitpunkt zwischen mir und meiner Mutter. Wir haben uns immer wunderbar verstanden, bis ich mit dieser Idee nach Hause kam. Meine Eltern, vor allem aber meine Mutter, hatte wohl andere Pläne für mich. Wenn es nach ihr gegangen wäre, würde ich wohl dieselben Vorlesungen besuchen, wie du, oder Architektur studieren. Ich habe mich durchsetzen können, doch meine Mutter wird wohl nie stolz von dem tollen Beruf ihres Sohnes schwärmen. Aber damit kann ich leben.“
 

Ich lauschte seiner Erzählung, ohne zu ahnen, wie das alles mit seiner jetzigen Situation zusammenhing. Doch ich hatte Angst, dass er seine Meinung doch noch ändern würde, wenn ich es nun wagte ihn zu unterbrechen. Also wartete ich einfach darauf, dass er fortfuhr.
 

„Abgesehen davon war unser Verhältnis jedoch immer gut. Für mich war meine Mutter immer sehr wichtig und unsere Bindung war seit jeher enger, als die zu meinem Vater. Trotzdem hielt ich Teile meines Lebens vor ihr und dem Rest meiner Familie geheim. Ich hatte nie einen Grund, das zu ändern. Und meine Eltern haben es mir ermöglicht, eine eigene Wohnung zu beziehen. Damit hatte ich erst Recht keinen Grund, ihnen zu erzählen, wen ich wann mit nach Hause nahm.“ Milo stoppte erneut, sah mich nachdenklich an und grub seine Zähne in die Unterlippe.

Zu Beginn seiner Erzählung hatte er noch recht locker gewirkt, doch nun hatte sich ein trauriger Ausdruck in seinen Augen breit gemacht.

Ich wollte ihn in den Arm nehmen, irgendetwas tun, damit dieser Ausdruck wieder verschwand, doch bevor dieser Wunsch übermächtig wurde und ich tatsächlich so etwas tat, wandte er sich ab und schenkte uns beiden ein Glas Wasser ein.

Ich atmete auf. Immerhin war dies keine Rauswurfsgeste.

Nachdem er einen Schluck getrunken hatte, lehnte er sich zurück und zog seine Füße aufs Sofa, sah mich aber nicht wieder an.

„Dann lernte ich jemanden kennen, den ich nicht einfach so mit nach Hause nahm und von dem ich dachte, dass er es wert wäre, mit der Heimlichtuerei aufzuhören. Wir hatten anfangs ein paar Meinungsverschiedenheiten, doch als die geklärt waren, schien alles zu passen und ich habe meiner Mutter davon erzählt.

Milos Blick war in die Ferne gerichtet und ich wusste, dass er mit seinen Gedanken gerade bei eben dieser Unterhaltung war.

„Wie hat sie reagiert?“, hakte ich leise nach und vermutete, dass genau hier das Problem lag.

Tamilo stieß ein bitteres, freudloses Lachen aus.

„Ein Sohn, der mit Männern mehr anfangen kann, als mit Frauen befand sich auf ihrer Rangliste wohl deutlich unter einem Sohn, der einen Beruf anstrebt, dessen Karriereleiter beschränkt ist. Ich glaube, zum ersten Mal in meinem Leben habe ich sie wirklich schockiert. Sie hat mich rausgeworfen an diesem Abend, wollte einfach nichts mehr hören.“

„Deine Mutter?“, fragte ich ungläubig, „aber sie ist doch so…“

„Offen, warmherzig, freundlich...?“, schlug Tamilo lächelnd vor.

Ich nickte zögerlich.

„Ja, all das kann sie sein, wenn ihre missratene Brut es sich nicht wagt, ihre Pläne zu durchkreuzen.“

„Und dein Vater?“

Ich konnte nicht glauben, was ich hörte.

„Dem habe ich es gar nicht erst erzählt. Meine Mutter kam am nächsten Tag hierher. Sie hat mich gefragt, in welchem Moment meiner Kindheit sie so versagt hat. Warum ich sie dieser Peinlichkeit aussetze. Es hagelte einige Vorwürfe. Erst richtete sie sie gegen mich, dann gegen sich selbst, gegen meinen Vater, gegen meine Freunde, gegen die Stadt und die ganze Welt. Und ich stand nur da und hörte mir das alles an.“
 

Bestürzt schüttelte ich den Kopf. Tamilo erzählte mir von einer Frau, deren Gesicht ich mir absolut nicht vorstellen konnte, weil es nicht zu dem Bild passen wollte, das ich bisher von seiner Mutter gehabt hatte. Nie hatte ich erlebt, dass auch nur ein böses Wort ihren Mund verlassen hatte.

„Und deswegen…?“

Tamilo schüttelte langsam den Kopf, zog seine Beine an die Brust und schlang die Arme um sie.

„Sie hat deutlich gemacht, dass meine Eltern mir das hier nicht finanzierten, damit ich irgendwelchen Perversitäten nachgehen könne. Ich sollte doch mehr Dankbarkeit zeigen, anstatt ihre Großzügigkeit auch noch mit Füßen zu treten. Sie hätten schließlich bereits ein großes Opfer gebracht, als sie mir gestatteten, meinem absurden Traum nachzujagen, Lehrer zu werden. Bevor sie ging, hat sie mich vor die Wahl gestellt.

Entweder, ich entsage diesem widerwärtigen Lebenswandel, oder sie würde mir jegliche finanzielle Unterstützung entziehen. Das hätte bedeutet, dass ich mein Studium hätte aufgeben müssen, um mein Leben weiterzuführen, wie ich es bisher hatte. Und ich habe tatsächlich darüber nachgedacht, es zu tun. Ich war kurz davor, meinen Traum aufzugeben.“

Tamilo verzog verächtlich das Gesicht und schüttelte abermals seinen Kopf.

„Was hat dich davon abgehalten?“, fragte ich vorsichtig.

Milos Gesicht wirkte verschlossen, als er meinen Blick erwiderte und antwortete: „Die Vernunft. Vernunft und vor allem die Erkenntnis, dass dieses Opfer von niemandem gewürdigt worden wäre. Mir wurde klar, dass man niemandem auf der Welt vertrauen kann. Der eigenen Familie nicht und Männern im Allgemeinen schon gar nicht. Das wurde mir äußerst eindrucksvoll bewiesen… jedenfalls stand ich plötzlich relativ allein da und wusste nicht, wofür ich das alles tun sollte. Mich persönlich hätte das nicht weitergebracht. In ein paar Jahren kann mir niemand mehr etwas wegnehmen und ich kann dann immer noch machen, was ich will, ohne dadurch meine berufliche Zukunft zu gefährden. Es sieht ganz so aus, als würde das sogar deutlich früher klappen. Aber irgendein Opfer musste ich bringen… und ich habe mich für das entschieden, welches mir zu diesem Zeitpunkt als das Geringere erschien.“

„Aber denkst du nicht, dass es auch andere Wege gibt? Irgendeinen Weg, ohne dass du dich selbst dabei verrätst? Wofür gibt es denn Studienbeihilfe und Wohngelder?“

Es konnte doch nicht so schwer sein, dass Tamilo sich zu solch einem drastischen Schritt gezwungen sah.
 

„Glaub mir, ich habe auch darüber nachgedacht. Du kannst mir keine Frage stellen, die ich mir nicht bereits selbst gestellt habe“, erwiderte Milo resigniert. „Und diese Gelder gibt es zwar, aber für Familienstreitigkeiten fühlen die sich nicht wirklich zuständig. Es wäre alles kein Problem, wenn meine Eltern kein Geld hätten. Alles, was die sehen, ist, dass ich eine eigene Wohnung habe, die größer ist, als es nötig wäre, obwohl meine Eltern hier in Hamburg wohnen und ich problemlos auch bei ihnen wohnen könnte. Außerdem haben meine Eltern ja die Mittel, mich zu unterstützen. Egal, mit wem ich gesprochen habe, mir wurde geraten, mich noch einmal mit meinen Eltern zusammenzusetzen und gemeinsam einen Weg zu finden. Weiter konnte mir niemand helfen. Denn Vorrang haben die Studenten, deren Eltern es zwar gerne täten, die ihre Kinder jedoch finanziell nicht unterstützen können. Und erstreiten will ich mir ihre Unterstützung nicht. Ganz davon abgesehen, dass das viel zu lange dauern würde, bis alles durch ist, will ich diesen Stress nicht haben. Außerdem verdanke ich meinen Eltern, trotz dieser Situation zu viel. Bisher haben sie mein Studium bezahlt und diese Wohnung hier. Das einzige, wofür ich arbeiten musste, war mein Auto und um am Wochenende etwas unternehmen zu können. Und ich bin sehr dankbar für das alles.“, sagte er nachdrücklich.

„Allein das Semester in Kanada war unbeschreiblich teuer. Ein einziges Semester dort kostete so viel, wie das gesamte Studium hier in Deutschland und da sind die Flüge, die Krankenversicherung und die Unterhaltskosten nicht einmal berücksichtigt. Meine Eltern haben all das gezahlt, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Ich kann ihnen dafür jetzt nicht dermaßen in den Rücken fallen.“

„Und wo bleibst du bei der ganzen Sache?“, fragte ich verständnislos nach.

Milo warf mir einen nachdenklichen Blick zu.

„Bevor ich abgeflogen bin, hatte ich noch einen Plan. Ich habe mein Auto verkauft und dachte, mir würde in Kanada noch immer ein Weg einfallen, wie ich das alles alleine schaffen könnte. Aber ein Großteil des Geldes ist bereits in Calgary geblieben. Man kann so viel rechnen, wie man will. Kanada ist immer noch unglaublich teuer. Und da ich meine Eltern nicht um noch mehr Geld bitten wollte, bin ich an meine Ersparnisse gegangen. Die Zeit in Calgary verging wie im Flug, aber finanziell gesehen, können sechs Monate eine verdammt lange Zeit sein.“

„Aber die Studiengebühren fallen doch Ende 2012 weg.“

Für diesen geistreichen Einwurf erntete ich ein müdes Lächeln.

„Ja“, nickte Milo, „und wenn das so eintrifft, ist das eine wunderbare Sache. Doch das ist noch 20 Monate hin. Halt, es sind nur noch 19. Und egal, ob ich es will oder nicht, einige Monate davon bleibe ich weiterhin von meinen Eltern abhängig. Du kannst dir nicht vorstellen, wie oft ich das alles durchrechne. Alles im Leben hat einen Preis, Dominik. Und dies hier ist der, den ich zu zahlen habe.“
 

„Diesen Preis zahlst aber nicht nur du“, sagte ich vorwurfsvoll, woraufhin Milo mich fragend ansah.

„Nimm Caroline zum Beispiel. Du benutzt sie, um deine Mutter ruhig zu stellen“, warf ich ihm vor.

Ich konnte kaum glauben, dass ich Caro gerade in Schutz nahm, doch die gesamte Situation erschien mir so unfair. Und egal, was ich von ihr hielt, solch eine Behandlung verdiente niemand. Auch Caro nicht, der ich so einiges an den Hals gewünscht hätte.

Zu meiner Überraschung begann Tamilo zu lachen.

Dieses Mal war es an mir, ihn fragend anzusehen.

„Caro wäre sicherlich gerührt, dass ausgerechnet du dich für sie einsetzt. Ja, Caro und ich führen eine Art Beziehung und ich weiß auch, dass sie in diese Beziehung mehr Gefühle investiert, als ich es jemals tun werde. Aber glaub mir, das weiß sie. Und davon gehe ich nicht nur aus, weil es so bequemer wäre, ich weiß es, denn wir haben darüber gesprochen. Nicht nur einmal. Es gibt Einiges, was ich Caro nicht erzählt habe. Dazu gehört vor allem meine Vergangenheit in gewissen Clubs. Aber auf emotionaler Ebene habe ich ihr niemals etwas vorgemacht. Ehrlich gesagt, habe ich schon oft darüber nachgedacht, das ganze um ihretwillen zu beenden.“

Verwirrt blinzelte ich Milo an. Ich war mir nicht sicher, ob ich dankbar dafür sein sollte, dass er mir tatsächlich jede meiner Fragen so offen beantwortete, oder ob ich über die Inhalte seiner Antworten entsetzt sein sollte.

