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Meine Memoiren
von

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Vorwort
 

Ja, da isses, mein erstes und wahrscheinlich auch einziges selbstgeschriebenes Buch.

Warum?

Warum ich ein Buch geschrieben habe?

Und ausgerechnet über so etwas profanes wie einen Teil meines Lebens?

Naja, ich denke, an dieser Stelle muss ich mich wohl bei allen denen bedanken, die meine Geschichte gehört, teils selbst miterlebt haben und gesagt haben: Schreib ein Buch darüber, das wird ein Bestseller.
 

Das war aber nicht der Grund dafür, daß ich das Buch tatsächlich geschrieben hab.
 

Ich danke all denen, mit denen ich mich eigentlich nur so unterhalten habe. Vor allem, dank der fortgeschrittenen Technik und der Tatsache, daß das Internet zur Kommunikationsplattform schlechthin geworden ist, auf Neopets, Skype und nicht zuletzt Facebook. Immer wieder lernt man Leute kennen aus aller Herren Länder und mit einigen kommt man dann so richtig ins Gespräch und erzählt sich gegenseitig einige Floskeln aus dem Leben und *BUMS* ist man schon beim Thema.

"Deine Kinder sind nicht von deinem jetzigen Partner?"

"Ihr kennt euch schon seit 20 Jahren?"

"Und dein Mann?"

"Du bist geschieden?"

"Bist du jetzt in Flensburg aufgewachsen oder nur da hingezogen?"

"Warum bist du weg gezogen?"

"Warum bist du wieder zurück gekommen?"

"Du musst Antidepressiva nehmen?"

Und das auf deutsch und inzwischen auch auf englisch.
 

Ich glaube, wenn man die gefühlten Millionen Antworten, Erklärungen, Aufklärungen in beiden Sprachen zusammen nimmt, habe ich meine Lebensgeschichte bereits schon einmal nieder geschrieben.

Allerdings nicht in zusammenhängender Form und kaum annähernd befriedigend ausgeführt.

Also fasste ich, nicht zuletzt auch aus eigentherapeutischen Gründen, den Entschluss: Jetzt schreibst du alles auf, von Anfang an in einer temporär leicht verfolgbaren Linie und für alle die schon mal gefragt haben und alle, die mich noch fragen würden.
 

Darum hab ich das Buch geschrieben.

Eigentlich war gar kein Buch geplant.

Ich wollte mir nur alles von der Seele schreiben und dabei mit einem angenehmeren Zeitpunkt meines Lebens beginnen, um in den Schreibfluss zu kommen. Nicht zuletzt auch deswegen, weil sich durch die Kenntnisse der Vorgeschichte die Zusammenhänge der Nachgeschichte besser begreifen lassen.

Daß ein Buch daraus geworden ist, war ein Versehen.

Richtig bewusst ist es mir erst geworden, als ich das Skript zur Korrektur ausdrucken wollte!

220 Blatt Papier DIN A4 beidseitig bedruckt und dreieinhalb Druckerpatronen Schwarz...
 

Aber da war längst alles nieder geschrieben und gespeichert auf einem Server, der nicht - wie mein PC etwa alle 14 Tage - auf "Auslieferungszustand" zurücksetzen würde.

Danke Vista!
 

Also dann, noch ein Schlusswort zum Vorwort:

Ich habe nichts, absolut nichts hinzu gedichtet, erfunden oder aufgebauscht. Alles ist so, wie ich es aufgeschrieben habe, tatsächlich passiert. Ich habe nur Dinge weggelassen, die für den Verlauf der Geschichte nicht essentiell sind und das Buch nur unnötig und langatmig ins Unendliche hätte ausufern lassen.
 

Wer es nicht glauben kann, kann sich gerne mit meinem Lektor in Verbindung setzten und dann lässt sich sicher ein Termin zur Vor-Ort-Besichtigung ausmachen und derjenige kann sich selbst ein Bild davon machen, daß alles, was ich geschrieben habe den Tatsachen entspricht.
 

In diesem Sinne wünsche ich jetzt viel Spaß beim Lesen.
 

=^-^=
 

Sophie Carack
 


 

Prolog
 

Ich sitze mit meiner Freundin Nicole gemütlich bei einer Tasse Tee und etwas selbstgebackenem Gebäck. Ja, tatsächlich selbst gebacken, von MIR selbst gebacken. Ich bin normalerweise der schlechteste Bäcker, den man sich vorstellen kann. Aber zwei Sorten Kekse bekomme ich hin, wenn auch nicht ganz original.

Die Mandelmakronen, die ich backe, sind eigentlich keine Makronen mehr, wenn sie bei mir aus dem Ofen kommen. Ich mache sorgfältig hübsche kleine Häufchen, aber wenn sie aus dem Ofen kommen, haben sie alle Form verloren und sehen aus wie frisch gebügelt. Dafür sind die Kekse aber schön knusprig. Und Heidesand, die sehen bei mir auch irgendwie anders aus, als wie sie sollen. Die sollen ein bisschen verlaufen, tun sie aber nicht.

Aber man kann sie essen. Das ist die einzige Weihnachtsbäckerei, die ich hinbekomme.

Ich hab mal versucht einen Biskuit-Boden für eine Zitronenrolle zu backen. Die Zitronencreme bekomme ich super hin, schmeckte wie Himmel mit Wölkchen, aber der Boden... Ich hab alles gemacht, wie im Rezept beschrieben. Hab mir alle Mühe gegeben, die ich konnte. Nach Ablauf der Backzeit sah der Boden so auch ganz gut aus. Allerdings stimmte die Konsistenz nicht. Ich brauchte eigentlich nur noch in Schönschrift "Willkommen" darauf schreiben und ich konnte die Gummiematte vor die Tür legen!

Ich hab auch mal eine dritte Sorte Kekse versucht zu backen. Alles nach Rezept. Als diese aus dem Ofen kamen, sahen sie auch sehr gut aus, rochen gut, waren schön hochgegangen, so wie im Rezept beschrieben. Allerdings waren meine Kekse hart wie Stein, nicht locker. Und hochgegangen waren sie nur, weil sie innen hohl waren! Bestimmt ein prima Dämmmaterial beim Häuser bauen, aber nichts für die eigenen Zähne, wenn man an ihnen hängt.

Gerade nimmt meine Freundin wieder einen der Mandelkekse, als sie mich fragend ansieht.

"Du hast doch gesagt, du kannst nicht backen? Die sind aber doch ganz gut?"

"Naja, so sind sie schon ganz gut, es ist nur nicht das dabei herausgekommen, was laut Rezept und dazugehörigem Foto herauskommen sollte."

"Macht doch nichts. Sie sind jedenfalls lecker."

Ich schenke mir noch etwas Tee ein und frage Nicole, ob sie auch noch etwas möchte.

"Danke, Liebe, ich hab noch."

Ich stelle die Kanne wieder auf den Tisch und lange nach dem Zuckerpott.

"Sag mal", Nicole sieht mich kauend an, "Warum bist du damals eigentlich weggegangen?"

Ich hole tief Luft und sehe sie ein bisschen mitleidig an.

"Du, das ist eine lange Erzähle, eine sehr lange Erzähle, willst du dir das wirklich antun?"

Mit einem erwartungsvollen Ausdruck in den Augen nimmt sie sich ein paar Kekse (von beiden Sorten) und lehnt sich in meinem Sessel gemütlich zurück. Sie lächelt mich an: "Ich habe viel Zeit und du weißt, ich liebe eine lange Erzähle, wenn der Inhalt stimmt."

Sie grinst mich spitzbübisch an.

Ich hole ein weiteres Mal tief Luft und mache es mir auch etwas bequemer.

"Die ganze Geschichte also? Da muss ich aber weit ausholen, wenn du alles verstehen willst."

"Wie weit?"

"So etwa mindestens 22 Jahre..."

Nicole schlägt die Beine zu einem Schneidersitz zusammen und strahlt mich voller Vorfreude an.

"Dann solltest du keine Zeit verlieren!"

"Ok, auf deine Verantwortung. Dann muss ich aber noch etwas anderes zum Trinken haben."

Ich stehe auf, gehe in meine Küche und hole mir ein Glas aus der Spülmaschine und eine Flasche Cola aus dem Kühlschrank.

Wieder zurück im Wohnzimmer sehe ich, daß Nicole sich inzwischen die Wolldecke über die Beine gelegt hatte.

"Ist dir kalt?" frage ich sie.

"Nein, aber ich lasse mich hier gerade häuslich nieder. Also los, was war vor 22 Jahren?"

Ich schenke mir im Stehen ein Glas Cola ein, nehme einen Schluck und lasse mich dann in mein Sofa fallen.

"Also gut, vor 22 Jahren war ich 16 Jahre alt. Ich war auf der Waldorfschule in Flensburg und wollte in dem Sommer die Schule wechseln."
 

Kapitel I
 

"Ok, ich bin fertig, wie ist es mit dir?"

Antje klemmte ihre Badetasche auf den Gepäckträger ihres Fahrrades und sah mich wartend an.

"Moment, ich bin gleich soweit..."

Ich rollte mein Badehandtuch zum dritten Mal zusammen und versuchte es auf meinem laschen Gepäckträger fest zu bekommen.

"Du solltest dir vielleicht doch mal eine Badetasche zulegen." grinste Antje mich an.

"Klar, die nehme ich dann über die Schulter. Wenn mein Gepäckträger schon kein Badehandtuch halten kann, wie soll ich dann die Tasche festmachen?"

Antje zuckte nur mit den Schultern.

"So, so könnte es halten, zumindest bis wir am Strand sind."

Ich hatte mein Handtuch jetzt wieder aufgewickelt und es um die Klammer des Gepäckträgers geschlungen. So konnte es zumindest nicht mehr verrutschen.

"Dann lass uns mal, bevor der Sommer zu Ende ist."

Antje schwang sich schon auf ihr Rad, als mir die Kette von den Zahnrädern rutschte.

"AARGHHH! Ich krich gleich die Krätze!!" pöbelte ich und trat auf mein Fahrrad ein.

"Na, so geht man aber nicht mit seinem Rad um. Lass mal gucken."

Antje schob mich von meinem Fahrrad weg und drückte mir ihres in die Hand mit den Worten:

"Halt mal..."

Im Nu hatte sie die Kette wieder auf den Zahnrädern und auch die Ursache für das ewige Abspringen der Kette herausgefunden.

"Du solltest mal Öl dran machen, die Kette ist so trocken, daß sie sich ständig auffaltet."

"Öl? Hab ich nicht... Geht auch Speiseöl?"

Antje lachte.

"Zur Not..."
 

Endlich waren wir am Strand. Unterwegs ist mir die Kette noch drei Mal abgesprungen. Beim dritten Mal bin ich dann aber nicht mehr abgestiegen, um diese dämliche Kette wieder drauf zu gniddeln. Wir hatten eh schon beide schwarze Finger bekommen. Ich hab mich dann den Berg zum Strand runter rollen lassen, den Rest des Weges haben wir unsere Räder dann geschoben.

Der Strand in Langballigau war wirklich schön. Wir hatten viele buschig gewachsene große Strandgras-Sträucher, die wie Inseln am Strand verteilt waren und dazwischen einladende Kuhlen im Sand bildeten. In einer solchen Kuhle beschlossen wir dann unser Lager aufzuschlagen.

Wir ließen die Fahrräder in den Sand fallen und breiteten erstmal die Handtücher aus.

Beziehungsweise Antje breitete ihre Strandmatte aus. Sie hatte immer alles dabei. Eine Matte für den Strand, eine dieser Schaumstoff-Thermo-Matten, die man auch zum Zelten braucht, um darauf zu liegen, .

Ein Handtuch, mit dem sie sich abtrocknete, ein Handtuch mit dem sie sich abtrocknete, wenn das erste Handtuch nass ist, ein großes Saunatuch, das sie um sich wickelte, wenn sie ihren Badeanzug anzog, frische Unterwäsche, Sonnencreme, Sonnenmilch für nach dem Sonnenbad, eine Sonnenbrille, einen kleinen Geldbeutel, eine Tüte für die nassen Sachen und natürlich die Tasche, in die alles reinpassen musste.

Ich hatte nur mein Badehandtuch mit, den Bikini trug ich bereits unter meiner Jeans und dem T-Shirt und das Geld für Pommes, Eis und die 30 Pfennig zum Telephonieren hatte ich in der einen, meine Zigaretten und das Feuerzeug in der anderen Hosentasche.

"Dieses Jahr sind sie aber spät mit der Badebrücke." bemerkte ich und ließ mich auf meinem Handtuch nieder.

"Naja, offiziell haben wir ja auch noch nicht Saison. Wer rechnet denn damit, daß es im Juli schon sommerlich werden könnte?" erwiderte Antje sarkastisch.

"Stimmt schon, immerhin haben sie es geschafft, die Brücke fertig zu bekommen. Haben die die Nacht durchgearbeitet?"

"Keine Ahnung, Ist aber ja auch egal, sie ist jetzt wenigstens fertig."

Antje drappierte ihr Badehandtuch auf der Matte und setzte sich dann darauf, die Flasche mit der Sonnencreme in der Hand.

"Kannst du mir mal den Rücken eincremen?" Sie hatte die Flasche zwischen ihren Füßen abgestellt und band sich ihre schulterlangen Haare zu einem Zopf zusammen.

"Klar, Gib her. Sollen wir dann erstmal Pommes holen, oder ein Eis?"

Ich hatte die Flasche bereits aufgeschraubt und wollte mir gerade eine Portion deren Inhalt auf die Hand machen, als Antje mich stoppte.

"Moment, ich muss mir erst den Badeanzug anziehen."

Sie wickelte sich in ihrem riesigen Saunatuch ein und begann sich umständlich um zu ziehen. Mit den Zähnen versuchte sie die beiden Enden des Tuches vor sich zusammen zu halten, während sie sich gefährlich auf einem Bein schwankend aus ihrer kurzen Hose wand.

Endlich hatte sie ihre akrobatische Einlage beendet und ließ das Saunatuch wie eine Vorhang fallen.

"Guck mal, der ist neu." Strahlte sie mich an.

"Sieht gut aus. Also, Pommes? Eis? Baden?

"Mach mal langsam. Wir haben Zeit genug. Willst du dich nicht noch umziehen? Eincremen?" Suchend guckte sie sich nach meiner nicht vorhandenen Badetasche um.

"Nö, den Bikini hab ich drunter und eincremen brauch ich mich nicht. Ich bekomme so schnell keinen Sonnenbrand." Grinste ich.

Das stimmte.

Ich brauchte eigentlich nur einen Reisekatalog aufschlagen und wurde schon dunkelbraun. Und da ich mich nie den ganzen Tag in der prallen Sonne aufhielt, musste ich mir auch den Pelz nicht verbrennen. Ab und zu hatte ich mal einen leichten Sonnenbrand, der war dann aber meistens auch schnell wieder weg.

"Wie du meinst. Dann holen wir uns erstmal ein Eis."

Antje schnappte sich ihren Geldbeutel und zusammen machten wir uns auf zum Kiosk.
 

*

Nicole greift nach ihere Tasse mit dem Tee und guckt mich fragend an.

"Habt ihr die Fahrräder einfach so da liegenlassen? Ohne abzuschließen? Und die Handtücher?"

"Handtücher haben keinem wirklich genutzt, sowas wurde nicht geklaut. Und die Fahrräder waren auch nicht ernsthaft in Gefahr. Meine olle Rostgieke wollte eh keiner haben. Ja, das waren noch unbeschwerte Zeiten..."
 

*
 

Wieder zurück bemerkten wir nicht weit von uns einen Jungen, der eben noch nicht da war. Ein ganz niedliches Kerlchen. Dunkle kurze Haare, ein rotes T-Shirt und eine Bermuda-Schorts, die aussah wie eine Jeans.

"Guck mal, der da", bedeutete ich Antje.

"Der war doch eben noch nicht da?"

"Kann sein." Antje schob sich zwei Pommes mit Majo in den Mund.

"Der ist doch ganz niedlich?" sagte ich zu ihr an zwei Pommes mit Ketjup vorbeikauend.

"Findest du? Du hast doch einen Freund?"

"Jaaah, der ist aber ja nicht da." gab ich kiebig zur Antwort.

"Na, lass dich mal nicht erwischen." Grinste Antje.

Der Junge guckte die ganze Zeit zu uns rüber. Ich hab ihn natürlich nicht beobachtet, nur ab und zu mal hingeguckt. Ich versuchte mich dabei unauffällig hinter dem Strandgras-Busch zu verstecken, schließlich wollte ich ihn ja nicht observieren.

Er hatte eine Zigarette in der Hand. Also rauchte er auch. Seine Haare waren kurz, dunkel und nass und er hatte eine wirklich süßen Blick. Er lag lang auf der Seite im Sand und stützte den Kopf in eine Hand. Er sah aus wie ein Modell das für einen Bilderkalender posierte. Er hatte gar kein Handtuch dabei, wollte er denn nicht baden? Seine Haare sahen aber nass aus...

Als ich mit meinen Pommes fertig war, fingerte ich eine Zigarette aus der Schachtel in meiner Hosentasche und machte sie mit dem Feuerzeug an.

"Hast du auch eine für mich?" fragte Antje.

Ich wurde abruppt aus meinen Tagträumen gerissen.

"Klar. Aber, seit wann rauchst du?" Ich gab ihr das Gewünschte aus meiner Schachtel.

"Eigentlich nicht, aber ab und zu schon." murmelte sie an der Zigarette in ihrem Mund vorbei.

"Machst du das jetzt, weil der süße Junge da drüben auch raucht?" fragte ich sie neckend.

"Neeeeh, nur so. Hab halt mal Lust dazu." wehrte Antje betont lässig ab.

Ich grinste und machte meine inzwischen fertig gerauchte Zigarette im Sand aus. Naja, ich drückte die Kippe so weit es ging in den losen trockenen Sand.

"Ich geh mal ins Wasser" sagte ich und schlüpfte aus meiner Hose und dem T-Shirt.

"Ich komme auch gleich." rief Antje mir noch hinterher.

Ich guckte ganz unauffällig zu dem Jungen rüber, der war aber verschwunden. Erstaunt blickte ich mich um - natürlich immer noch unauffällig - konnte ihn aber nirgendwo sehen. Auch lagen an der Stelle, wo er bis eben noch gewesen war, keine Kleidung oder Handtücher.

Nagut, dann halt eben nicht.

Ich ging erstmal ans Wasser heran, stippte einen Fuß ein um zu prüfen, wie kalt es ist und befand dann, daß es von der Badebrücke aus bestimmt leichter war, ins Wasser zu kommen.

Das Wasser war schon recht warm, für diese Jahreszeit. Wir hatten aber auch schon seit vier Wochen Hochsommer. Auf dem Weg zur Brücke guckte ich mich - natürlich weiterhin unauffällig - nach dem Jungen um, aber er war immer noch nirgends zu sehen.

Wird schon wieder auftauchen, dachte ich mir.

Auf der Brücke ging ich bis an das Ende, das dieses Jahr mit einem Quersteg endete, wo an jeder Seite eine Treppe angebracht war. Super, dann konnte man richtig Anlauf nehmen zum Springen. Im letzten Jahr endete die Brücke einfach mit einer Treppe, da konnte man schlecht vorbeispringen. Natürlich durfte man nicht von der Badebrücke springen. Ein großes gut leserliches Schild wies jeden in deutscher und in dänischer Sprache (wir befanden uns schließlich in der Nähe der Dänischen Grenze) darauf hin, daß das Springen von der Badebrücke verboten sei. Und natürlich ließen wir uns auch in diesem Jahr wieder nicht davon abhalten, es dennoch zu tun.

Ich stand gerade ganz am Ende der Brücke und überlegte, welche Treppe ich nehmen sollte, als ich einen heftigen Stoß in den Rücken bekam und sich die Frage von selbst erledigte. Ich konnte gerade noch Luft holen und diese anhalten, als ich auch schon ins Wasser eintauchte.

Das Wasser war eisig! Ich stieß mich am Grund ab und kam sehr schnell wieder nach oben, gottseidank, denn in dem kalten Wasser hatte ich das dringende Bedürfnis erneut tief Luft zu holen. Als ich Oben und Unten sortiert hatte sah ich mich nach dem Verursacher um. Ich bekam aber nur gerade noch mit, wie ziemlich dicht neben mir jemand mit einem Kopfsprung ins Wasser tauchte. Ich hustete und schnaubte. Ich hatte Wasser in die Nase bekommen, weil ich sie mir nicht mehr zuhalten konnte. Mit hastigen Zügen schwamm ich zu einer der Treppen und hechtete auf die Brücke. Inzwischen tauchte auch der Springer wieder auf und ich erkannte den Jungen von eben mit der Zigarette. Er hatte jetzt das T-Shirt und die Shorts ausgezogen und trug nur noch eine rote Badehose. Er sah von unten vom Wasser aus zu mir und grinste breit.

Na warte, dir werd ich helfen!

Ich nahm gar nicht erst Anlauf sonder sprang gleich neben ihm ins Wasser und machte eine ordentliche Fontäne um ihn richtig nass zu machen.
 

*
 

"War er denn nicht schon nass? Ich meine, er ist doch immerhin in´s Wasser gesprungen?" Nicole knabbert gespannt an ihrem Keks.

"Sicher war er schon nass. Aber in dem Alter denkt man halt etwas anders und schließlich hab ich ihm so ja auch Wasser ins Gesicht gespritzt, da musste er auch erstmal wieder Luft holen. Lass mich doch erstmal erzählen."
 

*
 

Als ich wieder hoch kam lachte ich und guckte nach dem Jungen, der direkt neben mir im Wasser sein müsste und sich selbiges aus den Augen wischen.

Da war aber keiner. Stattdessen spürte ich nur, wie mich etwas an meinen Knöcheln packte und unter Wasser zog.

Wir tobten eine ganze Weile so im Wasser herum. Endlich beschlossen wir an Land zu gehen. Zumindest beschloss er das und deutete mit dem Kopf und den Händen in Richtung Strand. Schwer nach Luft schnappend und lachend stimmte ich zu und wir gingen zu meinem Liegeplatz zurück, wo Antje noch immer saß, eine Zigarette in der Hand.

"Rauchst du immer noch?" fragte ich ungläubig.

"Nein, schon wieder. Ich hab dir mal eine geklaut."

"Ey, das wird jetzt aber nicht zur Gewohnheit!" schimpfte ich. Ich verzieh ihr aber sofort, immerhin hatte ich diesen süßen Jungen im Schlepptau.

Er hatte jetzt auch sein T-Shirt und die Shorts in den Händen, aber kein Handtuch. Wie selbstverständlich setzte er sich zu uns in den Sand. Ich hatte mein Badehandtuch um die Schultern geschwungen und saß auf einer Ecke des Tuches im Sand.

"Sah aus, als hättet ihr Spaß gehabt." grinste Antje breit und zog an ihrer Zigarette.

"Hast ihn auch gleich mitgebracht. Sag mal, wieso sagt der nichts?"

"Keine Ahnung, im Wasser war ja nicht viel Gelegenheit zum Reden, da war irgendwie immer so viel Wasser drum rum..."

Der Junge hatte inzwischen eine Zigarette in den Fingern und sah mich fragend an.

"Do you have fire?"

BITTE??? Äh... English?

"Sprichst du kein Deutsch?" fragte ich.

Er sah mich verständnislos an, dann konnte ich direkt sehen, wie bei ihm der Groschen, oder viel mehr der Cent fiel.

"No, nix deutsch. Do you speak english?"

Ich verstand zwar die Frage, konnte aber nur verlegen lächelnd mit dem Kopf schütteln und "No" sagen. Ich hatte zwar die letzten fünf Jahre auf der Waldorfschule Englisch gehabt, konnte jedoch keinen vernünftigen Satz. Auch einer der Gründe, warum ich auf eine andere Schule wechseln wollte.

"A little bit." gab Antje zur Antwort.

"Do you have fire for my cigarette?" fragte er erneut.

"Er fragt nach deinem Feuerzeug." flüsterte mir Antje übertrieben unauffällig zu.

"Klar." sagte ich und reichte ihm das gewünschte.

"My name is Steven. What is your name?" er sah mich erwartungsvoll an.

Das konnte ich gerade noch verstehen.

"Carmen." gab ich kurz zur Antwort.

"And your name?"

"My name is Clair. Where do you came from and what are you doing here?"

Wow, ich bewunderte Antje, ich würde jetzt auch zu gerne Englisch sprechen können...

"Warum sagst du denn, dein Name wäre Clair?" fragte ich sie leise.

"Er muss ja nicht alles wissen." gab sie genauso leise zur Antwort.

"I live in the USA, in Los Angeles, and I'm here on vacation with my uncle. He lives in Denmark." Er zeigte hinter sich über das Wasser zum anderen Ufer.

"How old are you?" fragte Antje.

"Was sagt er?" flüsterte ich ihr zu.

Er kommt aus Amerika und wohnt in Los Angeles. Er ist bei seinem Onkel in den Ferien der in Dänemark wohnt. Ich hab ihn jetzt gefragt, wie alt er ist."

"Das hab ich auch verstanden." erwiderte ich etwas gereizt, mich darüber ärgernd, daß wir in der Waldorfschule nur so dämlich Sprüche gelernt haben, wo Bethy ein bit Butter kauft...

"I´m fifteen years old. And you?" Er sah mich an.

"Äh... sixteen..." Es klang mehr wie eine Frage als eine Antwort.

Steven nickte verstehen und lächelte mich an.

"Hab ich das gerade richtig verstanden, er ist 15?" fragte ich Antje.

"Jap.When is your birthday?" Sagte Antje mehr an Steven gerichtet.

"In August I will be 16."

"Pfuh, der ist ja viel jünger als ich." flüsterte ich zu Antje.
 

Es war ein schöner Nachmittag am Strand. Er erzählte noch einiges von sich, daß er einen Freund hätte, der ihm mal beim Frühstück ein Frühstücksmesser in den Unterarm gerammt hat, nicht mit Absicht. Er wollte es Steven nur reichen, hielt es aber falsch. Und daß Steven mal Polizist, also, Cop werden wollte.

Schließlich war es Zeit für Antje und mich nach Hause zu fahren.

"We can see us again?" fragte er.

"Yes", antwortete Antje, "Tomorrow?"

"No, tomorrow my uncle and I will be going back to Denmark very early. Can you come back this evening?"

Antje übersetzte kurz und ich antwortet sofort begeistert: "Yes!"

Im Kopf überlegte ich mir schon meine Flucht, so spät durfte ich sicher nicht mehr raus.

"I don´t know", sagte Antje jetzt. "I will try."

"Antje, du musst mitkommen, ich kann doch kein englisch?" flehte ich sie an.

"Du schaffst das schon." zwinkerte sie mir zu.

"When will you will be back?" fragte Steven.

Wir einigten uns dann auf neun Uhr abends, also, 21 Uhr.

Antje und ich stiegen auf unsere bereits fertig bepackten Fahrräder und fuhren los. Ich war total aufgeregt.

"Du willst doch nicht ernsthaft wieder zu ihm zum Strand fahren, oder?" fragte Antje mich schnaufend.

"Doch? Warum nicht? Ralf muss es ja nicht wissen." Ich schnaufte ebenfalls, den Berg runter fahren war wirklich angenehmer, als wieder rauf!

"Du kommst doch mit, oder?"

"Ich weiß nicht, verlass dich lieber nicht darauf." Antje war jetzt abgestiegen und schob ihr Fahrrad. Ich tat es ihr gleich.

"Was soll ich denn machen? Ich kann doch nicht so gut Englisch wie du."

"So gut ist mein Englisch auch nicht. Ich werde sehen, daß ich das schaffe, wenn ich aber bis 10 vor neun nicht draußen bin, dann warte nicht auf mich."

Wir hatten die Kuppe des kleinen Berges erreicht und stiegen wieder auf unsere Fahrräder auf um nach Hause zu fahren.
 

Ich stellte mein Fahrrad an der Hauptstraße hinter das Häuschen an der Bushaltestelle. Bis dorthin musste ich mich von zu Hause aus unbemerkt schleichen können. Bei meinem Elternhaus angekommen öffnete ich die Tür von der Abseite, die an den Anbau angrenzte, der wiederum ein flaches Dach hatte und direkt unter meinem Zimmerfenster an das Haus stieß. Die Abseitentür war aus Metall und sehr laut, aber ich hatte inzwischen meine Tricks, ausgesprochen geräuschlos über diese Tür ab- und auch wieder aufzusteigen. Sie musste nur offen sein, oder wenigstens nicht abgeschlossen.

Ganz normal ging ich dann durch die Haustür rein.

Ich machte mir eine Dose mit Reis auf, so mexikanischer Paprikareis, oder sowas, zum Abendbrot. Ich schnitt mich noch an der Dose, weil mir die Hände vor Aufregung auf das bevorstehende zitterten. Während der Reis auf meinem Teller in der Mikrowelle warm wurde, versuchte ich die Blutung an meinem Finger zu stillen, was nur schlecht gelang. Schließlich konnte ich dann aber endlich ein Pflaster drauf machen und meinen inzwischen wieder kalt gewordenen Reis essen.

Ich ging schon um acht Uhr ins Bett mit dem Kommentar: "Ich hab Kopfweh, irgendwie hab ich zu viel Sonne abbekommen." und schlurfte betont leidend die Treppe hoch zu meinem Zimmer.

Dort lag ich in meinem Bett und schrieb das Geschehene vom Nachmittag in mein kleines Buch. Kein Tagebuch, nur ein kleines DIN A8 Notizbuch in dem ich solche besonderen Ereignisse festhielt. Dort stand auch Björn aus der Waldorfschule drin. Er war eine Klasse über mir und ich war total verknallt. Auch ein Tim wurde erwähnt. Und natürlich Ralf Hellwig, mein erster fester Freund.

An den dachte ich jetzt aber ganz und gar nicht.

Viel mehr dachte ich darüber nach, welche Worte ich jetzt noch in Englisch brauchen konnte? Aber mir wollte nichts einfallen. Einige Worte konnte ich ja auch, aber ich konnte keine vernünftigen Sätze bilden...

Schließlich wurde es halb neun und ich immer aufgeregter.

Halb neun war sicher spät genug um sich jetzt davon zu schleichen. Immerhin hatte ich dann genügend Zeit vorsichtig aus meinem Fenster zu klettern, lautlos über das Flachdach des Anbaues zu huschen, den kleinen Absatz auf das Dach von der Abseite runter zu gleiten und schließlich über die Tür der Abseite nach unten zu gelangen.

Bis hier hin war alles super. Ich blieb eine Weile reglos horchend stehen. Niemand schien den Ausbruch bemerkt zu haben. Jetzt schnell über die Auffahrt zum Knick gehuscht und über den Zaun auf den Spielplatz der Grundschule gehechtet. Im Schutz des Knicks, der mich rein optisch komplett von meinem Elternhaus trennte, rannte ich quer über den Schulhof zur Bushaltestelle an der Hauptstraße.

Nach Luft schnappend und vor Vorfreude glühendem Gesicht erreichte ich schließlich das Häuschen an der Haltestelle. Ich checkte kurz, ob ich die Zigaretten und das Feuerzeug noch hatte: Jap, alles da.

Ein Blick auf die Uhr sagte mir, daß Antje noch fünf Minuten hatte, um aufzutauchen.

"Ich rauche eine, wenn sie bis dahin nicht aufkreuzt, fahre ich halt alleine zum Strand."

Mit der glimmenden Zigarette setzte ich mich in den dunkelsten Winkel der Bushütte, damit mich ja niemand sehen würde.

Es war noch längst nicht dunkel. Immerhin hatten wir Mitte Juli und hier oben, so nahe an Skandinavien, wurde es zur Mittsommernacht gerade erst dunkel, wenn der Tag schon wieder anfängt. Bis um 22 Uhr hatten wir hier noch Sonnenuntergang und es begann gerade erst dunkel zu werden.

"Ob er schon da ist? Ob er schon wartet? Was, wenn er nicht kommt?"

Schließlich war meine Kippe zu Ende und ein weiterer Blick auf die Uhr ließ darauf schließen, daß Antje wohl nicht kommen würde. Es war inzwischen fünf vor neun. Ok. Antje kam mit Sicherheit nicht mehr und für mich war es jetzt höchste Zeit um los zu fahren.

Ich ließ das Licht an meinem Fahrrad aus, dann war ich noch unauffälliger. Außerdem bremste der Dynamo nur. In nur fünf Minuten hatte ich den Strand erreicht und wollte gerade über die Kreuzung preschen, als meine Kette es für eine unglaublich gute Idee hielt, genau in dem Moment von den Zahnrädern zu springen, als ich meine Rücktrittbremse mehr als irgendetwas sonst brauchte! Zum Glück war ich ein geschickter Radfahrer (oder für die emanzipierten unter uns, eine geschickte Radfahrerin) und konnte den Schwung, den ich drauf hatte, einigermaßen abfangen. Als mein Hinterrad dann meinte, auf dem Sand in der Mitte der Kreuzung weg zu schliddern, sprang ich von meinem sich selbständig machenden Fahrrad in den Grünstreifen und rollte geschickt ab.

Ich hatte nicht mal einen Kratzer. Allerdings ging es meinem Rad nicht so gut. Die Kette war komplett abgerissen und hatte sich in zwei Teilen über die Straße verteilt. Das hintere Rad hatte nicht nur eine Acht, es war schon eine 16! Das Rad war so verbogen, daß es sich im Fahrradrahmen nicht mehr bewegen ließ.

Super! Großartig! Das war ja jetzt wirklich das, was ich brauchte!!!

Ich warf mein Fahrrad in den seichten Graben neben dem Fußweg und machte mich die letzten Meter zu Fuß auf den Weg zum Strand. Inzwischen war es zehn nach neun, hoffentlich ist er noch da. Wenn er überhaupt da war...

Nach ca. zwei Minuten hatte ich dann unseren Liegeplatz vom Nachmittag erreicht. Allerdings war dieser verlassen. Steven war wohl doch nicht gekommen, dachte ich traurig.

Ein paar Meter weiter entdeckte ich dann aber doch jemanden, Steven war doch da. Mein Herz machte einen kurzen Hüpfer, nur um mir dann im Hals stecken zu bleiben.

Wie spreche ich ihn jetzt an? Ich konnte doch kein Englisch...

"Hi" sagte er dann, als er mich sah.

"Hi" gab ich zurück.

Er bedeutete mir, mich neben ihn auf das kleine Handtuch zu setzen.