„Warum tust du es nicht?“

„Weil auch das nicht allein meine Entscheidung ist. Sie sagt, sie kommt damit klar und solange ich nicht das Gefühl habe, dass sie unter der jetzigen Situation leidet, sehe ich keinen Grund dafür, es zu beenden. Mag sein, dass du das als gefühllos empfindest, aber Caro ist erwachsen. In erster Linie muss sie selbst wissen, was sie tut. Ich habe das alles nicht geplant, falls es das ist, was du denkst. Es ist einfach passiert. Ich habe sie kennengelernt und es hat sich zu dem entwickelt, was es jetzt ist.

Und ob du es glaubst, oder nicht, ich mag Caro und ich verbringe gerne meine Zeit mit ihr. Vielleicht ist es nicht unbedingt die pure Erfüllung für mich, aber hin und wieder ist es… hilfreich.“
 

Zum ersten Mal griff ich nach dem Wasserglas. Wenn auch eher aus dem Grund, mich irgendwo festzuhalten. Irgendetwas zu tun, um nicht laut aufzuschreien. Damit hatte ich nicht gerechnet. So offensichtlich, wie es war, dass Caro in Milo verliebt war, hätte ich nicht gedacht, dass die beiden verhältnismäßig offen über dieses Thema gesprochen hatten. Abgesehen davon, dass Milo sie, was die Gründe dafür anbelangte, scheinbar im Dunkeln tappen ließ. Im Endeffekt unterschied sich die Beziehung der beiden kaum von der, die Leonie und ich hatten. Mit dem kleinen, unwesentlichen Unterschied, dass ich entschlossen hatte, diese Beziehung zu beenden, sobald ich es erkannt hatte, anstatt sie mit diesem Wissen zu beginnen.
 

Was Milo mit hilfreich meinte, war mir klar und ich schob die Gedanken daran, wie Caros Hilfe aussehen mochte, so weit von mir, wie ich es nur konnte. Irgendwie störte mich das mehr, als das Wissen, dass Tamilo vor Monaten einmal oder vielleicht auch mehrmals mit Ben geschlafen hatte.

Denn Caro war jetzt.
 

„Aber allein, wie sie dich ansieht… es ist so offensichtlich, dass sie…“

„Ich weiß“, unterbrach mich Milo und sah mich ernst an, „ich bin weder blind, noch blöd. Aber wie gesagt, Caro ist ein großes Mädchen. Und dass sie nicht einmal halb so unschuldig ist, wie sie aussieht, muss ich dir wohl kaum sagen.“
 

„Als ich dir das mit Caro erzählt habe, schien es nicht gerade so, als würde dir das nichts ausmachen“, warf ich verwirrt ein.

„Das stimmt ja auch“, gab Milo zu, „aber ich habe auch deutlich gesagt, was mich gestört hat. Ich war in diesem Moment weniger auf Caro wütend, als auf euch. Ich habe mich etwas verarscht und vorgeführt gefühlt. Gut, Caro hätte das umgehen können, indem sie mir die Geschichte selbst erzählt, aber ich kann von ihr nicht erwarten, dass sie mir ihre gesamte Lebensgeschichte erzählt, wenn ich selbst so vieles vor ihr verberge. Auch die Vorwürfe euch gegenüber waren nicht wirklich fair. Ich habe in dem Moment nicht großartig nachgedacht.“
 

In Gedanken war ich längst bei dem, was direkt im Anschluss an besagtes Gespräch vorgefallen war und auch Tamilo wirkte nun etwas verlegen, als er meinem Blick auswich.
 

Ohne darüber nachzudenken und ohne wirkliche Erwartungen war ich hier her gefahren und obwohl er mich erst hatte abweisen wollen, hatte mir Milo auf alle meine Fragen geantwortet, hatte mir Dinge erzählt, über die er bisher wohl mit kaum jemanden gesprochen hatte.
 

„Du hättest mich einfach wegschicken können. Aber das hast du nicht getan… wieso hast du mir das alles erzählt?“

Milo antwortete nicht sofort. Nachdem er mich eine Weile angesehen hatte, sagte er leise: „Du sagtest, du willst es verstehen… und das wollte ich auch. Ich will, dass du es verstehst.“

„Ich glaube, ich verstehe deine Gründe, aber willst du das wirklich weiter so durchziehen? Das ist doch scheiße!“, fluchte ich und erhob mich.

Völlig durcheinander lief ich durch sein Wohnzimmer.

Verstand ich ihn wirklich? Ein wenig schaffte ich es, mich ein wenig in ihn hineinzuversetzen.

Ich wollte mir gar nicht vorstellen, wie es sein musste, wenn die eigene Mutter einen als Enttäuschung empfand und damit drohte, ihre komplette Unterstützung zu entziehen. War es das, was mir irgendwann ebenfalls blühte?

Wie würde meine Mutter reagieren? Wie weit könnte meine Mutter mich treiben? Würde ich genauso handeln? Meine Gefühle und mein Leben für eine bestimmte Zeit einfach wegsperren? Tamilo konnte doch nicht so dumm sein.

An einem der Wohnzimmerfenster kam ich schließlich zum Stehen und starrte hinaus auf die Straße. Draußen war es inzwischen dunkel.
 

Wieder einmal stand ich mit Tamilo im Rücken und sah in die Dunkelheit. Diese Situation kam mir sehr bekannt vor, obwohl sich in der Zwischenzeit vor allem für mich, so vieles verändert hatte.
 

„Du hast mich geküsst.“

Hinter mir atmete Milo hörbar aus.

„Bitte mach die Sache nicht größer, als sie ist“, bat er leise.

Dieser eine Satz brachte irgendetwas in mir zum Brodeln. Ich presste meine Lippen zusammen, ehe ich zu ihm herumfuhr.

„Größer, als sie ist?“, platzte es wütend aus mir hervor, „Denkst du, ich bin zum Spaß hier?“

Milos Augen weiteten sich. Mein plötzlicher Stimmungswandel schien ihn völlig unvorbereitet zu treffen.

„Ich kann das alles nicht einfach abhaken und ignorieren. Ich habe es versucht. Für mich ist das groß, Milo. Es ist so gigantisch, dass ich nicht weiß wohin mit allem.“

Betroffen sah mich Milo an. „Nik… bitte…“, setzte er an, doch ich schnitt ihm das Wort ab.

„Jetzt bin ich dran. Ich habe dir den ganzen Abend zugehört. Jetzt hörst du zu! Vor ein paar Wochen noch war alles in Ordnung. Ich war zufrieden. Ich war zufrieden mit meiner Beziehung, mit meinem Leben, mit mir, mit allem.“

Ich drehte mich wieder zum Fenster. Ich wollte und konnte, dieses Flehen in Milos Augen nicht sehen.

Haltsuchend griff ich nach dem Fensterbrett und bemerkte erst in diesem Moment das Zittern, das meinen Körper durchlief.

„Es war alles okay. Und dann tauchst du auf und brauchst nicht einmal eine Woche, um mir klar zu machen, dass ich da völlig falsch lag. Plötzlich genügt mir alles nicht mehr. Wegen dir steht mein ganzes Leben auf dem Kopf. Ich hab ehrlich versucht, dir aus dem Weg zu gehen und dann stehst du plötzlich vor meiner Haustür. Und dieser verdammte Kuss“, fluchte ich, „Als ob es den noch gebraucht hätte. Scheiße, ich werde noch wahnsinnig. Du machst mich echt wahnsinnig.“

„Nik…“, flüsterte Milo dicht hinter mir und legte eine Hand auf meine Schulter. Diese unerwartete Berührung schickte Schauer meinen Rücken hinab. Ich hatte nicht einmal mitbekommen, dass er aufgestanden war.

„Wenn du wüsstest, wie sehr ich dich um deinen Mut bewundere, einfach vor meiner Tür zu stehen…“, flüsterte er und brachte mich dazu, ein spöttisches Schnauben auszustoßen.

„Mit Mut hat das nicht viel zu tun. Ich würde eher von Unzurechnungsfähigkeit sprechen. Wenn ich darüber nachgedacht hätte, wäre ich jetzt bestimmt nicht hier. Ich habe mich einfach ins Auto gesetzt und bin losgefahren.“
 

Noch immer lag Milos Hand warm auf mir. Ich wollte sie von mir abschütteln und mich gleichzeitig an diesen Kontakt festklammern, mich dagegen lehnen und ihn nie wieder lösen.

„Nik, es tut mir leid“, sagte Milo leise.

„Mir auch“, antwortete ich, „Ich hätte nicht kommen sollen.“

Ich konnte nicht glauben, was ich ihm gerade alles gesagt hatte. Und ich konnte nichts davon zurück nehmen. Diese Worte hingen schwer zwischen uns.

„Das stimmt nicht“, widersprach Milo und verstärkte dabei den Druck auf meine Schulter. Dann legte er seine Stirn auf meiner anderen Schulter ab und sein Atem, der mein T-Shirt durchdrang und auf mein Schulterblatt traf, stellte meine Beherrschung auf eine harte Probe. „Ich bin froh, dass du das getan hast.“

„Aber es ändert nichts, oder?“, fragte ich ihn leise.

„Doch, das tut es“, murmelte er und mein Herz schlug augenblicklich einige Takte schneller.

Milos Hand glitt von meiner Schulter. Er umschloss nun mit beiden Armen meinen Brustkorb, zog mich fest an sich und meine Hände legten sich ohne mein bewusstes Zutun auf sie, um Milo daran zu hindern, sich wieder zurückzuziehen. Eine Weile standen wir schweigend so da. Die hoffnungsvolle Erwartung, die Milo durch diese letzten Worte und seine Umarmung ausgelöst hatte, verhinderte, dass sich mein Herzschlag wieder beruhigte. Er musste das spüren können, denn seine Hand lag direkt über meinem wild schlagenden Herz.

„Es wird alles noch viel komplizierter“, raunte Milo.

Mein Blick ruhte auf unserem Spiegelbild, das im Fenster entstand. Dieses Bild wirkte auf mich so unwirklich, dass ich nicht einmal wagte zu blinzeln, als würde es verschwinden, wenn ich es täte.

Gleichzeitig war dieser Anblick so vollkommen, als wären unsere Körper für nichts anderes geschaffen, als sich so aneinander festzuhalten. Was zur Hölle war denn daran bitte kompliziert?

Es war so unglaublich simpel. Ich glaubte, in Milos Wärme, seinen Geruch und in diese Nähe zwischen uns hineinkriechen zu können. Und wer sollte mich daran hindern?
 

Ich spürte Milos Blick mehr, als dass ich ihn sah und auch als meine Augen seine in der Spiegelung des Fensters suchten, konnte ich seinen Blick nur erahnen. Das reichte mir nicht.

Ich wandte meinen Kopf zur Seite, sah Milo direkt an und sofort lockerte er seinen Griff um meinen Oberkörper, gab mir damit den Raum, mich zu ihm umzudrehen. Wir standen noch immer dicht beieinander und in unserem Blick spürte ich eine Intimität, die mir bisher völlig fremd war.

Milos Hand fand ihren Weg in meinen Nacken und Sekundenbruchteile später tat ich es ihm gleich und zog ihn entschlossen an mich.

Ein Seufzen, dessen Ursprung ich nicht bestimmen konnte, erklang, als unsere Lippen aufeinandertrafen und zu einem Kuss verschmolzen. Diesem Kuss, der so verdammt überfällig war.