Als ich mich niedergelassen hatte bot er mir eine Zigarette an, die ich gerne annahm und er fragte mich:

"Clair?"

Ich schüttelte mit dem Kopf und grinste hilflos.

Er winkte lächelnd mit der Hand ab 'Macht nichts', sollte das wohl heißen.

Nachdem wir eine Weile schweigend nebeneinander gesessen und unsere Zigarette geraucht hatten, fragte er: "Swimming?", und machte mit den Armen Schwimmbewegungen und deutete mit dem Kopf zur Badebrücke.

"Ja, klar." antwortete ich und stand auf. Meinen Bikini hatte ich schließlich noch an.

Froh darüber die peinliche Stille überstanden zu haben sprang ich fast augenblicklich aus meiner Hose und dem Shirt, Steven war schneller als ich und rannte schon über die Badebrücke. Als ich ihn einholte machte er ein leicht gequältes Gesicht. Er stand auf der einen Treppe mit den Füßen im Wasser und gestikulierte mir, ob ich sicher war, daß wir jetzt Schwimmen sollten. Ich lachte laut und nickte heftig. "klar!" rief ich meine Gestik unterstreichend und zu seinem Entsetzen sprang ich einfach ins Wasser. Zumindest glaubte ich, ein Entsetzen in seinem Gesicht gesehen zu haben, kurz bevor ich mir die Nase zu hielt um dann in den eisigen Fluten zu verschwinden.

Ich bereute diese Angeberei fast sofort und versuchte so unauffällig wie möglich nach Luft zu schnappen, als ich wieder an der Wasseroberfläche war. Steven stand noch immer auf der Treppe, zitterte gekünstelt heftig und rief: "It´s fucking cold! Look: ice, ice, ice, ice!" Bei den letzten vier Worten, die ich nur all zu leicht verstand, deutete er mit der Hand auf vier imaginäre Eisschollen auf der beinahe schwarzen Ostsee. Ich lachte wieder laut. Als ich ganz dicht bei ihm war legte ich mich auf den Rücken und plantschte mit den Beinen, so fest ich konnte und er bekam eine ordentliche Menge Wasser ab. Meine Aktion verfehlte ihre Wirkung nicht und Steven sprang mir augenblicklich hinterher.

Nachdem wir wieder eine Weile getobt hatten, so wie am Nachmittag zuvor schon, gingen wir wieder an Land zu unserem Liegeplatz zurück. Er reichte mir ohne Kommentar sein Handtuch. Ich trocknete mich kurz ab und schlüpfte in meine Hose (da ich noch nicht annähernd trocken war hatte ich den Sand jetzt an sehr unangenehmen Stellen) und mein T-Shirt. Steven hielt mir das Handtuch erneut hin und deutete auf meine Haare. Ich hatte relativ lange dunkle Haare, sie reichten mir über die Schulterblätter. Ich winkte aber ab, worauf Steven es sich nicht nehmen ließ, mir höchst selbst persönlich die Haare trocken zu rubbeln.

Als er damit fertig war bot er mir wieder eine Zigarette an.

"Do you want to walk a little bit?" fragte er mich dann. Ich lächelte ihn verständnislos an, hilflos bedeutend, daß ich ihn nicht verstanden hatte. Er machte dann mit den Fingern ein laufendes Männchen, deutete auf mich und ihn und schloss dann mit einer kreisenden Armbewegung die Umgebung ein.

"Ah, spazieren gehen." Sagte ich.

"Schbaziren gehe?" wiederholte er unbeholfen.

"Jap!" nickte ich.

Wir gingen dann zum Campingplatz rüber, wo einige Hasen durch die Rosenhecke über den Rasenplatz huschten.

"Ah, rabbit." Sagte Steven und machte eine Bewegung, als hätte er ein Gewehr in den Händen und würde Jagd auf die Hasen machen.

"No!" schüttelte ich tadelnd den Kopf.

"No?" machte Steven erstaunt. "It´s good." sagte er und strich sich mit der Hand über den Bauch.

"No!" erwiederte ich noch bestimmter.

Ich spürte irgendetwas kühles an meiner Hand und als ich nachsah, bemerkte ich, daß das Pflaster von meinem Finger weg war und der Schnitt von der Reisdose wieder blutete. Es lief richtig an meinem Finger herunter.

"Ach, Mist!" schimpfte ich und steckte den Finger in den Mund.

"Let me see." sagte Steven und griff sofort nach meiner Hand. Das meiste Blut hatte ich schon abgeleckt, aber die Stelle blutete munter weiter.

Steven nahm jetzt meinen Finger zwischen seine Lippen, saugte kurz und ließ mich dann wieder los. Der Finger war sauber und die Stelle hatte augenblicklich aufgehört zu bluten.

Ich staunte, wusste aber nicht, was ich sagen sollte, schon gar nicht auf Englisch. Daher sagte ich einfach nur "Thank You."

Der Campingplatz lag an einem Baggersee und Steven steuerte mit mir direkt auf das Ufer zu.

Wir setzten uns einen Moment hin, er erzählte irgendetwas, aber ich verstand nur die Hälfte und die nicht richtig. Schließlich gab er seine Erzählung auf. Vielleicht hatte er auch zu Ende erzählt, ich weiß es nicht, ich verstand ihn ja nicht.

Nach einer Weile jedenfalls stand er wieder auf und bedeutete mir, das gleiche zu tun. Er deutete auf den Wald, auf der anderen Seite der Hauptstraße und lächelte mich aufmunternd an.

Ok, warum nicht? Gehen wir halt zum Wald.

Er fragte mich dann irgendetwas, mit dem Wort "Kiss". Ich verstand was er wollte, hätte gerne "Vielleicht" gesagt, aber ich wusste nicht das englische Wort dafür. Also gab ich nur "I don´t know?" zur Antwort. Irgendwann nahm er mich dann einfach in den Arm und küsste mich.

Für einen Moment fiel mir ein, daß ich ja einen festen Freund hatte, aber der Gedanke war zu flüchtig, um weiter darüber nach zu denken.

Es war schon lange dunkel, als wir vor dem Kiosk am Strand standen, der längst geschlossen hatte, um uns zu verabschieden.

"I have to go." sagte er zu mir.

"Schade..." sagte ich.

"See again?" stammelte ich dann, nicht sicher, ob er mich verstehen würde.

Steven schüttelte mit dem Kopf und sagte irgendetwas mit "Home" und "Tomorrow". Ich verstand.

Er küsste mich dann noch mal und sagte dann "Bye". Ich sah noch, wie er in Richtung des Yachthafens in Langballigau verschwand, dann machte ich mich auch auf den Weg, zu Fuß, mit meinem Kaputten Fahrrad im Schlepp.

Ich hab ihn nie wieder gesehen.
 

*
 

"Ok, das war Steven. Aber was hat er denn mit deiner Geschichte zu tun? Wenn du ihn doch sowieso nie wieder gesehen hast?"

"Nicht viel. Das stimmt schon. Außer das ich damals das erste Mal fremd gegangen bin. Ich war ja eigentlich mit Ralf fest zusammen, konnte aber dann doch meine Finger nicht von Steven lassen. Und vielleicht noch, daß Steven ja etwas jünger war als ich, wenn auch nur wenige Monate. Für den weiteren Verlauf der Geschichte ist das also nicht ganz unwesentlich." Ich grinse.

"Aha." macht Nicole kurz.

"Warum fängst du dann nicht da an, wo du Ralf kennen gelernt hast? Oder deinen Mann? Oder, keine Ahnung?"

"Wie ich Ralf kennen gelernt habe ist schnell erzählt, das war im Schwimmbad. Aber das ist nicht wirklich so interessant. Nur ein bisschen... Der kommt noch genug vor. Und sonst hätte ich auch anfangen können: Zuerst war es dunkel, aber als ich dann das Licht der Welt erblickte... Also, soll ich jetzt weiter erzählen?"

"Ja, klar. Sorry. Erzähl weiter" Nicole nimmt sich eine weitere Portion der Kekse und macht es sich wieder gemütlich unter der Decke.
 

*
 

Der Sommer ging seinem Ende entgegen, die Ferien waren längst vorbei und ich ging schon einige Zeit auf die Realschule. Meine Mum und ich sind in der letzten Woche der Sommerferien nach Engelsby gefahren, wo ich morgens aus dem Linienbus aussteigen würde um dann den Rest nach Mürwik über eine Nebenstraße zu Fuß zur Schule zu gehen. Um einen ersten Eindruck über die Strecke und die Zeit, die ich brauchen würde, zu bekommen, gingen meine Mum und ich zu Fuß von Engelsby nach Mürwik. Es war ein weiter Weg, ein sehr weiter Weg. Angenehmer weise gab es links und rechts von der Straße einen beinahe durchgehenden Knick gefüllt mit Himbeersträuchern und Haselnusssträuchern. Wir brauchten sicher länger, als wenn wir zügig gegangen wären, aber die Himbeeren waren einfach köstlich. Und es gab viele. Schließlich erreichten wir dann zuerst das Fördegymnasium und schließlich die Realschule Flensburg Ost. Ich wusste auch schon, daß ich Morgens und Mittags mindestens eine Klassenkameradin haben würde, die ebenfalls mit dem Bus fuhr und den Weg zu Fuß zurücklegen würde.

Meine Mum und ich hielten uns nicht lange in Mürwik auf und gingen gleich den Weg wieder zurück nach Engelsby. Auf dem Rückweg fiel uns dann zum Einen auf, daß wir mit dem Himbeeren Pflücken auf dem Hinweg sehr gründlich gewesen waren, zum Anderen, daß es hier keine Zivilisation zu geben schien. Und daß auf dem Großteil des Weges. Nur Knick, Bäume, Brombeerbüsche mit noch unreifen Früchten, leergepflückte Himbeerbüsche und Haselnusssträucher, deren Nüsse noch nicht genießbar waren. Und zusätzlich fiel uns noch wieder mal auf, daß der Weg lang war, sehr lang…

Als dann nach gefühlten zwei Stunden endlich ein klappriger etwas verfallener Schuppen auftauchte rief meine Mum entzückt: „Die Zivilisation hat uns wieder!“ Zur Feier dieser durchgestandenen Survival-Tour genehmigten wir uns eine Cola von Aldi und einen Videofilm bei Monitor.
 

Inzwischen ging ich jetzt seit etwa zwei Monaten auf die Realschule. Ich wiederholte die neunte Klasse. Die hatte ich auf der Waldorfschule eigentlich schon hinter mir. Da ich aber ungefähr abschätzen konnte, daß mein Wissen für eine 10 Klasse einer normal Sterblichen Realschule nicht ansatzweise ausreichte, war es sogar mein Vorschlag, die Neunte zu wiederholen. Mein mangelhaftes Wissen lag nicht an mir. Ich hatte eigentlich keine Schwierigkeiten mit dem Lernen. Es war der Stoff, oder vielmehr der Nicht-Stoff, der an der Waldorfschule unterrichtet wurde. Jedenfalls damals, allerdings würde ich nicht darauf schwören, daß sich das inzwischen geändert haben könnte.

An der Waldorfschule tickt die Uhr anders, vor allem sehr viel ökologischer.

Die ersten beiden Schulstunden sind grundsätzlich zu einer zusammen gezogen, sie dauert eineinhalb Stunden. Begonnen wird mit einem Morgenspruch, zu dem jeder aufstehen und sich hinter seinen Stuhl stellen muss.

„Ich schaue in die Welt, in der die Pflanzen wachsen, die Tiere leben, die Steine lagern…“

Das Gedicht ist lang und dauert schon mal fünf Minuten.

Danach noch verschiedene Sprachübungen, in denen bestimmte Laute betont werden:

„Sssssie ssssilberne Ssssegel auf sssssilbernem Wasssssser!“

Und ähnliche pädagogisch und inhaltlich sehr wertvolle Texte.

Nach weiteren 10 Minuten durften wir uns dann setzen. Der Unterricht begann aber noch nicht, zuerst mussten jetzt alle Schüler, die (je nachdem welcher Wochentag gerade war, nehmen wir als Beispiel einfach den Montag) an einem Montag geboren waren einzeln nach Vorne um ihren Zeugnis-Spruch auf zu sagen. Ja, wir hatten alle einen eigens für uns ausgesuchten Spruch im Zeugnis der dann an den jeweiligen Wochentagen rezitiert werden musste.

Wir fanden das alle doof.

Wenn ich dran war, dann rezitierte ich betont übertrieben, was der Lehrer allerdings für große Hingabe hielt.

Nun waren also alle Sprachübungen heruntergeleiert, die Zeugnis-Sprüche hingesülzt und der Unterricht konnte beginnen.

Er begann dann auch.

Allerdings nicht in dem wir unsere Bücher hervor holten, sondern unsere ‚Epochenhefte‘. Das waren ganz besondere Hefte aus speziellem Papier. Es war etwas dicker und rauer als das Papier normalsterblicher Schulhefte und zwischen diesen Seiten waren Seidenblätter eingearbeitet. Es hatte keine Linien und keine Karos, kostete aber damals schon 3 DM ein Heft.

Hier sollte alles – aufwändig verziert – aufgeschrieben werden, was wir im Unterricht machten. Es stellte das einzige zugelassene Nachschlagewerk dar, daß wir im Unterricht benutzen sollten.

Warum Epochenheft? Nun, die ersten beiden zusammengezogenen Unterrichtsstunden beinhalteten Fächer wie Mathematik, Deutsch, Chemie, Biologie und ähnliche Hauptfächer. Ein Thema dauerte dann über zwei bis drei Wochen. Also eine Epoche. Das heißt: Jeden Tag für drei Wochen Mathe, dann jeden Tag für zwei Wochen Chemie (der Lehrer stand vorne und demonstrierte an einem Versuchsaufbau irgendwelche chemischen Reaktionen, wir mussten dann den Versuchsaufbau ins Heft pinseln und Notizen dazu machen), dann mal drei Wochen Deutsch und danach zwei Wochen Geschichte. Irgendwann, nach gefühlten fünf Monaten dann mal wieder Mathematik. Inzwischen hatte natürlich fast jeder vergessen, welches Thema da überhaupt behandelt wurde. In der Waldorfschule im Mathematikunterricht hatte ich etwas von einer ‚P-Q-Formel‘, gehört, die mir bis heute ein Rätsel ist, da ich sie nirgendwo in einem Buch finden konnte.

In Geschichte lernten wir Biographien verstorbener Künstler und Wissenschaftler wie Goethe, Da Vinchi und ähnlich berühmten Leuten und deren glorreichen Errungenschaften die sie großzügig iher Nachwelt hinterlassen hatten.

In Deutsch haben wir das Gedicht von Schillers Glocke auswendig gelernt und wie man es sprachlich richtig wiedergibt.

Zu diesen Epochen-Fächern gab es natürlich noch andere nützliche Fächer, die dann aber in einer normalen drei Viertel Schulstunde abgehalten wurden. Dazu gehörten Englisch, Französisch, Altgriechisch und unverzichtbar Eurythmie.

Die sprachlichen Fächer spielten sich ähnlich ab, wie der Epochenunterricht. Im Englischen lasen wir ein winziges Taschenbuch mit der klassischen Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens (erst sehr viel Später, als ich den Film im Fernsehen sah, begriff ich den Inhalt der Geschichte) und die Sprachübungen durften natürlich nicht fehlen.

Im Französischen unterhielten wir uns über das Wetter (Il fait froid, le soleil brille und ähnliches) und rezitierten den Morgenspruch unserer Klasse auf französisch (Je regarde dans le monde, le soleil brille… Blah…).

Altgriechisch, eine tote Sprache, wir mussten uns zwei Jahre damit beschäftigen! Ich kann heute noch den Anfang der Odyssee auf Altgriechisch. Mit einem beschwörenden Ton und den richtigen Handbewegungen dazu klingt es wie ein gefährlicher Zauberspruch. Hat mich in meinem Leben wirklich unglaublich weit gebracht.

Und wie schon erwähnt, der unfassbare, unentbehrliche und wahnsinnig wichtige Eurythmie-Unterricht!

Was ist Eurythmie?

Tja, sagen wir mal, es ist eine Art… Ausdrucks-Tanz. Mit Musik, ohne Musik, auf jeden Fall hatten wir spezielle sehr leichte ‚Eurythmie-Schuhe‘ dafür kaufen müssen, die ihre 12 DM kosteten. Dazu gab es dann ein – wie meine Mum immer sehr treffend tituliert – Walla-Walla-Hemd, das bis auf den Boden reichte. Es war wirklich nur ein Sack mit Ärmeln, allerdings aus Rohseide! Bei besonders wichtigen Auftritten, zum Beispiel in einem Theaterstück, daß von jeder neunten Klasse einstudiert und aufgeführt wurde, gab es dann noch ein großes Tuch aus feinster durchsichtiger Seide in Farbe.

Nun waren wir also stilgerecht gekleidet, fehlt noch der Unterrichtsraum.

Bei den meisten weiterführenden Schulen wäre es die Aula. Bei der Waldorfschule war es der Eurythmie-Saal. Es gab eine Bühne und eine große freie Fläche davor, wo man für Veranstaltungen die Stühle der Zuschauer hinstellen konnte.

Auf dieser Fläche - natürlich jetzt ohne Stühle - stellte sich die Klasse dann im Kreis auf und… Naja… sagen wir mal, die Klasse ‚tanzte‘. Es gibt ein Alphabeth in der Eurythmie. Alle 26 Buchstaben des Alphabethes, die mit dem Körper dargestellt werden. Mit den Händen, den Armen, den Fingern und/oder den Beinen. Dann gibt es bestimmte Schrittfolgen, je nach Anlass des darzustellenden Themas. Das ganze mit Musik oder ohne Musik, ganz wie man es möchte. Zum Beispiel hatte meine neunte Klasse den Deichgrafen als Theaterstück aufgeführt und zwischendurch gab es dann eine eurythmische Einlage in der das Wwwwwellende Wwwwwasser getanzt wurde.

Kaum zu glauben, aber es gibt erwachsene Menschen, die das allen Ernstes beruflich machen! Die machen dann manchmal eine Tournee und treten dann in verschiedenen Schulen – Waldorfschulen – auf.

Es gab desweiteren noch vier Fächer: Gartenbau, Handarbeit, Handwerken und technisches Zeichnen. Das waren dann meist drei bis vier Schulstunden NACH dem eigentlichen Vormittagsunterricht. In Handarbeit lernten wir zu aller Erst einmal, wie man sich ein paar Stricknadeln bastelt! Ganz im Ernst, wir mussten die selbst bauen aus einem dünnen Holzstock, einer dicken Holzperle, Schmirgelpapier und diesem Baitzwachs, der wie grüne Bohnen roch. Als diese fertig waren, bekamen wir Wolle zum Stricken. Nein, nicht irgendeine prophane Wolle aus der weltlichen Realitat! Geht ja gar nicht! Schließlich befanden wir uns hier an einer Elite-Waldorfschule die Monatlich von den Eltern bezahlt wurde! Es war selbstversponnene Schafswolle! Selbst geschoren, gekocht, mit Wurzeln und Blättern (natürlich selbst im Wald erjagt und erlegt) gefärbt und dann selbst versponnen zu einer unschönen, rauen, dicken Wolle, die wir jetzt verstricken sollten. Nein, wir mussten das Schaf nicht selbst einfangen und entkleiden, das hat jemand gemacht, der sich damit auskennt. Man kennt ja diese Ökofreaks, die mit ihren Blümchen im Haar und den Jesus-Latschen am Fuß durch die Botanik hoppeln.

Der Werkunterricht war ähnlich erbaulich. Wir bekamen Schnitzmesser mit denen wir aus einem Holzklotz eine Schale schnitzen sollten. Meine wurde nie fertig, geschweige denn, daß man hätte erkennen können, was es mal hätte werden sollen. Ich saß lieber mit meiner Freundin Ulrike auf der Werkbank und schnitzte aus den groben Spänen der anderen Zahnstocher.

Im Gartenbau lernten wir, wie man mit einer einfachen Handsichel wochenlang vergeblich und deprimierend erfolglos damit beschäftigt sein konnte, ein paar Brombeerranken aus seinem Garten zu hechseln.

Technisches Zeichen war da schon eher nach meinem Geschmack. Wir arbeiteten mal mit Wasserfarben, wo man das Blatt nass macht und dann die Farbe verlaufen lässt, richtig: Aquarell. Wir begannen damals ganz einfach. Nein, nicht mit einfach Motiven, Motive waren noch läääängst nicht an der Reihe. Erstmal durften wir mit einer einzigen Farbe Farbverläufe üben. Nach gefühlten 77 Exemplaren pro Kopf bekamen wir dann eine weitere Farbe dazu. Wir haben es in fünf Jahren Unterricht nicht zu einem einzigen Werk geschafft, das vielleicht etwas hätte darstellen können. Dann mit Kohle. Sie sah verdächtig selbstgemacht aus. Es galt ein Portrait einer Frau zu Papier zu bringen. Auf diese Weise erlernten wie die Technik der Schraffur und des Wischens. Etwas sinnfreier waren allerdings die Zeichnungen mathematischer Körper wie dem Pentagondodekaeder. In meinem ganzen Leben habe ich nicht einmal mehr das Wort alleine gebraucht. Den Tintenschreiber, den wir dafür brauchten, fand ich aber wirklich super.

Das für mich Schlimmste allerdings war, daß wir nicht eine einzige klar definierte Zensur bekamen. Es gab nur Beurteilungen. Carmen hat dies sehr gut gemacht, Carmen muss sich hier noch mehr anstrengen, Carmen hat teil genommen. Auch im Zeugnis. Eine Selbsteinschätzung war praktisch unmöglich.

Der aufmerksame Betrachter hat sicherlich längst gemerkt, daß fachlich an dieser Schule nichts zu erreichen war. Es sei denn, man wollte Künstler werden. Dann hatte man genau das richtige Ambiente gewählt.
 

Wie also schon erwähnt hatte ich inzwischen beinahe zwei Monate an einer staatlichen Realschule mit richtigen Fachbüchern und Zensuren absolviert, allerdings mit niederschmetternden Ergebnissen.

Ich hatte ja drei Jahre Französisch auf der Waldorfschule. Da mein Papa zur See fuhr und wir uns oft in Frankreich befanden, hielt ich es für eine gute Idee die Sprache als Wahlfach weiter zu lernen.

Leider war schon die erste Stunde eine sehr einschneidende Erfahrung.

Die Lehrerin stand vorne an der Tafel und erzählte etwas. Auf Französisch. Ich verstand kein Wort, nickte aber weise und bemühte mich intelligent auszusehen. Nach einer Weile hörte die Lehrerin auf zu sprechen und alle beugten sich über die Hefte und fingen an zu schreiben. Alle? Nein, nicht alle, ein einzelnes Mädchen mit einem inzwischen dümmlich intelligenten Gesichtsausdruck versuchte tuschelnd bei den Nachbarn zu erfahren: „Was hat sie gerade gesagt? Was sollen wir machen?“

In der nächsten Woche machte ich statt Französisch alternativ Sport.

Ähnlich war es im Geschichtsunterricht. Es wurde der Zweite Weltkrieg behandelt.

Wie, wir hatten Krieg? Wann das denn? Und wo? Und schon der zweite???

Dafür wusste ich aber auswendig daß Johan Wolfgang von Goethe am 28. August 1749 in Frankfurt am Main geboren wurde und am 22. März 1832 in Weimar verstarb.

Es sah nicht gut aus für mein Zeugnis zum Halbjahr…
 

Auf dem schon sehr viel weiter vorne erwähnten Schulweg hatte ich, wie ebenfalls schon gesagt, Gesellschaft einer Klassenkameradin. Sie stieg eine Haltestelle nach mir in den Bus und ihre ein Jahr jüngere Schwester ebenfalls.

Alle zusammen stiegen wir dann in Engelsby aus um dann den langen Fußmarsch zur Realschule zurück zu legen. Meistens erwartete mein damaliger fester Freund mich schon an der Haltestelle um mir ebenfalls Gesellschaft zu leisten. Es war immer noch Ralf Hellwig. Wir waren inzwischen schon seit eineinhalb Jahren zusammen. Er hat zwar von Steven erfahren (ich weiß nicht mehr, ob ich gebeichtet hatte oder ob er es von woanders gehört hatte), hatte mir aber verziehen. Immerhin würde ich den Kerl ja nie wieder sehen. Er hatte noch eine atemberaubende Geschichte darum herum erfunden in der Steven eigentlich ein waschechter Däne war und nur an dem Tag am Strand war, um mich und meine Treue zu testen. Wirklich geglaubt hab ich das nicht.

Jedenfalls war Ralf so viel und so oft es ging in meiner Nähe um allen Kund zu tun, daß ich vergeben war. Er holte mich auch so oft es ging von der Schule ab. Aber da war er nicht der Einzige. Auch die kleine Schwester meiner Klassenkameradin wurde gelegentlich mal von ihrem Freund abgeholt. Ralf kannte diesen Freund aus der Schule. Er war in einer Klasse mit dem großen Bruder des Freundes der kleinen Schwester meiner Klassenkameradin… Ok, wir sollten hier wirklich Namen einsetzen…

Also, meine Klassenkameradin hieß Sabiene. Ihre ein Jahr jüngere Schwester hieß Natascha und ihr Freund Marco. Der große Bruder von Marco war Sascha und der war mit Ralf in einer Klasse auf derselben Schule. Marco war in etwa so alt wie ich, etwas jünger, ungefähr ein halbes Jahr jünger. Er war gerade erst 16 geworden. Ralf war zwei Jahre älter als ich und der große Bruder von Marco, also Sascha war auch etwa so alt wie Ralf.
 

Nach all der verworrenen Entwirrung zurück zum Thema.

Ich kann mich noch ganz genau daran erinnern, wie ich an einem Tag von Ralf an der Realschule erwartet wurde. Er wartete vor dem Grundstück. Das hatte weniger damit zu tun, daß er sich auf diesem Schulgelände nicht auskannte. Es betraf mehr das Schulgelände in seiner Gesamtheit. Will sagen: Seit Ralf mit der Hauptschule fertig war hat er sich geschworen, nie wieder einen Fuß freiwillig auf ein Schulgrundstück zu setzen. Aus welchem Grund auch immer. Das hat er schon bei der Waldorfschule so gehalten und würde das jetzt sicher bei der Realschule nicht ändern.

Manchmal hab ich schon überlegt, mal angenommen, ich hätte einen Unfall gehabt, auf dem Schulgelände. Ich wäre unglücklich gestürzt und lag jetzt bewustlos, aber dafür heftig blutend am Boden. Würde er dann doch das Grundstück betreten um mich zu retten oder würde er hilflos wie ein aufgescheuchtes Huhn vor dem Grundstück hin und her hopsen in wilder Panik, ich könnte da jetzt sterben. Nun, dazu müssen wir uns jetzt nicht näher den Kopf zerbrechen.

Auf dem Schulhof, jedoch vor dem Eingan stand noch jemand und wartete offensichtlich auf jemanden. Als ich schon längst in den Armen meines Freundes lag und mich heftig küssen ließ, kam dann auch die Person aus dem Schulgebäude, der ganz ohne Zweifel der Besuch des anderen Jungen galt: Natascha, die kleine Schwester von Sabiene. Nicht schwer zu folgern, daß der Junge dann nur Marco sein konnte. Er schloss seine Natascha in die Arme und die zwei knutschten ebenfalls.

Wir kamen irgendwie ins Gespräch, den genauen Inhalt hab ich allerdings vergessen, vielleicht auch erfolgreich verdrängt. Jedenfalls ging es ungefähr darum, das die Jungs sich kannten, woher sie sich kannten und daß Marco eben ein knappes halbes Jahr jünger war als ich. Naja, mit Natascha passte das ja zusammen. Ich dachte noch, ich könnte nicht mit einem Jungen zusammen sein, der jünger ist als ich. Da bekommt man doch Mutterkomplexe! Nein, mein so viel älterer und dadurch sicher auch reiferer Ralf war mir wesentlich lieber. Zumal er mir den pikanten Ausrutscher mit Steven so großherzig und erwachsen verziehen hatte.

Auf jeden Fall machte ich mehrfach deutlich, daß Marco nie für mich in Frage kommen könnte, er war ja schließlich so viel jünger als ich.

Man mag jetzt sagen, ok, ein halbes Jahr ist ja nicht viel. Aber man muss das zur Relation der gegebenen Umstände betrachten, wenn man erst 16 Jahre alt ist, dann ist ein knappes halbes Jahr sehr viel.

Ralf war es jedenfalls zufrieden und küsste mich zur Belohnung noch so manches Mal. Irgendwann ging es dann auch auf den Weg zum Bus, den ganzen langen Weg vom Fördegym in Mürwik zur Bushaltestelle in Engelsby. Ralf und Marco hatten beide etwas Zeit mitgebracht und so sind wir dann alle zusammen los gestiefelt.
 

In der nächsten Zeit hatte Ralf nicht mehr so oft die Gelegenheit, sich mit mir zu treffen. Sei es um vom Bus zur Schule oder von der Schule zum Bus zu gehen. Er machte eine Art Schulung mit, die ihm vom Arbeitsamt auferlegt wurde. Die Berufsfachschule befand sich in der Schützenkuhle in Flensbrug. Diese wiederum war gefühlte 10 Km von meiner Schule entfernt und so konnten wir uns nur gelegentlich am Nachmittag treffen.

Das alleine wäre sicher kein Beinbruch gewesen.

Leider hatte sich aber in den selben Sommerferien, in denen ich das Scharmützel mit Steven hatte, noch ein weiterer Schürzenjäger gefunden. Allerdings war ich nicht wirklich an ihm interessiert. Er dafür schon umso mehr. Ein mehrjähriger Altersunterschied brachte es außerdem mit sich, daß dieser Jäger einen Führerschein und sogar ein Auto hatte. Das machte ihn für mich nicht wesentlich interessanter. Aber für ihn bedeutete es, daß er zu jeder Zeit in meiner Nähe auftauchen konnte. Noch dazu war er nicht wirklich berufstätig, was die Möglichkeit des plötzlichen Auftauchens noch verschärfte.

Nun konnte Ralf aus oben geschilderten Gründen nicht mehr in dem Umfang auf mich aufpassen, wie er es gerne getan hätte. Ein anderer, vertrauenswürdiger Aufpasser musste her. Einer, der mir nicht gefährlich werden konnte, beziehungsweise Ralf die Freundin ausspannen würde, der aber über genügend Zeit verfügte, an den Tagen in meiner Nähe zu sein, wenn Ralf nicht abkömmlich war.

Ohne große Umschweife entschied sich Ralf, Marco, den Freund von Natascha, für diesen Job zu engagieren.

Der Umstand, daß ich noch vor den Weihnachtsferien eine Klasse zurückgestuft wurde, machte diese Aufgabe wesentlich leichter für Marco, da ich jetzt in der Klasse seiner Freundin war und somit zur gleichen Zeit Unterricht hatte und eben auch Unterrichtsschluss, wie seine Freundin.

Und es machte das Vorhaben von Ralf, mir diesen Umstand eines Bodyguards zu verschweigen wesentlich unkomplizierter. Marco würde einfach in der nächsten Zeit öfter mal seine Freundin von der Schule abholen und nach Engelsby begleiten. Was den Bodyguard betraf, war ich vollkommen Ahnungslos.

Ich hatte kein Problem damit, daß Marco ständig da war. Er war Nataschas Freund und er war ja so auch ganz lustig. Aber eben einfach zu jung, wie schon erwähnt.

Ich ahnte von den Hintergründen tatsächlich nichts. Auch dachte ich mir nichts dabei, daß Marco oft mal da war, obwohl Natascha gar nicht nach Hause fuhr, sondern noch Unterricht hatte, an dem ich nicht teilnahm oder aber noch in die Stadt ging oder ähnliches. Da er dann eben nichts anderes zu tun hatte, begleitete er eben mich, statt seiner Freundin zum Bus.

Auch da hatte ich nicht vor, mich mit einem so viel jüngeren Typen einzulassen. Aber für die Gesellschaft freute ich mich natürlich schon.

Zu allem Überfluss bekam ich es nicht mal wirklich mit, daß Marco nach einigen Wochen irgendwie nur noch mit mir zum Bus ging und immer weniger mit Natascha. Einmal, kurz vor den Herbstferien, stand ich mit Marco an der Bushaltestelle in Engelsby. Irgendwie hatte er mich dann im Schwitzkasten, drückte den Arm um meinem Hals fester zu und sagte nur: „Pfeif, wenn du keine Luft mehr kriegst.“

Er fand das wohl ungeheuer komisch, ich konnte allerdings wenig darüber lachen, zu allem Überfluss hatte er mich auch wirklich weh getan. Ich war jedenfalls stocksauer auf ihn! In den Herbstferien rief er dann bei mir zu Hause an, nur um sich zu entschuldigen. Ich wusste von Natascha, daß Marco nicht gerade der Typ war, der bei einem Mädchen zu Hause anrief, selbst wenn es sich bei dem Mädchen um seine Freundin handelte. Dementsprechend war ich dann auch angemessen beeindruckt und geschmeichelt.
 

Bald wurden dann die Besuche von Marco auch weniger. Dafür war Natascha dann wieder öfter mit mir zusammen auf dem Heimweg. Aber ich hab nichts geahnt, weder von Bodyguards, noch von Leibwachen oder auffällig unauffälligen Zufallsbesuchen von Marco oder eben deren ausbleiben. Für mich war die Welt in Ordnung, so, wie sie war.

Sehr viel Später erfuhr ich dann, daß Marco eben als Leibgarde für mich angestellt war (unentgeltlich versteht sich) und dann zu den Weihnachtsferien hin der besagte Jäger schlicht berufstätig wurde und dafür auch weiter von Flensbrug wegziehen musste.
 

Inzwischen war wieder etwas Zeit vergangen und die Weihnachtsferien schon längst vorbei. Natascha erzählte mir dann so nebenbei daß sie von Marco einigermaßen angenervt war. Er griff ihr immer öfter unters T-Shirt und wollte mehr als nur Händchen halten und Rumknutschen. Natascha zog ernsthaft in Erwägung, mit Marco Schluss zu machen. Sie traute sich aber nicht so recht. Schließlich beschloss sie dann mit einem Brief die Beziehung zu Marco zu beenden. Allerdings wollte sie das nicht persönlich machen. Mit treudoofem Dackelblick bat sie dann mich am Nachmittag um die und die Uhrzeit zu dem Treffpunkt von Marco und Natascha zu gehen und Ihm den Brief zu übergeben.

Naja, ich war ihre Freundin. Also, warum nicht? Ich hatte ja nichts zu verlieren. Außerdem würde ich mich erst später am Nachmittag mit Ralf treffen, da ich noch Musikunterricht hatte und danach erst mit dem Bus zu Ralf fahren würde.

Noch am gleichen Tag machte ich mich dann nach der Schule auf den Weg zu dem erwähnten Treffpunkt. Ich war etwas früher als (eigentlich ja zwischen Marco und Natascha) vereinbart und musste noch warten. Der Gesichtsausdruck von Marco war lustig, als er, statt seiner erwarteten Freundin, mich vorfand. Er grüßte mich kurz aber freundlich mit einem verdutzten „Hi, was machst du hier?“

Ich erklärte kurz den Anlass für meine Anwesenheit und gab ihm den Brief. Er nahm ihn, entfaltete ihn sofort und las. Nach ein paar Minuten faltete er den Brief kommentarlos wieder zusammen, steckte ihn in die Tasche und grinste mich an.

„Na, dann, na ja. Ok. Hast du schon was vor?“

Ein bisschen überrascht ob der doch sehr anteilnahmslosen Reaktion auf das Ende seiner Beziehung mit Natascha, aber durchaus gut gelaunt verneinte ich. So übel war Marcos Gesellschaft auch nicht, daß ich jetzt lieber eineinhalb Stunden irgendwo herum gegammelt hätte, bis dann endlich mein Musikkurs beginnen würde. Wir gingen dann zum nahegelegenen Sparmarkt und kauften Chips, Cola und Naschkram. Marco kaufte eine Tüte mit Katzenpfötchen. Wir schlenderten dann ein bisschen durch Mürwik und schließlich dann auch zur Realschule, wo wir im Eingangsbereich auf der Bank saßen und uns kappelten. Ich hätte ihm gerne das ein oder andere Katzenpfötchen abgeschwatzt, aber er hat mich nur damit beworfen. Dann hatte er mich wieder im Schwitzkasten oder drückte mir die Finger dermaßen zusammen, daß meine Ringe sich verbogen.

„Kannst du nicht mal was anderes machen, als mich zu ärgern?“ pöbelte ich ihn kokettierend an.

„Klar kann ich das.“ Entgegnete er lausbübisch grinsend.

„Ich wüsste schon was.“

„Und was wäre das?“ fragte ich, natürlich auf eine ganz bestimmte Antwort absehend.

Statt mir aber zu antworten zog Marco nur einen Stift aus seiner roten Daunenjacke und schrieb in krakeliger, aber noch gut leserlichen Schrift das Wort ‚küssen‘ auf einen der Backsteine in der Wand hinter der langen Bank im Eingangsbereich der Schule.

Allerdings kam es nicht dazu. Immerhin erinnerte ich mich schon daran, daß ich ja einen festen Freund hatte.

Irgendwann, völlig aus dem Zusammenhang heraus, fragte Marco mich dann, ob ich Lust hätte, mit ihm nach Monitor zu fahren.

„Ich hab aber gleich Musik.“ Erwiderte ich.

„Na und? Dann schwänz doch einfach.“ Zuckte Marco mit den Schultern.

„Ich hab aber meine Tasche schon vor dem Klassenraum stehen. Wenn ich da jetzt hingehe, fällt das doch auf.“

„Kein Problem, wo ist die Klasse und wie sieht deine Tasche aus?“

„Das ist da hinten bei der Tür im zweiten Gang, wo wir auch sonst immer Unterricht haben. Die Tasche ist eine schwarze Ledertasche, ich hab vorne den Aufkleber mit dem Logo von der Real-Ost drauf und hinten eine Amerikaflagge drauf gemalt.“

(die Flagge hatte natürlich mit Steven zu tun)

„Bin gleich wieder da.“ Sagte er nur kurz und war auch schon im Pausengang verschwunden.

Kurze Zeit später kam er dann breit grinsend mit meiner Tasche über der Schulter zurück.

„Wir müssen noch kurz zu mir nach Hause, mit dem Fahrrad sind wir schneller.“

Gesagt, getan und nach wenigen Minuten saß ich dann vor Marco auf der Mittelstange seines Mountain-Bikes und wir fuhren über den schon bekannten Schulweg meinerseits nach Engelsby, wo sich die Videothek namens ‚Monitor‘ befand. Er wollte da nach Postern fragen.

Wir gingen dann auch rein und gleich nach oben. Ich schnappte mir einen der roten Kirschlollis aus dem durchsichtigen Behälter, der auf dem Tresen stand und guckte mich gleich bei den Videokassetten um. Alleine schon um deutlich zu machen, daß ich mich überhaupt gar nicht und nicht im Geringsten für Marcos Belange interessierte.

Schon nach wenigen Minuten kam Marco mir dann nach. Er hatte zwar keine Poster bekommen, dafür hatte er aber ebenfalls einen der Kirschlollis im Mund. Wir guckten uns einige der ausgestellten Kassettenhüllen an und verglichen wer welchen Film schon gesehen hatte oder nicht und ob dieser Film jetzt gut war oder nicht. Unsere Interessen gingen da weit auseinander. Während er für Filme schwärmte wie ‚Rocky‘ oder ‚Terminator‘ war ich mehr für Filme wie ‚Zurück in die Zukunft‘ oder ‚Das Labyrinth‘ mit David Bowie.

Wir hielten uns nicht all zu lange in der Videothek auf und fuhren bald zurück nach Engelsby. Schließlich sollte ich vom Stadion aus mit dem Bus nach meinem Musikunterricht zu meinem Freund fahren. Er fuhr direkt mit mir zu dieser Haltestelle. Nachdem ich von der Mittelstange gerutscht war stieg er von seinem Fahrrad ab und setzte sich mitten auf die kleine Bank, die für maximal drei Personen gereicht hätte. Neben sich auf die Bank packte er meine Tasche, die er die ganze Zeit in Ermangelung eines Gepäckträgers über der Schulter trug.

„Und wo soll ich jetzt sitzen?“ fragte ich ihn frech.

Marco guckte sich übertrieben suchend um, sah mich dann an, grinste und klopfte mit beiden Händen auf seine Oberschenkel.

„Wenn du meinst.“ Sagte ich und nahm das Angebot augenblicklich an.

Er war schon ein frecher, ein Lausebengel. Aber irgendwie…

Ohne den geringsten Ansatz von Anstand schob er dann sehr zielsicher seine Hände unter meine Bluse. Seine KALTEN Hände! Zuerst auf meinen Rücken.

„Hey“, kicherte ich mich windend, „So war das aber nicht abgesprochen!“

„Nicht? Und wie ist es damit?“ Er grinste noch breiter und war mit einer geschickten schnellen Bewegung mit beiden Händen an meiner Vorderseite. An der Stelle, wo man einen BH vermuten würden, wenn ich denn einen gebraucht hätte!

„Hey! Lass das!“ Ich wand mich noch mehr aber das hatte nur zur Folge, daß Marco noch mehr klammerte und mich festhielt.

Nach einigen sehr erfolglosen Versuchen mich aus dieser Klammer zu entwinden, gab ich auf und ließ ihn gewähren, solange er seine Flossen still hielt! Zumindest brachte ich ihn dazu, eine seiner Hände weg zu nehmen, als ich nach einer Zigarette fragte.

Natürlich musste ich meine eigenen Kippen rauchen. Denn genau wie die Katzenpfötchen, hatte er nicht vor, seine Zigaretten zu teilen.

Schließlich kam der Bus, mit dem ich zu Ralf fahren sollte.

„Mein Bus kommt!“ sagte ich und versuchte mich aus seiner Umarmung zu befreien. Allerdings ziemlich erfolglos! Der Umstand, daß er seine Fluppe schon aufgeraucht hatte brachte es mit sich, daß er wieder beide Hände und Arme frei hatte, um mich weiter in seinem Griff zu halten.

Der Bus kam, er hielt an, Leute stiegen aus, keiner stieg ein und der Bus fuhr weiter.

Keiner?

Richtig: Keiner!

Marco ließ mich nicht los!

„Sag mal, dir geht’s wohl nicht gut?“ pöbelte ich halb sauer, halb belustigt. Vielleicht auch ein bisschen geschmeichelt, immerhin ließ er mich nicht gehen.

„Doch, doch mir geht es gut. Meine Hände sind so schön warm.“

Marco grinste.

Ich schmolz!

Naja, gut, der nächste Bus würde in einer viertel Stunde kommen. Dann sag ich Ralf eben, daß Musik nicht pünktlich zu Ende war und ich den einen Bus verpasst hatte.

Wir kappelten und neckten weiter.

Plötzlich hörten wir das scharfe Bremsen eines Fahrrades aus voller Fahrt. Es war Tomas, ein Bekannter von Marco, aber auch von Ralf.

Entgeistert starrte er uns an.

„Seid ihr jetzt zusammen? Oder was?“

Marco und ich sahen uns an.

„Nein, wir sind nicht zusammen!“ kam es fast unisono.

Es kam, wie es kommen musste. Ich ‚verpasste’ auch den nächsten Bus, und den nächsten, und den darauf folgenden…

Schlussendlich musste Marco mich dann doch aus seinem Klammergriff entlassen. Immerhin musste ich irgendwann mal nach Hause und die Busse würden nicht die ganze Nacht fahren. Also schwangen wir uns wieder auf sein Rad und er brachte mich nach Engelsby. Er wartete noch mit mir zusammen auf den Bus. Als dieser dann da war gab er mir auch endlich meine Tasche zurück, die er die ganze Zeit über seiner Schulter hängen hatte. Ich stieg ein, er stieg auf sein Fahrrad und beide machten wir uns dann auf den jeweiligen Heimweg.

Ich würde Ralf einfach erzählen, daß ich mich im Tag vertan hatte. Daß ich den Donnerstag mit dem Mittwoch verpeilt hatte und davon ausging daß ich A keinen Musikunterricht hätte und Ralf B am Mittwoch ja nachmittags in der Berufsfachschule wäre.
 

Schon am Dienstag nach dem Wochenende, daß auf die Woche folgte, wo ich den Donnerstag für einen Mittwoch hielt, sollte ich Marco schon wieder begegnen. Er stand am Fördegym, wo wir immer vorbei mussten, wenn wir nach Engelsby gingen.

Er saß auf seinem Fahrrad und hielt sich an dem Tor fest, um mit dem Rad nicht im Stand um zu fallen. Als er mich kommen sah, grinste er breit.

„Na? Feierabend? Wo ist denn dein Ralf?“ fragte er betont lässig.

„Der ist nicht da, soll wohl heute Nachmittag irgendwie seinem Vater bei was helfen.“ Antwortete ich redseelig.

„Hast du Zeit?“ fragte er dann direkt heraus.

„Eigentlich soll ich nach Hause kommen.“ Erwiderte ich.

„Und uneigentlich?“

„Naja, ich könnte ja den Bus verpassen?“ schlug ich dann vor.

„Wäre eine Möglichkeit.“ Grinste er.

Wir beschlossen dann, daß wir zu ihm gehen würden, seine Eltern waren beide nicht da und sein großer Bruder, der eine Schreinerlehre machte, würde auch erst später am Abend nach Hause kommen. Wir hatten dann also sturmfreie Bude.

Er schulterte meine Schultasche, ließ mich auf der Mittelstange seines Fahrrades Platz nehmen und fuhr mit mir zu dem kleinen Sparmarkt in Mürwik. Wir holten uns jeder eine Tiefkühlpizza und eine Flasche Cola (natürlich musste ich meine Pizza und meine Cola selbst bezahlen) und fuhren dann direkt zu ihm nach Hause.

Da angekommen begaben wir uns gleich in die Küche, wo Marco seine Pizza auspackte, auf einen Teller legte und in die Mikrowelle schieben wollte.

„Bist du blöd? Das schmeckt doch wie Bierdeckelpappe mit Tomatensauce!“ ich tippte zur Bekräftigung meiner Meinung zur Zubereitung einer TK-Pizza mit dem Zeigefinger gegen meine Stirn.

„Wieso?“ Marco hielt in seiner Bewegung inne und drehte sich halb zu mir um und guckte mich so planlos wie er konnte an. Er hatte jetzt die linke Hand an der geöffneten Tür der Mikrowelle und balancierte mit der rechten den Teller mit der Pizza darauf.

„Die macht man doch im Backofen.“ Tadelte ich.

Er hatte jetzt die Tür der Mikrowelle losgelassen, balancierte aber immer noch den Teller mit der Pizza und drehte sich vollends zu mir um.

„Ich denke, du kannst nicht kochen?“ erstaunt sah er mich an.

„Ich hab ja auch nichts vom Kochen gesagt. Nur die Pizza in den Backofen legen würde dieselbe etwas kroscher und bestimmt genießbarer machen, als in der Mikrowelle. Steht doch drauf, wie man das macht.“

„Ich kann aber nicht mit dem Backofen umgehen.“ Erklärte er mir dann.

„Wir können ja mal gucken, so schwer kann das nicht sein. Zu Hause machen wir das auch immer im Backofen.“

Gemeinsam guckten wir uns nun die Knöpfe am Herd an und enträtselten schnell die Schriftzeichen, die drumherum angebracht waren.

Schon bald lagen beide Pizzen im Ofen und brutzelten vor sich hin. Wir stellten eine Eieruhr auf 25 Minuten und gingen ins Wohnzimmer, wo der Fernseher schon lief.

„Wenn die Pizza fertig ist, ruf ich meine Mum an und sag ihr, daß ich den Bus verpasst hätte.“ Sagte ich und setzte mich in den Sessel.

„Kannst du machen, da ist das Telephon.“ Marco zeigte mit der Fernbedienung auf den kleinen Tisch, der den Dreisitzer und den Zweisitzer der Möbelgarnitur über Eck miteinander verband und ließ sich dann auf die Couch für drei Leute fallen.

Ich nickte und wollte mich gerade so richtig gemütlich in den Sessel kuscheln, als Marco mit einer Hand nach mir griff.

„Du sitzt viel zu weit weg.“ Sagte er halb maulend und zog mich aus meiner Bewegung heraus zu sich auf das Sofa. Ich ließ mich absichtlich ein bisschen mehr Fallen, als ich gemusst hätte und lag so praktisch schon in seinen Armen. Unsere Blicke trafen sich. Nicht zum ersten Mal, ganz gewiss nicht, aber dieses Mal guckte Marco mich anders an, als sonst. Ganz anders und ich wurde tatsächlich ein bisschen verlegen.

„Wie soll ich das denn jetzt verstehen?“ fragte ich ihn, ein ganz klein bisschen sanfter, als ich normal mit ihm redete und auch ein ganz bisschen so wie jemand, der eine Situation begriffen hatte, sich aber das Piek As nicht aus der Hand nehmen lassen würde. Ich versuchte auch mich mit einer höchstens halbherzigen Bemühung ein wenig aus der Liegeposition in die Senkrechte hoch zu stemmen und damit auch ein bisschen von Marco weg zu rücken.

Er hielt mich jedoch sanft aber bestimmt fest und ich leistete auch nur geringen Widerstand. Gerade so viel, daß man meinen könnte, ich würde mich nur darauf einlassen, weil ich ja wusste, daß ich gegen seine Kraft keine Chance hätte.

Beide grinsten wir uns keck an und beide hatten wir diesen Blick in den Augen der sagte: Kannst du froh sein daß ich kein Kannibale bin!

Wir verharrten eine Weile so, ohne wirklich zu registrieren wie lange. Geschweige denn ob die Weile vielleicht ein bisschen zu lange gedauert haben könnte, um dann doch irgendwie peinlich zu werden.

„Weiß nicht“ gab er dann leise, fast zärtlich aber auch herausfordernd zur Antwort.

In Ermangelung einer geistreicheren Antwort auf den nicht gerade inhaltsreichen Kommentar von Marco sagte ich einfach nur: „Meinst du?“ genauso leise und herausfordernd, nur etwas kecker um klar zu stellen, daß ich nicht ganz so einfach zu haben wäre, wie es gerade den Anschein machte.

„Mhm.“ Machte Marco nur und sah mich noch intensiver an. Beinahe herausfordernd.

Mir war total klar, daß er im Moment allen Anstand hatte fahren lassen und es gründlich darauf anlegte, ob ich mich jetzt ‚überreden‘ lassen würde oder nicht. Aber so leicht war das eben nicht, ich hatte ja auch noch ein Wörtchen mitzureden.

„Und was ist mit Ralf?“ fragte ich dann, immer noch den kessen Unterton beibehaltend aber sanft, fast liebevoll.

„Welcher Ralf?“ flüsterte er, sah mir tief in die Augen und kam mir jetzt doch gefährlich nahe. Ich spürte seinen warmen Atem auf meinen Lippen.

Ich war fieberhaft am überlegen, was ich darauf jetzt intelligentes sagen sollte. Allerdings hatte er mich so in seinen Bann gezogen, daß mein Gehirn teilweise einfach nicht mehr funktionierte. Ich holte Luft für eine Antwort, blieb diese aber schuldig und ließ die Luft ganz langsam wieder aus meiner Lunge entweichen.

Dann holte uns das Schrillen der Eieruhr in die Wirklichkeit zurück. Schlagartig veränderte sich Marcos Blick. Das herausfordernde Funkeln war verschwunden und er verkündete mit normaler Stimme: „Ich glaube, die Pizza ist fertig.“

„Okeeee“, sagte ich nur langgezogen, noch immer ein wenig benommen aber durchaus auf dem Weg in die Normalität. „Dann werde ich mal meine Mum anrufen.“

Abrupt und ohne Rücksicht auf Verluste stand Marco auf und ich fiel beinahe in die Liegeposition auf das Sofa.

‚So ein Grobian! Unhold! Blödmann!‘ dachte ich innerlich verärgert über diese doch im höchsten Maße erregende Situation und die Tatsache, daß Marco in der Lage war, einfach so einen Schnitt zu machen und ins normale Leben zurück zu kehren. Als müsse man dafür nur durch eine Tür gehen! Und daß er mich da jetzt mit meinen doch ausgesprochen aufgewühlten Gefühlen und ungeordnet schwirrenden Hormonen einfach so fallen ließ!

Ich brauchte tatsächlich eine kleine Weile um die Wogen meiner Gefühle wieder zu glätten. Wissend vor mich hin grinsend sah ich ihm nach, als er auf dem Flur verschwand.

Wissend, in der Tat. Er hatte mich gerade nicht nur gekonnt aus der Fassung gebracht. Er hatte mir gleichzeitig auch ganz deutlich zu verstehen gegeben, daß er eventuell doch etwas mehr für mich empfand, als man für eine Bekannte empfinden würde. Damit hatte ich ihn im Grunde auch irgendwie in der Hand, konnte neue Trümpfe ausspielen und sehen, was dabei herauskam. Er würde mitspielen. Und je nach dem, wie wir jetzt wirklich für einander fühlten, würde das eine oder andere dabei herauskommen.
 

An diesem Nachmittag hatten wir uns nicht geküsst. Ich lag zwar überwiegend in seinen Armen, aber wir kappelten eher mit einander als daß noch mal diese brizelige Stimmung aufgekommen wäre. Ich rief bei meiner Mum an, teilte ihr mit, daß ich den Bus verpasst hätte und daß ich den um vier Uhr nehmen würde. Meine Mum war zwar nicht begeistert, sagte aber nur so etwas wie „Ja, ist ok, weiß ich bescheid.“ Und das Thema war erledigt. Tatsächlich brachte Marco mich dann auch zu dem Vier-Uhr-Bus nach Engelsby. Er hatte wohl am späten Nachmittag noch etwas anderes vor. Ich war fast ein bisschen beleidigt, wo er doch am Mittag noch so getönt hatte, daß er bis zum Abend sturmfreie Bude hätte.

Immerhin sagte er mir noch, ich könnte ja anrufen, wenn ich Zeit hätte.

Ja, schauen wir mal.

Für diesen Nachmittag jedenfalls fuhr ich erstmal nach Hause. Im Bus war ich dann mit den Eindrücken, meinen komplett zerwühlten Gefühlen und meinen schwirrenden Gedanken alleine.

Kaum eine Sekunde lang dachte ich an Ralf. Viel mehr beschäftigte ich mich damit, was das da eigentlich war, heute Nachmittag. Was da eigentlich passiert war…

Bin ich jetzt doch verknallt in Marco? Er schien jedenfalls in mich verknallt zu sein. Oder spielte er nur irgendein komisches Spiel mit mir? Vielleicht sollte er mich ja auch für Ralf austesten. Ich hab die Geschichte, die Ralf mir über Steven erzählt hatte, zwar nie wirklich geglaubt. Aber ganz auszuschließen, daß es sich tatsächlich so zugetragen haben konnte, war es auch nicht. Und so wie Marco mich angeguckt hatte, konnte ich mir nicht vorstellen, daß das nur gespielt war. Nein, das Funkeln in seinen Augen war sicher echt. Er empfand etwas für mich. Empfand ich denn auch etwas für Marco? Und wenn ja, was? Er war doch so viel jünger als ich. Das geht doch nicht. Da fühl ich mich ja immer alt… Wobei, so alt hatte ich mich gar nicht gefühlt, als ich da in seinen Armen lag… Und ich hatte auch nicht das Gefühl, daß da sein Jünger sein irgendwie gestört hätte… War ich tatsächlich in ihn verknallt? Auf jeden Fall war es wunderschön. Es kribbelte überall. Kitzelte mein Herz und auch meine Eitelkeit. Immerhin war da jemand an mir interessiert. Naja, nicht Jemand, Marco… Warum war das denn jetzt so ein Unterschied? Marco ist doch nur Jemand. Oder?

Sein Duft hing noch an meinen Kleidern und ich musste feststellen, daß der Geruch nicht nur meine Nase zum Kribbeln brachte.
 

Schon am nächsten Tag nach der Schule rief ich Marco zu Hause an. Ich hatte den ganzen restlichen Vortag an nichts anderes mehr denken können als an Marco, dieses Knistern zwischen uns und die Gefühle, die da wohl doch irgendwie entstanden waren.

Eigentlich wollte Ralf sich an dem Nachmittag mit mir treffen, er hatte am Abend extra angerufen. Auch auf die Gefahr hin, meine Mum ans Telephon zu bekommen. Meine Eltern mochten Ralf nicht. Schon gar nicht, als es tatsächlich so aussah, daß ich mit diesem Hallodri doch länger zusammenbleiben würde, als meine Eltern gehofft hatten. Immerhin ging es schon auf die zwei Jahre zu. Wir hatten Ende Februar und am 16. April würden Ralf und ich genau zwei Jahre zusammen sein.

Zu Ralfs Erleichterung ging ich selbst ans Telephon. Er erzählte mir dann gut gelaunt, daß er am Folgetag den ganzen Nachmittag frei hätte. Er wollte sich dann mit mir gegen zwei Uhr nachmittags bei Hertie treffen und wir würden dann etwas unternehmen, Mc Siff vielleicht und danach ins Kino.

Zuerst war ich direkt enttäuscht, daß nicht Marco am Telephon war. Dann dachte ich daran, was Natascha mir damals gesagt hatte, daß Marco nicht bei jedem Mädchen anrufen würde. Allerdings hatte er ja schon mal bei mir angerufen und meine Eitelkeit hatte jetzt tatsächlich angenommen, dieser unerwartete Anruf könnte von Marco kommen.

Ich fasste mich dann schnell wieder und sagte, daß ich mich darüber freuen würde. Im Hinterkopf allerdings suchte ich verzweifelt nach einer Möglichkeit, wie ich Ralf glaubhaft machen konnte, daß ich morgen Nachmittag keine Zeit hätte, ohne daß er Verdacht schöpfte.

Das Naheliegendeste war der Beruf meiner Mutter. Sie war Schneidermeisterin und arbeitete für Privatkunden von zu Hause aus. Die Leute kamen also zu ihr und brachten den Stoff mit, aus dem sie etwas Hübsches genäht haben wollten. Meine Mum nahm dann die Maße ab, übertrug sie in einen entsprechenden Schnitt und machte dann zum Teil sehr ausgefallene und extravagante Kleidung für ihre Kundinnen. Vor einiger Zeit erst hatte sie eine Kundin, die mit blauer Brokatseide ankam und daraus ein Kostüm geschneidert haben wollte, mit einem halblangen Rock und Perlenbestickten Knöpfen an der Jacke.

Man bekam natürlich nur sehr schwer Knöpfe, die mit Perlen bestickt waren zu kaufen, noch weniger bekam man dann solche, die in der Farbe auch zum Stoff passten und dann eventuell sogar noch bezahlbar waren. Aber für solche und viele andere ‚Probleme‘ hatte meine Mum buchstäblich eine ganze Kiste voller Lösungen. Unter Anderem Metallknöpfe, die sich mit Stoff beziehen ließen und damit ein Besticken mit passenden Perlen ermöglichten. Die Perlen brauchte man dann nur noch in einem gut sortierten Bastelgeschäft oder auch Handarbeitsgeschäft suchen und sicher auch finden. Das Besticken war dann nur noch ein Klacks.

Solche ‚Klackse‘ bekam ich dann häufig zugeteilt. Es war eine relativ einfache Arbeit und beziehen die Knöpfe mit den kleinen Stoffkreisen, nähen das mit der Hand unten zu und besticken dann den bezogenen Knopf mit Perlen. Da ich in Handarbeiten dieser Art einigermaßen geschickt war, ‚durfte‘ ich bei solchen Arbeiten dann auch helfen.

Ich erzählte Ralf dann jedenfalls mit tiefem Bedauern und angemessener Entrüstung, daß meine Mum am Wochenende eine Kundin bekommen hätte, die ein eben solches Kostüm haben wollte mit perlenbestickten Knöpfen und das diese sogar in zwei Reihen auf die Jacke sollten, wie bei einer Uniform. Und ich musste natürlich die Knöpfe beziehen und besticken, zweiundzwanzig Knöpfe, fünf Stück in jeder Reihe und zwei, falls mal ein Knopf kaputt geht. Ich sparte nicht mit Motzerei und deutlichstem Unmut darüber, daß ich aufgrund dieser unangenehmen Arbeit nicht weg konnte. Die Kundin wollte schon am Mittwoch kommen um das Kostüm abzuholen, weil sie an dem Abend wohl eine wichtige Veranstaltung hätte, wo sie das neue Kleidungsstück dann tragen wollte.

Ralf bedauerte natürlich, daß ich ihm für den Nachmittag absagte, noch mehr aber bedauerte er mich, daß ich wieder mal mit einer dieser von mir so gehassten Handarbeiten bestraft wurde.

Diese Notlüge war perfekt. Zum einen würde Ralf nicht versuchen mich eventuell zu kontrollieren, damit musste ich ja rechnen. Und zum anderen würde er das nicht mit einem Anruf nachzuprüfen versuchen, weil – mal vorausgesetzt es würde eines geben – das Verhältnis zwischen meinen Eltern mit Ralf gelinde gesagt schwierig war.

Als ich dann auflegte, freute ich mich zwar, daß ich es geschafft hatte, morgen Nachmittag frei zu haben. Aber irgendwie kam da auch so etwas wie ein schlechtes Gewissen durch. Allerdings nur kurz und auch kaum wahrnehmbar. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, daß ich Marco wiedersehen wollte.

Er ließ mich nicht mehr los, nicht einmal, wo er doch gar nicht da war. Ich hatte lange wach gelegen und als ich dann endlich eingeschlafen war, träumte ich von Marco, Natascha, der Schule und irgendwie auch von Ralf. Aber ich hatte den Traum schon vergessen, als ich noch im Aufwachen war. Einzig zurück blieb das Gefühl. Zurück blieb nur, wie ich mich in diesem Traum gefühlt hatte. Es war mir egal, was Natascha, Ralf oder sonst wer sagen würde. Aber ich mochte Marco und ich wollte in seiner Nähe sein. Und ich bildete mir ein, daß Marco auch in meiner Nähe sein mochte.
 

Ich hatte den Vormittag nur mühsam hinter mich gebracht. Die Unterrichtsstunden zogen sich zäh wie alter Kaugummi in die Länge. Jedes Mal, wenn ich auf die Uhr sah und bemerkte, daß ja doch schon ein gute halbe Stunde vergangen war und das Ende des Unterrichtstages nicht mehr weit war, explodierte etwas in meinem Magen und kribbelte in meinem Bauch und in meinen Adern wie millionen kleine Insekten.

Ich wollte ihn wieder sehen.

Heute!

Ich wollte in seiner Nähe sein.

Jetzt!

Ich konnte nicht mal genau sagen, warum. Aber ich wollte es. Und ich genoss dieses Gefühl ihm vielleicht nachher zu begegnen. Es kribbelte, war neu, frisch und unverbraucht. Mit Ralf war alles schon so normal, daß es fast langweilig war.

Und ich durfte Marco ja wiedersehen, zumindest hatte ich seine Erlaubnis.

Ich sollte ja anrufen, wenn ich Zeit hätte.

Und ich hatte heute Zeit.

Die hab ich mir genommen, extra für Marco.

Die hatte ich mir erkämpft, erschwindelt, erschlichen. Und als Lohn für diese Mühe hatte ich ja wohl ein Wiedersehen mit Marco verdient.

Inzwischen unruhig aufgrund der fortgeschrittenen Zeit, es waren nur noch 15 Minuten, bis die Schlussglocke klingeln würde, rutschte ich auf meinem Stuhl hin und her. Ich begann schon damit, meine Sachen in die Tasche zu packen, schreiben konnte ich jetzt eh nicht mehr. Dafür war ich viel zu aufgeregt.

Dabei war noch nicht mal sicher, ob Marco überhaupt da sein würde. Und wenn doch, daß er überhaupt Zeit für mich haben würde. Das war mir bewusst, aber ich ignorierte es gekonnt. Ich konnte mich schon längst nicht mehr darauf konzentrieren, was der Lehrer gerade über gewisse Hausaufgaben sagte. Ich war nicht mal sicher, ob er überhaupt etwas sagte. In meinem Kopf brummte die Spannung und das Blut rauschte in meinen Ohren.

Natascha war heute nicht da. Vielleicht war sie krank? Schade eigentlich, ich hätte ihr so gerne brühwarm von Marco und mir erzählt. Vielleicht hätte sie mir Marcos Verhalten übersetzen können? Vielleicht wollte ich es aber auch gar nicht wissen. Sie hätte so etwas sagen können wie: ‚Klarer Fall, der sucht nur ein schnelles Abenteuer und du bist da gerade gut genug‘.

Der Gedanke kam mir auch schon. Aber ich wollte ihn nicht wahr haben. Ich war mir sicher, daß, was da zwischen Marco und mir am Vortag so geknistert hatte, das war echt. Das fühlte ich. Vielleicht wollte ich es fühlen, weil ich so in ihn verschossen war. Oder vielleicht…

Endlich schellte die Pausenklingel.

Endlich war es 13 Uhr und der Schultag zu Ende.

Noch während ich nach meiner Tasche griff, war ich praktisch schon durch die Tür aus der Klasse raus. Ich hatte es eilig. Jede Sekunde, die es länger dauern würde, bis ich endlich an der Telephonzelle um die Ecke war, würde mich länger davon trennen, mit Marco zusammen zu sein.

Ich dachte auch schon nicht mehr darüber nach, warum ich das eigentlich wollte. Warum ich in der Lage war, meinen Freund so schamlos an zu lügen und fremd zu gehen, obwohl er mir schon einmal meine Untreue verziehen hatte.

Ich dachte gar nicht mehr nach!

Im Kopf war ich bereits in der Telephonzelle, hatte die Nummer gewählt und… Ja, was sollte ich sagen? Keine Ahnung. Ich würde es auf mich zukommen lassen.

Ein schneller Blick in die Runde versicherte mir, daß Ralf nicht doch unerwartet gekommen war. Man muss ja mit allem rechnen.

Mit großen Schritten lief ich fast die endlosen 50 Meter, die mich von der Zelle noch trennten, stürmte hinein als würde es hinter mir brennen und warf erstmal die drei Zehn-Pfennig-Stück, die ich hastig aus der Hosentasche gezogen hatte, auf die Erde. Nicht mit Absicht, versteht sich. Ich war einfach zu schnell, das haben die Groschen nicht verkraftet.

Mit vor Aufregung zitternden Händen sammelte ich die Geldstücke wieder ein, nahm den Hörer ab, warf nacheinander die Groschen in den dafür vorgesehenen Geldschlitz, wählte die Nummer und wartete.

Ich zitterte vor Aufregung am ganzen Leib.

Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis es endlich tutete.

Nach einer weiteren Ewigkeit wurde am anderen Ende deutlich hörbar abgenommen und eine Frauenstimme meldete sich.

„Lotz?“

Ooops, seine Mama, nur jetzt nicht feige werden!

„Ja, äh, hallo, äh, hier ist Carmen, ist Marco da?“ stammelte ich etwas ungeschickt.

„Ja, der ist da.“ Sagte seine Mutter im Plauderton.

Ein Felsen der Erleichterung stürzte in eine tiefe Schlucht. Zumindest war er schon mal da.

„Kann ich ihn mal haben?“ Sowas idiotisches! Ging es mir sofort durch den Kopf. Es heißt: ‚Kann ich ihn mal sprechen‘, oder‘ können Sie ihn mal ans Telephon holen‘, aber ‚Kann ich ihn mal haben‘ war ja wohl total daneben.

Marcos Mutter schien das jedoch nicht zu bemerken und gab nur weiter im Plauderton zur Antwort, daß ich einen Moment warten sollte.

Klaro! Mache ich! Ich warte hier auch einen großen Moment, solange Marco nur ans Telephon kommt.

Das hab ich ihr natürlich nicht gesagt.

Ich antwortete nur mit einem kurzen: „Ja, danke.“

Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Nur mühsam schluckte ich es wieder runter.

Nach einer Pause, die mir wieder wie eine Ewigkeit vorkam, hörte ich dann, wie der Hörer aufgenommen wurde und Marco meldete sich.

„Ja?“

„Du hattest doch gesagt, ich solle dich anrufen, wenn ich Zeit habe.“ Begann ich unsicher.

„Ja?“ sagte er wieder.

„Und?“

Man, ist der schwer von Begriff?

„Ja, ich hätte jetzt Zeit.“ Sagte ich dann etwas gefasster.

„Und?“

Sag mal, spielt er jetzt wieder so ein komisches Spiel oder will er es tatsächlich nicht kapieren?