Wenn spontane Selbstentzündung möglich gewesen wäre, so wäre mir vermutlich genau das passiert. Jedenfalls muss es sich so anfühlen. Der Zeitpunkt, an dem es mir möglich gewesen wäre, gegen meine Gefühle anzukämpfen, war längst überschritten.
 

Als hätte es diesen je gegeben.

Viel zu richtig fühlte sich Milos Mund auf meinem an. Viel zu sehr löste dieser Kuss einen Sturm in mir aus, der mit absolut nichts zu vergleichen war, was ich bisher erlebt hatte.

In unserem Kuss war nichts von der Vorsicht zu spüren, die damals in meinem Zimmer in der flüchtigen Begegnung unserer Lippen lag.

Diese Scheu hatten wir irgendwann in den letzten Minuten verloren und nun trafen unsere Lippen wieder und wieder hungrig aufeinander.

Erst als Milos Zungenspitze über meine Lippen strich, verlor sich das Tempo ein wenig. Doch ich zögerte keine Sekunde, seiner Zunge mit meiner entgegen zu kommen. Nie hatte ich einen Kuss so sehr gespürt, wie diesen. Milo so riechen, schmecken und fühlen zu können, raubte mir beinahe den Verstand. Ich wollte ihn noch näher ziehen, was schlicht unmöglich war, denn schon jetzt spürte ich Tamilos Körper überall an mir. Spürte alles. Vor allem, dass ihn dieser Kuss ebenso erregte wie mich.

Raum- und Zeitgefühl waren mir völlig abhanden gegangen. Milo hatte beides mühelos weggewischt. Eine andere Erklärung hatte ich nicht dafür, dass ich plötzlich die Sofakante in meiner Kniekehle spüren konnte, obwohl es mir irgendwie entgangen war, dass wir uns überhaupt darauf zubewegt hatten.

War mir die ganze Situation eben noch unwirklich vorgekommen, riss mich diese Berührung wieder zurück in die Realität.

Dies hier passierte tatsächlich. Milo hatte mich sehr geschickt zu seiner Couch dirigiert. Ich wäre dazu wohl auch in meinem eigenen Zimmer nicht mehr in der Lage gewesen. Doch mit ziemlicher Sicherheit war ich bei weitem nicht der erste Kerl, den er mit dieser sanften Bestimmtheit in die Horizontale beförderte.

Mit einer geschmeidigen Bewegung glitt er über mich und küsste mich erneut.

Und obwohl mein Körper jeden einzelnen seiner Küsse und seine Person über mir mehr als begrüßte, hatte mein Denken zumindest ein Stück weit wieder eingesetzt. Auch, wenn Milos Hand, die fest über meine Seite strich, ihr bestes tat, diesen Zustand wieder zu vernichten, dämmerte es mir, dass wir gerade ein wenig über das Ziel hinausschossen.

Ich schob mich unter ihm ein wenig höher auf die Couch und stoppte Milo nachdrücklich, als er dieser Bewegung augenblicklich folgen wollte.
 

Mit diesem Widerstand schien er nicht gerechnet zu haben. Sofort hielt er inne und wir sahen uns zum ersten Mal wieder direkt in die Augen. Verwirrt blinzelte er und diese Lust in seinen Augen zu sehen, zu wissen, dass ich sie heraufbeschworen hatte, ließ mich ihn beinahe wieder an mich ziehen, als hätte es diese Unterbrechung nie gegeben. Doch auch Milo schien langsam wieder zur Besinnung zu kommen. Unsere Atmung hinkte dem ein wenig hinterher. Von ruhigen und beherrschten Atemzügen war völlige Fehlanzeige.
 

Noch immer befand sich Milo über mir. Die Arme neben meinem Körper in das Sofa gestemmt. Seine Knie hatten zwischen und neben meinen Beinen Platz gefunden und meine rechte Hand lag weiterhin auf seiner Brust. Nun allerdings, ohne Druck gegen sie auszuüben, der ihn daran hinderte, seinen Körper wieder auf meinen sinken zu lassen. Um diesen Gegendruck auszuüben, war der eigentliche Wunsch, ihn wieder an mich zu ziehen, viel zu groß.

Doch keiner von uns regte sich. Wir schienen in dieser Situation zu schweben. Keiner von uns wagte einen erneuten Vorstoß, oder war bereit, auch nur einen weiteren Millimeter zurückzuweichen.

Milos Blick wurde zusehends ungläubiger. Frustration und Erleichterung wallten gleichzeitig in mir auf, als Milo sich verlegen räusperte und sich nun doch kopfschüttelnd aufrichtete.

Ich bewegte mich nicht, setzte mich nicht auf, denn das hätte ich nicht zustande gebracht. Ich hätte nicht garantieren können, mich in diesem Fall ebenso auf Milo zu stürzen, wie er es gerade noch bei mir getan hatte. Und das wäre eher kontraproduktiv gewesen, war ich es doch gerade gewesen, der das Ganze hier unterbrochen hatte.

Innerlich klopfte ich mir dafür stolz auf die Schulter und verfluchte mich gleichermaßen.

Mühevoll unterdrückte ich den Drang, Milos ungläubiges Kopfschütteln zu kopieren und lag einfach wie versteinert auf diesem Sofa.

Milo war, wie kein Mensch vor ihm, in der Lage, meine Gefühle und Gedanken in eine dermaßen hohe Widersprüchlichkeit zu stürzen, dass das Ausmaß vermutlich jeden Psychologen beeindruckt hätte.

Gab es dafür einen Namen?

Waren das die Symptome irgendeiner beschissenen Krankheit?

Miloismus? Milophilie?

Das Einzige, was ich wusste, war, dass Milo der verdammte Auslöser dafür war.

Wer hätte gedacht, dass ich ein Wort wie bezaubernd jemals mit einem erwachsenen Mann in Verbindung bringen würde?

Doch es war das Erste, was mir durch den Kopf schoss, als Milo verlegen auf seine Unterlippe biss und mich entschuldigend ansah. Ihn so über meinem Bein knien zu sehen, völlig erschrocken von seinem eigenen Handeln, trieb meinen inneren Zwiespalt auf eine neue Ebene.

Gab es hier überhaupt eine Grenze nach oben? Jedes Mal, wenn ich glaubte, sie erreicht zu haben, sprengte dieser Kerl sie erneut.

Sollte ich über ihn herfallen? Seinen Versuch verhindern, sich körperlich und emotional wieder zurückzuziehen und alles zu leugnen, was so offensichtlich zwischen uns war?

Oder sollte ich die Chance ergreifen, Reißaus zu nehmen, vor ihm und seiner Wirkung auf mich und auf mein Leben?

War Milo sich nicht darüber im Klaren, welchen Drahtseilakt er gerade vollführte? Dass er mit meinen Instinkten spielen könnte, wie mit einer leblosen Marionette? Hoffentlich nicht.
 

Erneut räusperte sich Milo.

„Ich… sorry, das… eigentlich sollte das nicht passieren… ich habe gerade irgendwie… scheiße, ich wollte nicht… entschuldige…“, stammelte er hilflos zusammenhangslose Wortfetzen und tat dann dass einzig Richtige. Er hielt wieder die Klappe und sah mich unsicher an. Die Unterlippe verschwand wieder zwischen seinen Zähnen.

Seine Worte konnte ich interpretieren, wie ich wollte.

Was wollte Tamilo nicht?

Aufhören? Mich küssen? Die Kontrolle verlieren?

Vermutlich Letzteres. Doch was sollte ich darauf antworten?

‚Schon okay‘? ‚Nicht schlimm, mach ruhig weiter‘?

Sicherlich hätte er genau das getan, hätte ich ihn nicht aufgehalten.
 

„Ich nehme mal nicht an, dass wir einfach ignorieren können, was da eben war?“, murmelte Milo leise.

Entgeistert starrte ich ihn an. Das war wohl Antwort genug für ihn.

„Dachte ich mir“, seufzte er und ließ seinen Blick durch das Zimmer gleiten, bis er schließlich auf dem Panorama über uns hängen blieb. Nun stemmte auch ich mich wieder in eine sitzende Position.
 

Dass Milo noch immer über einem meiner Beine kniete und meine Bewegungsfreiheit damit deutlich einschränkte, war ihm vermutlich gerade nicht wirklich bewusst und ich würde einen Teufel tun, ihn darauf aufmerksam zu machen.

„Willst du das denn?“, griff ich seine Frage wieder auf, während seine Augen über die einzelnen Gebäude Calgarys huschten. Ich hingegen konnte meinen Blick nicht von seinem Profil lösen.

Mir entging also sein Schlucken auf diese Frage nicht.

„Du solltest mich jetzt echt nicht fragen, was ich will… ich versuche gerade wieder etwas klarer zu denken“, erwiderte Milo mit einem grimmigen Lächeln auf den Lippen, ohne mich anzusehen.
 

Zögerlich streckte ich meine Hand nach ihm aus und strich mit meinen Fingerspitzen über seine Seite.

Er zuckte etwas zusammen, wich vor dieser Berührung aber nicht zurück.

„Gerade in diesem Moment würde ich es gerne wissen“, raunte ich.

„Nein, das möchtest du nicht“, sagte Milo und schüttelte den Kopf.

„Milo...“, setzte ich an und war bereit, eine Nein-Doch-Diskussion loszutreten, wenn ich dadurch eine Antwort von ihm provozieren konnte.

Milo ersparte uns dieses infantile Verhalten. Sein Kopf schoss zu mir herum und unter seinem intensiven Blick, der mir durch Mark und Bein ging, stellten sich mir augenblicklich sämtliche Nackenhaare auf.

„Du willst wissen, was ich will? Gerade in diesem Moment will ich mit dir schlafen, Dominik.“

Meine Augen weiteten sich und völlig erstarrt, sah ich ihn einfach nur an.

„Gerade in diesem Moment würde ich nichts lieber tun, als dich in mein Bett zu zerren und dort Dinge mit dir anzustellen, die du dich bisher vermutlich nicht einmal getraut hast, dir vorzustellen.“

Diese Worte rauschten durch meinen Schädel und ich spürte, wie ich rot anlief.

War ich in meinem Leben jemals so heftig errötet? Mein Kopf fühlte sich an, als würde er jeden Moment in Flammen aufgehen. Wie war das noch gleich mit der spontanen Selbstentzündung?

Meine andauernde Sprachlosigkeit nahm Milo mit einem spöttischen Lächeln zur Kenntnis.

„War das zu offen für dich, Dominik?“, fragte er und erhob sich, trat ein paar Schritte vom Sofa zurück.

„Wir wissen beide, dass so etwas nicht passieren wird. Das wäre so ziemlich das beschissenste was hier heute noch geschehen könnte. Und ich bezweifle ganz stark, dass du das überhaupt willst. Aber ich sage es einmal ganz offen. Nur für dich. Ich bin schwul. Und ich stehe gerade ein klein wenig unter Stress. Mach bitte nicht den Fehler und unterschätze meine Beherrschung.“
 

„Ehm… ich…“, stammelte ich, überrascht von Milos plötzlichem Ausbruch. Mein Kopf war total leergefegt.

„Du solltest gehen“, sagte Milo mit fester Stimme.

Völlig perplex konnte ich nur nicken.

„Jetzt!“, fügte Milo hinzu, als ich seinem klar formulierten Rausschmiss nicht sofort Folge leistete.

Die erste winzige Bewegung meines Fußes ließ mich aufzischen.

„Ehm…“

Ich erntete einen auffordernden Blick von Milo. Egal, was er eben noch alles gewollt hatte, nun wollte er, dass ich so schnell wie möglich von hier verschwand. Hätte ich ja auch gemacht, hätte es da nicht dieses klitzekleine Problem gegeben, das mir vor wenigen Minuten noch scheißegal gewesen war.

„Geht gerade nicht“, murmelte ich zerknirscht, „ich brauch ein paar Augenblicke.“ Langsam bewegte ich meine Zehen und das Kribbeln schoss mir durch die Nervenbahnen.

Milo hob fragend eine Augenbraue.

„Mein Fuß… er ist eingeschlafen…“, sagte ich leise.

Wenn die ganze Situation nicht so unheimlich peinlich geworden wäre, hätte ich vermutlich lachen können. Vielleicht konnte ich darüber grinsen, wenn ich zuhause war.

„Das ist doch jetzt nicht dein Ernst oder?“

„Entschuldige mal“, erwiderte ich entrüstet, „mein Fuß ist eingeschlafen, weil du die ganze Zeit…“

Milos böser Blick ließ mich verstummen.

Wortlos verließ er das Wohnzimmer.

Noch immer etwas fassungslos sah ich ihm hinterher.

Ich hatte ja bereits bei der Fahrt hier hin mit einem Rauswurf gerechnet. Dass er aber unter diesen Umständen erfolgen würde… wer hätte das denn ahnen können?

Ich rieb mir den Fuß und stand auf, sobald das Kribbeln ein erträgliches Maß erreicht hatte. So etwas konnte nur mir passieren.

Als ich auf den Flur hinaustrat, entdeckte ich Milo in der gegenüberliegenden Küche, wo er sich allen Ernstes gerade Brote schmierte.

Sobald Milo mich bemerkte hielt er inne und warf mir aus dem Augenwinkel einen Blick zu. Ich schaffte es nicht, ihn zu deuten und viel zu schnell lenkte Milo seine Aufmerksamkeit wieder auf sein Abendessen.

Er wirkte angespannt, und sein Blick schnellte immer wieder zu mir herüber. Im Nachhinein dankte ich meinem Fuß wieder dafür, dass er mich an einer allzu schnellen Flucht gehindert hatte. Denn ohne ein weiteres Wort zu verschwinden, wäre wohl der größte Fehler gewesen, den ich hätte begehen können.

Unsere Rollenverteilung wirkte auf mich verdammt falsch.

„Sollte nicht ich derjenige sein, der Panik bekommt?“, sprach ich meine Gedanken aus.

„Ich werde jetzt nicht anfangen mit dir zu diskutieren. Bitte geh jetzt einfach“, sagte Milo ruhig.

Ich nickte. Mehr für mich, als für ihn.

„Okay. Aber wir wissen beide, dass ich wiederkommen werde.“

Milo ließ seufzend seinen Kopf sinken.

„Ja…“, flüsterte er.

Ich nickte noch einmal und ging zur Haustür um mir die Schuhe anzuziehen. Aus der Küche kam kein einziger Ton mehr.

„Guten Hunger“, rief ich in die Wohnung, bevor ich die Tür hinter mir zuzog.
 

Das war also mein erster Besuch bei Tamilo. Das war ja ganz… wunderbar gelaufen.

Sobald ich aus dem Haus trat, zog ich meine Zigaretten aus der Jackentasche und zündete mir eine an. Vor meinem Wagen zögerte ich kurz, stieg dann aber ein. Normalerweise rauchte ich nicht in meinem Auto, doch gerade war mir das egal. Ich wollte jetzt nicht noch hier rumstehen, bis ich aufgeraucht hatte.
 

Infolge einer weiteren Kurzschlussreaktion parkte ich mein Auto nicht in meiner eigenen Auffahrt. Stattdessen stand ich vor Tills Haus. Für einen unangekündigten Besuch war es inzwischen etwas spät und ich zückte mein Handy.

„Was gibt es?“, begrüßte mich mein bester Freund am Telefon.

„Ich stehe vor deiner Tür“, informierte ich ihn.

„Okay“, murmelte Till und legte auf.

Kurz darauf öffnete er mir die Haustür. Er sah noch etwas mitgenommen aus.

„Du siehst scheiße aus“, sagte ich ihm auch direkt.

„Ich hatte gestern ja auch Spaß“, konterte Till.

„Ich hatte auch Spaß.“

„Ja, aber ich hab zwei Telefonnummern zugesteckt bekommen.“

„Ehrlich?“, fragte ich verblüfft nach.

„Ja“, grinste Till. „Ich kann mich zwar nicht mehr wirklich daran erinnern von wem, aber ich hab die Zettel in meiner Tasche gefunden. Von einem Paul und von jemandem, der wohl der Meinung ist, dass Namen nicht so wichtig sind. Willst du sie haben? Ich brauch sie nicht.“

„Kein Bedarf“, lehnte ich ab.

„Till?“, erklang es aus dem Wohnzimmer. Gemeinsam schlenderten wir dort hin. Tills Eltern saßen vor dem Fernseher.

Tills Vater drehte seinen Kopf in unsere Richtung und brummte ein tiefes: „Moin Nik“, wie er es immer tat.

„‘nabend“, grüßte ich und erwiderte das Lächeln, das Tills Mutter mir schenkte, so gut ich konnte.

Till sah mich stirnrunzelnd an und ergriff dann meinen Arm.

„Wir sind oben“, erklärte er seinen Eltern und zog mich aus dem Raum.

Dankbar folgte ich Till in sein Zimmer und ließ mich dort auf seine Couch fallen.

„Zocken wir eine Runde?“, fragte ich.

„Klar…“, antwortete Till gedehnt, „direkt, nachdem du mir gesagt hast, warum du hier bist.“

„Kann ich nicht einfach meinen besten Freund besuchen? Ich hatte halt keine Lust, alleine zu spielen“, murmelte ich unschuldig.

„Nik, wann bist du das letzte Mal unangekündigt an einem späten Samstagabend zum Zocken vorbeigekommen?“, fragte Till lauernd.

Ich zuckte mit der Schulter und erntete einen triumphierenden Blick von Till. „Also… raus mit der Sprache, warum bist du hier?“
 

„Ich bin schwul.“

Till sah mich nur ruhig an.

„Ich bin schwul“, hauchte ich noch einmal und gleich darauf ein weiteres Mal. „Ich habe mich total verknallt und dieser Kerl raubt mir den letzten Nerv.“

„Das merke ich“, bemerkte Till leise.

„Ich war gerade bei ihm“, gab ich zu.

„Oh? Wie kam es denn dazu?“, fragte er überrascht.

„Ich bin einfach hingefahren. Keine Ahnung, was mich da geritten hat.“

„Na, ich will mal hoffen, er war es nicht.“

Genervt schnalzte ich mit der Zunge. „Sorry“, sagte Till schnell, schaffte es aber nicht, sich ein Grinsen ganz zu verkneifen.

„Wir haben eigentlich fast nur geredet…“, sagte ich ausweichend.

„Aha. Und außerdem?“, hakte Till nach und sah mich weiterhin an.

„Außerdem… wir haben uns geküsst“, murmelte ich und merkte, wie ich wieder rot anlief. Das passierte mir für meinen Geschmack etwas zu oft, seit Milo in mein Leben getreten war.

„Soweit wart ihr ja schon“, meinte Till schulterzuckend.

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, waren wir nicht… das war anders… wir… haben uns wirklich geküsst.“

Mein bester Freund verzog sein Gesicht zu einer Grimasse und schien mit sich zu kämpfen.

„Du bist mein bester Freund. Und du weißt, ich habe immer ein offenes Ohr für dich und mich interessiert alles, was in deinem Leben so vor sich geht. Aber belasse es bei diesem Thema bitte bei den notwendigsten Informationen, okay? Ich… will keine Einzelheiten wissen.“

„Ich werde daran denken“, versprach ich. „Wir haben uns geküsst. Das war die notwendigste Information. Es ist… auch gar nichts weiter passiert… eigentlich.“

„Eigentlich?“

Eigentlich… war heute Abend einiges passiert. Tamilo hatte mich tief blicken lassen. Zu tief vielleicht für seinen eigenen Geschmack und für mich noch lange nicht tief genug. Immerhin hatte ich deutlich gemacht, dass ich nicht bereit war, aufzugeben. Erst recht nicht nach diesem Kuss.

„Nik?“, versuchte Till meine Gedanken wieder einzufangen und auf ihn zu konzentrieren.

„Er ist etwas ausgeflippt und hat mich vor die Tür gesetzt.“

„Okay, aber vorher ist er zum Wiederholungstäter geworden. Ganz egal kannst du ihm ja nicht sein… das ist doch gut, oder? Was ist mit Caro? Und wieso zieht er das ganze Theater ab? Warum trifft er sich nicht mehr mit seinen Freunden, habt ihr darüber gesprochen?“

Zögerlich nickte ich. Allerdings konnte ich das Wissen nicht einfach teilen. Auch nicht mit Till. Milo hatte mir seine Geschichte im Vertrauen erzählt. Das wusste ich, ohne dass er mich darauf hingewiesen hatte.

„Ja, haben wir. Aber ich weiß nicht, wie viel ich dir darüber erzählen kann. Das ist Milos Geschichte und ich denke, die sollte ich für mich behalten.“

„Okay. Aber… Milo hat eine gute Begründung für das alles, hoffe ich?“

„Ja“, seufzte ich, „Ich kann seine Gründe ein Stück weit nachvollziehen.“

„Na dann…“, murmelte Till. Ich sah ihm seine Neugierde an, doch er fragte nicht weiter nach. Stattdessen wandte er sich einem anderen Thema zu.

„Hast du schon mit Leonie gesprochen?“

Wieder seufzte ich. „Ich habe sie heute zurückgerufen. Ich werde mich morgen mit ihr treffen. Heute Abend hat sie sich mit Caro getroffen.“

„Was wirst du ihr sagen?“, fragte Till leise nach.

Ich stieß ein kurzes humorloses Lachen aus und rieb mir über das Gesicht. „Ich habe nicht den blassesten Schimmer“, gab ich frustriert zu, „und je mehr ich darüber nachdenke, desto weniger weiß ich, was ich zu ihr sagen soll. Ich bin mir sicher, sie ahnt was morgen kommt, aber das wird sie sicher nicht daran hindern, Fragen zu stellen. Und ich habe keine Ahnung, wie ich ihr die beantworten soll.“

„Du musst dich ja auch ausgerechnet in den offensichtlich nicht ganz heterosexuellen Freund meiner Ex-Freundin verlieben“, murmelte Till mitfühlend.

„Mal im Ernst, Nik. Hättest du nicht in den letzten Jahren zwischendurch ein wenig Scheiße bauen können? Muss stattdessen jetzt alles auf einmal kommen? Ich würde dir so gern weiterhelfen. Aber ich bin da ebenfalls etwas ratlos. Ich bin einfach nur froh, nicht in deiner Haut zu stecken.“

„Ja, das habe ich wunderbar hinbekommen. Aber da muss ich nun durch.“

„Ich nehme mal nicht an, dass du ihr von Milo erzählen wirst, oder?“, vermutete Till.

„Auf keinen Fall. Ich werde ihr so wenig wie möglich erzählen. Ich will Milo da nicht mit reinziehen. Er kann ja auch eigentlich herzlich wenig dafür, dass ich wegen ihm so am Rad drehe. Und die Gefahr, dass Leonie mit Caro darüber spricht ist viel zu groß. Und Caro traue ich absolut nicht über den Weg.“

„Irgendetwas wirst du Leonie aber erzählen müssen. Ganz einfach wird sie sich bestimmt nicht abspeisen lassen. Und du willst sie doch nicht anlügen? Das hätte sie nicht verdient.“

„Nein, ich will sie nicht anlügen. Ich werde morgen einfach um 15 Uhr bei ihr aufkreuzen und alles Weitere wird sich dann zeigen. Das Einzige was ich weiß, ist, dass ich ihr Haus morgen als Single verlassen werde. Frag mich nur bitte nicht, wie ich das anstellen werde.“

Lange schwiegen wir. Jeder von uns versunken in seinen eigenen Gedanken. Meine waren ausnahmsweise mal nicht wirklich bei Milo, sondern bei Leonie und dem bevorstehenden Gespräch, vor dem ich panische Angst hatte.
 

„Du wirst das schon hinbekommen“, sagte Till und klang dabei überzeugter, als ich mich fühlte.