„Ja, hast du denn Zeit?“

„Joah, könnte man so sagen.“

Ich konnte direkt sehen wie er diebisch vor sich hingrinste. Nein, ich konnte es HÖREN!

„Und? Kann ich kommen?“ fragte ich jetzt schon ein bisschen genervter. Ich bemühte mich allerdings, ihn das nicht merken zu lassen, immerhin wollte ich ihn nicht gleich verschrecken.

„Ja, wie lange brauchst du?“

Na endlich!

„Ich bin hier in der Telephonzelle beim Fördegym. Ich könnte in fünf Minuten da sein.“

Ich drehte mich in der Telephonzelle nach rechts, wo ich in ca. zweihundert Metern Entfernung das Tor zum Eingang zu dem Haus sehen konnte, wo Marco wohnte.

„Gut, dann bis gleich.“ Sagte er gut gelaunt.

„Ok, bis gleich.“ Sagte ich schon sehr viel sanfter.

Nachdem wir noch ein kurzes ‚Tschüß‘ ausgetauscht hatten, machte ich mich sofort auf den Weg zu Marco. Und nach wenigen Minuten hatte ich dann das Tor erreicht zu dem Grundstück, auf dem das Haus stand, in dem Marco wohnte.

Kapitel II
 

„Aua! Menno! Kannst du das nicht mal lassen? Das tut weh! Hier! Guck dir das an!“

Mühsam konnte ich endlich meine Hand aus Marcos Schraubzangengriff befreien. Er hatte mir die Finger dermaßen zusammen gequetscht, daß meine Fingerspitzen beinahe blau waren, die Finger darunter waren stellenweise Rot und stellenweise weiß. Und: Meine Ringe waren sämtlich verbogen!

Marco guckte sich meine Hand mit ausgesprochen schlecht gespielter Anteilnahme an und meinte dann deutlich ironisch: „Oooooh, hattu Aua!“ und im nächsten Moment hatte er mich dann am Handgelenk der übel zugerichteten Hand zu fassen und zog mich mit einem plötzlichen Ruck zu sich ran. Da ich eigentlich schon dicht bei ihm saß, blieb mir weder der Raum noch genügend Zeit mich gegen diesen Ruck zu stemmen und ich lag augenblicklich in seinen Armen. Von Oben sah er auf mich herab und hatte das gleiche Funkeln in seinen Augen wie vor ein paar Tagen, wo er mich am Fördegym abgefangen hatte, um mich zu sich nach Hause zu entführen. Unsere Blicke begegneten sich und in meinem Magen platzte wieder ein Ballon gefüllt mit Ameisen, die sich jetzt kribbelnd und wuselnd gelichmäßig in meinem Körper verteilten. Ich versuchte hoch zu kommen, aber er hatte mein Handgelenk immer noch in der Schraubzange und machte nicht die geringsten Anstalten, diesen Griff zu lockern. Außerdem hatte er jetzt seinen freien Arm so um mich gelegt, daß er meinen Versuch mich zu befreien schon im Keim ersticken konnte. Er sah mich immer noch funkelnd an und grinste noch breiter.

Mit einem übertriebenen Seufzer ergab ich mich in mein Schicksal und gab die Bemühung auf, zu versuchen mich zu befreien.

„Und nun?“ fragte ich ihn kiebig.

„Weiß nicht?“ gab er zur Antwort und funkelte mich weiter siegessicher an.

Er machte allerdings auch keine Anstalten, mich jetzt zu küssen. Stattdessen hatte er mit einer schnellen Handbewegung seine Finger wieder unter meiner Bluse.

Ich versuchte mich zu wehren und mich doch aus dieser Lage zu befreien aber es gelang mir nicht wirklich. Ich kam zwar hoch, konnte mich aber nicht vollständig von ihm lösen. Mit der einen Hand hatte er immer noch mein Handgelenk in festem Griff, mit der anderen Hand drückte er mich weiter runter. Es gelang mir dann doch mich zumindest aufzurichten und er musste den Griff um mein Handgelenk lösen. Allerdings hatte er im nächsten Moment mein anderes Handgelenk zu fassen. Er zog dann seinen Arm unter meiner Bluse wieder raus und hatte sehr schnell auch das Handgelenk zu fassen, daß inzwischen schon ganz rot war. Nach einem kurzen Gerangel hatte Marco dann meine beiden Hände in einer Hand und die andere hatte er dann wieder frei. Allerdings konnte er mir da nur auf den Rücken greifen, aber eben unter meiner Bluse.

Für einen Augenblick ergab ich mich wieder. Es war ganz schön anstrengend gegen Marco zu kämpfen. So blieben wir dann eine kleine Weile sitzen, offensichtlich hatte auch Marco seine Mühe, mich im Zaum zu halten. Nur mit dem Unterschied, daß er meistens gewann. Oder ließ ich ihn gewinnen? Vielleicht, vielleicht nicht?

Marco sah mich an und ich sah ihn an. Er hatte so schöne blaue Augen. Wie Wasser, aber nicht so klar und rein, sondern eher wie die See. So dunkel Blau, tief und lebhaft. Er hatte hochsitzende Schultern. Wenn er ein T-Shirt trug sah es immer so aus, als wenn er Schulterpolster darunter hätte. Natürlich wirkte ein Pullover genauso. Im Moment trug er aber nur ein T-Shirt und da konnte man es deutlich erkennen. Genauso deutlich zu erkennen war eben, daß er keine Schulterpolster brauchte. Er sah von Haus aus toll aus. An seinem Hals hing eine silberne Panzerkette. Sie war etwas stärker als die, die ich selbst um den Hals trug. Sie stand ihm gut. In seinen Augen funkelte der Schalk und ich konnte geradezu hören, wie er sich überlegte, womit er mich als nächstes ärgern könnte.

Völlig unvermittelt fragte er mich dann: „Magst du Kuschelrock?“

Ich stutzte und vergaß für einen Moment, meinen ganzen Körper gegen seinen Griff zu spannen. Sofort hatte Marco mich umgedreht und im selben Moment so auf seine Schlafcouch geworfen, daß ich jetzt auf dem Rücken lag und ihn nur verwundert angucken konnte. Meine Hände hatte er immer noch fest im Griff und er sah mich herausfordernd grinsend an.

„Was soll das sein?“ fragte ich ihn zurück. Kuschelrock? Wollte er jetzt mit mir kuscheln? War das irgendein Spiel, bei dem man versuchen musste, dem anderen unter die Klamotten zu greifen? Nein, letzteres machte er ja schon die ganze Zeit mit mir. Das konnte es nicht sein. Außerdem hatte ich eine Jeans an, keinen Rock. Und ich glaubte nicht, daß Marco sich jetzt einen Rock anziehen wollte.

„Kennst du das nicht?“ Er machte große Augen und wirkte ehrlich erstaunt.

„Nein, was soll das sein?“ wiederholte ich meine Gegenfrage.

„Warte, ich zeige es dir.“

Er löste wie nebenbei endlich meine Handgelenke aus der inzwischen schmerzhaften Lage und wand sich zu seiner kleinen Anlage.

Er suchte eine bestimmte Kassette heraus, legte sie in das Gerät und setzte sich dann wieder zu mir auf das Sofa.

Nach einer kurzen Pause, in der es ganz still war, ertönte dann ein Lied in den Lautsprechern. Es war Chris de Burg mit Lady in Red. Eindeutig ein Schmusesong.

Ich lag noch immer auf dem Rücken und Marco sah mich erwartungsvoll an. Er stützte sich mit beiden Händen auf der Matratze ab und ich lag jetzt zwischen seinen Armen direkt unter ihm.

„Musik?“ fragte ich kurz, in Ermangelung eines ausreichenden Vokabulars, daraus einen richtigen Satz zu machen.

Marco grinste nur weiter.

Wollte er jetzt tatsächlich mit mir Kuscheln? Zärtlich werden? Endlich damit aufhören, mir die Finger zusammen zu quetschen? Mich vielleicht küssen??? Ich glaubte nicht, daß ich mich wehren würde…

„Bist du hier auch kitzelig?“ grinste er mich dann ganz plötzlich frech an und griff mir in die Nieren.

Ich schrie erschrocken auf, versuchte mich von ihm weg zu biegen um seiner Attacke auszuweichen und schon rangelten wir wieder herum.

Dieser garstige Lauselümmel! Und ich dachte, jetzt würde es endlich gemütlich. Aber nein, der Herr hatte nur Schabernack im Kopf.

Im nächsten Moment hörten wir, daß jemand an Marcos Zimmertür klopfte. Seine Mutter wartete nicht erst auf eine Antwort sondern kam direkt rein und verkündete, daß Gerhard da war, der dann auch schon gleich hinter Marcos Mum auftauchte. Dieser grinste breit, kam einfach ins Zimmer und baute sich vor uns auf. Sicher hätte er sich sofort auf das Sitzmöbel geworfen. Da wir aber lang darauf lagen, Marco und ich, war wirklich kein Platz mehr für Gerhard auf dem Sofa.

Marco und ich guckten uns vielsagend an und ich konnte in seinen Augen erkennen, daß er exakt dasselbe dachte wie ich!

So ein komplett ignoranter Störenfried!!!

Und nicht nur, daß dieser komplett ignorante Störenfried allem Anschein nach nicht raffte, daß er jetzt ehrlich total fehl am Platz war, nein, er sah sich kurz um, schnappte sich dann Marcos Schreibtischstuhl und pflanzte sich darauf. Er hatte ganz eindeutig nicht vor wieder zu gehen.

Er laberte sofort los. Drückte vor allem Marco eine Kassette ins Ohr über sein neues Moppet, mit dem er gerade gekommen war. Marco sah nicht wirklich begeistert aus, wollte jetzt seinen Freund aber auch nicht gleich vor die Tür treten.

„Wart ihr gerade bei irgendwas? Störe ich?“ unterbrach Gerhard kurz seinen Redeschwall.

Marco und ich sahen uns an und antworteten beide betont ironisch: „Neee, lass man. Is schon ok.!“

Die Stimmung, die wir aufgebaut hatten, war eh dahin. Als hätte jemand in ein Schaumgebilde geschlagen flog diese in winzige Bläschen zerteilt durch den Raum und löste sich Stück für Stück auf.

„Na dann ist ja gut.“ Für Gerhard reichte das um nicht den geringsten Anflug von „Oh, sorry, soll ich wieder gehen?“ zu haben. Zufrieden mit sich, seiner Welt und der Tatsache, daß er nicht störte, oder gestört haben könnte, lehnte er sich in dem Schreibtischstuhl von Marco zurück und wirkte, als wolle er da jetzt dauerhaft Wurzeln schlagen.

Er erzählte weiter von seiner Möff, die jetzt draußen vor der Garage stand.

„Ey, aller, hasse was zu trinken?“ fragte er nur zwischendurch. „Mein Hals ist total trocken!“

Ich konnte von der Seite sehen, daß Marco einen Gesichtsausdruck aufsetzte der ungefähr so viel hieß wie: „Wenn ich so ohne Punkt und Komma labern würde, würde mir die Zunge auch im Hals festpappen!“

Er drehte sich aber gleich um zu der Colaflasche, die neben seinem Bett stand und reichte sie Gerhard. Dieser schraubte den Deckel ab und saß jetzt erstmal mit der offenen Flasche in der einen, dem Deckel in der anderen Hand und laberte und laberte und quatschte uns jedem einen Blumenkohl an die Ohren!

Irgendwann fand er dann tatsächlich eine Pause in der er einen herzhaften Zug aus der Flasche nahm. Als er fertig getrunken hatte, hatte er kaum die Flasche von Hals weggenommen, als er auch schon weiter laberte und redete. Erstaunlicher Weise lief ihm dabei kein Tropfen der Cola aus den Mundwinkeln. Nebenbei schraubte er die Flasche wieder zu und gab sie Marco zurück.

Der saß inzwischen im Schneidersitz auf seinem Bett. Er hielt die Cola in den Händen und guckte sehr konzentriert auf das Etikett, daß er nebenbei anfing mit den Daumen ab zu pulen.

Ich sah genauer auf seine Hände, die ich bisher nicht richtig betrachten konnte, da er mich immer nur festhielt, mir die Finger zusammenquetschte oder eben damit unter meiner Bluse beschäftigt war.

Ich hatte richtig gesehen: Er hatte beide Daumen verkürzt. Also, das obere Daumenglied, daß, wo der Nagel drauf saß, war nur halb. Man könnte auch sagen, er hatte da, wo andere Menschen einen Daumen haben, einen großen Zeh.

Fasziniert sah ich ihm dabei zu, wie er mit eben diesen halben Daumennägeln das Etikett der Flasche ab fusselte. Er bewegte seine Hände etwas anders, als wenn er normale Daumen gehabt hätte. Aber es war nicht irgendwie abstoßend oder so. Jedenfalls empfand ich das nicht so. Ich fand es viel mehr interessant, wie geschickt er mit den kurzen Daumen umging. Ich hätte ihm stundenlang dabei zusehen können. Naja, er hatte das sicher seit seiner Geburt so und wusste eigentlich gar nicht, daß er da anders war. Er ist damit aufgewachsen und kannte es nur so. Und dennoch hatten seine Bewegungen etwas für mich hoch interessantes. Ich konnte nicht mal erklären was. Ich war einfach nur fasziniert.

Ich hörte auch gar nicht mehr danach hin, was Gerhard eigentlich erzählte. Marco sah auch nicht so aus, als würde ihn der Vortrag seines Freundes wirklich fesseln. Er pulte weiter an dem Etikett herum und ließ Gerhard labern.

„Ich muss ja gleich noch zum Bus.“ Versuchte ich den Redeschwall von Gerhard abzufangen. Vielleicht würde er ja doch noch darauf kommen, daß er eventuell stören könnte.

„Wo müsst ihr denn da hin?“ Fragte Gerhard eifrig.

„Nach Engelsby.“ Antwortete Marco jetzt. Allem Anschein nach war er wirklich froh den Monolog seines Freundes auf ein anderes Thema lenken zu können, ihn eventuell doch noch kurzfristig in die Wüste schicken zu können.

„Oh, cool. Wenn es nicht regnet, komme ich mit!“ Strahlte Gerhard ehrlich begeister über seine Idee, uns weiterhin die Ohren abzukauen.

Marco sah mich an, ich sah Marco an und wieder war es ohne Zweifel dasselbe, was wir dachten.

Hoffentlich schüttet es aus allen Kübeln!!!

„Wann müsst ihr denn los?“ fragte Gerhard.

Marco sah erst auf seine Armbanduhr, dann auf mich und antwortete: „Carmens Bus kommt um halb acht, da müssen wir in Engelsby sein.“

Er gab mir mit seinen Augen ein kaum merkliches Zeichen und ich verstand sofort.

„Ja“, sagte ich dann und schaute auf meine eigene Uhr und rief so überzeugend überrascht, wie ich konnte: „Oh, dann müssen wir ja schon los.“

Marco war offensichtlich begeistert über mein sofortiges Mitspiel.

Beinahe wie abgesprochen kam Marcos Mutter ins Zimmer und sagte, wir bräuchten Regenschirme, es würde fürchterlich regnen.

Ich brauchte Marco nicht angucken, wir waren beide noch niemals so froh darüber, daß es draußen junge Katzen und Hunde regnete.

Gerhard war furchtbar traurig und entschuldigte sich noch während er mit seiner Möff losfuhr, daß er nicht mitkommen konnte. Marco und ich waren ehrlich froh, ihn endlich los zu sein.
 

Natürlich fuhr mein Bus nicht um halb acht. Er fuhr erst um Acht. Und normalerweise war es wirklich nicht das Wetter, um sich extra eine halbe Stunde eher auf den langen Weg von Mürwik nach Engelsby zu machen um dann der Witterung länger ausgesetzt zu sein, als notwenidg.

Aber wir waren hoch zufrieden. Endlich waren wir wieder allein. Wir gingen den Weg zu Fuß, mit dem Rad wären wir klatsch nass geworden. So gingen wir dann nebeneinander, jeder mit einem Regenschirm in der Hand nach Engelsby. Es war stock dunkel und an der Straße waren keine Laternen. Der Weg war keine offizielle Verbindungsstraße irgendwo hin und musste damit nicht groß beleuchtet sein. Außerdem war es kalt. Wir hatten ja auch erst Ende Januar. Aber die Kälte merkte ich gar nicht so sehr. Nur die Dunkelheit verstärkte das Gefühl mit Marco jetzt ganz allein auf der Welt zu sein. Niemand würde uns stören. Kein Auto war zu hören, keine anderen Menschen, keine Tiere. Nur Marco, ich und der Regen.

Er hatte meine Tasche wieder geschultert und griff dann nach meiner Hand. Ich ließ ihn gewähren. Es kribbelte so angenehm in meinem Bauch.

„Man“, begann er dann, „Ich dachte der würde nie mehr aufhören zu reden.“

„Ich auch.“ Gab ich zur Antwort.

„Hat er ernsthaft nicht gemerkt, daß er echt fehl am Platz war, oder war ihm das egal?“ fragte ich.

„Keine Ahnung. Aber das schafft der immer. Auch wenn ich mit Natascha bei mir zu Hause war, hat er es immer geschafft, im falschen Moment anzukommen. Er ist glaube ich noch nie zu mir gekommen, wenn ich sowieso nichts anderes zu tun vor hatte.“

„Mister Ich-komme-immer-im-falschen-Moment.“ Fügte ich hinzu.

„Jap, könnte man so sagen.“

Eine Weile gingen wir dann wieder schweigend nebeneinander her.

„Am liebsten würde ich dich jetzt einfach entführen.“ Sagte Marco dann plötzlich in die Stille hinein.

„Wohin denn?“ fragte ich seelig. Ich genoss es mit ihm so alleine zu sein und daß er es offensichtlich auch mochte, mit mir alleine zu sein.

„Weiß nicht.“ Er zuckte mit den Schultern.

„Irgendwo hin wo kein Ralf ist.“

Das gab mir einen winzigen Stich.

Musste er den jetzt erwähnen? Mir war schon bewusst, daß das, was ich gerade tat, nicht ganz fair Ralf gegenüber war, naja, überhaupt nicht fair. Aber bis jetzt hatte sich das mit Marco so gut und richtig angefühlt, daß ich keinen Raum für ein schlechtes Gewissen hatte. Andererseits verflog dieser kurze Stich aber schnell wieder. Jetzt war ich bei Marco und ich wollte es genießen.

„Kannst du nicht einfach Schluss mit ihm machen?“

Gute Frage…

„Ich weiß nicht…“ Antwortete ich.

Schluss machen? Wie denn? Würde das nicht irgendwie Stress bedeuten? Stress war unangenehm, das brauchte ich nicht. Und wenn ich jetzt mit Ralf Schluss machen würde, wer garantierte mir dann, daß ich mit Marco zusammen käme? Am Ende hätte ich Ralf in die Wüste geschickt und Marco würde mich dann doch nicht mehr wollen und dann? Ich weiß nicht…

„Und dann?“ wiederholte ich meinen letzten Gedanken, dieses Mal laut.

Marco zuckte wieder mit den Schultern, blieb mir eine Antwort jedoch schuldig.

Siehste, dachte ich. Er meint das ja gar nicht ernst.

Dennoch gingen wir weiter Hand in Hand durch den Regen bis wir endlich wieder etwas Licht sahen. Wir hatten Engelsby erreicht.
 

Natürlich waren wir viel zu früh an der Haltestelle. Wir waren sogar eine dreiviertel Stunde zu früh, weil wir auch schon zu früh losgegangen waren. Leider hatte die Haltestelle für den Bus, der über die Nordstraße von Flensburg nach Kappeln fuhr kein Bushäuschen, wir standen also buchstäblich im Regen. Allerdings war hinter der Haltestelle ein Parkplatz und auf dem befand sich ein langgezogener Carport. Ganz in einer Ecke stand ein Anhänger. Dort war es trocken. Dort gingen wir hin und setzten uns auf den Anhänger. Marco saß dicht neben mir und schob mir wieder seine inzwischen eiskalte Hand auf den nackten Rücken. Ich protestierte kurz, ließ ihn aber gewähren, viel zu schön und kribbelig war seine Nähe.

Wir sprachen nicht. Saßen einfach nur da und waren zusammen.

Plötzlich legte er seine andere Hand unter mein Kinn, zog mich sanft zu sich hoch und drückte seine Lippen auf die meinen.

Er küsste mich.

Endlich, er küsste mich.

Sofort hatte ich das Gefühl mein Körper würde sich wie ein Schwarm Schmetterlinge, den jemand aufgescheucht hatte, auflösen. Ich ließ ihn nicht nur gewähren, ich kam ihm entgegen. Er legte mir seinen anderen Arm, den, den er nicht unter meiner Bluse hatte, um die Schultern und drehte mich weiter zu sich hin. Ich lag jetzt wirklich in seinen Armen und wir küssten uns, leidenschaftlich, beinahe hemmungslos. Ich war wie berauscht. Ich wünschte, dieser Moment, dieser Kuss würde niemals enden.

Für einen Moment löste er den Kuss, entfernte sich aber nicht von mir.

„Moagst mi noch?“ fragte er mich leise.

Fast tonlos antwortete ich.

„Ja.“
 

In den folgenden Tagen haben wir uns jeden Nachmittag getroffen. Ich habe Ralf mehr als einmal abgesagt, immer hatte ich etwas zu tun oder keine Zeit. Der Umstand, daß er nicht zu meinem Schulschluss da sein konnte, weil er ja bis um halb zwei Nachmittags im Praktikum war, machte es für mich leicht zu Marco zu gehen.

Inzwischen hatte ich auch Natascha eingeweiht. Ich war so seelig und glücklich, aufgelöst wie ein kleines Kind das Geburtstag, Weihnachten und Ostern an einem Tag feierte. Und das nicht nur gestern und heute sondern voraussichtlich auch morgen und übermorgen.

„Dir ist schon klar, daß er nur mit dir spielt?“ fragte sie mich.

„Ich weiß nicht.“ Antwortete ich. „Eigentlich hab ich nicht das Gefühl, daß er nur spielt.“

„Er will doch bloß das Eine und dann bist du wieder uninteressant.“ Warnte sie mich weiter.

Vor ein paar Tagen, am Montagmorgen hätte ich ihr vielleicht noch zugehört, aber inzwischen war ich total berauscht von dem Gedanken, daß Marco mich wirklich gern hatte.

Ich zuckte nur mit den Schultern.

„Meinst du?“ gab ich leicht abwesend zurück. Im Grunde wollte ich das gar nicht hören.

"Hat er dich denn überhaupt schon geküsst?“ fragte Natascha dann.

„Ja.“ Antwortete ich begeistert und ohne abzuwarten, ob sie das hören wollte, erzählte ich ihr den ganzen Montagnachmittag.

„Na ja, ich weiß nicht.“ Sagte Natascha trotzdem.

„Weiß Ralf davon?“

„Bist du verrückt?“ keuchte ich entrüstet.

„Lass dich nicht erwischen.“

Natascha war ehrlich entsetzt ob meiner offensichtlichen Gewissenlosigkeit Ralf gegenüber.

Mich beeindruckte das nicht im Geringsten. Ich war total aufgelöst in meinen rosaroten Wolken. Und in jeder Wolke stand in dicken, flauschigen rosa Buchstaben „MARCO LOTZ“
 

Ich schwebte einen halben Meter über dem Boden und grinste wie ein Honigkuchenpferd, dem man den ganzen Stall mit Honigkuchen voll gestellt hatte und versprochen hatte, das garantiert niemand etwas ab haben wollte.

Ich dachte nur daran, daß ich ihn bald wieder sehen würde. Ich musste noch nicht mal mehr anrufen und fragen, ob er Zeit hätte. Nein. Inzwischen hatten wir uns richtig verabredet, mit einer festen Zeit und mit dem Vorhaben den ganzen Nachmittag zusammen zu verbringen, bis ich zum Bus musste. Er würde mich dann mit dem Rad nach Engelsby fahren und so lange mit mir an der Haltestelle bleiben, bis mein Bus kam und mich von ihm wegbrachte. Aber bis dahin wären wir von um 1 Uhr mittags bis um 8 Uhr abends zusammen. Das waren sieben Stunden. Sieben himmlische Stunden nur Marco und ich allein.

Naja, fast allein. Aufgrund der Tatsache daß sich das Wetter in den letzten Tagen nicht nennenswert geändert hatte, waren wir fast nur bei Marco zu Hause.

Sein Mum ließ uns wirklich in Ruhe. Aber es passierte ja auch nichts, wobei eine peinliche Situation hätte entstehen können. Wir kabbelten miteinander und knutschten herum. Naja, küssten, würde ich sagen. Es war nicht einfach nur so ein Rumknutschen, fand ich. Es prickelte, und es prickelte an den richtigen Stellen. Aber es blieb beim Küssen. Er verbog mir immer noch gerne die Ringe, hatte seine Gemeinheiten aber um eine Attraktion erweitert: Er machte mir mit wachsender Begeisterung Knutschflecken an den Hals und in den Nacken.

„Nicht! Lass das!“ pöbelte ich und versuchte Marco von mir wegzuschieben. Es gelang mir nicht wirklich aber ich konnte ihn zumindest soweit unterbrechen, daß es keinen richtigen Knutschfleck gab.

„Ich will aber!“ maulte Marco kiebig.

„Duuuu?“ begann er dann gedehnt.

„Waaaaas?“ gab ich genauso gedehnt zurück.

„Ich will ein Andenken von dir.“ Er lag neben mir auf den Ellbogen gestützt, legte seinen Kopf auf seine Schulter und guckte mich von unten mit Schlafzimmeraugen an.

„Ein Andenken? Was für ein Andenken? Gehst du weg?“

„Nein, ich gehe nicht weg. Aber ich möchte ein Andenken von dir, wenn du nicht da bist.“

Ich war ehrlich geschmeichelt.

„Was willst du denn als Andenken haben?“ fragte ich zurück. Ich saß vor ihm auf seiner Schlafcouch und sah zu ihm herunter. Dabei fielen meine langen Haare nach vorne und ihm ins Gesicht.

„PFTU!“ Machte er und versuchte meine Haare aus seinem Mund zu bekommen.

Ich lachte.

„Ich möchte einen Ring von dir.“ Sagte er dann, als er meine Haare aus seinem Gesicht gewischt hatte.

„Einen Ring? Was für einen Ring?“

„Na, einen von denen da.“ Gab er zur Antwort und deutete mit dem Kopf ruckend auf meine Hände.

„Davon?“ fragte ich leicht stutzig.

„Den da.“ Sagte er dann und tippte auf einen silbernen einfach Ring an meiner linken Hand.

„Und dann? Bekomme ich dann auch einen Ring von dir?“

„Ja.“ Marco nickte heftig.

„Und wann?“

„Mal sehen. Bekomme ich den denn jetzt?“

Er sah mich so süß schmeichelnd und bettelnd an, daß ich gar nicht widerstehen konnte. Ich nahm den Ring ab und reichte ihn Marco. Er nahm ihn entgegen und drehte ihn zwischen seinen Fingern.

„Der ist ja ganz verbogen.“ Maulte er gespielt.

„Tjaaaaah, woran könnte das nun liegen!“ tadelte ich ihn.

„Du willst doch nicht sagen, daß ich das war?“ Marco spielte jetzt Entsetzen.

„Doch, genau das wollte ich damit sagen.“

Im nächsten Moment hatte er mich wieder im Klammergriff, zog mich zu sich runter und hinderte mich daran laut zu protestieren indem er mich küsste.
 

Zwei Wochen lang trieben wir dieses Spiel. Wir sahen uns täglich, verbrachten dann den ganzen Nachmittag miteinander bis ich dann abends zum Bus musste. Ich erfand die abenteuerlichsten Geschichten um Ralf glaubhaft zu machen, daß ich im Moment keine Zeit für ihn hatte.

So ganz langsam wurde er wahrscheinlich auch misstrauisch, aber ich fühlte mich sicher.

Inzwischen hatten wir Anfang Februar.

Marco und ich hatten uns für den Montagnachmittag wieder verabredet.

Sonntagabend jedoch rief Ralf an und hatte eine Überraschung für mich.

„Ich hab morgen den ganzen Tag frei. Ich könnte dich von der Schule abholen. Wir könnten doch nach Toffer ins Schwimmbad.“

Ich konnte geradezu hören, wie Ralf grinste und voller Vorfreude auf meinen begeisterten Ausruf der Zustimmung wartete.

Diese Absicht hatte ich aber absolut nicht.

Ich sagte gar nichts, fieberhaft nachdenkend, was ich jetzt sagen könnte, daß ich A keine Zeit hätte, B keine Zeit haben könnte, weil ich das, weswegen ich morgen Nachmittag keine Zeit hätte, nicht absagen konnte. C musste es etwas sein, das ihn von dem Versuch abhalten würde, mich von der Schule abzuholen und D, daß er auf keinen Fall zu Hause bei mir anrufen würde.

Nach einer etwas längeren Pause, in der Ralf darauf wartete, daß ich meine Sprache wiederfinden würde, stammelte ich dann:

„Oh, ja, das wäre super.“

„Freust du dich?“ Ralf schien zu denken, daß ich echt vor Überraschung geplättet war. War ich auch, aber nicht so, wie Ralf jetzt annahm.

„Ja, schon“, stammelte ich weiter. „Aber ich kann morgen gar nicht.“

„Wieso nicht?“ Ralf war enttäuscht.

„Ich muss morgen direkt nach der Schule mit meiner Mutter nach Munkbrarup zum Nähkurs.“

Tatsächlich gab meine Mutter zu der Zeit Nähkurse für erwachsene Frauen.

„Warum musst du da denn mit? Kannst du das nicht ein anderes Mal machen?“

„Nein, leider nicht.“ Was erzähle ich denn jetzt bloß? Ich war überhaupt nicht darauf vorbereitet.

„Warum denn?“ fragte Ralf verständnislos.

„Ich… Hab…“ Argh, ich brauche einen triftigen Grund.

„Ich hab mich mit meiner Mum gezofft und jetzt soll ich da morgen Nachmittag mit, damit sie mich im Auge behalten kann.“ Oh man, das hört sich an, als wenn ich eine Vierjährige wäre.

„Wieso das denn, was hast du denn angestellt?“

Was hatte ich angestellt… gute Frage, schwere Antwort…

„Es ging irgendwie um die Küche. Und dann haben wir uns gefetzt.“ Ich versuchte während des Sprechens verzweifelt einen Faden zu erhaschen, an dem ich die Story weiter stricken konnte.

„Und dann hat meine Mum nebenbei auch noch wieder eine Privatkundin die bis Ende der Woche ihr Kostüm haben will.“ Jetzt hatte ich etwas gefunden, mit dem meine Mutter mich in Munkbrarup festhalten können würde.

„Ich soll dann morgen Nachmittag wieder Knöpfe beziehen und besticken. Sie schafft das sonst nicht.“

„Warum kannst du das nicht zu Hause machen?“ War er jetzt doch misstrauisch geworden?

„Weil ich eigentlich Stubenarrest bekommen hab und mein Vater ist auch so stinkig. Ruf den morgen bloß nicht an, der ist total pissig auf dich.“

Ich hatte einen Faden gefunden und begann nun eine abenteuerliche Geschichte daraus zu knüpfen.

„Wieso das den?“ fragte Ralf jetzt einigermaßen erschüttert.

„Naja, irgendwie hat meine Mum rausgefunden, daß wir uns doch noch treffen. Und Mein Vater ist total wütend.“ Log ich.

„Aber wir haben uns doch die ganzen letzten 14 Tage gar nicht mehr gesehen, weil du immer irgendwo helfen musstest.“

Ich konnte direkt sehen, wie er die Augenbrauen skeptisch hochzog.

„Ich meine ja auch die Zeit davor. Ich glaube, meine Mum hatte das schon länger geahnt und mich deswegen so eingespannt.“

Jetzt war es ganz leicht weiter zu spinnen.

„Ach so.“ machte Ralf.

„Und warum musst du mit nach Munkbrarup?“

„Mum hat morgen zwei Kurse nacheinander, weil letzte Woche ein Kurs ausgefallen war und sie muss mir noch was zu den Knöpfen erklären, das dauert aber etwas länger, weil sie mir das auch zeigen muss. Heute hat sie aber Kopfschmerzen und ist schon im Bett.“

Für mich deutlich hörbar hantierte meine Mum gerade in der Küche.

„Oh.“ Offensichtlich wusste Ralf nicht, was er darauf sagen sollte.

„Ich denke, du warst letzte Woche auch bei allen Kursen dabei, wieso ist denn jetzt doch einer ausgefallen?“

Ooops, da war mir wohl ein Fehler unterlaufen.

„Ich meine ja auch vor drei Wochen den einen Kurs, sagte ich letzte Woche?“ log ich schnell.

„Und der konnte dann nicht in den vergangenen zwei Wochen nachgeholt werden?“ Ralf klang wieder sehr skeptisch.

„Neeeh, weil, die meisten hatten da keine Zeit und dann blieb dann nur noch morgen übrig.“

Langsam brach mir der Schweiß aus.

„Ach so. Und dein Vater ist zu Hause?“

„Ja, aber wie gesagt, der zieht dich durchs Telephon, wenn du anrufst und ich bin nicht da um schnell ranzugehen.“

Das war knapp.

„Das ist blöd. Weißt du denn schon, wann du wieder Zeit hast?“

Ich atmete innerlich auf.

„Kann ich noch nicht sagen. Ich werde mich morgen so gut benehmen wie ich kann, vielleicht beschränkt sich der Stubenarrest dann nur auf morgen.“

Ich hatte ehrlich das Gefühl, daß er die Pille geschluckt hatte.

Im weiteren Verlauf des Gespräches klang ich dann so geknickt und traurig wie möglich, daß ich das tolle Angebot von Ralf abschlagen musste, einen tollen Nachmittag mit ihm zu verbringen.

Als ich dann den Hörer auf das Telephon legte, hatte ich wirklich das Gefühl, daß ich das noch hingebogen hätte. Meine Story stand auf sehr wackeligen Beinen, das war mir klar. Aber wenigstens hatte die Story Hand und Fuß, da war ich mir sicher.
 

*
 

Nicole sitzt mit offenem Mund da und scheint völlig zu vergessen, das Stück Keks, das sie vor etwa 10 Minuten abgebissen hatte, auch zu kauen und eventuell sogar zu schlucken.

„Was ist?“ frage ich sie. Ich kann mir allerdings schon denken, was sie gleich sagen wird.