„Ja, sicher…“

Nach weiteren Minuten des Schweigens fragte Till schließlich: „Wie sieht’s aus? Wollen wir eine Runde zocken?“

Ich schaffte ein müdes Lächeln, als ich zustimmend nickte.

„Dafür bin ich doch hergekommen, oder nicht?“

Grinsend boxte mit Till für diese Antwort gegen den Arm.

Hallöchen!

Wir sind inzwischen bei Kapitel 19 und ich melde mich mal kurz zu Wort! Bisher sind die Uploads relativ flott gekommen, wie ihr sicherlich mitbekommen habt. Damit ist es jetzt aber erst mal vorbei. Ich habe nämlich mit diesem Kapitel das letzte hochgeladen, das ich fertig habe. Ich habe eigentlich vor, wöchentlich ein Kapitel zu schreiben. Leider haut das in der letzten Zeit immer seltener hin. Ich hoffe, euch hat der Weg bis hierher Spaß gemacht und ihr bleibt weiter am Ball!

Und auch wenn diese Plattform hier eher still ist, lade ich natürlich weiterhin hoch, sobald das nächste Kapitel fertig ist.

Trotzdem möchte ich an dieser Stelle denen danken, die sich die Zeit nehmen, meine Kapitel zu kommentieren! Shuu_san, KaoriNightcrawler, Venu und Lizerce, dieses Kapitel ist für euch! Ganz herzlichen Dank! Und auch, wenn es manchmal etwas dauert, ehe ich auf ein Review reagiere, seid euch sicher: Ich freue mich über jedes Einzelne wie ein Schneekönig! :) Vielen Dank!
 

*********
 


 

Der Spiegel sagte es mir ganz deutlich. Diese Nacht hätte ich definitiv mehr schlafen sollen. Vielleicht hätte es eine halbe Stunde auch getan. Aber ich hatte nicht einmal das geschafft.

Till hatte es sich offenbar zum Ziel gesetzt mich abzulenken und das ziemlich gut auf die Reihe gekriegt. Erst als der Blick aus dem Fenster verriet, dass die Nacht langsam aber sicher vorbei war, hatte er vorgeschlagen, langsam ins Bett zu gehen. Da mir allerdings klar war, dass ich trotz einer gewissen Müdigkeit, die ich verspürte, an Schlaf nicht zu denken war, machte ich mich auf den Weg nach Hause. Auch wenn das bedeutete, dass ich an diesem Morgen nicht um das gemeinsame Frühstück herumkommen würde. Wenigstens konnte ich meiner Mutter die Fahrt zur Bäckerei ersparen und beschloss, unterwegs Brötchen zu besorgen.

Vielleicht würden dann die bösen Blicke, weil ich ohne Erklärung über Nacht weggeblieben war, nicht ganz so böse ausfallen.

Allerdings musste ich feststellen, dass die Suche nach frischen Brötchen morgens um sechs Uhr selbst in Hamburg schwierig war.

Nachdem ich ein paar Bäckereien abgefahren hatte, fuhr ich auf den Kiez, wo zu dieser Uhrzeit die allgemeine Party noch nicht ganz beendet war. Hier wurde ich fündig.

Während der Parkplatzsuche verfluchte ich mich dafür, dass ich es nicht einfach bei dem netten Gedanken und der gescheiterten Idee belassen konnte.
 

Zuhause war noch alles ruhig. Meine Eltern schliefen noch. Um überhaupt irgendetwas zu tun zu haben, deckte ich den Frühstückstisch mit den Dingen, die es einem nicht übel nahmen, wenn sie noch gute drei Stunden unberührt bleiben würden.

Etwa eine Stunde später hatte ich meine erste Tasse Kaffee hinter mir, war frisch geduscht und hätte den Spiegel, der mir sagte, was meine Familie mir später bestätigen würde, am liebsten in kleine Teile zerschlagen.

Dies hier würde nicht mein Tag werden, doch das war mir bereits gestern klar gewesen.

Auf dem Weg in mein Zimmer hörte ich das erste Weckerklingeln aus dem Schlafzimmer meiner Eltern. In einer halben Stunde würde das zweite erfolgen, das nach meiner Mutter auch meinen Vater aus dem Bett warf. Es war lange her, dass ich das das letzte Mal so deutlich mitbekommen hatte, doch so lief es, seit ich denken konnte. Es hatte sich nicht viel an dieser Routine verändert. Alles beim Alten.

Umso mehr würde es meine Mutter erstaunen, auf der Anrichte der Küche bereits eine Tüte mit Brötchen vorzufinden.
 

Tatsächlich klopfte es ein paar Minuten später an meine Tür und meine Mutter wünschte mir verwundert lächelnd einen guten Morgen.

„So früh schon auf den Beinen? Oder sollte ich fragen: Immer noch…?“, fragte sie natürlich genauer nach.

„Ich war bei Till und bin vor einer Stunde nach Hause gekommen“, gab ich zu.

„Mit Brötchen? Um diese Uhrzeit?“

„Ich habe einen kleinen Umweg gemacht“, räumte ich ein. Meine Mutter holte seit vielen Jahren jedes Wochenende Brötchen und wusste um Einiges besser, wann die Bäckereien sonntags ihre Pforten öffneten.

Mit viel zu wachen Augen musterte meine Mutter mich, bevor sie in diesem ätzend sanften Tonfall, den nur besorgte Mütter beherrschten, sagte: „Sohn, du siehst gar nicht gut aus.“

„Ich hatte ein langes Wochenende“, gab ich zurück, doch meine Mutter schüttelte schon den Kopf, als hätte sie mit dieser Antwort gerechnet.

„Nein, es ist nicht nur dieses Wochenende. Das ist schon länger so und es gefällt mir nicht. Ist bei dir alles in Ordnung?“
 

Ich hasste es, meine Mutter anzulügen, vor allem, wenn sie einfach nur ihre Besorgnis zum Ausdruck bringen wollte, aber ich nickte und log ihr lächelnd ins Gesicht.

„Ja, Mum, es ist alles in Ordnung.“

Ganz eindeutig nicht wirklich überzeugt, sah sie mich weiter prüfend an.

„Du würdest mit uns reden, wenn irgendetwas ist, nicht wahr?“

„Na klar“, erwiderte ich, noch immer lächelnd.

„Also schön“, seufzte meine Mutter, kam auf mich zu und küsste mich auf die Stirn. „Danke für die Brötchen.“

In der Zimmertür drehte sie sich noch einmal um. „Du solltest trotzdem mehr schlafen“, sagte sie mit besorgtem Gesicht.

„Ja, ich weiß.“

Leise schloss meine Mutter die Tür hinter sich und ließ mich wieder alleine. Ich hielt das Lächeln, das ich für sie aufgesetzt hatte aufrecht, bis ich meine Couch erreichte und mich darauf fallen ließ.

‚Ja, Mutter, es ist alles in bester Ordnung‘, dachte ich, ‚abgesehen von der kleinen Tatsache, dass dein Sohn sich heute von dem Mädchen trennen wird, von dem du so begeistert bist. Und warum? Ganz einfach. Weil er schwul ist. Und nebenbei bemerkt, ist dein Sohn im Begriff, die Uni zu schmeißen. Du siehst also, im Leben deines Sohnes ist nichts sonderlich Spannendes los.‘

Missmutig schaltete ich den Fernseher ein. Da ich nicht erwartete auf etwas Niveauvolles im Programm zu stoßen, machte ich mir erst gar nicht die Mühe, durch die Sender zu schalten, sondern blieb bei der Wiederholung irgendeiner amerikanischen Sitcom.
 

Gefühlte fünf Minuten später klopfte es erneut und ich fuhr hoch. Scheinbar hatte ich es doch geschafft, einzudösen. Dass es meine Schwester war, die mein Zimmer betrat, verriet mir, dass mehr als fünf Minuten vergangen sein mussten. Sie kam, um mir zu sagen, dass das Frühstück fertig war und um mir auszurichten, dass ich die Erlaubnis hatte, oben zu bleiben, sollte ich lieber schlafen wollen.

Es war mehr als klar, dass meine Mutter nicht glaubte, dass es mir gut ging. Die Erlaubnis zum Fernbleiben des Wochenendfrühstückrituals wurde nämlich nur in absoluten Ausnahmefällen gewährt. Entweder, man war schlichtweg nicht zuhause, oder man war in der Lage 40° Fieber aufzuweisen.

Beides traf nicht auf mich zu und ich erhob mich.

An jedem anderen Tag wäre ich dankbar auf dieses Angebot angesprungen und hätte mich im Bett zufrieden murmelnd noch einmal umgedreht. Aber meine Mutter war misstrauisch genug und ich nicht blöd genug um in diese Falle zu tappen. Ich würde brav aufstehen, mich mit der Familie an einen Tisch setzen und den Sohn spielen, der zwar müde war, wie Sau, dem es davon abgesehen jedoch blendend ging. Hallelujah.

Als ich die Treppe hinunterging, kam mir kurz der Gedanke, dass ich auch hierdurch voll in die Falle gehen könnte.

Schließlich wäre ich an jedem anderen Tag liegengeblieben. Bestätigte ich meiner Mutter also, dass eben nicht alles war, wie immer?

Mir blieb nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass dies kein Versuch ihrerseits war, mich zu überführen. Vielleicht war es ein kleines, liebevolles, mitleidiges Dankeschön, für meine kleine, liebevolle, schuldbewusste Geste, Brötchen vom Bäcker mitzubringen.

Dieses Dankeschön hätte ich wiederum einfach annehmen können.

Mütter!

Auslöser einer ausgereiften Paranoia, mit der ich mit dem momentanen Brei, der sich angeblich Hirnmasse schimpfte, nicht umgehen konnte. Würde das jetzt immer so sein? Würde ich jedes Verhalten meiner Mutter erst einmal auf seine Hintergründe überprüfen? Das konnte ja heiter werden.

Meine Mutter sah mich tatsächlich überrascht an, als ich die Küche betrat und mich mit einem gebrummten: „Morgen“, an den Frühstückstisch setzte.

„Kaffee?“, fragte meine Schwester sofort mitfühlend und ließ die Kanne bereits über meiner Tasse schweben.

„Nein.“

Fragend sahen Sophia und ich zu meiner Mutter.

„Keinen Kaffee für Dominik. Der Junge holt nach dem Frühstück erst einmal ein paar Stunden Schlaf nach“, befahl sie.

Ich zuckte mit den Schultern und sah wehleidig zu meiner Schwester auf. „Chef hat gesprochen. Junge fügt sich“, sagte ich und entlockte Sophia und meinem Vater damit ein Grinsen. Bei meiner Mutter schaffte ich das nicht.

„Nik, du bist jung. Aber du solltest auf deinen Körper hören und ihm auch mal Ruhe gönnen. Du übertreibst es in letzter Zeit ein wenig.“
 

Haha. Ich sollte auf meinen Körper hören. Ich war bereits dabei, genau das zu tun. Mir war allerdings nicht danach, den Gedanken weiter auszuführen. Doch ich würde mir das Argument merken… für… irgendwann. Außerdem hatte meine Mutter nur bedingt recht. Dass ich momentan etwas neben der Spur war, hatte nichts damit zu tun, dass ich mich übermäßig ins Nachtleben stürzte.

Da ich aber auch diesen Gedanken nicht zum allgemeinen Gesprächsthema befördern wollte, hielt ich die Klappe und nickte demütig.
 

„Wenn du gleich Heia machen musst, kann ich heute vielleicht dein Auto haben?“, erkundigte sich Sophia, während sie ihr Brötchen aufschnitt.

„Wenn du tankst und der Wagen um halb drei wieder hier ist, habe ich kein Problem damit.“

„Was hältst du davon, wenn ich etwas mehr tanke und wir diese kleine Zeitvorgabe vergessen?“, versuchte sie lächelnd zu verhandeln.

„Ich bin um drei mit Leonie verabredet“, erklärte ich kopfschüttelnd.

Sophia überlegte kurz und machte den nächsten Vorschlag.

„Ich könnte dich auf dem Heimweg einsammeln. Heute ist verkaufsoffener Sonntag in Pinneberg. Anni und ich haben nicht wirklich Lust, mit dem Zug zu fahren. Zwischen sieben und acht wollten wir wieder zurück sein. Dann könnte ich einen Abstecher bei Leonie machen? Oder du rufst mich an, wenn es bei dir später wird, dann komme ich dich holen.“

Meine Schwester war ein harter Verhandlungspartner, der nicht schnell aufgab, wenn sie etwas wollte. Wenn sie dann noch, wie jetzt zum Beispiel, ihren Hundeblick aufsetzte, schaffte sie es auch meist, ihren Willen durchzusetzen. Mit tat Till jetzt schon leid. Doch bei mir biss sie heute auf Granit.

„Heute geht es wirklich nicht. Ich wäre heute gern selbst mobil“, sagte ich entschuldigend.

„Mist“, grummelte Sophia und richtete ihren Hundeblick vorsichtig auf meine Mutter.

Die legte ihren Kopf schief, wusste genau, was ihre Tochter sie fragen wollte. Schließlich verdrehte sie ihre Augen und seufzte schwer, lächelte dann aber und sagte: „Na schön. Ausnahmsweise. Wenn du versprichst, vorsichtig zu fahren.“

Hastig nickte Sophia und sprang jubelnd auf, hüpfte um den Frühstückstisch und fiel meiner Mutter dankend um den Hals. Ich konnte diese Freude gut nachempfinden. Bis meine Großeltern mir zu meinem 21. Geburtstag mein Auto schenkten, musste auch ich betteln, um das Auto meiner Eltern zu bekommen. Und in diesem Fall war ausnahmsweise genau das.

Meine Mutter grinste, als Sophia ihr Gesicht mit Küsschen bedeckte.

„Bedanke dich bei deinem Bruder. Der hat heute in aller Frühe schon mein Herz erweicht“, lächelte sie.

Sophia beäugte mich misstrauisch, als sie sich wieder neben mir niederließ. „Wie hast du das denn angestellt?“, wollte sie wissen.

Verschwörerisch winkte ich sie näher und tat so, als würde ich ihr das größte Geheimnis der Menschheit verraten. „Frische Brötchen und Augenringe“, raunte ich gerade laut genug, dass es auch meine Eltern hören konnten.

Meine Schwester riss ihre Augen auf. „Aaah… merke ich mir“, grinste sie.
 

„Es wäre schön, wenn du dieses neuerworbene Wissen nicht unbedingt nächstes Wochenende erproben würdest. Ich habe Susanne und Frank für Freitagabend zum Essen eingeladen und fände es schön, wenn ihr beide dabei wärt“, verkündete meine Mutter in einem Ton, der klar stellte, dass es sich hierbei weniger um einen Wunsch, als um eine elterliche Anordnung handelte. Mir persönlich verdarb sie mit diesen wenigen Worten alles, was an Appetit noch vorhanden gewesen war.

Nach dem heutigen Tag war mir das definitiv zu viel Freitag für einen Freitag. Oder auch für jeden anderen Tag, in der nächsten Zeit.

Das meinte sie doch jetzt nicht ernst, oder? Das musste ein ganz übler, schlechter Scherz sein.

Andererseits war das wohl die gerechte Strafe dafür, dass ich meine Eltern nicht auf dem Laufenden hielt.

„Um Dominiks Anwesenheit muss ich mir wohl keine Sorgen machen. Leonie kommt sicherlich auch, aber ich hätte gern, dass du auch da bist“, wandte sich meine Mutter an meine Schwester.

„Klar“, nickte Sophia, die vermutlich allem zugestimmt hätte, um heute das Auto zu bekommen.

Klar. Am liebsten hätte ich mit meiner Stirn auf den Tisch eingeprügelt. Ein paar offene Worte von mir hätten diese Katastrophe vermutlich verhindert.

Was hatte Milo gesagt? ‚Alles im Leben hat einen Preis, Dominik.‘

Oh ja, und das hier war der Preis für mein Schweigen.

Schade! Wenn Sie sich für Tor 1 entschieden hätten… fuck!

„Ehm… ich… halte das für keine gute Idee“, hörte ich mich hervor würgen.

„Was denn?“, fragte meine Mutter verwirrt.

„Freitag… ich… denke nicht, dass ich dabei sein werde.“

„Aber warum das denn nicht?“

„Weil ich…“, ich warf meiner Mutter noch einen kurzen Blick zu und sah wieder hinunter auf meinen Teller, bevor ich die Bombe platzen ließ.

„Ich werde Freitag nicht mehr mit Leonie zusammen sein.“

Ich konnte in diesem Moment nicht aufsehen. Ich wollte die Gesichter nicht sehen. Die pure Bestürzung spürte ich schon in dem Schweigen, das sich kurz am Frühstückstisch ausbreitete. Es herrschte absolute Stille. Kein Geräusch verriet, dass hier gerade gegessen wurde.

„Was?“, fragte Sophia perplex nach.

Als ich meinen Kopf doch erhob, sah ich, was ich befürchtet hatte. Meine Mutter wirkte geschockt. Meine Schwester wirkte geschockt und mein Vater zumindest ziemlich überrascht.

„Wie meinst du das?“, fragte meine Mutter schließlich.

„Ich werde mich von ihr trennen“, erklärte ich und senkte den Blick erneut.

„Aber warum?“ Meine Mutter war mit dieser Information völlig überfordert. „Weiß sie das schon? Susanne hat gestern nichts in diese Richtung angedeutet, als wir telefoniert haben.“

„Ich bin heute mit ihr verabredet…“, umschiffte ich diese Frage.

„Ich wusste nicht, dass ihr Probleme habt… hast du mit ihr darüber gesprochen? Drei Jahre Beziehung… die schmeißt man doch nicht einfach kampflos weg!“, sprach sie eindringlich auf mich ein.
 

Warf ich die Beziehung kampflos weg? Sicher nicht. Ich gab nicht kampflos auf. Ich gab vielmehr den Kampf selbst auf. Den Kampf, von dem mir erst durch Milo bewusst geworden war, dass ich ihn überhaupt führte. Den Kampf, den weder Leonie, noch ich gewinnen konnten. Den Kampf gegen mich selbst.

„Ich gebe nicht einfach so auf. Ich habe in den letzten Wochen gründlich darüber nachgedacht, glaub mir“, erwiderte ich und sah meiner Mutter in die Augen.

„In den letzten Wochen…?“ Betroffen begegnete sie meinem Blick. „Ich habe dich vor nicht einmal zwei Stunden gefragt, ob alles in Ordnung ist“, erinnerte sie mich, „Wieso hast du nichts gesagt?“

„Weil es Dinge gibt, die ich mit mir selbst ausmachen muss. Es tut mir leid, aber ich wollte zuerst mit Leonie darüber sprechen.“

„Schatz, er wird seine Gründe haben“, unterbrach mein Vater einen erneuten Einwurf, bevor er sich an mich wandte.

„Das tut mir sehr leid, Dominik. Ich hoffe, du hast dir das wirklich gut überlegt. Das ist ein ziemlich endgültiger Schritt, das ist dir wohl klar?“

„Es ist der richtige Schritt, und ich habe mir das gut überlegt. Es geht nicht anders“, sagte ich mit fester Stimme.

„Bin ich jetzt für Freitagabend entschuldigt?“

Nicht, dass es mich sonderlich interessieren würde, wäre dem nicht so. Selbst wenn Leonie nicht mitkommen sollte, würden mich keine zehn Pferde dazu bringen, mich mit ihren Eltern an einen Tisch zu setzen. Ich bezweifelte, dass sie mich nach der Trennung plötzlich hassen würden, aber das war trotzdem fürs Erste keine Situation, der ich mich aussetzen wollte.

Meine Mutter war etwas blass geworden. Ich wusste, dass meine Eltern Leonie beinahe schon als eigene Tochter sahen. Und ich ahnte, dass mein Vater sie später würde trösten müsse, wenn sie aufhörte, ihre Tränen zurückzuhalten. Ich konnte sehen, dass sie das tat.

„Mum… es tut mir auch leid. Aber ich kann nicht anders.“

Meine Mutter lächelte, doch ihre Traurigkeit sah ich ihr an.

„Du bist noch so jung. Wir mussten damit rechnen, dass es mit euch nicht ewig hält. Aber ich finde es sehr schade.“

Nach kurzem Zögern fuhr sie fort: „Nik, warst du… heute Nacht wirklich bei Till? Das ist nicht alles wegen einem anderen Mädchen, oder?“
 

Zuerst wusste ich nicht, was ich auf diese Frage antworten, oder was ich von ihr halten sollte. Hatte meine Mutter mich das gerade wirklich gefragt?

Aber hatte ich überhaupt das Recht, auf diese Frage sauer zu reagieren?

Ein Teil von mir war es. 9 Monate in ihrem Bauch und 22 Jahre in diesem Haus hin, oder her, das ging sie nun wirklich nichts an.
 

Und der andere Teil… der bekam lautstarke Unterstützung von dieser nervigen Stimme, die sagte: „Zick jetzt bloß nicht herum! Sie hat doch nicht ganz Unrecht. Milo ist vielleicht weit davon entfernt, ein Mädchen zu sein, aber… du weißt, was ich sagen will, oder?“
 

Nein!

Das war etwas vollkommen Anderes!

Zugegebenermaßen war das Reden ein wenig aus dem Ruder gelaufen, doch das war etwas Anderes.

Was da in seiner Wohnung passiert war, hatte ich nicht geplant. Und mein Entschluss, mich von Leonie zu trennen, stand bereits vor diesem Kuss fest. Genau genommen, hatte ich ihn direkt nach dem ersten Kuss gefasst, der ja diese Bezeichnung, gar nicht wirklich verdiente, wie spätestens der zweite Kuss gezeigt hatte.

„Jaja, rede dir das ruhig schön“, murmelte die Stimme.
 

Ich fühlte mich auch ohne die Stimme schäbig genug, denn an Leonie hatte ich während meinem Besuch bei Milo nicht eine Sekunde lang gedacht.

Meine Mutter wartete noch immer auf eine Antwort.

„Natürlich war ich bei Till. Und meine Trennung von Leonie hat absolut nichts mit einem anderen Mädchen zu tun. Können wir jetzt bitte das Thema wechseln?“

Von Sophia fing ich einen finsteren Blick auf. „Ich bin froh, dass ich bereits die Erlaubnis habe, heute das Auto zu nehmen“, brummte sie und biss erneut in ihr Brötchen.

Wortlos griff ich zur Kaffeekanne und füllte meine Tasse. Schlaf nachholen… na sicher. Diesmal folgte kein weiterer Einwand.

Den Rest des Frühstücks verbrachten wir recht wortkarg.

Auch, als Sophia und ich uns um das Aufräumen kümmerten, dauerte, bis meine Schwester das Schweigen brach.

„Wieso machst du mit ihr Schluss? Ihr wart doch immer…“ Sophia warf auf der Suche nach Worten die Hände in die Luft.

Ich wusste, dass auch sie mir übel nahm, dass ich ihr nichts erzählt hatte. Und ich konnte ihre Frage noch nicht einmal beantworten. Ich war noch lange nicht so weit, meine Familie über alle Hintergründe aufzuklären.

„Es funktioniert einfach nicht mehr. Tut mir leid, Sophia, aber ich will da gerade wirklich nicht drüber sprechen“, machte ich ihr klar.

„Okay“, nickte Sophia knapp und verfiel wieder in Schweigen.

Konnten auf das Ende unserer Beziehung nicht alle reagieren, wie auf den Beginn? Darum hatte sich meine Familie doch auch kaum gekümmert.
 