„Sowas hast du gemacht?“ nuschelt sie undeutlich an ihrem Bissen Keks vorbei. Sie ist sichtlich erschüttert.

„Jap! Hab ich.“ Gebe ich kurz zur Antwort und grinse in mich hinein.

Endlich kaut Nicole ihren Keksbissen zu Ende.

„Boa, das war aber echt mieß!“

„Ja, das war es.“ Bestätigte ich sinnierend.

„Aber ich war jung, 16 Jahre alt, ein Teanager mitten in einem Hormonrausch. Meine Gefühle waren mir wichtiger und irgendwie war es mit Ralf ziemlich langweilig geworden.“

„Du hättest doch Schluss machen können?“ Nicole hat ihre Fassung wieder gefunden und greift nun nach ihrer Tasse Tee, ohne mich aus den Augen zu lassen.

„Hätte ich. Ich kann dir heute auch nicht mehr erklären, warum genau ich das nicht gemacht hatte. Vielleicht war es irgendwie ein Pflichtgefühl, oder so etwas.“

„Aber, wenn du ein Pflichtgefühl Ralf gegenüber hattest, warum hast du ihn dann so schamlos betrogen?“

Ich zucke mit den Schultern.

„Wie gesagt, es gibt Gefühle, die kann man nicht mit klaren Worten eingrenzen. Außerdem hatte ich ihn ja noch nicht betrogen. Ich bin ja nur Fremd gegangen.“

„Wie, noch nicht?“

„Naja, noch nicht, eben.“

„Also hast du Ralf noch betrogen. Etwa mit Marco?“

Ich zucke mit den Schultern und schaue sie wissend an.

„Nagut, dann erzähl mal weiter.“ Nicole lümmelte sich wieder in den Sessel.

„Musst du nicht irgendwie vorher noch zur Toilette oder sowas?“ frage ich sie.

„Neeeh, das geht schon. Erzähl weiter. Jetzt bin ich neugierig.“ Erwidert sie bestimmt.

„Neugierig bist du doch schon die ganze Zeit.“ Necke ich.

„Jaaah, bin ich und jetzt erzähl weiter.“ Sie wedelt mit ihrer Hand als wolle sie ein lästiges Insekt verscheuchen und sieht mich mit einem Gesicht an als wolle sie sagen: 'Nerv nicht, mach hinne, Tach ist kurz!'
 

*
 

Am nächsten Tag war ich dann zum Ende der letzten Schulstunde entsprechend nervös. Nicht nur, weil ich gleich wieder bei Marco sein würde. Zum anderen auch, weil ich befürchtete, daß Ralf mich eventuell doch noch abfangen würde.

Ich hatte nicht einmal die Möglichkeit Marco wissen zu lassen, daß es besser wäre, sich woanders zu treffen. Er war genauso in der Schule, wie ich jetzt auch. Nur eben nicht in der Real Ost sonder in der Fruerlundschule. Und beide hatten wir erst um 1 Feierabend.

Als dann die Pausenklingel das Ende des Schultages verkündete fühlte ich mich beinahe wie ein Ninja. Ich schnappte meine Tasche und guckte mich immer wieder suchend um. Stand er jetzt hier irgendwo? Da hinten, der Schatten, war das Ralf? Nee, konnte ja nicht, er würde ja nicht freiwillig auf ein Schulgelände gehen. Wenn er aber jetzt doch noch Verdacht geschöpft hatte, würde er sich dann noch an diese selbst auferlegte Regel halten?

Nein, der Schatten gehörte da hin, da war keiner, auch kein Ralf.

Mein Herz schlug mir bis zum Hals und ich glaubte, ich hatte so etwas wie ein schlechtes Gewissen. Obwohl, eigentlich war es eher die Angst entdeckt zu werden.

Ich schlich vom Schulgelände und guckte mich weiter gehetzt um.

Kein Ralf weit und breit.

Oder hatte er sich versteckt?

Zur Sicherheit schlug ich mich, soweit es ging durch die Büsche. Ich hetzte geduckt über den Schulhof vom Fördegym und dann durch den Zaun rüber auf das Gelände der Frieholtschule. Auf der von mir aus gegenüber liegenden Seite des Grundstückes stand das Haus, in dem Marco und seine Eltern wohnten. Marcos Vater war Hausmeister an der Frieholtschule und da war das Haus im Job inbegriffen.

Es gelang mir mich bis zur anderen Seite durchzuschlagen und endlich stand ich vor dem Haus, in dem Marco wohnte.

Hoffentlich war er schon da.

Unvermittelt hörte ich ganz in meiner Nähe das scharfe Bremsen eines Fahrrades und der Fahrer des Selben kam direkt neben mir zum Stehen.

Es war Marco.

„Man!“ keuchte ich außer Atem, weil ich mich mehrfach erschrocken hatte.

„Musst du mich so erschrecken!“

„Was denn?“ fragte mich Marco ahnungslos.

„Ralf hatte gestern bei mir angerufen und jetzt hab ich Angst, daß er mich ausspioniert.“ Erklärte ich kurz.

„Ralf? Und jetzt?“

Ich erzählte Marco in kurzen Zügen was vorgefallen war und wie ich mich herausgeredet hatte.

„Ach so. Na, das ist doch kein Problem. Warte mal.“

Er stieg von seinem Fahrrad ab und brachte es ums Haus.

„Bin gleich wieder da.“ Sagte er nur kurz, ging rein und nahm ein kleines Schlüsselbund vom Schlüsselbrett.

„Ich hab eine Idee.“ Er grinste, nahm mich an die Hand und zog mich mit sich.

Wir gingen über die beiden Schulgrundstücke verdeckt vor der Straße, wo Ralf auftauchen könnte, zu dem Weg, den ich immer nach Engelsby ging. Aber wir gingen nicht in Richtung Engelsby sondern in die andere Richtung.

„Wo gehen wir denn hin?“ fragte ich.

„Lass dich überraschen.“ Grinste Marco geheimnisvoll.

Naja, dachte ich, zumindest würde Ralf mich nicht in dieser Richtung vermuten. Das hoffte ich zumindest.

Der Weg war auch in der entgegengesetzten Richtung einsam und verlassen. Aber nicht so lange, wie wenn wir zum Bus gegangen wären. Schon bald tauchte eine Wohngegend auf. Marco zog mich zielsicher mit sich und bald standen wir vor einem Haus. Es war ein Einfamilienhaus. Die Einfahrt führt sehr steil abwärts zu einer Garage, darüber war ein Balkon. Es hätte eine Terrasse sein können, wenn man die tiefe Einfahrt zur Garage weggelassen hätte.

Marco zog mich mit sich runter zu dieser Garage. Er öffnete das Tor und wir gingen hinein. Dann machte er das Tor hinter uns wieder zu. Es war ziemlich dunkel. Er führte mich dann zu einer Seitentür, die offensichtlich in den Keller des Hauses führte.

„Wo sind wir hier?“ fragte ich.

„Das ist das Haus meiner Großeltern. Aber die sind beide tot und das Haus steht seitdem leer.“ Erklärte er mir.

Er dirigierte mich eine schmale Treppe hoch und schloss die Tür am Ende der Treppe auf. Wir standen jetzt im eigentlichen Erdgeschoss des Hauses.

„Hier lang.“ Winkte er mir kurz und ich folgte ihm eine weitere Treppe hoch, die uns in das Obergeschoss führte.

Das Haus war leer, keine Möbel, kein Garnichts.

„Warte mal.“ Sagte er wieder und schob mich zur Seite in eines der leerstehenden Zimmer. Er öffnete eine Luke in der Decke die zum Dachboden führte, kletterte die kleine Leiter rauf und kam schon bald mit einer dicken Bettdecke wieder herunter. Er ließ die Luke wieder zuklappen und breitete die Decke auf dem Flur oben aus. Dann hockte er sich darauf und bedeutete mir es ihm gleich zu tun.

Kapitel III
 

Ich zog meine Schuhe aus und setzte mich zu ihm auf die Decke.

„Hier sind wir ganz alleine.“ Strahlte Marco mich an.

„Und hier wird Ralf uns nicht suchen.“ Fügte er hinzu. Er zog seine Jacke aus und bedeutete mir, es ihm gleich zu tun.

Dann kam er mit dem Gesicht ganz dich an mich ran und hauchte: „Ich hab dich vermisst.“

Sofort war ich schon wieder weich wie Butter in seinen Händen.

„Wirklich?“

Er antwortete nicht. Stattdessen nahm er mich in die Arme und küsste mich. Und ich küsste ihn. Wir ließen uns auf die Decke sinken und lagen jetzt Arm in Arm und küssten uns, wie zwei Ertrinkende.

Seine Hände wanderten unter meinen Pulli. Er öffnete einfach zwei Knöpfe an meiner Bluse und ging dann weiter mit der Hand unter den Stoff.

Ich ließ Marco gewähren. Ich wollte Marco küssen. Ich wollte, daß Marco mich berührt und ich wollte, daß Marco meine nackte Haut berührt. Mir war fast schwindelig, aber es war ein schöner Schwindel. Ich schwamm geradezu in den Gefühlen, die er bei mir auslöste, die ich auch bei ihm spüren konnte.

Er löste den Kuss, blieb aber dich vor meinem Gesicht.

„Baujahr 72 ist Baujahr 72.“ flüsterte er nur und sah mich so weich an, daß ich geradezu zerfloss.

Ich verstand, was er damit sagen wollte.

Wir sind beide im selben Jahr geboren. Ich nur ein bisschen früher als er, aber es war dennoch dasselbe Jahr. Wir waren beide 16. Und damit waren wir so dicht an dem Alter des anderen dran, daß es keinen Unterschied machte, wer jetzt der ältere war. Ein Grund, aber kein Hindernis.

Ich hatte ihm nie gesagt, daß ich nichts mit einem Jüngeren anfangen würde. Vielleicht hat er das von Ralf gehört oder von Natascha.

Aber er hatte ohne Zweifel Recht.

Und ich wollte ihn ja auch.

Und er wollte mich.

Und nichts konnte uns jetzt mehr aufhalten.
 

*
 

„OK!“ sagt Nicole nur knapp.

„Ich dachte, das hätte noch etwas Zeit gehabt, mit dem Betrügen. Ich meine, ihr habt es dann doch gemacht, oder?“

„Was gemacht?“ Ich gucke sie total unschuldig an.

„Naja… Also… Miteinander geschlafen, meine ich.“ Gespannt lässt Nicole mich nicht aus den Augen und wartet auf die einzig mögliche Antwort.

„Sicher.“ Antworte ich ihr versonnen. Ich kann mich noch immer daran erinnern, wie es sich anfühlte.

„Wow!“ macht sie nur kurz.

Sie schweigt eine Weile.

„Hattest du ein schlechtes Gewissen? Ich meine, Ralf gegenüber?“

„Für eine Sekunde, vielleicht auch zwei.“ Antworte ich ihr.

„Das, was ich für Marco empfand war einfach zu groß.“ Füge ich hinzu.

„Und? War er gut?“ Nicole funkelt mich erwartungsvoll an und beugt sich im Schneidersitz auf dem Sessel sitzend zu mir rüber.

„Ich denke, darüber schweige ich mich gepflegt aus. Nur so viel, ich hab es nie bereut.“

Ein wenig mucksch ließ sie sich wieder nach hinten fallen.

„Ok, dann mal weiter.“ Sagt sie weiter Kekse mampfend.
 

*
 

Völlig außer Atem blieb ich einfach auf der Bettdecke liegen. Marco lag neben mir und war noch viel erschossener. Beide waren wir schweißnass, aber er hatte immerhin die meiste Anstrengung gehabt.

Für einen Moment fühlte ich mich elend. Ich konnte gar nicht mal sagen, warum. Vielleicht, weil ich abgebrochen hatte. Es tat aber doch etwas weh, irgendwie waren wir anatomisch nicht füreinander geschaffen. Vielleicht auch, weil ich einen Moment lang an Ralf denken musste. Immerhin hatte ich ihn gerade betrogen. Auch wenn Marco und ich nicht zu Ende gekommen waren. Ich hatte ihn betrogen.

Eine Träne schlich sich aus meinem Auge.

Marco sah mich von der Seite an, entdeckte die Träne und richtete sich etwas auf.

„War es denn so schlimm?“ fragte er mich mit ehrlichem Mitgefühl.

„Nein.“ Ich schüttelte heftig mit dem Kopf.

„Ach, ich weiß nicht.“

Marco zog mich hoch, so daß ich zum Sitzen kam und schlang seine Arme um mich. Ich vergrub mein Gesicht in seiner Halsbeuge und weinte. Ich wusste nicht Mal wirklich warum. Vielleicht waren das einfach zu viele Gefühle, das war neu, ungewohnt und irgendwie schwer zu verkraften. Marco hielt mich weiter im Arm, so zärtlich und tröstend, das hätte ich ihm kaum zugetraut.

„Ist es wegen Ralf?“ fragte Marco ein wenig bitter und sah mich an.

„Nein.“ Sagte ich bestimmt und sah Marco direkt in die Augen.

„Magst du mich nicht mehr?“ er wirkte ein bisschen wie ein kleiner Junge, der etwas angestellt hatte.

„Doch.“ Schluchzte ich und das war nicht gelogen. Ich mochte ihn nicht nur. Ich liebte ihn. Und ich wollte ihn. Und es tat mir leid, daß ich abgebrochen hatte. Ich wollte es doch auch bis zum Schluss, auch wenn ich wahrscheinlich nie das erleben würde, was andere Frauen erlebten. Ich hatte bisher nie diese Explosion von Gefühlen, die man Orgasmus nannte. Ich hatte ja auch schon mit Ralf geschlafen, aber es ist eigentlich nie wirklich so super gewesen, wie andere immer erzählten. Es war aber auch nicht unangenehm.

„Ich bin einfach so aufgewühlt.“ Sagte ich dann zu ihm.

„Wirklich alles in Ordnung?“ fragte er immer noch besorgt.

„Ja.“ Ich nickte bekräftigend.

„Sollen wir uns dann wieder anziehen?“

Ohne meine Antwort abzuwarten reichte er mir meine gelbe Bluse und den goldweißen Pullie. Ich zog mich an, Marco tat das Gleiche.

Dann holte er seine Schachtel Zigaretten raus und reichte mir eine.

Wow, das war die erste Zigarette, die er mir aus seiner Schachtel gab. Das erste Mal, daß er mit mir teilte. Und es war sogar ganz alleine seine Idee.

Ich nahm die Zigarette gerne entgegen und dachte auch nicht darüber nach, ob wir in dem Haus überhaupt hätten rauchen sollen. Aber Marco zündete seine wie selbstverständlich an und ich tat es ihm einfach nach.

„Wann musst du wieder nach Hause?“ fragte er mich dann.

Ich sah auf die Uhr.

„Ich müsste schon den Bus um 4 erwischen, ich soll noch nach Munkbrarup zu meiner Mum, die gibt da Nähkurse. Und wir wollten zusammen nach Hause fahren.“ Klärte ich ihn auf.

„Dann haben wir ja noch eine gute Stunde Zeit. Sollen wir uns ein Eis holen?“ er sah mich aufmunternd an.

„Ich glaube, für ein Eis ist es mir im Moment zu kalt draußen, aber eine Pommes wäre nicht schlecht.“ Antwortete ich schon wieder etwas gelöster.

Marco brachte die Bettdecke auf den Dachboden zurück und wir gingen durch die Garage wieder nach draußen.
 

Marco hatte mich mit dem Fahrrad nach Engelsby gefahren und wir standen nun Arm in Arm an der Bushaltestelle in der Sonne und schmusten. Es war wundervoll. Ich liebte ihn, wirklich, ich liebte ihn und ich bereute nicht, was vor gut einer Stunde im Haus seiner Großeltern passiert war. Im Gegenteil. Es kribbelte alles angenehm und ich genoss Marcos Nähe. Das, was vorhin passiert war hatte uns irgendwie näher gebracht. Sehr nahe. Ich spürte es und ich war sicher, daß Marco es auch spürte.

„Sehen wir uns mor… !!!“

Auf einmal bekam er das blanke Entsetzen in seinen Augen und sämtliche Gesichtszüge entglitten ihm. Erschrocken drehte ich mich um und sah, was ihn so aus der Fassung gebracht hatte.

Ralf!

Auf seinem Fahrrad kam er angeprescht!

Direkt auf uns zu!

Und er sah nicht gerade gut gelaunt aus.

„Verschwinde, ich komme zurecht.“ Ich stieß Marco von mir und er setzte sich augenblicklich auf sein Rad und fuhr so schnell er konnte davon.

Ralf warf Marco im Vorbeifahren einen bitterbösen Blick zu, dann wandte er sich zu mir.

„Nähkurs, ja?“ brüllte er fast.

„In Munkbrarup, was?“ Ralf bebte vor Zorn.

Ich sagte gar nichts, ich wusste nicht, ob ich weinen sollte oder einfach nur dastehen und warten, bis der Bus kam. Aber ich sah Ralf schuldbewusst an.

„Ich hab mit deinem Vater telefoniert!“ schrie er weiter.

Verdammt, genau das wollte ich doch vermeiden.

„Der war ganz schön sauer, das kann ich dir sagen.“ Er stand direkt vor mir und lehnte sein Fahrrad an das Bushaltestellenschild.

Ich schwieg. Ich wusste ohnehin nicht, was ich hätte sagen sollen.

„Und all die anderen Nähkurse, wo du immer mit warst? Und deiner Mutter helfen solltest?“ Er sah aus, als wollte er mir gleich eine scheuern. Aber er tat es nicht.

„Ich soll dir einen schönen Gruß von deiner Mutter ausrichten. Ja, mit der hab ich auch telefoniert, die war nämlich noch nicht losgefahren. Wenn du dich wagen solltest, in Munkbrarup nicht auszusteigen, dann kannst du was erleben!“

Gottseidank kam der Bus endlich und Ralf war gezwungen mich erstmal gehen zu lassen. Ohne einen Abschied oder der Drohung mich anzurufen setzte Ralf sich auf sein Fahrrad, passte noch auf, daß ich auch ja im Bus war, wenn der losfuhr und machte sich dann selbst auf den Weg.

Ich zitterte am ganzen Leib.

Verdammte Scheiße!

Erwischt!

Und meine Eltern hatten das auch mitbekommen!

Hätte ich doch besser aufgepasst.

Hätte ich doch eine bessere Story gefunden, die ich Ralf hätte erzählen können.

Hätten Marco und ich uns doch erst morgen getroffen, oder übermorgen.

Marco…

Ich wünschte, er wäre jetzt da.

In Munkbrarup erwartete meine Mutter mich schon an der Haltestelle. Als ich ausstieg hatte ich als erstes eine saftige Ohrfeige im Gesicht.

Ich sagte nichts darauf, weinte nur vor mich hin. Ich weinte aber nicht, weil ich ein schlechtes Gewissen gehabt hätte, ich weinte, weil ich Marco vermisste, weil ich ahnte, daß ich ihn so schnell nicht wieder sehen würde. Ich weinte, weil ich mich darüber ärgerte, daß wir erwischt worden waren.

Meine Mutter schimpfte wie ein Rohrspatz, ohne Punkt und Komma. Sie zerrte mich geradezu zum Auto und bugsierte mich unsanft auf den Beifahrersitz. Ich glaube, wenn es vorne im Auto eine Kindersicherung gegeben hätte, hätte sie die jetzt aktiviert.

Hinten im Auto lagen, sicher sehr zu ihrem Ärger, einige Kartons mit Stoffen und Arbeitsmaterial für die Nähkurse. Hinten konnte man die Kindersicherung in den Türen aktivieren und ich wäre nicht mehr raus gekommen.

Ich ließ sie schimpfen, hörte nur halb hin und guckte auf meine Fingernägel.

„…so eine miese Geschichte…“ hörte ich sie sagen.

„…und erzählt, dein Vater würde ihn verprügeln…“

Verprügeln? Hatte Ralf da nicht etwas übertrieben?

„…hast du gar nicht verdient…“ schrie sie weiter.

„…froh sein, daß er dir das noch verzeihen will…“

Will er? Ralf? Ich hörte irgendwie gar nicht richtig zu. Ich wollte nur nach Hause, in mein Zimmer und mich in meinem Bett verkriechen. Oder mich einfach in Wohlgefallen auflösen...

„…hochanständiger Mann…“

Sie meinte jetzt nicht etwa Ralf, oder?

„…auch noch was zu hören bekommen…“

Ich glaube, sie meinte, daß mein Vater auch angemessen wütend war.

Meine Mum schimpfte den ganzen Weg bis nach Hause. Ein viertel Stunde lang. Normal hätten wir für die Strecke mit dem Auto 20 Minuten gebraucht, aber Mum war in Rage und fuhr wie der Teufel.

Endlich waren wir zu Hause angekommen wo mein Vater mich schon in der Haustür erwartete. Sein Gesicht sprach mehrere Bände! Ich meine, er sah ja nie wirklich lustig aus, aber so böse hab ich ihn noch nicht gesehen.

Er strafte mich dann auch eher mit einem bösen Schweigen. Oder er wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Nur kurz fuhr er mich an, warum ich solche Geschichten über ihn verbreite.

So, inzwischen waren das schon ‚solche Geschichten‘.

Ich schwieg weiter. Ich war genervt. Ich hatte keine Lust irgendetwas zu erklären. Das wäre viel zu kompliziert und meine Eltern hätten mich sicher nicht verstanden.

Ich ließ die Predigt über mich ergehen, nahm ohne mit der Wimper zu zucken die drei Wochen Hausarrest hin und wartete nur, bis ich endlich gehen konnte oder wenigstens auf mein Zimmer geschickt wurde. Den Gefallen tat mir dann mein Vater.

„Sieh zu, daß du in deine Bodega kommst! Ich will dich hier unten nicht mehr sehen!“ schnauzte er wütend und spuckte dabei regelrecht.

Das wurde aber auch Zeit.

Ohne eine offensichtliche Gefühlsregung ging ich die Treppe hoch, vorbei an dem Zimmer meines Bruders und ging dann direkt in mein Zimmer, wo ich mich in mein Bett warf und weinte.

Ich weinte aber noch immer nicht, weil ich ein schlechtes Gewissen hatte. Weil mir klar war, daß ich Ralf wirklich weh getan haben könnte. Oder weil meine Eltern auch irgendwie verletzt und enttäuscht gewesen wären.

Nein.

Ich weinte, weil ich zu Marco wollte. Weil Marco der einzige auf der Welt war, der mich noch liebte. Naja, er mochte mich. Er hat nie gesagt, daß er mich liebt. Aber er mochte mich. Er schimpfte nicht mit mir und nannte mich nicht ‚Miststück‘! Bei Marco fühlte ich mich wohl. Bei Marco fühlte ich mich sicher.

Aber so wie die Dinge standen, würde ich ihn wohl eine ganze Weile nicht mehr wieder sehen.
 

Endlich Sommerferien. Wir hatten schon seit drei Wochen Hochsommer und das im Juni. Beinahe jeden Tag bekamen wir um halb Elf vormittags Hitzefrei, weil das Thermometer schon morgens auf 25° Celsius stand und bis zu den erforderlichen 30°Celsius bis 10 Uhr nicht mehr viel aufsteigen brauchte. Die Sonne brannte erbarmungslos vom Himmel und seit geschlagenen vier Wochen hatte es nicht mehr geregnet. Bis zu den Sommerferien waren es allerdings noch zwei weitere Wochen.

Natascha, ich und die anderen aus unserer Klasse standen gerade im Schatten auf dem Sportplatz, wo unser Lehrer Herr Naujek uns gleich 100-Meter-Läufe machen lassen wollte und auch noch mal einen 1000-Meter-Dauerlauf dranzuhängen angedroht hatte, als die frohe Botschaft uns erreichte. Das Schellen der Pausenklingel unterstrich diese Nachricht und machte sie unmissverständlich offiziell. Der Naujek konnte nur noch mit offenem Mund dastehen und uns zusehen, wie wir mit sportlicher Höchstleistung das Weite suchten und in den Umkleideräumen verschwanden.

Bloß weg hier, bevor sich das noch irgendjemand anders überlegte.

„Puh, ich dachte schon, wir müssten heute durch machen.“ Keuchte Natascha munter.

„Ich auch!“ pflichtete ich ihr bei.

„Bei der Affenhitze jetzt noch durch die Botanik rennen, keinen Bock!“

Auch die anderen Mädchen schwatzten und lachten ausgelassen. Immerhin, die Englisch-Arbeit würde heute ausfallen. Eventuell würde der Spletter die nächste Woche auf einen Termin früher am Tag ansetzen. Vielleicht würde er sogar einfach statt Mathe zu machen, die Englisch-Arbeit schreiben lassen. Aber egal, für heute waren wir frei.

Das Anziehen ging ganz schnell. Eigentlich mussten wir uns gar nicht wirklich umziehen. Ich für meinen Teil behielt jedenfalls die Schorts und das T-Shirt, was ich im Sport immer anhatte, einfach an und tauschte nur die Turnschuhe gegen meine Sandalen. Natascha jedoch schlüpfte aus ihrer Sporthose und zog sich ihren kurzen Rock an.

„Gehst du gleich zum Bus?“ fragte sie mich, während sie die Riemchen an ihren Schuhen zu machte.

„Jaaa, so ziemlich.“ Antwortete ich etwas gedehnt.

„Immer noch so heftig?“ sie sah mich mitleidig an.

„Naja, relativ.“ Gab ich knapp zurück. Ich wusste was sie meinte.

„Und wie geht es dir damit?“ Natascha setzte sich neben mich auf die Bank. Die anderen Mädchen waren schon fast alle verschwunden.

„Weiß nicht.“ Wich ich ihrer Frage aus.

„Wie ist es mit Ralf?“

„Schon Ok, denke ich. Er versucht immer noch mich zu kontrollieren, dabei hab ich Marco seit dem Vorfall nicht mehr gesehen.“ Erklärte ich ihr.

„Gar nicht mehr?“

„Nein, gar nicht mehr.“ Bestätigte ich bekümmert.

„Und Ralf?“ Natascha nahm ehrlich Anteil.

„Naja, geht so, er scheint nicht mehr sauer zu sein. Er fand sogar, daß drei Wochen Stubenarrest ein bisschen viel waren. Aber er scheint doch einen Stein im Brett meiner Eltern zu haben, jedenfalls kann er mich seit dem ganz offiziell anrufen.“ Erklärte ich ihr weiter.

„Und Marco?“ hakte Natascha weiter nach. Der Name versetzte mir einen Stich im Herzen. Ich seufzte.

„Weiß nicht, der hat mich vor ein paar Wochen am Samstag angerufen und mir erzählt, er würde mich nicht wiedersehen wollen und ich hätte sowieso keine Chance bei ihm und er hätte sowieso alles nur gespielt weil er testen wollte, wie leicht ich zu haben wäre und das wüsste er jetzt und jetzt würde er sich nicht mehr für mich interessieren. Und wenn er je gesagt haben sollte, daß er mich mag, dann solle ich das vergessen.“ Sprudelte es aus mir heraus.

„Davon hast du mir ja noch gar nicht erzählt. Das war ja echt gemein von ihm.“

Ich winkte ab.

„Ich glaube ihm nicht. Ich glaube nicht, daß er das wirklich meinte. Er klang ziemlich abgefüllt und der Text war irgendwie aufgesagt, als wenn er das irgendwo abgelesen hätte. Außerdem hat er so dämlich gelacht und im Hintergrund konnte ich noch jemanden lachen hören. Ich glaube, der war auch besoffen und ich glaube auch, daß das Ralf war.“

Natascha sah mich erschüttert an.

„Meinst du?“

„Ich glaube schon. Zuzutrauen wäre es Ralf jedenfalls sich Marco zu krallen, ihn abzufüllen und dann so eine Scheiße am Telefon labern zu lassen.“ Erwiderte ich sauer.

„Und Marco hat sich daran gehalten?“

Inzwischen waren wir aufgestanden und machten uns auf den Weg vom Schulgrundstück herunter.

„Ja, schon.“ Murmelte ich.

„Wieso, hast du ihn doch wieder gesehen?“ Natascha ließ nicht locker.

„Nein, hab ich nicht.“ Beteuerte ich. Das entsprach auch der Wahrheit. Seit dem Nachmittag im Februar, wo Ralf Marco und mich in Engelsby an der Bushaltestelle erwischt hatte, haben wir uns nicht mehr gesehen. Uns war wohl beiden klar, daß das nicht mehr möglich war.

„Aber mit Ralf triffst du dich noch?“ fragte Natascha weiter.

„Ja, sogar ganz offiziell.“

Wir kamen an der Telefonzelle vorbei, von wo aus ich Marco so oft angerufen hatte um zu fragen, ob er Zeit für mich hatte. Wehmütig guckte ich dann in die Richtung, wo er wohnte. Er fehlte mir. Das Gefühl, das ich hatte, wenn ich mit ihm zusammen war, fehlte mir.

Schon im nächsten Moment kam Ralf auf seinem Fahrrad daher und begrüßte Natascha und mich fröhlich.

„Na, ich hab gehört, ihr habt Hitzefrei?“ plaudere er gut gelaunt und stieg von seinem Fahrrad ab. Er nahm mich in die Arme und gab mir einen Kuss.

„Ja, haben wir.“ Bestätigte Natascha genauso gut gelaunt.

Ich sagte nichts weiter.

„Komm“; sagte Ralf ausgelassen zu mir und stieg wieder auf sein Fahrrad auf.

„Wir rufen deine Mum an und sagen ihr bescheid, daß ich dich zum Strand entführe.“

Ohne eine Antwort von mir abzuwarten griff er nach meiner Tasche, die er sich über die Schulter hängte und bedeutete mir, mich auf die Mittelstange seines Fahrrades zu setzten.
 

„Ihr habt dann etwa zweieinhalb Stunden in denen ihr dann für euch alleine gucken könnt. Ihr müsst aber pünktlich um 3 wieder am Bus sein, sonst bleibt ihr in Kiel und müsst sehen, wie ihr wieder nach Hause kommt.“

Alle in der Klasse lachten und schwatzten drauf los, als Herr Beuse, unser Klassenlehrer, seinen Vortrag beendet hatte.

„Super, dann kann ich dir mal zeigen, wo mein Freund wohnt.“ Natascha strahlte über das ganze Gesicht und wir steckten unsere Köpfe zusammen und machten weiter Pläne, was wir mit den zweieinhalb Stunden anfangen könnten.

Morgen sollten wir einen ganzen Tag mit der Klasse nach Kiel fahren. Jede neunte Klasse machte so einen Ausflug. Ich war mit Ach und Krach und ein paar sehr wackeligen vieren im Zeugnis in die neunte Klasse versetzt worden. Aber ich war versetzt worden und ich versuchte wirklich mein Bestes zu geben.

Der Unterricht war für heute beendet und Natascha und ich hakten uns ein.

„Das wird super.“ Freute sie sich ausgelassen.

„Das denke ich auch.“ Erwiderte ich.

„Wir gucken uns diese komische Ausstellung im Sophienhof an und dann zeig ich dir, wo Manuel wohnt.“ Natascha hüpfte fast bei dem Namen ‚Manuel‘.

„Hach, ich freu mich schon. Ich war schon lange nicht mehr in Kiel.“ Strahlte ich mit ihr.

„Ich wollte ja immer mal mit Harald nach Kiel fahren, aber irgendwie klappt das immer nicht.“ Fügte ich hinzu.

„Welcher Harald, hast du ´nen Neuen?“ Natascha guckte mich verdutzt an.

„Nein.“ Lachte ich.

„Harald ist ein Busfahrer bei der Autokraft und wir kennen uns schon seit einigen Jahren. Er sagt immer, die Tour nach Kiel ist elend lang und genauso langweilig. Und dann hat er auch noch so lange Aufenthalt da, bevor er wieder nach Flensburg fährt. Und da sind wir auf die Idee gekommen, daß ich ja mal mit dem Sommerferien-Ticket mit nach Kiel fahren könnte und dann wollten wir mal gucken, ob keiner guckt.“ Erklärte ich ihr ausführlich.

„Ach so.“ machte Natascha.

„Ich dachte schon, du hättest dich von Ralf getrennt.“

„Nein, hab ich nicht.“ Gab ich zurück.

„Wie läuft es denn?“ wollte Natascha wissen.

„Ganz gut, denke ich.“ Antwortete ich kurz.

„Er meinte, wenn er es schafft, kommt er morgen auch irgendwie nach Kiel.“ Fügte ich hinzu. Allerdings nicht gerade vor Begeisterung sprühend. Ich hatte Marco jetzt schon seit mehreren Monaten nicht mehr gesehen, aber er fehlte mir sehr. Mehr als ich vermutet hätte. Ich wünschte Marco würde morgen nach Kiel kommen und nicht Ralf...

Wir wechselten das Thema schnell wieder nach Kiel und der bevorstehenden Klassenfahrt dahin. Ralf war mir irgendwie zu einem Reizthema geworden.

Wir hatten Oktober und es sollte ein goldener Oktober werden. Die Sonne schien warm und die Luft war wie Seide. Einfach ein Wetter um sich so richtig wohl zu fühlen. Auf dem Weg nach Engelsby pflückten wir so viele Brombeeren, wie wir essen konnten und es gab sogar ein paar sehr leckere Äpfel, alles kostenlos. Auch ein Haselnussstrauch mit wirklich großen Nüssen erwartete uns auf dem Weg zum Bus. Wir hatten zwar keinen Nussknacker, aber ich hatte gute Zähne. Und so mampften und kauten wir uns durch bis wir die Bushaltestelle erreicht hatten.

Ralf kam sehr hastig über die Kreuzung gefahren und hielt neben uns an. Er drückte mir kurz einen Kuss auf den Mund ohne jedoch von seinem Rad abzusteigen.

„Hi, ich muss gleich wieder weiter. Ich wollte dir nur Bescheid geben, daß ich morgen wahrscheinlich doch nicht nach Kiel kommen kann. Eventuell fange ich nächste Woche bei Danfoss an und ich muss mich noch um meine Bewerbung und einige Papiere kümmern.“ Keuchte er ohne Atem zu holen.

„Ok“, sagte ich, „Dann weiß ich bescheid.“

„Ok, alles klar. Ich muss dann auch wieder.“ Ralf küsste mich noch mal hastig und war auch schon wieder weg.

„Was war das denn gerade?“ fragte Natascha und sah mich erstaunt an.

„Das war gerade der Freifahrtschein zum Flirten.“ Kicherte ich.