Da ich absolut nichts mit mir anzufangen wusste, stand ich schließlich eine halbe Stunde zu früh vor Leonies Haustür.

Ich hatte noch ein zweites Mal geduscht um meine Lebensgeister mit kaltem Wasser ein wenig aufzurütteln.

Hatte leider nicht viel gebracht. Ich sah noch schlimmer aus, als nach der ersten Dusche. Aber ich hatte nicht vor, an einem Schönheitswettbewerb teilzunehmen. Und wieso sollte ich vor Leonie verbergen, dass auch mir diese Situation an die Nieren ging?

Nun stand ich hier und überlegte, ob ich diese Klingel zum letzten Mal betätigen würde.

Ich war hier immer willkommen gewesen. Würde sich das heute ändern?

Für die erste Zeit sicherlich, aber eventuell bestand ja die kleine Hoffnung, dieses Haus wieder als guter Freund betreten zu dürfen, wie ich es immer hätte tun sollen. Irgendwann, wenn Leonie alles wusste und mir vergeben konnte.

Eventuell. Irgendwann.
 

Ich betätigte diese Klingel nicht zum letzten Mal, denn plötzlich öffnete sich die Haustür, ohne, dass ich geklingelt hatte und völlig unvorbereitet stand ich Leonies Mutter gegenüber.

„Habe ich es mir doch gedacht“, seufzte sie und musterte mich kopfschüttelnd. „Komm rein.“
 

Im Hausflur sah sie mich erneut an. Tiefes Bedauern spiegelte sich in ihrem Blick und dann zog sie mich in die Arme.

„Hast du ein Glück, dass du genauso miserabel aussiehst, wie meine Tochter. Andernfalls hätte ich dich jetzt windelweich prügeln müssen“, sagte sie, doch ihre sanfte Tonlage entschärfte die Wortwahl.

In diesem Haus war ganz offensichtlich bekannt, warum ich hier war.

Ich konnte nichts darauf antworten, erwiderte nur Susannes Umarmung, die einerseits sehr tröstlich war, andererseits wurde mir die Traurigkeit und Endgültigkeit dieser Lage mit jeder Sekunde, die verstrich, bewusster.

Ich wusste, dass dieser Schritt notwendig war. Er war wichtig für mich und letztendlich auch für Leonie. Und er war der einzig Richtige. Doch ich hatte unterschätzt, wie schwer es mir fallen würde, dieses Kapitel tatsächlich abzuschließen.

Ich kämpfte gegen den Kloß in meinem Hals an und musste mir dennoch verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel wischen, als Leonies Mutter die Umarmung schließlich löste.

Obwohl unsere Beziehung keine Zukunft hatte, und ich mir über die Gründe sehr im Klaren war, tat es unheimlich weh.

Es tat weh, dass diese Umarmung wie ein kleiner Abschied gewirkt hatte.

„Leonie ist in ihrem Zimmer“, sagte Susanne leise und strich aufmunternd über meinen Oberarm.

Mir wurde bewusst, dass ich bisher kein einziges Wort gesagt hatte. Trotzdem konnte ich nur nicken und stieg die Treppe zu Leonies Zimmer hinauf.

Ich gab mir Mühe, meinen Blick auf die Treppenstufen zu richten.

Leonies Fototreppe.

Ich musste mir die Bilder an der Wand allerdings auch nicht ansehen, denn ich kannte jedes einzelne verdammt gut.

Wenn Freunde von uns das erste Mal hier waren, dauerte der Treppenaufstieg immer ewig. Bilder aus 22 Jahren hingen hier und Leonies Entwicklung von der Geburt bis hin zu ihrer Studienzeit begleiteten jeden Schritt in das obere Stockwerk.

Die Bilder waren mir so vertraut und doch brachte ich es nicht über mich, sie jetzt anzusehen.

Auf vielen davon war auch ich abgebildet.

Was würde aus den Bildern werden?

Würde Leonie mich von dieser Wand verbannen? Alle Bilder aussortieren, auf denen ich neben ihr in die Kamera lächelte? Oder nur die, die uns als Paar zeigten?

Jeder Schritt fiel mir schwerer und als ich vor Leonies Zimmertür stand, wäre ich am liebsten direkt wieder verschwunden.

Langsam hob ich die Hand und klopfte vorsichtig.

Obwohl das Klopfen sehr leise war, hallte es in meinem Kopf mehrfach nach. Es gab kein Zurück mehr… schon lange nicht mehr.

Die Türklinke fühlte sich kalt an meiner Handfläche an, als ich sie nach unten drückte und das Zimmer betrat.
 

Leonie sah mich ausdruckslos an. „Du bist früh dran“, stellte sie sachlich fest. Ihre Mutter hatte angedeutet, dass Leonie nicht sehr gut aussah, und doch traf mich Leonies Anblick direkt ins Herz. Auch sie sah alles andere als ausgeschlafen aus. Viel Schlimmer noch waren die geröteten Augen, aus denen sie mich ansah.

Ich stand wie versteinert da, unfähig auch nur einen weiteren Schritt ins Zimmer zu machen. Erst Leonies Stimme holte mich aus dieser Starre heraus. „Gott, Nik… du bist doch nicht zum ersten Mal hier… Setz dich endlich, aber steh da nicht einfach so rum und sieh mich bitte nicht so an“, brach es zittrig aus ihr heraus.

„Süße…“, setzte ich an und ging ein paar Schritte auf sie zu. Leonie schloss die Augen und hob abwehrend die Hände.

„Wenn ich richtig liege mit meiner Vermutung, warum du hier bist, dann nenn mich jetzt bitte nicht Süße“, bat sie mit schwacher Stimme. Sie ließ die Hände zurück in den Schoß fallen und atmete mehrfach tief durch.

„Was habe ich falsch gemacht?“, fragte sie flüsternd. Eine einzelne Träne rann ihr über die Wange und wurde fahrig von Leonie weggewischt.

„Das hat absolut nichts mit dir zu tun“, sagte ich und ging die letzten Schritte auf sie zu. Vor ihr ging ich in die Hocke, doch als ich nach ihren Händen greifen wollte, zog sie diese weg und funkelte mich verletzt an.

„Du bist doch hier, um unsere Beziehung zu beenden. Und du besitzt die Dreistigkeit, zu behaupten, es habe nichts mit mir zu tun?“

„Leo… du hast nichts falsch gemacht! Gar nichts“, sagte ich eindringlich, aber so sanft wie möglich, „Wenn jemand Schuld ist an dieser Situation, dann bin ich das. Nicht du.“

Neue Tränen folgten. Leonie schluckte, ehe sie mit belegter Stimme fragte: „Wie heißt sie?“

Scheiße. Wie sollte ich das hier schaffen? Was sollte ich ihr sagen?

Auch ich musste schlucken.

Kopfschüttelnd griff ich erneut nach ihren Händen, ließ diesmal nicht zu, dass sie auswich. Ihre Gegenwehr erfolgte nur kurz und schwach.

„So ist das nicht. Da ist keine Andere.“

„Dann kann ich es nicht verstehen! Was ist es? Du liebst mich einfach nicht mehr, ist es das? Wann hast du damit aufgehört? Vor ein paar Wochen war doch alles noch okay… Was ist mit uns passiert?“, fragte sie und schloss die Augen.

Ich strich mit den Daumen über ihre Handrücken.

„Mir ist einiges klar geworden in den letzten Wochen. Und diese Beziehung ist nicht fair. Ich habe dich die ganze Zeit geliebt und ich tue es immer noch. Ein gewisser Teil von mir wird dich immer lieben. Aber es ist nicht die Art von Liebe, die du verdienst. Du hast so viel mehr verdient.“

Ungläubig sah Leonie mich an und schüttelte heftig ihren Kopf.

„Mehr verlange ich doch gar nicht. Ich habe mich nie deswegen beschwert. Es hat doch bisher so toll mit uns funktioniert. Bitte schmeiß das nicht einfach weg… Bitte nicht…“, flüsterte sie.

Ich fühlte mich schrecklich hilflos, als ich zu ihr aufsah. Bei jeder Träne, die über ihr hübsches Gesicht lief, fühlte ich mich schuldiger. Ich wusste, dass ich für jede einzelne von ihnen verantwortlich war.

Ohne zu wissen, ob ich das Richtige tat, setzte ich mich neben sie und zog sie an mich.

Konnte nicht irgendjemand neben mir auftauchen und mit einem Ratgeber wedeln, der mir verriet, wie man sich bei einer Trennung verhielt?

In erster Linie wollte ich erreichen, dass Leonie aufhörte zu weinen.

Doch genau dafür war das wohl das schlimmste, was ich hätte tun können. Anstatt sich zu beruhigen, weinte sie nun noch heftiger und krallte sich so sehr in meinen Pullover, dass der vermutlich auch nach einer Wäsche seine ursprüngliche Form nicht wiedererlangen würde.

Scheiß drauf. Ich schüttelte wegen meiner wirren Gedankengänge den Kopf. Ich würde diesen Pullover ohnehin nie wieder tragen können.

Nicht nach diesem Bild, das sich mir gerade unwiderruflich ins Hirn gebrannt hatte.

Leonies Finger, die sich zitternd im Stoff vergraben hatten.

Seufzend zog ich sie noch näher an mich heran und strich ihr über den Rücken, der in unregelmäßigen Abständen erzitterte.
 

Noch vor zwei Monaten hätte ich jedem einen überdimensionalen Vogel gezeigt, der vorausgesagt hätte, dass meine Beziehung zu Leonie auf diese Art und aus diesen Gründen enden würde. Ich wusste nicht, welche Reaktion ich von Leonie erwartet hatte, doch dass sie heulend in meinen Armen liegen würde, damit hatte ich nicht gerechnet. Sie verstand es zu gut, ihre Gefühle vor der Außenwelt zu verbergen. Vielleicht hatte ich diese Mauer eingerissen, die sie aufgebaut und über Jahre hinweg aufrecht erhalten hatte.
 

Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis Leonies Tränen versiegten. Suchend blickte ich mich um und stand dann auf, um eine Box mit Taschentüchern von ihrem Schreibtisch zu holen.

„Entschuldige… ich wollte nicht so ein Theater veranstalten“, murmelte Leonie nach einer Weile stockend.

„Nicht doch… es ist okay“, flüsterte ich.

„Nein. Gar nichts ist okay. Drei Jahre, Nik. Drei Jahre. Bedeuten die dir denn gar nichts?“

Leonie war von mir abgerückt und sah mich vorwurfsvoll an. Diese plötzlichen Stimmungsumschwünge waren beeindruckend.

„Du solltest wissen, dass das nicht so ist“, erwiderte ich, „diese drei Jahre mit dir waren wunderschön. Und das Einzige was ich bedauere, ist, dass ich dich jetzt so zum Weinen bringe. Ich wollte dich nie verletzen, Leonie. Niemals.“

Was ich ebenfalls bedauerte, war die Tatsache, dass ich so lange gebraucht hatte, um zu verstehen, was mit mir los war. Dass ich so lange gebraucht hatte, um einzusehen, dass es in einer Beziehung mehr als Zufriedenheit geben konnte. Denn dieses Verlangen, das ich Milo gegenüber verspürte, hatte ich bisher nie kennengelernt. Doch das war etwas, das ich Leonie nicht sagen konnte. Noch nicht. Vielleicht niemals.

„Was ist es, was ich dir nicht geben kann?“, fragte sie, als ob sie meine Gedanken erraten hätte.

Traurig schüttelte ich den Kopf und schaffte es nicht, Leonies Blick zu erwidern, der schwer auf mir lag und sich in mich zu bohren schien.

„Sag es mir einfach“, verlangte sie nachdrücklich, „ich denke nach all der Zeit habe ich so viel Ehrlichkeit verdient, meinst du nicht?“

Doch, das meinte ich auch. Was würde es bedeuten, es in dieser Situation auszusprechen? Ich hatte es Till erzählt, der Anfang war doch bereits gemacht.

„Es geht nicht nur darum, was du mir nicht geben kannst. Viel wichtiger ist, was ich dir nicht geben kann…“, sagte ich leise, weiterhin unfähig zu ihr aufzuschauen.

„Und was kannst du mir nicht geben? Ich war glücklich, mit allem, was du mir bisher gegeben hast. Ich wüsste nicht, was ich mir mehr wünschen könnte“, sagte Leonie leise. Ihre Stimme zitterte noch immer leicht, doch das änderte seltsamerweise nichts an der Festigkeit in ihr, dem Nachdruck ihrer Frage.

Ich atmete tief durch und erwiderte ihren Blick. Leonie hatte Recht. Sie hatte es verdient. Zumindest einen Teil der ganzen Wahrheit, die unsere Beziehung zerstört hatte.
 

„Ich kann dir auch das nicht mehr geben. Es hat funktioniert, weil ich es selbst nicht verstanden habe. Und es hat mich mehr als drei Jahre gekostet, es zu erkennen. Ich kann dir nichts geben, was über Freundschaft hinausgeht. Dir nicht… und ich fürchte, auch keiner… anderen Frau…“

Ich konnte die Verwirrung sehen, die in ihre Gesichtszüge trat und zwang mich, ihrem forschenden Blick standzuhalten. Alles in mir wollte ihm ausweichen.

„Auch keiner anderen Frau?“, wiederholte sie schwach und runzelte ihre Stirn. Sie war es, die den Blickkontakt abbrach, als ihr Gesicht jeden Ausdruck verlor und sie ungläubig keuchte.

Schließlich lachte sie leise. Es war kein glückliches Lachen.

„Sag mir bitte, dass ich dich falsch verstanden habe. Bitte, sag mir, dass ich in diese Worte eine völlig falsche Bedeutung hineininterpretiere. Du willst mir doch nicht erzählen, du wärst…“, kopfschüttelnd sah sie mich an, „Nein… kann nicht dein Ernst sein.“

Als ich nichts mehr sagte, schlug sie sich mit der Hand vor die Stirn und lachte erneut auf.

„Mit allem hätte ich gerechnet, aber DAMIT nicht… ich glaube… mir wird gerade etwas schlecht…“, stammelte sie.

„Hey…“, setzte ich an und hob meine Hand, um sie zu berühren. Leonie zuckte zurück.

„Geh“, hauchte sie.

„Leonie…“

„Geh“, wiederholte sie energischer, „Lass mich jetzt bitte allein.“

„Bitte, lass uns darüber…“, versuchte ich es erneut, doch Leonie sprang vom Sofa auf und funkelte mich an.

„WAS? Darüber reden? Ich will jetzt nicht reden. Ich KANN jetzt nicht reden. Ich will, dass du verschwindest, Dominik. Hau endlich ab!“, schrie sie. Wild fuchtelte sie mit ihrer rechten Hand in die Richtung der Zimmertür.

Mein Kopf war völlig leer gefegt.

Das lief nicht gut. Gar nicht gut. Leonie starrte mich bloß wütend an.

„Ich meine es ernst, Nik. Beweg deinen verfluchten Arsch hier raus. Ich kann das jetzt nicht.“

Nickend erhob ich mich und ging zur Tür.

„Es tut mir leid. Glaub mir das bitte“, sagte ich mit dem Rücken zu ihr.

„Verschwinde!“, zischte Leonie noch einmal und ich tat es.



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Kommentare zu dieser Fanfic (11)
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Von:  Shuu_san
2011-12-08T20:15:49+00:00 08.12.2011 21:15
hmm das ist ja nicht gerade rosig verlaufen :/..kann ich aber auch verstehen...ihr freund hat ihr gerade eröffnet,das er leider nichtmehr auf frauen steht,da wird sie nicht unbedingt verständnisvoll reagieren :/
ich bin schon gespannt,wie es weiter geht...mich würde die reaktion seiner familie auf die neuigkeit irgentwie sehr interessieren *neugierig sei XD*

ich warte jedenfalls gespannt auf ads nächste kapi ^^
Von:  chaos-kao
2011-12-08T19:15:41+00:00 08.12.2011 20:15
Oi, diese Trennung ist alles andere als harmonisch ... wäre schön gewesen für Dominik, wenn Leonie nicht ganz so ausgerastet wäre am Schluss. Aber jetzt hat er es wenigstens hinter sich und das ist auch schon einiges Wert ^^

Und danke für die Kapitel-Widmung. Ich freu mich schon darauf und werde brav warten und dir die Daumen drücken, dass du bald wieder Zeit zum Schreiben findest! ^^

Lg
Kao
Von:  Venu
2011-12-08T17:40:09+00:00 08.12.2011 18:40
hui, das Gespräch mit Leonie ist ja nicht gerade bombig gelaufen. =/ Hätte ich gar nicht gedacht, dass sie so extrem reagieren würde und das es sie so trifft.
Die beiden tun mir in diesem Moment schon leid. Ich hoffe die arme Leonie wird sich wieder beruhigen und Nik's schlechtes Gewissen frisst ihn nicht auf.
Bin schon sehr gespannt auf das neue Kapitel, auch wenn es, wie du sagst, etwas dauern könnte bis es erscheint. Ich bleibe jedoch in freudiger Erwartung. :)

lg Venu
Von:  Lizerce
2011-12-06T20:03:54+00:00 06.12.2011 21:03
Hallo!^-^

Also ich finde auch, dass diese Fanfic extrem gut gelungen ist.
Viele habe ich begonnen und liegen lassen, weil die einfach zu nichts führen....

Obwohl ich meine Zeit mit lernen verbringen sollte, lese ich einfach mal alle 18 Kapitel, die bis jetzt hochgeladen wurde durch.
An einem Stück! Es lässt sich so gut lesen und man kann alles so gut nachvollziehen, als ob man selbst Nik wäre...

Spannend gestaltet ist es auch! Um ehrlich zu sein, verdient dieses Fanfic viel mehr Kommentare und Favos. Echt doof, dass wenige/ nicht sehr viele mit Fanfictions beginnen, die eben eine "eigene Story" beinhalten, sondern wirklich um bekannte Charaktere handeln wie z.B. Naruto, Kingdom Hearts etc.

Aber schreib bitte weiter, deine Geschichte ist hinreißend!
Wenn demnächst nicht mehr Leute auf diese Geschichte aufmerksam werden, dann werde ich gerne erledigen ;)

Ich kann es kaum erwarten die Fortsetzung zu lesen...
Das ist ja schon spannender als ein normales Buch >.<

Liebe Grüße,
Liz
Von:  Venu
2011-12-04T01:47:18+00:00 04.12.2011 02:47
Hey!

Also, ich bin wirklich sprachlos muss ich sagen, besonders wenn ich sehe, dass deine Geschichte nur 6 Kommentare hat :(

Ich habe lange keine so gute Geschichte mehr gelesen und du kannst mir glauben, ich lese sehr viel! Wirklich... nur 6 Kommentare, das ist eindeutig unter deiner würde.

Du hast so einen tollen Schreibstil, aufregend, abwechslungsreich und vor allem flüssig zu lesen. Man wird förmlich in die Geschichte reingezogen. Ich hab sie gerade am Stück durchgelesen und trotz der Uhrzeit bin ich total aufgedreht, weil es gerade noch so spannend geendet hat. Und wie du die Gefühle beschreibst ist wahnsinn! Die Spannung zwischen den beiden war so deutlich zu spüren, das ich die Luft anhalten musste. Man hatte ich Herzklopfen in dieser Kussszene, ich hab mich gefühlt, als wäre ich es der geküsst wird. ^_^

Ich frage mich, wie es jetzt wohl weitergeht. Wann treffen sich die beiden das nächste mal und was passiert dann? Wie wird das Gespräch zwischen Nik und Leonie ablaufen? Hach ich bin schon so gespannt auf alles! Ich hab die Geschichte gleich zu meinen Favos gepackt.

Ich finde es so schade, dass die meisten deine Geschichte wohl gar nicht zu würdigen wissen, sind die denn alle blind und können gute Geschichten nicht von schlechten unterscheiden? Ehrlich mal, das regt mich total auf >.<

Lass dich bloß nicht entmutigen, deine Geschichte ist wirklich erste Sahne und ich werde versuchen, dir nun öfter kommentare zu hinterlassen, geht ja nicht an, dass so was gutes unkommentiert bleibt.

Ich hoffe ich hab dich jetzt nicht zu sehr schockiert mit meinem Ausbruch! xD

Ich werde deine Geschichte auf jeden fall weiter verfolgen und hoffe du wirst auch nicht mit schreiben aufhören. :D
Jetzt muss ich allerdings mal ins Bett, ist ja schon fast 3 Uhr... aber ich werde wohl nicht schlafen können. :P

lg Venu
Von:  chaos-kao
2011-12-01T14:44:42+00:00 01.12.2011 15:44
Ein sehr schönes, langes Kapitel!
Und um ehrlich zu sein, hatte ich fast mit so einem Hintergrund bei Tamilo gerechnet.
Wenn das nächste Kapitel ähnlich intensiv wird wie das hier und es zu mehr als Knutschen kommt, sabber ich noch völlig gebannt meine Tastatur voll oder quietsche das Haus zusammen xD'
Ich freu mich schon drauf! ^^
Lg
Kao
Von:  chaos-kao
2011-11-29T10:15:22+00:00 29.11.2011 11:15
Bei so einem Filmabend wäre ich auch gerne dabei! xD Bitte lass sie 'Queer as folk' anschauen xD Das würde irgendwie zu der Truppe passen ^^

Ich bin ja echt gespannt, wann und wie es endlich zu der Aussprache mit Leonie kommen wird. Es wird langsam Zeit ...
Freu mich schon total auf das nächste Kapitel! ^^
Lg
Kao
Von:  chaos-kao
2011-10-23T23:56:25+00:00 24.10.2011 01:56
Ach du scheiße. Bei der Kussszene war es so intensiv geschrieben, dass ich halb in den Bildschirm reingekrochen bin und meinen Atem angehalten habe *lol* Ich mag deine Art zu schreiben und auch die Geschichte. Ich finde es toll, dass wirklich jeder Charakter, auch wenn er nicht oft vorkommt, eine eigene Persönlichkeit von dir bekommen hat und es keine leeren Pappfiguren sind, die am Rande herum stehen. Weiter so! ^^
Lg
Kao
Von:  Shuu_san
2011-10-20T13:18:11+00:00 20.10.2011 15:18
hui du bringst die kapis schneller raus,als ich kommentieren kann :D *nicht dass das ein problem währe XD*
toll,nick versucht wochenlang tamilo aus dem weg zu gehen und dann steht der kerl einfach vor der tür *wenn ich es nicht besser wüste,hätte ich Fifi*genialer spizname XD* im verdacht*
das gespräch gin ja mal nach hinten los...klar das tamilo nicht gerade begeistert ist, das keiner ihm die geschichte mit caro erzählt hat.nicks flucht war ja mal...kurzXD...nur till kam irgentwie seeeehr unpassend <.< *tret*
...und ich will jezt wissen wie es weiter geht *cliffhanger³ <,<*

gruß shuu ^.^
Von:  Shuu_san
2011-10-17T13:28:22+00:00 17.10.2011 15:28
huiii und es geht schonwieder weiter <3
ok,das till den braten gerochen hat ist irgentwie klar XD *da braucht nik sich keine hoffnungen mehr zumachen XXD* irgentwie niedlich,nick starrt tilo so offensichtlich hinterher,dass es eigentlich in kürzesterzeit jedem auffallen müsste.*arme leonie,sie ist mir sympatisch*
der krieg mit caro schein sich ja doch langsam zu legen....ich finde sie nichtmal so unsympatisch °3°
...ja toll...zu einzelnen kapis fällt mir immer sowenig ein..<.<
immer schön brav weiterschreiben ^^

es grüßt,
das shuu


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