Natascha sah mich erst vorwurfsvoll, dann belustigt an.

„Na, das kann ja nur lustig werden.“
 

„Bin wieder daha.“ Rief ich kurz über den Flur und wollte gleich in mein Zimmer hoch und nachgucken, was ich am folgenden Morgen anziehen würde.

„Warte mal, komm mal bitte runter ins Wohnzimmer, ich muss dir etwas sagen.“

Ich war schon den halben Weg die Treppe hochgesprungen, als meine Mum mich zurück rief.

„Was denn?“ Maulte ich genervt und ließ meine Tasche einfach auf der Treppe liegen.

„Setzt dich mal hin.“ Bat mich meine Mutter ruhig und deutete auf das Sofa.

‚Ich hatte eh nicht vor, stehen zu bleiben.‘ Dachte ich gereizt. Hielt aber wohlweißlich den Mund.

„Du hast morgen und den Rest der Woche frei.“ Begann sie.

„Nein, das geht nicht. Wir wollen doch morgen alle nach Kiel fahren.“ Rief ich entrüstet.

„Nein, du fährst nicht mit.“ Sagte meine Mum bestimmt.

Ich war den Tränen nahe.

„Warum denn nicht?“ weinte ich.

„Weil du auf eine andere Schule kommst.“

Ich war außer mir.

„Wieso denn? Ich hab mich doch echt zusammengerissen, in Englisch hab ich eine vier Plus gehabt und in Geschichte sogar eine drei!“ wimmerte ich. Daß es eine drei minus war, erwähnte ich lieber nicht.

„Ich hab mich mit deinen Lehrern unterhalten und die haben mir auch gesagt, daß deine Zensuren sehr wackelig sind und du die Neunte wahrscheinlich nicht schaffen wirst.“

Ich war jetzt komplett aufgelöst und weinte nur noch, ohne mich zurück zu halten.

„Du kommst auf eine Hauptschule.“ Redete meine Mum weiter, ohne darauf zu achten ob ich weinte oder nicht.

‚Na toll!‘ Dachte ich. ‚Da wird das einfach so über meinen Kopf hinweg entschieden.‘

Ich hörte gar nicht mehr weiter zu, was meine Mum jetzt noch über die Zuständigkeit der KGS oder von der Schule in Munkbrarup faselte. Es interessierte mich auch nicht, daß sie jede Menge Rennerei gehabt hätte und dann doch noch eine Schule gefunden hätte, die mich aufnehmen würde.

„Du gehst am Montag in die neunte Klasse der Fruerlundschule.“ Schloss sie dann ihren Vortrag und ich erstarrte zur Salzsäule!

Auf die bitte was????

Ich sah meine Mum mit großen Augen an und vergaß zu weinen oder auch nur zu atmen!

„In Munkbrarup war kein Platz mehr, aber auf der Fruerlundschule ist das kein Problem. Du hättest sogar fast den gleichen Schulweg.“ Redete sie weiter. Offensichtlich interpretierte sie meine Reaktion total falsch und versuchte mich zu trösten.

Auf die Fruerlundschule!

Das war ein Hammer.

In meinem Kopf bildete sich eine übergroße Leuchtreklame.

MARCO LOTZ!

Marco Lotz ging auf die Fruerlundschule.

In die neunte Klasse!

In die ich jetzt kommen sollte!

Kiel war vergessen und auch der Frust und die Wut darüber, daß meine Mum einfach so beschlossen hatte, daß ich auf eine andere Schule kommen würde.

Hätte sie das denn nicht gleich sagen können? Ich hätte mir einen halben Liter Tränen sparen können!

Marco!

Ich würde ihn endlich wieder sehen.

Wusste Ralf schon davon?

Kapitel IV
 

Die nächstenTage waren seltsam.

Meine Mum fuhr die folgenden drei Tage jeden Vormittag mit mir in die Stadt um verschiedene Sachen zu besorgen. Ich bekam zwei neue Hosen, einige Pullis und Blusen, Unterwäsche, Socken... Sie wollte mir sogar einen BH aufschwatzen, aber ich wehrte heftig ab. Ich brauchte wirklich keinen BH! Meine Brust war noch recht zierlich. Genug zwar, um deutlich sichtbar zu sein aber da hing noch nichts. Ein BH würde mich nur einengen.

Meine Mum gab den Versuch mich davon zu überzeugen dann auf und wir sahen uns die Jacken an. Darunter war zum einen eine dicke Daunenjacke in neongelb mit schwarzen Sternen drauf. Sie gefiel mir sehr gut und meine Mum stimmte zu. Zum anderen war da eine kleinere Jacke aus dunkelrotem Kunstsamt. Sie sah ein bisschen aus wie Weihnachten. Aber sie kostete nur 10,- DM und ich mochte die Jacke sehr.

An den anderen Vormittagen besorgten wir neues Schul-Equipe für mich, Hefte, Stifte, Schreiber, eine neue Federtasche, Geodreieck, Lineal, Radiergummi, ein neuer Zirkel, Kollege-Blöcke, Ringordner und was man sonst noch für die Schule brauchen konnte. Ich glaube, sie hatte irgendwie ein schlechtes Gewissen, weil sie mich so vor vollendete Tatsachen gestellt hatte.

Zu Hause richtete ich mir dann meine Schultasche neu ein.

Während ich das tat sinnierte ich über die Woche, die mich jetzt erwartete. Ich hatte keinem davon erzählt. Naja, wie auch? Ich war ja seit Mittwoch zu Hause. Inzwischen hatten wir Freitag. Ich hatte schon überlegt, ob ich Natascha einfach mal anrufen solle, um ihr die seltsame Botschaft mit zu teilen, aber ich hab es dann doch gelassen. Auch Ralf hab ich nichts erzählt. Er rief am Donnerstagabend an und teilte mir mit, daß er wohl auch den Rest der Woche keine Zeit haben würde. Er musste noch zum Arzt und sich checken lassen, dann war da noch irgendetwas mit seinem Vater und ich weiß nicht was sonst noch. Er würde es am Wochenende mal versuchen, ob er sich freikämpfen könnte.

Mir war das ziemlich egal. Mir war so ziemlich alles egal. Das einzige was mir pausenlos durch den Kopf pochte war die Tatsache, daß ich Marco ab Montag jeden Tag sehen könnte. Außer an den Wochenenden, versteht sich.

Auch er wusste nichts davon, daß ich in seine Nähe kommen würde.

Ich hatte zwar seine Telefonnummer, die wusste ich auswendig, seit er sie mir das erste Mal genannt hatte. Aber ich traute mich nicht. Außerdem was hätte ich denn sagen sollen? Und letztendlich fand ich den Gedanken, ihn zu überraschen wesentlich reizvoller. Der würde staunen. Auf sein Gesicht war ich wirklich gespannt.

Ich stellte meine Schultasche, die ich inzwischen bestimmt zum siebten Mal kontrolliert und neu eingerichtet hatte auf die Seite, legte mich in mein Bett und machte mir eine Zigarette an.
 

Jap, in meinem Zimmer!

Meine Mum wusste, daß ich rauchte.

Das hatte sich so ergeben.

Eigentlich wollte ich nie damit anfangen. Aber im Dezember von vor zwei Jahren, als ich mit Ralf gerade ein dreiviertel Jahr zusammen war, fragte er mich „WDMMS?“

Natürlich verstand ich nicht, was er mir damit sagen wollte. Er druckste und gestikulierte dann eine Weile drum herum bis ich verstand.

‚Willst Du Mit Mir Schlafen?‘ sollte das heißen.

Ich lief sicher augenblicklich puterrot an.

Ralf fühlte meinen leichten Schock nach und bot mir eine seiner Zigaretten an.

Und ich nahm an.

Man raucht ja eine, wenn man seine Nerven beruhigen will. Und meine Nerven waren im Moment wirklich alles andere als ruhig.

Er gab mir auch Feuer, ich zog an der Zigarette, inhalierte den Rauch und pustete ihn in die Luft.

Ralf sah mir erstaunt zu.

„Sag mal, wie lange rauchst du denn schon?“ fragte er mich verdutzt.

Ich sah auf meine Armbanduhr.

„Seit etwaaaa 10 Sekunden.“ Antwortete ich ihm dann trocken.

„Du hustest ja gar nicht.“ Offensichtlich hatte ich ihn um ein gewisses Vergnügen gebracht.

„Nö, wieso, muss man das?“ ich sah in streitlustig an.

Ja, seit dem rauchte ich. Und ich erfuhr auch, daß mein Bruder schon lange rauchte. Er war zu dem Zeitpunkt, wo ich damit anfing 12 Jahre alt. Er eröffnete mir dann, daß er schon mit 11 angefangen hatte.

Damals war ich 15.

Etwa eine Woche nach meinem 16. Geburtstag (der ist am 2. März) entdeckte meine Mum dann, daß ich einige leere Schachteln Zigaretten in meinem Zimmer rumfliegen hatte, einen benutzten Aschenbecher, der auf meinem Nachtschränkchen stand und eine Kerze.

Sie wusste nicht, wie sie da mit mir umgehen sollte.

Das Schicksal wollte es, daß mein Dad an jenem Abend, wo meine Mum mein Geheimnis gelüftet hatte, nach Hause kommen sollte. Er fuhr zur See und war oft viele Monate am Stück unterwegs. Aber ausgerechnet an dem Tag musste er nach Hause kommen.

„Ich werde es deinem Vater heute Abend erzählen.“ Sagte sie dann zu mir. „Wir werden ja sehen, was er dazu zu sagen hat.“

Das war das erste und einzige Mal, wo meine Mum keine Idee hatte, wie sie mit einem Ihrer Kinder verfahren sollte und die Entscheidung dann meinem Dad überlassen wollte. Meistens war er aber ja auch zu solchen Gelegenheiten weit weg mit dem Schiff unterwegs und würde auch so schnell nicht nach Hause kommen.

Ausgerechnet an dem Tag war es anders.

Ich bangte den ganzen Abend lang darauf hin, daß mein Vater jeden Moment mit seinen Koffern vor der Tür stehen würde. Aber er kam nicht. Er kam erst sehr spät in der Nacht.

Meine Eltern rauchten beide. Anders wäre es auch nur schlecht möglich gewesen, meinen Laster für eine gewisse Zeit zu verheimlichen oder auch nur im Zimmer zu rauchen!

Am folgenden Morgen dann hörte ich jemanden in der Küche mit Geschirr klappern.

Ich stand oben an der Treppe und horchte. Meine Mum sagte irgendetwas, das ich nicht verstand weil sie leise sprach, und ich hörte meinen Vater antworten.

Kein Zweifel, Mein Dad war zu Hause.

Ich holte tief Luft, schlug ein Kreuz vor meiner Brust (obwohl ich praktizierender Atheist bin) und stieg die Treppe runter, bereit zu ertragen, was auch immer da jetzt kommen würde.

Zielstrebig ging ich zur Küche und blieb in der Tür stehen.

Meine Mum bemerkte mich, sah mich kurz resignierend an und ging dann an mir vorbei aus der Küche raus mit einem Gesichtsausdruck der wohl heißen sollte: Na, jetzt mach dich mal auf was gefasst.

Ich blieb noch immer in der Tür stehen.

Mein Dad war gerade dabei sich einen Kaffee einzuschenken und stand mit dem Rücken zu mir. In aller Ruhe tat er dann Milch und Zucker in die Tasse.

Mit der Tasse in der Hand dreht er sich dann zu mir um.

„Setz dich.“ Sagte er kurz.

Ich gehorchte, auf alles gefasst, was jetzt kommen würde, mit dem festen Vorhaben, NICHT zu heulen!

Er kam ein paar Schritte auf mich zu und blieb vor dem Küchentisch stehen. Eine Weile sah er mich nur an und rührte in seinem Kaffee. Ich sah ihn ebenfalls an und harrte gefasst der Dinge, die da kommen würden.

Dann holte er tief Luft, seufzte kurz und begann dann seine erzieherische Maßnahme einzuleiten.

„So“ sagte er knapp.

„Du meinst also, daß du rauchen musst.“

Er nahm einen Schluck Kaffee aus seiner Tasse und stellte sie auf den Tisch. Mir war klar, daß er nicht wirklich eine Antwort von mir erwartete und so schwieg ich weiter.

„Daß du da oben schon wieder mit Kerzen rumzündelst, finde ich nicht gut. Du hast schon mal das Haus in Brand gesteckt! Das weißt du!“ fuhr er streng fort.

Das stimmte. Ich hatte mit meinem Bruder Marco unter seinem Schrankbett mit Kerzen gespielt. Wir haben aber immer aufgepasst, daß nichts passierte. Bis wir dann mal ins Kino fuhren um Cap und Capper zu sehen. Ich machte die eine Kerze an und wollte wissen, ob sie aus war, wenn wir wieder nach Hause kamen.

Sie war aus.

Wir wurden mitten Im Film aus dem Kino gerufen und mussten nach Hause kommen.

Die Kerze ging nicht von alleine aus, es war viel mehr die Feuerwehr, die die Kerze löschen mussten und noch einiges mehr.

Das Zimmer meines Bruders war ausgebrannt und der Dachstuhl darüber ebenfalls. Ich war gerade 9 Jahre alt. Ein Arbeitskollege von meinem Vater an Bord nannte mich von da an immer seinen kleinen Brandstifter! Dabei hab ich nie erzählt, wie es wirklich war.

Schuldbewusst, aber immer noch gefasst, sah ich meinen Vater weiter schweigend an.

„Wenn du aber der Meinung bist, daß du jetzt unbedingt rauchen musst, dann: Bitte! Es ist deine Gesundheit und du bist eigentlich alt genug um zu wissen, was du dir damit antust. Immerhin bist du fast 16 Jahre alt und darfst vor dem Gesetz öffentlich rauchen. Erwarte aber nicht von mir oder von Mami, daß du irgendein Taschengeldvorschuss oder sonst etwas bekommst, wenn du keine Zigaretten und kein Geld mehr hast.“

Er brachte vom Schiff immer einige Stangen Marlboro mit, die waren da sehr viel günstiger als im Laden. Er nahm jetzt eine solche Stange, holte eine Schachtel heraus, öffnete sie, nahm sich eine Zigarette und legte mir die Schachtel hin. Als er seine Zigarette angezündet hatte, packte er das Feuerzeug auf die Schachtel, die jetzt vor mir auf dem Küchentisch lag und schob mir auch den Aschenbecher hin.

Ich war geplättet!

Mehrfach!

Mit tellergroßen Augen starrte ich ihn ungläubig und verwirrt an.

Mit allem hatte ich gerechnet.

Auf jede mögliche Strafpredigt hatte ich mich eingestellt.

Mindestens 10 Möglichkeiten hatte ich in Erwägung gezogen, analysiert und für jede der 10 Möglichkeiten hatte ich eine Art Abwehrplan entwickelt.

Nicht jedoch für die elfte Möglichkeit!

„Ja, da, na bitte! Rauch!“ bekräftigte er seinen letzten Satz noch einmal und deutete beinahe grinsend auf die Schachtel Zigaretten, die da so saftig und appetitlich vor mir lag.

Mit immer noch großen ungläubigen Augen und offenstehendem Mund nahm ich dann in Zeitlupe die Schachtel, puhlte eine der Zigaretten heraus, nahm das Feuerzeug und zündete die Zigarette dann an.

Ich zog daran, inhalierte den Rauch und suchte immer noch nach meiner Fassung.

Am liebsten hätte ich so etwas gesagt wie:

‚Wer bist du und was hast du mit meinem Vater gemacht?‘

Mir fehlte jedoch schlicht die motorische Möglichkeit, so etwas oder so etwas Ähnliches zu formulieren. Meine Zunge war lahm und in meinem Kopf kreisten die Gedanken um ein Vakuum!

Als meine Mum dann in die Küche kam und sah, daß nicht nur mein Vater rauchte, sonder auch ihre Tochter mit einem Glimmstengel in der Hand am Küchentisch saß und rauchte, entglitt ihr der resignierte Gesichtsausdruck komplett und sie wirkte ein bisschen hilflos. Sie musterte erst mich, dann meinen Vater. Ich machte sicherlich einen Gesichtsausdruck der so viel sagte wie: ‚Guck mich nicht so an, ich habe auch keinen Plan, wer das da sein könnte‘. Mein Vater allerdings stand nur hochzufrieden mit der Welt und sich mitten in der Küche und grinste meine Mum lausbübisch an.

In Ermangelung eines vernünftigen Kommentares, eingekleidet in einen vollständigen und vielleicht noch grammatikalisch korrekten Satz, sah meine Mum eine ganze Weile einfach nur immer wieder von meinem Dad zu mir und wieder zu meinem Dad. Sie begann dann hilflos zu lächeln, es wirkte etwas dümmlich, weil sie jetzt diese Situation absolut nicht einordnen konnte.

Allem Anschein nach hatte auch meine Mum sich 10 mögliche Szenarien ausgedacht und sich darauf vorbereitet, wie mein Vater mit dem Rauchen seiner Tochter verfahren würde. Mit einem elften Szenarium hatte sie aber ebenso weinig gerechnet, wie ich.

„Na dann.“ Machte sie dann nur kurz und fügte sich deutlich sichtbar widerwillig in ihr Schicksal.

Sicher hätte auch meine Mum gerne gefragt, wer dieser Knilch da in ihrer Küche war und was er mit ihrem Mann angestellt hatte.

Die Kerze hatte ich natürlich ohne Widerspruch und ohne eine besondere Aufforderung dazu zu meinem Dad runter gebracht und damit war dann auch dieses Thema ein für alle Mal erledigt.
 

Wie also schon gesagt lag ich in meinem Zimmer auf meinem Bett und rauchte eine Zigarette. Ich lächelte beinahe selig in mich hinein und malte mir aus, wie Marco reagieren würde, wenn er mich auf dem Schulhof erblicken würde, bevor die erste Stunde begann. Und was er sagen würde, wenn ich dann auch noch in seine Klasse kam.

Natürlich würde ich nicht sofort loslaufen und allen aus der Klasse mitteilen, daß Marco und ich etwas miteinander hatten. Wir waren ja nicht zusammen und wir hatten uns seit dem auch nicht mehr gesehen oder sogar getroffen. Noch dazu wären wir damit sicher Ziel vieler gemeiner Angriffe von den Klassenkameraden. Ich war sicher, daß Marco genauso darüber denken würde, wie ich.

Aber ich wäre ihm dann wieder so nahe, wie schon lange nicht mehr und niemand konnte etwas dagegen tun, nicht mal Ralf.
 

Das Wochenende verging sehr langsam aber auch sehr ereignislos. Ralf konnte sich auch am Wochenende keine Zeit für mich nehmen. Und ich hatte ihm noch immer nichts davon erzählt, daß ich ab Montag auf die Fruerlundschule gehen würde. Da er ja am selben Montag, wenn ich das erste Mal auf die andere Schule gehen würde, bei Danfoss seinen Job anfangen würde, bestand auch nicht die Gefahr, daß er mich überraschend abholen und dann vor der ‚falschen‘ Schule stehen würde. Es hatte ziemlich lange gedauert, bis er da endlich doch noch einen Job bekommen hatte. Entweder fehlte etwas an seinen Papieren oder es war gerade keine geeignete Stelle frei. Aber er ist dran geblieben und jetzt hatten sie ihn endlich eingestellt.

Am Montagmorgen dann fuhr ich mit meiner Mum im Auto nach Flensburg. Sie würde mich dann da den Lehrern übergeben die mich dann aufklärten, in welchen Raum ich sollte um dann von jetzt ab am Unterricht teil zu nehmen.

Wir standen auf dem Schulhof vor dem Gebäude. Es waren zwei Gebäude, einmal das große Haupthaus in dem auch sicher das Lehrerzimmer zu finden war, und einem flachen Nebengebäude, daß durch eine Verbindung aus Glaswänden und Glasdach mit dem Haupthaus verbunden war. Durch diese Verbindung kam man direkt auf den inneren Schulhof.

Ich sah mich so unauffällig wie möglich um und suchte Marco. Er war nirgends zu sehen. War er am Ende ausgerechnet heute krank?

Inzwischen hatte meine Mum einen Lehrer ausfindig gemacht. Er erklärte meiner Mutter und mir, daß die neunte Klasse aus zwei Parallelklassen bestand, a und b. Ich würde in die 9a gehen. Ich war entsetzt! Parallelklassen? Es bestand trotz dem ich jetzt auf dieselbe Schule, in denselben Jahrgang wie Marco kommen sollte immer noch die Gefahr ihn NICHT den ganzen Vormittag sehen zu können? Endtäuschung machte sich in meinem Bauch unangenehm breit und schnürte mir den Hals zu. Jetzt bloß nicht anfangen zu Heulen!

Mein neuer Klassenlehrer wollte mich dann mitnehmen zu dem Raum, in dem ich in Zukunft meine Vormittage verbringen sollte. Meine Mum verabschiedete sich von mir.

„Nachher fährst du dann mit dem Bus nach Hause, ja?“ Ich hatte den Eindruck, daß meine Mutter irgendwie ein schlechtes Gewissen hatte.

Die Endtäuschung wandelte sich wieder in Aufregung als mein Lehrer mir sagte, daß ich ihm folgen solle. Als ich ihm über den Schulhof folgte, suchte ich weiter nach Marco, aber ich konnte ihn immer noch nirgends entdecken. Vielleicht war er tatsächlich gar nicht da?

Dann erblickte ich ihn plötzlich. Er stand mit dem Rücken zu mir in dem überdachten Pausengang vor den Klassen. Er hatte eine schwarze Regenjacke an mit einem Rosa Kragen. Er stand vor der Eingangstür zu den Unterrichtsräumen der neunten Klasse und lachte mit ein paar Jungs. Auch ein Mädchen war dabei. Sie hatte kurze strähnige blonde Haare mit einer leichten Dauerwelle, die die Strähnen fettig wirken ließen und ein nicht besonders sympathisches Gesicht. Nicht einmal wenn sie lachte, wurde es besser, eher noch im Gegenteil.

Einer der Jungen schien Marco und dem anderen Jungen, der ebenfalls mit dem Rücken zu mir stand, auf etwas aufmerksam zu machen, daß in der Richtung zu sein schien, aus der ich gerade mit dem Lehrer kam.

Die beiden Jungs drehten sich gleichzeitig um. Marco entgleisten sämtliche Gesichtszüge gleichzeitig und er erstarrte buchstäblich zur Salzsäule als er mich erkannte. Ich kicherte in mich hinein und versuchte gleichzeitig so unbeteiligt wie nur möglich zu erscheinen. Marco fasste sich sehr schnell wieder und drehte sich zu den anderen zurück. Er zuckte mit den Schultern.

"Irgend eine Neue, keine Ahnung, wer das ist." schien er seinen Kollegen mitzuteilen.

Genau wie ich erwartet hatte.

„Hier ist der Eingang zu den neunten Klassen.“ Klärte mich der Klassenlehrer, Herr Suhr auf. „Dein Klassenraum ist auf der linken Seite Du kannst dir ja schon mal angucken, wo du sitzen möchtest. Ich bin gleich wieder zurück.“ Fügte er hinzu und verschwand in die Richtung, aus der wir gerade gekommen waren.

Da stand ich jetzt. Ein wenig fühlte ich mich verlassen. Ich sah auf den Rücken von Marco, der offensichtlich seine Fassung zurück gewonnen hatte und mich nun genauso wenig eines Blickes würdigte, wie die anderen auch. Bis auf dieses hässliche Mädchen, die sah aus als wenn sie schon Hundert Möglichkeiten gefunden hätte, wie sie mir das Leben schwer machen könnte.

Irgendwie war ich ein wenig endtäuscht. Marco nahm überhaupt keine Notiz mehr von mir. Andererseits war das aber ja genau das Verhalten, was auch ich mir gedacht hatte. Niemand sollte davon erfahren, daß wir mal was miteinander hatten.

Natürlich kam ich nicht in Marcos Klasse, sondern ‚nur‘ in seine Parallelklasse. Ich war etwas traurig, aber vielleicht war es auch besser so. Sonst hätte ich ihn den ganzen Tag angehimmelt, natürlich mit dem Versuch mir das nicht anmerken zu lassen. So würde es einfacher für uns beide werden. Er war ja immer noch da und in den Pausen konnte ich ihn dann ja sehen. Aus der Entfernung.
 

Vom ersten Tag an war diese Schule langweilig und anstrengend. Langweilig, weil mir der Stoff etwas flach und oberflächlich vorkam. Sicher, an der Realschule hatte ich echte Probleme, aber hier in der Hauptschule war ich den anderen scheinbar etwas voraus. Anstrengend weil dieses hässliche Mädchen in meiner Klasse war. Sie hieß Heinke. Ein toller Name. Er passte zu ihrem Gesicht. Sie sah aus wie ein zerknitterter Gnom den man erfolglos versucht hatte wieder glatt zu bügeln. Und genauso wie sie aussah, benahm sie sich auch. Sie hatte es sich tatsächlich zu ihrem erklärten Ziel gemacht, mir das Leben schwer zu machen. Sie piesakte mich wo sie konnte. Rempelte mich an, wenn sie an mir vorbei ging. Trat mir ins Hinterteil, wenn ich an einer der Backsteinsäulen am Pausengang stand. Riss mir im Vorbeigehen die Tasche von der Schulter, versteckte meine Jacke, die im gemeinsamen Flur der neunten Klassen hing wie alle anderen Jacken der Schüler auch, bewarf mich mit nassen Papierkügelchen und und und. Sie hatte ein wirklich großes Repertoire an Fisimatenten auf Lager.

Ich war lediglich genervt, behielt aber eine innere Stärke. Diese Stärke kam nicht von ungefähr, die gab mir Marco, alleine damit, daß er Anwesend war. Das war sicher nicht sein Verdienst, er musste sich hier aufhalten genau wie ich oder jeder andere Schüler dieser Schule. Aber er war da und ich konnte ihn jeden Tag sehen. Das gab mir mehr Kraft als mir eigentlich bewusst war. Auch wenn wir bisher noch kein Wort gewechselt hatten.

Heinke indes widmete sich weiter mit Hingabe ihrer neuen Lieblingsbeschäftigung der Neuen die Hölle heiß zu machen.

Irgendwann drehte ich mich mal zu ihr um und fragte sie, ob sie sicher war, daß sie auch im richtigen Jahrgang war.

Für einen Moment hörte sie auf dämlich zu grinsen und guckte mich etwas hohl an.

„Wieso?“ sie grinste gleich wieder.

„Naja, mit dem Babykram, den du dir einfallen lässt, beeindruckst du mich nicht sonderlich. Außerdem,“ fügte ich jetzt meinerseits grinsend hinzu, „Dem Geruch nach zu urteilen brauchst du eine neue Windel!“

Noch bevor der Sinn des Inhaltes Heinkes Gehirnzellen erreicht und von ihnen analysiert werden konnten, machte ich mich aus dem Staub. In einer Toilettenzelle im Mädchenklo verbarrikadierte ich mich für den Rest der Pause und kam auch erst wieder raus, als ich sicher sein konnte, daß nach dem Pausenklingeln der Lehrer bereits in der Klasse sein musste. Ich riskierte es lieber zu spät zum Unterricht zu erscheinen, als daß Heinke ausprobierte, wie die Neue sich als Punchingball machen würde.

In der Klasse dann warf sie mir bitterböse Blicke zu und tuschelte mir ihrer Tischnachbarin. Ich hatte keine Ahnung, wie die hieß. Aber ich machte mir auch nicht gerade die Mühe, die Namen meiner Klassenkameraden zu lernen. Bis zum Ende dieses Schuljahres hin waren es allenfalls noch sieben Monate, die Ferien mit eingerechnet. Und danach würde ich die Leute nie wieder sehen. Wozu also Namen lernen?

Nach dem Heinkes Tischnachbarin ihr anscheinend eine wunderbare Idee zugeflüstert hatte, grinste sie breit und sah mich blitzend an.

‚Naa, was kommt da jetzt wieder für ein Mäusemist bei raus.‘ dachte ich mir wenig erschüttert. Der hässliche Gnom grinste die ganze Zeit siegessicher und glotzte mich an. Offensichtlich konnte sie kaum erwarten, daß es endlich zur Pause klingelte und sie diesen großartigen Plan in die Tat umsetzen konnte. Ich sah so desinteressiert aus, wie ich konnte.

Allem Anschein nach hatte sich das phantastische Projekt, daß Heinke mit ihrer Tischnachbarin ausgetüftelt hatte, inzwischen durch die ganze Klasse verbreitet. Viele der Jungs und auch der Mädchen kicherten und tuschelten und sahen immer wieder zu mir rüber. Wenn Heinke der Ansicht war, ich würde ihr nicht mehr genügend Aufmerksamkeit zollen, warf sie mit einer nassen Papierkugel nach mir. Die meisten verfehlten mich und ich ignorierte sie geflissentlich. Die anderen wischte ich mir von der Schulter, als würde da ein lästiges aber unbedeutendes Insekt sitzen.

Ein paar ganz weinige aber, so zwei oder drei Jungs und zwei der Mädchen, tuschelten nicht kichernd über das, was Heinke offensichtlich vor hatte. Ganz im Gegenteil. Auch sie tuschelten, sahen zu mir rüber, aber nicht mit dem diebischen Grinsen im Gesicht, da ich gleich erfahren würde, wo hier mein Platz war.

Bald klingelte es zur Pause und die meisten konnten nicht schnell genug aus der Klasse kommen. Ich ließ mir Zeit. Viel Zeit, ich hatte nicht vor so schnell wie möglich zu erfahren, was das für ein toller Plan war, den Heinke und ihre Tischnachbarin ausgeheckt hatten. Ganz im Gegentum. Als der Lehrer sich aufmachte, den Klassenraum zu verlassen sagte er nichts dazu, daß ich die Pause über in der Klasse bleiben würde. Er verschwand einfach und ließ die Tür offen.

So blieb ich dann auch in der Klasse. Die ganze Pause über, immerhin war es die große Pause mit 20 Minuten, war ich alleine im Raum. Es kam auch keiner rein um mich zu holen. Das hätte ich jedenfalls vermutet, wenn ich jetzt nicht auf dem Pausenhof erscheinen würde.

Aber es kam keiner.

Als es dann wieder zur Stunde klingelte, kamen alle Schüler rein, als wäre nichts gewesen. Naja, fast alle Schüler. Mindestens eine Schülerin sah nicht so aus, als wäre das gerade eine ganz normale große Pause gewesen. Es war Heinke.

Ihre Haare waren noch struppiger, als sonst normal schon immer, ihre Nase lief und auch ihr Gesicht sah ramponiert aus. Naja, groß war der Unterschied in ihrem Gesicht nicht aber ein geübter Betrachter konnte das schon klar erkennen. Und da ich ständig gezwungen war, in dieses wenig hübsche Gesicht zu gucken, und sei es nur, daß sie mal wieder an mir vorbei rempelte, blieb mir diese feine Nuance nicht verborgen. Außerdem sah sie wenig glücklich aus, auch ihre Tischnachbarin wirkte leicht mitgenommen. Was war da denn nur passiert?

Ich sollte es viel später erfahren.

Einige Tage nach diesem Vorfall, der so komplett an mir vorbeigegangen war, stand ich im Mädchenklo alleine in einer Zelle zum Rauchen. Da hörte ich zufällig, wie sich zwei Mädchen aus meiner Klasse unterhielten. Sie standen in der Zelle neben mir und rauchten ebenfalls. Von ihnen unbemerkt konnte ich das Gespräch verfolgen. Ich erfuhr daß sich einige der Jungs aus meiner und aus der Parallelklasse zusammengetan hatten, um diesem Mädchen mit der gnomartigen Hackfresse mal den Marsch zu blasen. Die Beschreibung stammte nicht von mir, sondern von den beiden Mädchen und ich musste mich stark zusammen reißen um nicht prustend mit dem Lachen herauszuplatzen. Was genau passiert war, verstand ich nicht. Irgendwo in einer der anderen Zellen spühlte jemand und der Inhalt der Unterhaltung verschwand teilweise buchstäblich im Siffon. Aber ich hatte genug gehört. So unbeliebt war ich wohl doch nicht. Ich hatte sogar ein paar unbekannte Beschützer. Ob Marco dabei war? Ich weiß es nicht. Ich sah ihn zwar jeden Tag, aber er ignorierte mich so sehr, als wenn er tatsächlich nichts mit mir zu tun haben wollte. Ein wenig machte mich das traurig. Ich hatte wenigstens gehofft, daß er mir mal einen wissenden oder verschwörerischen Blick zuwerfen würde. So nach dem Motto: ‚Ich ignoriere dich zwar, aber ich hab dich nicht vergessen‘.

Doch da war nichts dergleichen.

Morgens, wenn wir aus dem Linienbus ausstiegen, gingen Natascha und die anderen, mit denen ich auf der Realschule zu tun hatte, weiterhin den gewohnten Weg nach Mürwik.

Da ich ja jetzt nach Fruerlund musste überquerte ich die Nordstraße und ging dann allein zu Fuß weiter in Richtung Flensburg. An der nächsten Kreuzung, die immerhin gut 500 Meter von der Haltestelle weg lag, überquerte ich die Nordstraße erneut und ging dann direkt zur Fruerlundschule.

Ich beeilte mich immer sehr zu der zweiten Kreuzung zu kommen. Dann ging ich langsam. Ganz langsam. Bis ich ihn dann kommen sah.

Marco.

Meistens kam er mit dem Fahrrad. Weit vor mir kreuzte er meinen Weg und bog dann ab zur Schule. Er sah mich anfangs nie, weil er sich nicht umguckte.

Jeden Morgen fragte ich mich, welche Jacke er anhaben würde. Die rote Daunenjacke, bei der man die Ärmel raus trennen konnte, um daraus ein Weste zu machen? Die mit dem dunkelblauen Futter? Oder die schwarze Regenjacke mit dem rosa Kragen? Am liebsten mochte ich die Patric-Jacke. Ich liebte die Farben und das Design. Ich liebte diese Jacke, weil sie ihm so gut stand. Weil ich Marco liebte.

Er hatte außerdem einen schwarzen Rucksack für die Schulsachen mit einer kleineren Tasche drauf, auf der ein Regenbogen war.

Es war immer wie Balsam für meine Seele, wenn ich ihn sah, auch, wenn er mich keines Blickes würdigte.

Ich war allerdings immer noch mit Ralf zusammen. Auch, wenn sich unsere immer weniger werdenden Treffen einigermaßen angespannt gestalteten. Er hatte natürlich auch schon längst mitbekommen, wo ich jetzt zur Schule ging. Und genauso natürlich hatte ich ihm beteuert, daß ich mich für Marco Lotz nicht mehr interessieren würde.

Auch eine bevorstehende Klassenfahrt nach Norwegen, in der beide Klassen zusammen fahren würden, lehnte ich ab. Zum einen kannte ich niemanden wirklich aus meiner und der Parallelklasse. Zum anderen hätte es in einer Katastrophe enden können, mit Marco 14 Tage lang irgendwo in Norwegen rund um die Uhr zusammen zu sein. Vielleicht hätte ich ihn auch da ständig in der Nähe, müsste ihn aber ignorieren und ertragen, daß er mich ignorierte. Ich glaube, das hätte ich nicht verkraftet.

Ralf interpretierte diese Entscheidung allerdings als Liebesbeweis von mir an ihn.
 

Mein Stundenplan setzte sich so ziemlich aus denselben Fächern zusammen, wie auch schon in der Realschule. Nur mit dem Unterschied, daß am Mittwochnachmittag auch noch drei bis vier Unterrichtsstunden statt fanden. Diese beinhalteten drei Fächer: Handarbeit, Hauswirtschaft und Handwerken. Da ich deutlich später in die Klasse gekommen war durfte ich mir aussuchen, an welchem Kurs ich zuerst teilnehmen wollte. Jeder hatte in einem Schuljahr jedes Fach. Aber die Parallelklassen wurden zusammen getan und dann durch drei geteilt. Die eine Gruppe hatte dann Handarbeit während die zweite Hauswirtschaft und die dritte Gruppe Handwerken machte. Nach einem Drittel des Schuljahres in etwa tauschten dann alle die Kurse und das geschah dann nach einem weiteren Drittel noch einmal. So daß jeder an jedem Kurs teilgenommen hatte.

Jetzt durfte ich mir aber nicht nur aussuchen, mit welchem Kurs ich anfangen wollte. Ich durfte sogar in den nächsten drei Wochen jeden Kurs ausprobieren.

Das war genau das Richtige für mich.

Es war klar, daß ich nach einem ganz bestimmten Kriterium aussuchen würde.

In der ersten Woche entschied ich mich erst mal in den Kurs fürs Handwerken zu schnuppern. Beinahe vom ersten Moment an hatte ich beschlossen, dieses Fach nicht weiter zu verfolgen. Ich musste aber mindestens für diesen Tag daran Teil nehmen.

In der nächsten Woche warf ich dann einen Blick in den Handarbeitsraum und entschied augenblicklich: Hier würde ich bleiben.

Dem aufmerksamen Leser ist sicher die Logik dieses Auswahlverfahrens nicht entgangen.

Richtig: Im Handwerksunterricht war Marco nicht zu finden. Aber bei Handarbeit hab ich ihn dann gesehen. Ganz hinten, an einer ziemlich alten Nähmaschine. Er bemerkte mich nicht sofort. Mit angestrengtem Gesicht kämpfte er gerade mit einer der Nadeln, die in die Maschine gehörte. Ich lächelte mild in mich hinein. Gerne wäre ich zu ihm gegangen um ihm zu helfen, aber dann wäre eventuell unser Inkognito aufgeflogen.

So sah ich nur mitleidig aus der Entfernung zu, wie er sich damit abmühte, den verdammten mit Sicherheit viel zu dicken Faden durch dieses verflucht winzige Nadelöhr zu bekommen.

Die Aufgabe bestand darin, zwei viereckige Tücher in der einen Handarbeitsstunde mit Wickelbatik zu färben. Das wurde dann zum Trocknen aufgehängt und in der folgenden Stunde sollte ein Reisverschluss eingesetzt werden um dann einen voll funktionsfähigen Kissenbezug daraus zu schneidern.

Das Batiken des Stoffes war eine Sache von 20 Minuten, wenn man das Einwirken der Farbe mitzählte. Blieben also noch zwei weitere Stunden, die es nun für mich zu füllen galt. Frau Heuwagen, unsere Handarbeitslehrerin hatte nämlich nicht vor, mich gleich gehen zu lassen. Sie fragte mich dann, ob ich schon mal mit einer Nähmaschine gearbeitet hätte.

Sicher hatte ich das, meine Mum war schließlich Schneidermeisterin mit Brief, da blieb das nicht aus.

Also bekam ich einen Sonderauftrag und sollte weitere Kissenbezüge nähen die dann irgendwie für Frau Lüß waren, eine Lehrerin, die ich nicht kannte.

Während ich also den Rest der Stunde mit dem Nähen von Kissenbezügen für walzenförmige Kissen zubrachte, beobachte ich Marco weiterhin.

Er hatte wohl inzwischen mitbekommen, daß ich da war. Als sich jedenfalls unsere Blicke trafen, wirkte er nicht erstaunt. Aber auch nicht so unbeteiligt, wie sonst. Ich glaube, da war doch ein winziges Lächeln um seine Mundwinkel, oder ein kaum merkbares Blinzeln in seinen Augen. Auf jeden Fall löste sein Blick in meinem Magen eine kleine Implosion aus. Vielleicht mochte er mich ja doch noch.
 

Marco und ich hatten jeden Donnerstag die sechste Stunde frei. Danach kam kein weiterer Unterricht, also hatten wir komplett Feierabend. Manchmal, später im Schuljahr, trafen wir uns in dieser Freistunde bei dem Schuppen, der auf seinem und meinem Weg lag. Ein alter sehr baufälliger Schuppen aus Holz. Wir trafen uns da heimlich, verborgen vor den Augen unserer Mitschüler für ein paar Minuten und quatschten einfach nur. Ich wäre ihm am liebsten um den Hals gefallen, hätte mich an ihn gedrückt um seine Wärme zu spüren. Aber ich beherrschte mich. Marco schien kein Problem mit dem Beherrschen zu haben, er schien auch nicht mehr zu wollen, als einfach nur zu quatschen.

Dennoch war ich in diesen Minuten glücklich. Ich war in seiner Nähe, durfte ihn ansehen, ihm zuhören, ihm antworten, ihn necken. Ich wusste, daß er mich doch noch mochte, daß er mich nicht ignoriert hatte, weil er tatsächlich kein Interesse mehr an mir hatte, sondern weil auch er vermeiden wollte, daß irgendwer in der Schule mitbekam daß wir uns kannten. Vielleicht sogar daß wir uns mehr als nur kannten.

Und wir mussten nicht einmal darüber reden und irgendetwas darüber absprechen.

Wir waren uns einig.

Ganz ohne Worte.
 

*
 

„Warst du jetzt eigentlich noch mit Ralf zusammen“ platzt Nicole mir mitten in die Erzählung.

„Ja, da waren wir noch zusammen.“ Antworte ich ihr.

„Aber trotzdem hast du dich immer nach Marco umgesehen, den Unterricht gewählt, in dem du ihm nahe sein konntest und so. Was hat Ralf denn dazu gesagt?“ Sie nippt an ihrem inzwischen längst kalten Tee und sieht mich über ihre Tasse hinweg an.

„Nichts.“ Gebe ich knapp zurück.

„Nichts?“ fragt Nicole.

„Nichts.“ Wiederhole ich meine Antwort.

„Aber, er kann sich das doch nicht einfach so gefallen lassen haben?“ Nicole stellt ihre Teetasse auf den Tisch und sieht mich skeptisch an.

„Natürlich hätte er sich das nicht bieten lassen. Darum hab ich es ihm ja auch nicht erzählt.“ Antworte ich ein wenig nachdenklich.

„Nicht! Was hast du ihm denn dann erzählt? Ich meine, Ralf wusste doch sicher, daß Marco auch auf der Schule war, am Ende wusste er noch nicht mal, ob du mit Marco in einer Klasse warst?“ Nicole greift nach der Teekanne und will sich gerade etwas einschenken, als sie bemerkt, daß die Kanne inzwischen leer geworden ist.

„Wir brauchen neuen Tee.“ Bemerkt sie ganz nebenbei, stellt die Kanne wieder auf den Tisch und sah mich erwartungsvoll an.

„Ich mache gleich welchen.“ Sage ich, stehe auf und nehme im Vorbeigehen die Kanne mit in die Küche. Ich schalte den Wasserkocher ein und suche die richtigen Teebeutel zusammen. Zwei Mal Hagebutte und zwei Mal Kirsche. Ich hänge die Beutel in die Kanne und verknote die Bänder am Griff der Kanne, so kann ich dann nachher die Beutel aus dem heißen Tee fischen, ohne mir die Flossen zu verbrühen.

Nicole war mir gefolgt und steht jetzt neben mir in der Küche.

„Lass mal eine schmöken.“ Sagt sie und bietet mir eine ihrer Zigaretten an.

„Gute Idee, ich mach mal das Fenster auf.“

In meiner Wohnung wird nicht geraucht, wegen der Kinder. Allerdings jage ich meine Leute nicht in den strömenden Regen vor die Tür, schon gar nicht, wenn der waagerecht am Haus vorbeifegt, weil es auch noch gerade stürmt! Ich mag dann auch nicht da draußen stehen und meine Kippen auswringen, bevor ich sie anzünden kann. Falls sie dann überhaupt noch angehen!

Nicole schließt die Küchentür und lehnt sich mit dem Rücken an den Kühlschrank.

Das Wasser im Kocher ist heiß und ich gieße es in die Kanne.

„Also noch mal zurück. Du sagst, Ralf hatte keine Ahnung?“ Nicole sieht mich fast böse an.

„Nur die unausweichlichste.“ Erwidere ich.

„Er wusste schon, daß Marco auch auf der Fruerlund war. Auch, daß er nicht mit mir in eine Klasse ging, sondern in die Parallelklasse. Was er nicht wusste, daß ich Marco immer noch sehnsuchtsvolle Blicke zuwarf und das ich mir den Nachmittagskurs nach eben erwähnten Auswahlverfahren gewählt hatte.“ erläutere ich.

„Ihr habt euch aber schon noch getroffen, oder?“ während sie mich das fragt prüft Nicole, ob der Tee schon gut ist.

„Der kann noch ein bisschen.“ Urteilt sie dann.

„Ja, schon. Ich hab ihm dann halt immer gesagt, daß mich Marco nicht mehr interessieren würde.“ Werfe ich dann ein.

„Na da hast du aber ein schönes Ding gedreht.“ Tadelt Nicole mich.

Ich nicke nur.

„Ok“, sagt Nicole dann knapp und steckt ihre Kippe in den Kippenkiller im Aschenbecher. „ich habe fertig, lass uns wieder ins Wohnzimmer gehen.“

„Jup, ich bin auch fertig.“ Ich drücke meine Kippe im Ascher aus, nehme die Kanne mit dem heißen Tee und folge meiner Freundin ins Wohnzimmer zurück.

„Na dann, weiter.“ Fordert sie mich auf.
 

*
 

Es waren wieder einige Wochen vergangen. Die Winterferien waren zu Ende und die Parallelklassen der neunten waren für zwei Wochen in Norwegen zum Skifahren.

Ich war nicht mitgefahren. Ich wollte nicht. Zum einen kannte ich die Leute gar nicht wirklich und zum anderen, was wäre passiert, wenn Marco und ich so lange so sehr in der Nähe des Anderen gewesen wären? Immerhin gab es ein Geheimnis zu hüten und das wäre eventuell etwas brenzlig ausgegangen. Ich kannte Marco nur zu gut. Entweder hätte ich dabei zusehen müssen, wie er mit einer anderen anbandelt oder es wäre doch noch was zwischen uns vorgefallen.

Ersteres hätte ich nicht ertragen. Und Zweiteres hätte in einer Katastrophe für alle Beteiligten enden können.

Außerdem konnte ich Ralf damit ‚beweisen‘, daß ich wirklich kein Interesse mehr an Marco hatte. Auch wenn es nicht stimmte.

Allerdings fing auch Ralf langsam an daran zu zweifeln, daß ich da so ganz ehrlich ihm gegenüber war.
 

Mein 18. Geburtstag stand bevor. Eigentlich kein großes Ereignis. Schon seit meinem 8. Geburtstag feierte ich nicht mehr. meine damalige Geburtstagsfeier war ein Desaster. Fast alle, die damals in meiner Klasse in der Grundschule waren, waren eingeladen und auch gekommen. Und der Nachbarsjunge Jan. Ich war total in ihn verschossen und alle wussten das. Allerdings waren wir kein Pärchen. Naja, wir waren Kinder.

Meine Mum bekam an dem Tag einen sehr heftigen Migräneanfall. Trotzdem versuchte sie meinen Geburtstag so gut es ging vorzubereiten. Als dann der letzte Gast angekommen war sagte sie mir, daß wir nicht zu laut sein sollten, sie müsse sich hinlegen.

Da stand ich nun mit meinen Gästen und wusste nichts mit ihnen anzufangen. Wir haben uns dann irgendwie beschäftigt und nach dem Kuchen haben sich die Kinder dann nach und nach verzogen.

Meine Mum kann nichts dafür, aber es war ein ausgesprochen schlechtes Timing.

Seit dem feierte ich meine Geburtstage nicht mehr und hatte auch nicht vor das zu ändern.

Allerdings war ‚Clique Laikier‘ da ganz anderer Ansicht.

Die ‚Clique Laikier‘ waren alle Nachbarn von Laikier 1 bis etwa Laikier15 mit Ausnahme von Laikier 12 und 13. In der 12 wohnte eine Frau, deren Namen ich mir nicht merken konnte und sie lebte eher zurückgezogen mit ihrer Adoptivtochter. Ich wusste nicht mal, ob es auch einen Adoptiv-Vater gab. Laikier 13 stand schon seit Jahren leer und das Grundstück war so zugewuchert, daß man das Haus kaum noch erkennen konnte.

Ernie, unser direkter Nachbar und Heinz, zwei Häuser weiter von Ernie aus gesehen, saßen mit meiner Mum auf der Terrasse und klönten.

„Na, deine Tochter wird ja jetzt auch 18.“ Stellte Ernie fest.

Meine Mum nickte nur.

„Dann wird ja sicher ordentlich gefeiert?“ ereiferte sich Heinz voller Vorfreude.

„Neh, wieso das denn?“ gab meine Mutter erstaunt zurück.

„Naja“, fügte Ernie an, „Da wird doch sicher die Familie kommen, oder nicht?“

„Welche Familie?“ fragte meine Mum entgeistert.

„Wir haben hier keine Familie. Die einzige Familie, die noch existiert, wohnt in der Nähe von Stuttgart und kommt garantiert nicht hierher weil wir nämlich nicht gerade ein nennenswertes Verhältnis haben.“ Fügte sie dann noch erklärend hinzu.

„Och Cousinchen“, brach Ernie aus und fiel meiner Mum um den Hals. „Nun sag doch nicht, du hättest keine Familie!“

„Hey“, drängte sich nun auch Heinz dazwischen, „Lass meine Schwester in Ruhe.“

Und plötzlich hatte ich furchtbar viel Familie.

Und plötzlich wurde dann auch mein 18. Geburtstag geplant.
 

Wie erwartet waren alle gekommen. Die gesamte Clique Laikier, die Eltern von Ralf und natürlich Ralf selbst und sogar mein Vater, der einige Tage vor dem großen Ereignis tatsächlich nach Hause kam. Das war natürlich ein absoluter Grund diesem Fest auf gar keinen Fall fern zu bleiben, da er jedes Mal Kiloweise Schrimps aus Afrika mitbrachte.

Wir hatten drei große Oskarmülltonnen. Eine fasst etwa 100 Liter. Zwei der Tonnen waren randvoll mit Schrimps eingelegt in einer Marinade, deren Zusammensetzung nur mein Vater kannte. Die Dritte war dann für die anfallende Schale reserviert. Mein Dad tat eigentlich den halben Abend nichts anderes als eine Fuhre Schrimps nach der anderen zu braten, die dann meistens nicht an ‚Tisch Eins‘ vorbeikam. Erst als wirklich keine Schrimps mehr da waren, konnte auch er sich zu den Feiernden gesellen.

Meine Mum hatte eine Früchtebowle gemacht. Da ich keinen Alkohol trinken wollte, aß ich nur die Früchte. Ja klar, jeder halbwüchsige Dummkopf wusste, daß der Alkohol gerade in den Früchten steckt.

Ich nicht.

Später, ja, am nächsten Tag, da dämmerte mir, daß meine Taktik nicht die klügste war. Allerdings nur ganz kurz. Der Gedanke kostete meinen unbeschreiblich schmerzenden Kopf mehr Anstrengung als zu verkraften war! Alleine der Ohrenbetäubende Lärm den die Milch machte, die mein Bruder sich über die Cornflakes schüttete dröhnte in meinem Kopf wie ein Blasorchester in einer Kirche.

Zurück zur Feier.

Wie gesagt waren also auch mein Freund Ralf und seine Eltern da. Und ich hielt mich nur an die Früchte der Bowle. Irgendwann verkündete ich dann auch lallend auf die Frage, ob Ralf denn jetzt der Richtige wäre, daß er das bestimmt sei. Den würde ich heiraten!

Mein Problem mit dem Alkohol war eigentlich nicht die Tatsache, daß ich durchaus betrunken wurde wie jeder andere auch. Mein Problem war viel mehr, daß ich keinen Black out hatte! Egal wie viel ich soff! Ich wurde immer betrunkener und die Hemmschwelle sank auf ein Niveau unterhalb der Bodenplatte unseres Hauses, aber ich wusste immer noch was ich tat. Ich konnte es nur nicht mehr kontrollieren!

Im Gegensatz zu fast jedem Menschen auf der Welt wusste ich am Tag danach noch ganz genau wem ich welche Scheiße erzählt hatte und wie ich mich dabei benommen hatte! Ich konnte nur hoffen, daß derjenige Vollgesülzte genauso besoffen war wie ich, aber einen anständigen Black out hatte und sich nicht mehr an die Sülze, die ich verzapft hatte, erinnerte.

Jedenfalls verkündete ich jedem, der es wissen wollte, und allen, die es nicht wissen wollten, daß ich Ralf heiraten würde.
 

Nur 10 Tage nach dieser Feier saß ich mit Ralf zusammen auf dem Südermarkt auf der "Platte".

„Weißt du“, begann er mit ernster Stimme. „Ich habe den Eindruck, daß das mit uns irgendwie nicht mehr läuft.“

Ich war einigermaßen erschrocken über das Thema, schwieg aber zu dieser Analyse.

„Du hast ja doch nur noch Marco im Kopf.“ Fügte er nach einer Weile hinzu.

Auch hierzu schwieg ich.

Ralfs Motto war immer: Wer schweigt, bejaht.

Er konnte mein Schweigen also nur richtig deuten.

Es hatte keinen Sinn mehr, irgendetwas zu rechtfertigen.

Ralf hoffte vielleicht, daß ich versuchen würde ihm zu widersprechen, ihm zu sagen, daß er sich irrte.

Aber das hatte ich nicht vor.

„Meinst du, es wäre besser, wenn wir uns trennen?“ fragte er dann mit zitternder Stimme.

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich saß da und starrte schuldbewusst auf meine Hände.

„Ich denke schon.“ Sagte ich dann nach einer Weile.

„Ich möchte dann die Kette und den Ring zurück.“ Sagte Ralf tonlos.

Ich nahm beides ab und legte es in seine Hand, die er mir hinhielt.

„Dann machs mal gut.“ Sagte er noch, stand auf und ging.

Ich blieb einen Moment sitzen und versuchte zu begreifen, was da gerade passiert war.

Ich zitterte ein wenig und meine Glieder fühlten sich seltsam taub an.

Wir waren fast drei Jahre zusammen gewesen.

Er war derjenige, der mir den ersten Zungenkuss raubte.

Er war derjenige, der mich entjungfert hatte.

Und plötzlich war alles zu Ende.

Einfach so.

So einfach.

Eine Wolke bildete sich in der Mitte meines Bauches. Sie quoll auf und breitete sich langsam aus, bis sie meine Fingerspitzen, meine Zehenspitzen und meine Kopfhaut erreichte. Sie war leicht, warm, weich und angenehm.

Ich war frei.

Frei zu tun, was ich mochte.

Frei zu denken, was ich wollte.

Frei zu lieben, wen ich wollte.

Ich war frei, Marco Lotz zu lieben.

Ich war frei, mich mit ihm zu treffen, wenn ich wollte.

Oder wenn er es wollte.

Was würde er wohl sagen.

Würde er überhaupt etwas sagen?

Kapitel V
 

Ich hatte Marco natürlich bei nächster Gelegenheit erzählt, daß ich mich von Ralf getrennt hatte. Naja, eigentlich hat Ralf das ja vorgeschlagen, ich hab nur zugestimmt. Aber egal, ich war wieder zu haben und ich hoffte, Marco würde mich wollen.

Natürlich sagte ich ihm nicht: ‚Hey, ich bin wieder solo. Willst du jetzt mit mir gehen?‘

Keines falls!

Ich kannte Marco gut genug um zu wissen, wenn ich ihm sage, daß ich ihn liebe, dann würde er schreiend das Weite suchen.

Nagut, vielleicht nicht schreiend.

Aber er würde mich von da ab eher meiden und sich lieber auf den schnellsten Weg nach Hause machen. Auf einem Weg, der sich garantiert nicht um einen Meter mit dem meinen kreuzte.

Und das wollte ich nicht. Ich wollte in seiner Nähe sein, sooft ich konnte.

Also nahm ich das so hin, wie es war.

Marco hatte kein Interesse an einer Beziehung zwischen uns.

Ich begründete das damit, daß immer noch keiner aus unserer Schule wusste, daß wir mal etwas miteinander hatten. Und das sollte auch keiner erfahren. Das genügte mir sein seltsames Verhalten zu erklären und zu akzeptieren.
 

Es war Mittwochnachmittag und wir hatten Hauswirtschaft. Handarbeiten war vorbei, die Kissenbezüge endlich fertig.

Nun durften wir also schon seit zwei Wochen ein Mal die Woche nachmittags ein leckeres Gericht zubereiten.

Das war eigentlich ganz lustig.

Marco kochte zusammen mit einem Kumpel, den er schon seit dem Kindergarten kannte. Die zwei machten nur Blödsinn und das, was dann am Ende dabei herauskam war selten genießbar.

In der dritten Woche bekam unsere Lehrerin Frau Lüß, eine Lieferung verschiedenster Nahrungsmittel und Zutaten für den Kochunterricht. Der sollte nun in der Speisekammer verstaut werden.

„Marco, du kannst mal die Sachen hier einräumen, bitte.“ Sagte Frau Lüß laut.

Der Angesprochene begab sich gleich zu den Päckchen um mit der Arbeit zu beginnen.

„Deine Freundin Carmen kann dir ja dabei helfen.“ Fügte sie genauso laut hinzu.

Marco und ich erstarrten augenblicklich zu Salzsäulen! Marco verharrte in der Beuge, er wollte gerade einen Karton mit Mehlpäckchen greifen, und starrte mich an.

Ich stand mit dem Kochlöffel in der Hand an meinem Arbeitsplatz. Ich hatte mich zu Marco und Frau Lüß umgedreht und verharrte, ebenfalls mit entsetztem Gesichtsausdruck. Während Marco weiß wie die Wand hinter sich war, lief ich dunkelrot an. Alle übrigen Anwesenden waren plötzlich genauso still. Sie sahen abwechselnd von Marco zu mir und warteten gespannt, wie wir uns jetzt verhalten.

Einen Moment lang, gefühlte 60 Minuten, war alles still und verharrte in dieser Szene.

Schließlich kam dann wieder Bewegung in das Bild. Marco führte seine Bewegung wortlos aus und hob den Karton mit dem Mehl hoch um ihn in die Kammer zu bringen.

Ich ging dann genauso wortlos in die Kammer zu Marco und begann damit das Mehl ins Regal einzuräumen.

Alle übrigen drehten sich zueinander hin und tuschelten kichernd.

„Hast du irgendetwas erzählt?“ keuchte Marco leise, ohne mich anzusehen.

„Nein“, keuchte ich genauso atemlos.

„Du?“

„Nein“ gab Marco zur Antwort.

Zu mehr Wortwechsel waren wir den Rest des Tages nicht mehr fähig.

Niemand von uns hatte je ein Wort oder auch nur einen Hinweis auf eine eventuelle Beziehung verloren. Am Schuppen waren wir immer allein, davon hatten wir uns stets vergewissert.

Und dennoch wussten es alle.

Alle!

Sogar die Lehrer!!!
 

Meine Klasse hatte einmal die Woche Kunstunterricht bei Frau Lüß. Ich war in Kunst immer sehr gut, weil ich es einfach liebte mit Farben und Formen zu arbeiten. Mit freien Formen. Auf ein Pentagondodekaeder konnte ich gut verzichten.

Die Aufgabe der heutigen Stunde war es, mit Aquarellfarben verschiedene Farbverläufe zu erzeugen. Das war leicht, so etwas hab ich in der Waldorfschule schon seit der fünften Klasse gemacht. Mit dem Unterschied, daß wir hier mehrere Farben gleichzeitig bekamen und unserer Phantasie freien Lauf lassen konnten.

Am Ende der Stunden sollten wir dann die nassen Bilder in den Raum, der die Parallelklassen verband zum Trocknen legen. Als ich mein Bild gerade in diesen Raum gebracht und an einer freien Stelle auf den Tischen gelegt hatte, stand auf einmal Achim hinter mir. Er war ein großer sehr hagerer Typ aus meiner Klasse.

„Ist das dein Bild?“ fragte er dann und beugte sich dicht an mir vorbei um sich das Kunstwerk besser betrachten zu können.

„Ja, das ist meines.“ Bestätigte ich seine Vermutung.

„Das sieht total klasse aus.“ Lobte Achim.

„Das sind doch nur Farbverläufe.“ Wunderte ich mich.

„Ja, aber die sind total schön.“ Sagte er dann versonnen.

„Du“, er drehte sich jetzt zu mir um. „kannst du gleich mal aufs Mädchenklo kommen, ich muss dir etwas sagen?“ Flüsterte er dann geheimnisvoll in mein Ohr.

„Mal gucken.“ Sagte ich nur etwas erstaunt.

Achim verschwand ohne ein weiteres Wort aus dem Raum und sicher auch aus dem Klassenraum. Ich blieb noch eine Weile da stehen wo ich stand und ließ die kleine Szene in meinem Kopf noch mal Revue passieren.

Achim wollte, daß ich ins Mädchenklo komme? Jetzt? Was hat der denn jetzt vor? Und dann im Mädchenklo?

Die Neugier brachte mich dann aber dazu, tatsächlich zu dem verabredeten Treffpunkt zu gehen um zu sehen, was Achim von mir wollte.

Als ich in den Waschraum vor den Toiletten kam winkte mich Achim gleich zu sich. Er stand in der ersten Zelle.

Als ich bei ihm drin war machte er hinter mir schnell die Tür zu und schloss diese ab.

„Und nun?“ fragte ich.

Achim sah mich an. Aber anders als sonst normal. Er führte etwas im Schilde.

„Ich finde, du und Marco, ihr passt nicht zusammen.“ Begann er dann.

„Ach, findest du? Und wie kommst du darauf?“ ich spürte geradezu, wie er mir einen Trumpf zuschob.

„Naja, Marco ist doch ein Weiberheld. Der meint das doch nicht ernst. Der will doch nur seinen Spaß haben.“ Fügte Achim hinzu.

„Aha, und du meinst, du musst mich jetzt beschützen?“ Ich sah ihn kokett von unten an. Ich war mir der Lage bewusst, daß er im Moment ausgesprochen verletzlich war. Ich würde das allerdings nicht ausnutzen. Aber ich konnte ja ein bisschen mit ihm flirten. Warum sonst, sollte er sich mit mir an einem für ihn so unvorteilhaften Ort treffen, wenn er nicht vorhatte, mit mir zu flirten? Oder anzubandeln? Mal sehen, wie weit das geht und was dabei herauskommt.

„Ja, auch.“ Erwiderte er bestimmt.

„Vergiss doch Marco. Ich wäre viel besser für dich.“ Fügte Achim hinzu.

„Du willst also mit mir gehen?“ ich grinste leicht überheblich, mir sicher diese Sache im Griff zu haben.

Achim zuckte kurz mit den Schultern, dann nahm er mein Gesicht in seine Hände und küsse mich einfach.

Ich war erstmal etwas überrumpelt und wehrte ich den Kuss nicht ab.

Allerdings drückte er nur seine Lippen auf die meinen. Mehr nicht.

Als er mich dann losließ und mit glasigen Augen ansah, fand ich meine Stimme sofort.

„Sag mal, was fällt dir denn ein?“ tadelte ich bestimmt.

„Ich weiß nicht.“ Antwortete Achim und grinste zufrieden.

„Du bist wirklich nicht mein Typ.“ Sagte ich dann.

„Du bist zwar ganz nett, zumindest im Moment, aber ich liebe dich nicht.“ Fügte ich hinzu.

Achim war geknickt, versuchte es aber zu verbergen.

„Weißt du noch, den Tag, wo du Heinke so beleidigt hast?“ fragte er dann.

„Sicher.“ Erwiderte ich knapp.

„Heinke und Evelin hatten vor, es dir so richtig heim zu zahlen. Sie wollten irgendetwas im Mädchenklo mit dir anstellen und dich dann da einschließen. Ich hab dann ein paar Jungs zusammengetrommelt und wir haben Heinke den Kopf gewaschen und Evelin in ihre Schranken gewiesen.“ Erzählte er.

„Das warst du?“ fragte ich ungläubig.

„Ja, das war ich.“ Antwortete Achim mit fester Stimme, aber ganz leise.

„Danke, das war wirklich lieb von dir.“ Lächelte ich.

„Du siehst also, du kannst es wirklich gut bei mir haben.“ Achim flehte fast.

„Achim, du bist wirklich nett und was du da für mich getan hast, war auch wirklich nett. Aber ich glaube nicht, daß "nett" eine Basis für eine Beziehung wäre.“ Sagte ich dann.

„Du willst also nicht mit mir zusammen sein?“ fragte Achim traurig.

„Nein, tut mir leid.“ Sagte ich, ohne ihn zu sticheln.

„Ich kann dich gar nicht umstimmen?“ er guckte mich mit Dackelaugen an.

„Nein.“ Wiederholte ich sachte.

„Na, du musst es wissen.“ Resignierte Achim.

„Richtig.“ Ich schloss die Tür auf ging nach draußen und ließ Achim allein. Es war sicher nicht gut, wenn man uns beide aus dem Mädchenklo kommen sah.

Natürlich erzählte ich es keinem. Zum einen ging es niemanden etwas an und zum anderen wäre das von mir ausgesprochen mies gewesen. Ich hätte auch nicht gewollt, wenn er es erzählen würde. Er hat es auch niemandem erzählt. Das war dann irgendwie ‚unser kleines Geheimnis‘.

Aber ich hatte für die Zukunft einen kleinen Trumpf in der Hand. Wenn er mal wieder frech wurde, brauchte ich ihn nur auf eine ganz bestimmte Weise angucken. Er grinste dann verlegen und hielt sich bedeckt.

Irgendwie war er ja schon süß, aber eben absolut nicht mein Typ.
 

Das Schuljahr ging dem Ende entgegen. Alle planten schon für die Abschlussfeier. Sie wollten in Weiche auf dem Sportplatz ein Partyzelt aufschlagen und Spanferkel grillen. Dazu natürlich literweise Bier und Cola.

Ich wusste nicht, ob ich daran teil nehmen sollte.

Je näher dieser Termin rückte, umso trauriger wurde ich.

Marco wollte jedenfalls nicht an der Abschlussfeier teilnehmen und so tendierte auch ich eher dazu, diesem Specktakel fern zu bleiben. Ohne Marco machte das für mich keinen Sinn. Schließlich hielt Marco es dann aber doch für eine gute Idee, auf dem Sportplatz ein Ferkel zu grillen und zumindest mit seinem Kumpel zusammen abzufeiern. Auch ich entschied dann, daß ich mitfahren wollte. Es war der letzte Tag unserer gemeinsamen Schulzeit und ich würde ihn danach wohl nicht mehr so schnell wieder sehen.

Ich war traurig und irgendwie deprimiert. Immerhin sollte ich noch mal ein ganzes Jahr auf der Fruerlund bleiben, ohne Marco. Er fehlte mir jetzt schon, obwohl er ja noch da war.
 

Alle waren gekommen. Alle aus meiner und aus Marcos Klasse einschließlich ihm selbst. Wir hatten eine Musikanlage aufgebaut aus der lautstark lauter Partykracher dröhnten. Das Ferkel steckte auf seinem Spieß und hing über der glühenden Kohle. Mein Klassenlehrer stand dabei und beaufsichtigte die beiden Jungs, die den Festschmaus langsam über der Hitze drehten. Das Festzelt war geräumig und darum herum standen mehrere kleinere Einmann- oder Zweimannzelte. Einige wollten bis in die tiefe Nacht feiern und sich besaufen und dann schlicht in ihren Zelten da übernachten. Marco wollte auch erst ein Zelt aufschlagen, fand es dann aber doch als die bessere Idee, in seinem eigenen Bett aufzuwachen, wenn ihm der Schädel platzte.

Auch ich würde nach der Feier nach Hause fahren, irgendwie. Marco sollte von seiner Mutter abgeholt werden und ich durfte mit. An der Nordstraße in Engelsby würde ich dann aussteigen.

Wir feierten alle ausgelassen. Allerdings hatte ich diese Wehmut ihm Herzen. Das war das letzte Mal, daß ich Marco so nahe sein würde. Wer weiß, wann wir uns wiedersehen könnten. Ich verbarg nicht, daß ich in seiner Nähe sein wollte und er sagte nichts dagegen. Wir alle vernichteten das Ferkel als es endlich fertig war, futterten noch jede Menge Salate, die von einigen mitgebracht wurden und konsumierten reichlich Bier, Cola und Sprudel.

Ich mochte kein Bier. Aber es war das einzige alkoholhaltige Getränk, was da war und da ich vorhatte, mir so richtig einen auf die Nase zu gießen, leerte ich eine Flasche nach der anderen. Ich hatte gehört, daß man schneller besoffen wird, wenn man Bier mit einem Strohhalm trinken würde. Nun, Strohhalme waren da und auch reichlich Bier. Allerdings hatte ich bald die siebte Flasche Bier mit einem Strohhalm geleert und war immer noch stocknüchtern! Ich hatte nicht mal einen Schwips! Dafür war mir schlecht. Eines von den sieben Bier muss nicht mehr ganz frisch gewesen sein.

Dennoch war es wirklich lustig. Wir hatten viel Spaß. Ich schloss sogar mit Evelyn Brüder-, beziehungsweise Schwesternschaft.

Als dann das Meiste vorbei wahr, wir eigentlich alle nur noch herum torkelten (außer mir natürlich), weiter Bier und Cola vernichteten und eine Zigarette nach der anderen rauchten, war dann auch Marcos Mutter bald da, uns abzuholen. Marco hatte sie extra etwas eher bestellt, weil er keine Lust hatte, die ganze Nacht auf der Abschlussfeier zu verbringen.

Ich kann mich noch genau an das Gefühl erinnern, das ich hatte, als ich da so auf dem Rücksitz saß, Marco saß vor mir auf dem Beifahrersitz. Ich war traurig, unendlich traurig und hätte am liebsten geweint. Es fühlte sich an wie ein Abschied für immer. Ich weiß auch noch, daß ich nicht bei Marco übernachtet hatte. Aber ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie ich eigentlich nach Hause kam.
 

*
 

Es war Sommer. Ein sehr warmer Sommer und es war sonnig und trocken. Wir hatten inzwischen seit drei Wochen Ferien.

Ich hatte es nicht ausgehalten ohne Marco und hab in der zweiten Ferienwoche schon bei ihm angerufen. Er war weder erstaunt noch abgeneigt, daß ich anrief. Er war eher tatsächlich erfreut. Wir hatten uns sogar verabredet. Er hatte in diesem Sommer einen Ferienjob angenommen, wo er die Gartenanlagen von Mietshäusern vom Unkraut befreien sollte. Momentan arbeitete er in Adelbylund. Er hatte mir den Weg beschrieben, wie ich da hinkommen würde und nun saß ich im Bus und würde ihn gleich wiedersehen.

An der richtigen Haltestelle stieg ich dann aus und machte mich auf den Weg, den Marco mir beschrieben hatte. Es war nicht ganz in der Stadt, eher so am Stadtrand und ich konnte das Ziel leicht finden.

Schon von Weitem sah ich in mit einer Harke hantieren. Er hatte noch einen Kollegen dabei.

Als ich dazukam begrüßte Marco mich herzlich – allerdings nahm er mich dafür nicht in den Arm. Ich war so froh, Marco wieder zu sehen daß mein Gesicht nach 10 Minuten leicht schmerzte, so sehr grinste ich. Marco würde jetzt sagen: ‚Wenn du keine Ohren gehabt hättest, dann hättest du im Kreis gegrinst.‘

Marco stellte mir seinen Kollegen Simon vor. Der war sofort hin und weg von mir. Die zwei jäteten Unkraut und ich stand dabei und hatte die Aufsicht. Wir schnackten über dieses und jenes. Simon wollte wissen, wie Marco und ich uns kennen gelernt hatten und wir erzählten von dem Nachmittag, wo ich ihm den Brief von Natascha überbringen sollte, von der Bushaltestelle in Mürwik und den zwei Wochen, in denen wir uns fast jeden Tag gesehen hatten.

Gegen 3 Uhr machten die zwei Feierabend. Wir hockten uns dann noch zusammen auf den Rasen, Marco legte sich in den Rasen, sagte nur frech: „Ich darf mal, ja?“ und legte seinen Kopf auf meine Oberschenkel. Er verschränkte die Arme hinter seinem Kopf, schloss die Augen und seufzte zufrieden.

„Hach jaah.“

Ich ließ ihn gewähren. Es war ohnehin nicht zu verbergen, daß wir uns mochten. Deswegen waren wir aber ja nicht gleich zusammen.

Irgendwann zwischen durch stand Marco auf, faselte etwas von einer Stange Wasser in die Ecke stellen und verschwand.

Simon nutzte diesen Augenblick, in dem er mit mir alleine war.

„Sag mal, ihr seid doch nicht zusammen, oder? Begann er.

„Nein.“ Grinste ich ihn vergnügt an.

„Aber du wärest es gerne, oder?“ fragte er weiter.

Ich schwieg und grinste nur weiter.

„Du solltest ein Buch schreiben.“ Fügte er dann hinzu.

„Titel: Mein Kampf! Mit Marco!“ Er malte die Überschrift in die Luft.

„Warum?“ fragte ich koket.

„Eifersüchtig?“

Simon überhörte die letzte Frage einfach.

„Ich fahre irgendwann in den nächsten Jahren für länger zu meinem Onkel nach Australien. Der hat da ein super Strandhaus, in dem ich dann Wohnen kann. Und er hat eine Yacht. Ich könnte dich mitnehmen.“ Strahlte er mich an.

Ich lachte.

„Lass man. Ich bin hier ganz glücklich.“ Erklärte ich ihm dann.

In dem Augenblick kam Marco zurück.

„So, Leute. Es ist halb vier, damit haben wir dann offiziell Feierabend für heute.“ Verkündete er und schnappte sich seinen Rucksack.

„Kommst du mit?“ sagte er noch zu mir und ich war augenblicklich auf den Füßen und an seiner Seite.
 

Marco war mit dem Fahrrad da. Aber mit einem anderen, als dem Mountainbike. Dieses Rad hatte einen Gepäckträger, auf dem ich dann Platz nehmen sollte. Irgendwie fand ich das schade, aber viel wichtiger war, daß er mich überhaupt mitnehmen wollte. Unangenehmer Weise hatte er den Rucksack auf dem Rücken, der mir jetzt mehrfach störend im Gesicht hing.

Er konnte ihn aber auch nicht abnehmen, da er ja zur Zeit den Gepäckträger nicht benutzen konnte. Ich biss also auch hier die Zähne zusammen und jammerte nicht.

Als wir dann in Engelsby über die Nordstraße gefahren waren, hielt er an. Ich rutschte vom Gepäckträger und er stieg vom Fahrrad ab. Den Rucksack klemmte er dann auf den inzwischen frei gewordenen Gepäckträger.

Mit der rechten Hand griff er sein Fahrrad in der Mitte des Lenkrades und schob es so neben sich her. Mit der linken griff er nach meiner rechten Hand. Er grinste mich an und wir gingen los. Hand in Hand. Zu ihm nach Hause. Ich schwebte einen halben Meter über dem Boden. Und ja, ich grinste wieder im Kreis.

Es war wundervoll. Seine Eltern waren beide für 14 Tage in Dänemark bei ihrem Wohnwagen. Steffan war längst ausgezogen und so hatten wir das ganze Haus für uns allein. Wir saßen im Wohnzimmer seiner Eltern. Der Fernseher lief, aber keiner von uns achtete auf das Programm. Wir lagen Arm in Arm auf dem Sofa und küssten uns lange, ausgiebig und voller Genuss.

Irgendwann hatte Marco dann den glorreichen Einfall doch Schwimmen zu gehen.

„Ich hab aber gar keinen Badeanzug mit oder Handtücher.“ Protestierte ich.

„Das ist kein Thema. Handtücher haben wir hier genug und in der Frieholtschule ist sicher noch ein Badeanzug für dich.“ Grinste Marco.

Die Frieholtschule war eine gemischte Schule. Eine Schule für geistig und körperlich behinderte Kinder und für gesunde Kinder. Dementsprechend gab es hier einige Einrichtungen, die an anderen Schulen nicht zu finden waren. Marcos Vater war hier Hausmeister und so hatte sein Sohn zu allen Räumen einen Schlüssel. Natürlich wusste sein Vater nichts davon, daß Marco sich gelegentlich mal den Schlüsselbund ‚auslieh‘.

Marco zog mich an der Hand durch das Gebäude bis in den Keller, wo es schon verdächtig nach Chlor roch.

„Hier unten ist ein Therapiebecken.“ Erklärte er mir.

„Und hier hab ich auch einen Badeanzug für dich. Funkelnagelneu. Den hat noch keiner Getragen. Aber eben hier vergessen.“ Strahlte er mich an und gab mir einen einfachen Sportbadeanzug der sogar noch in Plastikfolie verpackt war.

Ich zog mich um und zusammen gingen wir dann in das Therapiebecken. Das Wasser war schön warm und nur hüfttief. Und das Becken war etwa vier mal vier Meter groß. Wir spielten und rangelten im Wasser. Er nahm mich auch wieder in die Arme, sah mir tief in die Augen und wir küssten uns. Er hätte mich gerne an Ort und Stelle vernascht, aber ich wehrte ab.

„Das ist nicht so ganz der Richtige Ort würde ich mal sagen.“ Erklärte ich.

Marco akzeptierte das sofort und beschränkte sich darauf mich zu kitzeln, zu ärgern, zu necken und zu küssen.

Es war der schönste Tag seit langer Zeit.

Schließlich wurde es dann Zeit für mich, mich auf den Weg zum Bus zu machen. Wir stiegen also aus dem Bad, trockneten uns ab und zogen uns an. Er brachte mich dann wieder mit dem Fahrrad zur Haltestelle. Dieses Mal mit seinem Mountainbike, ich durfte auch wieder in seinen Armen auf der Mittelstange sitzen.

Ich war im Himmel.

„Kann ich morgen wieder kommen?“ fragte ich ihn dann nach einem langen Kuss, den er mir an der Haltestelle gab.

„Morgen ist ein bisschen schlecht, da sind wir schon woanders und das ist am anderen Ende der Stadt. Aber was hältst du davon, wenn du am Samstag kommst? Du könntest bei mir übernachten?“ er sah mich mit butterweichen Augen an und ich schmolz wie ein Eis in der Sonne.

„Wirklich?“ hauchte ich.

„Wenn du willst?“ Sein Blick drang tief in mein Herz und ich war ihm komplett ausgeliefert.

„Klar will ich.“ Seufzte ich.

„Ok, dann komm so gegen Mittag und dann gehen wir ins Kino. König der Löwen läuft. Und dann bleibst du über Nacht. Ruf am besten noch mal vorher an, bevor du kommst.“ Marco hielt mich fest im Arm und strahlte mich an.

Liebe Güte, wenn er mich so ansah war ich total willenlos. Ich himmelte ihn an und nickte nur. Sagen konnte ich eh nichts, er war schon wieder auf dem Weg mich zu küssen.
 

Um halb eins war ich in Engelsby an der Haltestelle. Nicht weit weg war eine Telephonzelle. Ich warf die 30 Pfennig in den Münzschlitz und wählte Marcos nummer.

Es tutete.

Es tutete lange.

Sehr lange.

Ich wollte gerade endtäuscht auflegen als doch abgenommen wurde.

„Ja?“

Es war Marco.

„Ich bin jetzt in Engelsby.“ Teilte ich ihm mit.

„Wie lange brauchst du, bis du hier bist?“ er klang, als hätte ich ihn gerade aus dem Bett geholt.

„Zu Fuß so 20 Minuten?“ schätze ich kurz ab.

„Ok, dann bis gleich.“ Gähnte er.

„Bis gleich.“

Noch bevor er etwas anderes sagen konnte legte ich auf. Schade, ich hätte gehofft, er würde mich mit seinem Fahrrad abholen. Egal, in etwa 20 Minuten war ich bei ihm. Und ich musste heute Abend nicht nach Hause. Ich hatte meiner Mum gesagt, ich wäre bei einer Freundin. Sie fragte nicht näher nach, bei wem ich genau sein würde, sie hatte offenbar sowieso den Überblick verloren. Oder es interessierte sie schlicht weg nicht. Mum wusste, daß ich immer wieder heil nach Hause kommen würde. Das genügte ihr offensichtlich.

Trotz der Tatsache, daß ich den langen Weg zu Fuß zurücklegen sollte, machte ich mich beschwingt auf den Weg. Wir hatten Mitte Julie und die Himbeeren waren teilweise schon reif. Leider fand ich unterwegs nicht besonders viele, aber die wenigen waren wirklich lecker. Ich genoss die Vorfreude auf die kommenden Stunden. Stunden, in denen ich mit Marco allein sein würde. Stunden, in denen ich ihn ganz für mich alleine hatte.

Ich würde bei Ihm übernachten.

Vollkommen klar, was noch passieren würde.

Schließlich wäre es ja auch nicht das erste Mal.

Es wäre jetzt das zweite Mal.

Aber dieses Mal würde ich nicht abbrechen.

Wieso hatte ich das damals eigentlich gemacht?

Ich konnte mich nicht erinnern. Ich konnte mich aber doch an alles andere erinnern? Ich konnte mich tatsächlich an den ganzen Tag erinnern. Ich hatte damals ein Lied entdeckt, „This one“ von Paul McCartney. ‚If I never did it, I will only waiting, for a better moment, that didn´t come.’ Hieß es es im Refrain.

Wenn ich es nie tue, werde ich nur warten, auf einen besseren Moment, der niemals kommt.

Und das hab ich mir zu Herzen genommen.

An dem Tag, als er mich in den Klosterholzweg entführte. Ich wollte nicht warten, auf einen besseren Moment, der vielleicht nie kam.

Wie er mich entführt hat, konnte ich mich erinnern. Wie wir im Flur auf der decke lagen, wie er mir leise sagte: „Baujahr 72 ist Baujahr 72!“ Als hätte er meine Gedanken erraten.

Und wie ich mich darauf einließ, alle Grenzen zu sprengen und keine Regeln mehr zu beachten.

Auch wie er mich danach im Arm hielt, als ich weinte.

Aber warum ich abgebrochen hatte, daran konnte ich mich beim besten Willen nicht erinnern.

Ach, das war doch ganz egal.

Ich war verliebt wie der junge Frühling und heute und die ganze Nacht würde ich mit Marco zusammen sein. Ganz allein. Nur Marco und ich. Und ich war frei. Wir würden niemandem Rechenschaft schuldig sein.
 

Endlich war ich am Haus von Marco angekommen und klingelte an der Tür. Es dauerte einen Moment aber dann kam er und machte mir auf.

„Komm rein.“ Murmelte er leicht verschlafen. Und so sah er auch aus.

Er hatte nur ein knitteriges weißes T-Shirt an und eine schlodderige Jogginghose.

„Sach mal, bist du gerade erst aus der Koje gerollt?“ fragte ich ungläubig.

„Hmmhmm.“ Brummte er nur.

„Ich geh mich mal anziehen.“ Nuschelte er dann. „Du kannst ja schon mal ins Wohnzimmer gehen.“

Ich begab mich also ins Wohnzimmer, wo der Fernseher bereits lief. Ich setzte mich auf das Sofa, auf dem er mit mir vor wenigen Tagen noch gekuschelt hatte. Ich rief mir die vergangenen Stunden wieder in Erinnerung und lächelte selig in mich hinein.

Nach einer Weile kam Marco dann gekämmt, gewaschen und angezogen zu mir. Er trug jetzt ein anderes weißes T-Shirt, zumindest sah es so aus. Es war irgendwie heller und auch nicht so zerknittert. Und er hatte eine schwarze Jeans an.

‚Wow!‘ dachte ich nur.

‚Zum Anbeißen!‘

Ich weiß nicht, wieso, aber ich fand daß er wahnsinnig appetitlich aussah.

Er blieb einen Moment stehen, als er meinen Blick bemerkte. Vielleicht war es auch der Sabber, der mir aus den Mundwinkeln lief und sich an langen Fäden abseilte, den er bemerkte.

Er stellte sich lässig hin, grinste mich schelmisch an und meinte nur:

„Was?“

Ich himmelte ihn weiter an und sagte nur:

„Nichts.“

„Na, dann ist ja gut.“ Meinte er dann und kam zu mir. Ziemlich ungalant warf er sich neben mir auf das Sofa und fiel sofort über mich her.

Ich wehrte mich nur wenig. Eigentlich wollte ich ja, daß er das tat.

„Wann geht der Film denn los?“ fragte ich ihn zwischen zwei Küssen.

„Um viertel nach drei. Es reicht, wenn wir gegen zwei losgehen.“ Gab er zur Antwort und wollte mir dann einen Knutschfleck am Hals machen.

Ich wehrte mich entschieden.

„Was denn? Ralf ist doch weg?“ maulte er grinsend.

„Das stimmt schon“, gab ich zur Antwort. „Aber das heißt nicht, daß ich jetzt Knutschflecken toll finde. Außerdem ist es gleich schon zwei.“

Marco sah auf seine Armbanduhr und dann auf die Uhr an der Wand.

„Stimmt auffallend.“ Pflichtete er mir bei.

Er sprang genauso uncharmant auf, wie er sich zuvor zu mir auf das Sofa geworfen hatte.

„Dann sollten wir mal losgehen.“ Fügte er hinzu und schnappte sich seine Weste.

Ich hatte nur meine kleine Handtasche dabei, in der ich die wichtigsten Dinge hatte. Meine Zahnbürste, Zahnpasta, Kajal, Makeup, einen Lippenstift, meine Pille und meine Zigaretten nebst einem Feuerzeug. Mein Portemonnaie hatte ich in der Gesäßtasche meiner Jeans.

„Warum ziehst du nicht mal ein Kleid an?“ fragte Marco.

„Weil du dann ständig deine Hände unter meinem Rock hättest!“ gab ich schlagfertig zur Antwort.

„Ich doch nicht!“ prustete er entrüstet.

„Ich bin ganz harmlos!“

„Ja“, lachte ich. „So harmlos wie ein Wolf im Hühnerstall!“

Der Weg zum Kino, zu dem wir wollten, war nicht gerade kurz. Aber auch nicht so lang, daß man es zu Fuß nicht schaffen könnte. Wir gingen rechtzeitig los und das Wetter war bombig. Er nahm wieder meine Hand und ich wäre am liebsten gehüpft wie ein kleines Mädchen.

Wir gingen seinen Schulweg, seinen ehemaligen Schulweg. Als wir an der Scheune vorbeikamen musste ich schmunzeln.

„Weißt du noch, vor ein paar Wochen?“ sagte er dann zu mir.

Ich nickte nur mit dem Kopf und grinste in mich hinein.

Er dachte auch gerade an die Zeit, an die Stunden, die wir uns hier getroffen hatten. Heimlich, vor den Mitschülern versteckt. Wir hatten uns solche Mühe gegeben zu verheimlichen, daß wir uns schon kannten. Und trotzdem haben es alle gewusst. Sogar die Lehrer!

Wir gingen an der Schule vorbei, die Straße hinunter und bald waren wir dann auch am Palast-Kino angekommen. Wir hatten noch eine viertel Stunde Zeit und schmökten noch eine, bevor wir dann das Kino betraten.

Natürlich durfte ich meine Karte selbst bezahlen. Und natürlich durfte ich mich auch selbst mit Popcorn und Cola versorgen.

Das ärgerte mich schon irgendwie, aber so war er halt: Seltsam. Aber ich liebte ihn. Vielleicht sogar eben deswegen.

Wir hatten zwei Plätze ziemlich in der Mitte des Kinos. Wir saßen ein bisschen rechts und auch einige Reihen weiter vorne, als ich es sonst gewohnt war. Wenn ich mit meiner Familie oder mit Ralf im Kino war, haben wir immer ganz hinten in der Mitte gesessen.

Marco wollte aber nicht so weit hinten sitzen und ich fügte mich. Hauptsache er war da, ganz nahe bei mir und nur für mich da.

Endlich begann der Film, König der Löwen.

Es war ein schöner, aber auch sehr trauriger Film. Kaum das Mufassa von den Antilopen überrannt und getötet wurde, fing ich an zu weinen. Als der kleine Simba dann über seinem Vater stand und ihn anflehte, doch wieder aufzustehen, war ich endgültig am schluchzen.

Marco war ganz erschüttert und verlegen. Anfangs versuchte er noch mir die Tränen wegzuwischen und mich zu trösten. Dann hielt er mich einfach nur im Arm und war da.

Als der Film dann zu Ende war gingen wir direkt wieder zu ihm nach Hause.

„Was gibt es denn zum Abendbrot?“ fragte ich ihn.

„Ich weiß nicht? Mich?“ grinste er.

„Ich meine eigentlich etwas, daß man gegen den Hunger isst.“ Erklärte ich ihm.

„Essen? Nö, hast du dir nichts mitgebracht?“

Äh, hallo? Meinte er das jetzt ernst? Bei Marco konnte ich mir da nie sicher sein.

Ich war etwas angesäuert, wollte aber die gute Laune nicht verlieren.

„Nein, hab ich nicht. Ich dachte, du hättest etwas da?“ sagte ich dann zu ihm.

„Naja, ich hätte vielleicht noch eine oder zwei Tiefkühlpizzen da. Eventuell auch noch Baguettes.“ Überlegte er dann laut.

Als wir dann bei ihm waren bestand das Abendbrot tatsächlich aus vier Baguettes. Zwei mit Schinken und zwei mit Salami. Ich bekam eines mit Salami, die anderen drei verputzte Marco.

Dafür hatte er aber reichlich Cola und Zigaretten da. Nur gut, daß ich mir gerade erst eine frische Schachtel Zigaretten gekauft hatte, Marco hatte nämlich nicht vor mir eine von seinen Zigaretten abzugeben.

„Ich bin doch 14 Tage lang ganz alleine und hab kein Geld. Irgendwie muss ich ja über die Runden kommen.“ Ereiferte er sich wild gestikulierend.

Man, mit dem Kerl hatte man echt nur Schwierigkeiten.

Nach dem Essen wollte er dann duschen. In der Badewanne, weil eben keine separate Dusche vorhanden war. Oder alternativ drüben in der Frieholtschule, aber ich wollte nicht erst halb nackt im Handtuch da rüber hopsen.

„Ich hab noch den Badeanzug, den du letztes Mal anhattest.“ Wollte mich Marco aufmuntern und überreden, doch rüber in die Schule zu gehen.

„Neh, lass mal, in der Wanne geht das sicher auch.“ Gab ich dann zurück.

Also duschten wir in der Wanne, stehend. Als ich so an ihm runter guckte, fiel mir auch wieder ein, warum ich damals, bei unserem ersten Mal im Klosterholzweg, abgebrochen hatte. Oder besser: Es fiel mir auf. Das Ding war einfach zu groß!

Kapitel VI
 

Zuerst taten wir das, was man gemeinhin unter der Dusche machte: Wir seiften uns ein, wuschen die Haare, spülten die Seife aus den Haaren und von der Haut wieder ab und genossen einfach das warme Wasser. Naja, eigentlich genoss Marco das warme Wasser. Ich stand eigentlich nur vor ihm und bekam die kalten Sprasel ab. Als ich mich beschwerte, daß mir ziemlich kalt wurde, verdrehte er wieder das Nette in kleine Gemeinheiten.

Er hielt mir die Duschbrause mitten ins Gesicht.

"Ist es so besser?" fragte er dann gekünstelt fürsorglich.

"ARGHHH!" prustete ich.

"Du Rüpel!"

Ich versuchte mein Gesicht mit den Händen vor den Wassermassen zu schützen und gleichzeitig Marco die Dusche zu entreißen. Natürlich hatte ich keine Chance. Dadurch, daß Marco die zwei kurzen Daumen, oder großen Zehe an den Händen hatte, hatte er irgendwie einen anderen Griff, wenn er etwas festhielt. Ich bekam einfach seine Finger nicht auseinander geschweige denn den Duschkopf zu fassen!

Das Ende des Desasters war dann auch eines. Das Bad stand unter Wasser. Gründlich! Sogar das Toilettenpapier im Schränkchen neben der Toilette war nass!

"Ooops!" machte Marco nur und lachte lausbübisch.

"Na super, dann kann ich morgen erstmal Klopapier kaufen gehen!" kicherte er.

"Na, dann mal viel Erfolg!" zog ich ihn auf.

"Warum?" Marco sah mich ehrlich erstaunt an.

"Meinst du, ich kann kein Klopapier kaufen?" erwirkte leicht beleidigt.

"So ungefähr" erwiderte ich.

"Es sei denn, du kennst einen Kiosk, der Klopapier verkauft." lachte ich dann.

"Wieso? Ach so, ja, heute ist ja Samstag." begriff er endlich.

"Na gut, dann halt nicht."

Er trocknete sich ab und gab mir auch ein Handtuch. Als wir soweit trocken genug waren benutzte er die Handtücher, um das Wasser vom Boden aufzuwischen.

Dann warf er die zusammengeknüllten komplett mit Wasser getränkten Handtücher in den Wäschekorb.

"Du solltest sie vielleicht lieber über den Wannenrand hängen. Wenn du die jetzt so triefnass in den Wäschekorb knüllst, fangen die nach ein paar Tagen an zu müpfeln. Ich denke ja mal nicht, daß du vor hattest zu waschen." erklärte ich.

"Meinst du? Na ja, kann man ja mal machen. Und nee, ich wollte bestimmt nicht anfangen den Haushalt zu machen." entgegnete er.

Marco zog sich ein T-Shirt und die schlodderige Trainingshose vom Morgen an. Da ich keine Wechselklamotten dabei hatte, gab er mir ein T-Shirt von sich.

"Und für unten?" ich guckte ihn leicht angesäuert, leicht belustigt an.

"Wieso? Brauchst du doch nicht. Ich zieh dich ja sowieso gleich wieder aus." er grinste mich ausgesprochen frech an und wollte mir gleich mal zeigen, wie schnell er an Ort und Stelle sein könnte, wenn er wollte. Ich war allerdings ein bisschen schneller und wehrte ihn ab.

"Du Lustmolch!" ich kreischte fast. Schaffte es aber immer wieder mich aus seiner Reichweite zu winden.

Nachdem wir dann etwa eine viertel Stunde auf diese Weise 'diskutiert' hatten, bekam ich dann doch zumindest eine Wolldecke.

Wir gingen wieder ins Wohnzimmer und flezten uns auf das Sofa. Marco hatte einen Film bei Monitor ausgeliehen und schon in den Recorder gelegt. Ich hatte schon befürchtet, daß er den Terminator oder sonst einen Action-Film ausgeliehen hätte. Aber sehr zu meiner Überraschung war es tatsächlich ein Film, den ich auch gucken mochte. Zurück in die Zukunft mit Michael J. Fox.

Ich lag in Marcos Armen. Gelegentlich küsste er mich zwischendurch. Er wirkte dann so, als wäre ihm eingefallen, was er gerade machen wollte. Oder er überfiel mich einfach aus einem Impuls heraus. Er konnte auf seine Weise schon nerven, aber ich konnte ihm trotzdem nicht widerstehen. Irgendwie war das ganz süß an ihm.

Natürlich versuchte er auch auf die verschiedenste Art und Weise unter meine Wolldecke zu greifen. Ich schaffte es aber immer wieder ihn abzuwehren. So ein Schlawiner.

Als der Film zu Ende war, war die Uhr halb 11. Draußen war es immer noch recht hell. Wir hatten immerhin Hochsommer und im hohen Norden wird es im Hochsommer zur Sommersonnenwende nicht dunkel. Jedenfalls nicht komplett. Wir haben dann gegen Mitternacht einen Sonnenuntergang der dann Stufenlos in den Sonnenaufgang übergeht und es wird wieder hell.

Allerdings war in der Stadt, oder in diesem Fall am Stadtrand nicht sehr viel los in der Nacht. Auch nicht im Sommer und auch nicht in den Sommerferien. Sicher, irgendwo startete immer eine Party. Aber wir waren nirgendwo eingeladen und wir wussten auch von keiner Fete, auf der wir uns hätten einladen können. Wir wollten auch nicht in die Stadt runter an die Küste. Da wären auch genug Möglichkeiten, sein Taschengeld unter die Leute zu bringen. Aber eigentlich wollten wir jetzt nur mit uns alleine sein.

Also machte Marco die Geräte im Wohnzimmer aus und wir gingen in sein Zimmer.

Sein Sofa war gleichzeitig auch sein Bett. Wir mussten nur die Arm- und die Rückenpolster wegnehmen, die Sitzfläche mit einem Bettbezug beziehen und die Bettwäsche drauflegen, dann hatten wir ein Bett. Ich bekam sogar ein eigenes Kissen und eine Decke. Das Bett war nicht gerade besonders groß, aber wir waren ja beide schlanke Menschen und für eine Nacht sollte das kein Problem sein. Davon mal abgesehen würden wir sicher nicht all zu weit voneinander weg liegen. Platz ist in der kleinsten Hütte.

Marco legte sich ins Bett unter seine Decke und ich kuschelte mich bei ihm ein. Nicht lange und er lag über mir und wir küssten uns. Lange und intensiv. Marco ließ seine Küsse jetzt auch an andere Stellen wandern, immer tiefer an meinem Körper herunter.

"Magst du das?" fragte er dann.

So ein Blödmann. Er hatte wirklich ein einmaliges Talent eine halbwegs romantische und prickelnde Stimmung zu schräddern.

"Sollen wir uns jetzt unterhalten?" fragte ich dann ein bisschen patzig.

"Weiß nicht, mal gucken?"

Er unterbrach seine Küsse nicht und er überging auch meine patzige Antwort. Dennoch hatte ich eben nicht vor auszudiskutieren, was ich mag und was nicht. Ich würde mich schon rechtzeitig melden, wenn ich etwas zu sagen hätte. Und im Moment wollte ich garantiert nicht reden...
 

Wenn ich eine Katze gewesen wäre, dann hätte ich sicher laut und zufrieden geschnurrt. Ich lag in Marcos Arm an seiner rechten Seite und schnappte noch immer ein wenig nach Luft.

"Gib mir doch bitte mal die Zigaretten und den Ascher." Sagte Marco und streckte seinen freien Arm schon mal aus, um das geforderte entgegen zu nehmen. Ich reichte ihm die Schachtel und das Feuerzeug, was beides Neben dem Bett auf der Fensterbank lag. Der Aschenbecher stand auch dabei, aber den stellte ich ihm auf den nackten Bauch.

"Urghs!" keuchte Marco und krümmte sich zusammen wie eine Krabbe im Kochtopf.

"Sag mal spinnst du? Willst du mich umbringen?" pöbelte er und ging sofort zum Gegenangriff über. Er kitzelte mich, wo auch immer er mich zu fassen bekam. Und da ich wirklich überall kitzelig war, krümmte ich mich jetzt wie eine Krabbe. Wir kabbelten uns nicht lange, dafür waren wir noch viel zu erschöpft.

Marco zündete zwei Zigaretten gleichzeitig an und gab mir eine.

"War das schön?" fragte er mich dann.

Boah, der kann Fragen stellen. Irgendwie ein bisschen subtil, meiner Meinung nach.

"Ohch, naja, ging so." Wer blöd fragt, bekommt eben blöde Antworten.

"Ach so!" ereiferte sich Marco dann.

"Ich kann ja gehen! Neeh, Moment, DU kannst ja gehen. Ich wohne hier." sprudelte er dann heraus.

"Und wie soll ich nach Hause kommen?" fragte ich dann.

"Das ist ja nicht mein Problem." grinste Marco mich an.

"Du schmeißt mich doch jetzt nicht wirklich raus, oder?" fragte ich ihn. Ich verstand ihn einfach nicht, erst war er total süß, dann wurde er frech. Dann war er wieder zum Verlieben und im nächsten Moment hätte ich ihm in die Familienjuwelen treten können. Wer soll da denn noch mitkommen!

"Du kannst es ja mal ausprobieren." Ja, er wusste, daß er eindeutig am längeren Hebel saß.

"Nö, lass man, keine Lust." Ich wollte das lieber nicht riskieren. Am Ende setzte er mich tatsächlich vor die Tür.

"Na, dein Glück." sagte er nur und drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus, der inzwischen auf seiner Decke stand, die er sich bis zum Hals hochgezogen hatte.

"Man rauchst du schnell. Ich hab ja noch fast meine halbe Zigarette." stellte ich fest und zeigte ihm zum Beweis meinen Rest.

"Na, da sind ja noch ein paar Züge dran." bestätigte er und nahm mir die Kippe gleich aus der Hand um noch mal ordentlich daran zu ziehen.

Da ich absolut nicht damit gerechnet hatte, hatte er auch keine Schwierigkeiten, sich meine Zigarette anzueignen.

"Hey, das war meine!" protestierte ich.

"Bist du sicher? Immerhin stammt sie aus meiner Schachtel." rechtfertigte Marco sich.

Mir blieb nichts anderes übrig, als ihm meine Zigarette zu lassen. Wenn wir jetzt auch noch um brennende Gegenstände kämpfen wollten, dann würde das sicher nicht ohne Feuerwehr enden.

Ich war nun endgültig mucksch und brummelte unartikulierte Laute in seine Achselhöhle. Immerhin gab er mir doch noch einen kleinen Rest. Man sagt ja immer bei einer Zigarette: Bis zur Schrift, der Rest ist Gift. Nun, die Schrift war schon nicht mehr zu lesen.

„Du kannst sie dann auch ausmachen.“ Sagte er gönnerhaft und ich konnte hören, wie er grinste!

„Danke, zu freundlich!“ gab ich beleidigt zur Antwort.

Ich zog ganz vorsichtig noch mal an der heißgerauchten Kippe und drückte sie im Ascher aus.

„Stellst du den mal bei Seite?“ Marco reichte mir den Aschenbecher und ruckelte sich genüsslich in seine Kissen.

Das elektrische Licht hatten wir längst aus.

Ich lag in seinem Arm und meine Gedanken rasten. Ich dachte an den vergangenen Tag, ans Kino, wie wir Hand in Hand hingegangen waren, wie selig ich mich bei ihm fühlte. Wie wir im Kino saßen, wie ich mich darüber gefreut hatte, daß Marco keine Fernbedienung in der Hand hatte. Normalerweise blieb bei ihm kein Programm lange an, selbst wenn man beim Herumswitchen einen Film oder eine Serie fand, die man angucken könnte. Das nervte mehrfach!

Dann hab ich über den Film nachgedacht, wie Marco feststellte, daß ich weinte, wie er zuerst versucht hatte, mich zu trösten. Dann hatte er mich einfach ganz fest im Arm gehabt. Es war so schön. Auch wenn diese dämliche Armlehne in meinen Rippen weh getan hat. Das würde sicher noch blau werden. Aber dann hätte ich ein sichtbares Zeichen an der Seite, daß ich wirklich mit Marco zusammen im Kino war und nicht geträumt hatte.

Auf dem Nachhauseweg sind wir einige Umwege gegangen, auch an Schrebergärten vorbei und lauter verschlungene Pfade, die ich allein sicher nie wieder finden würde.

Ich dachte an früher, wo er mit mir in der Bushaltestelle in Mürwik saß, mit seinen kalten Händen auf meinem Rücken. An die Schulzeit, die ich mit ihm zusammen verbracht hatte. Ich hatte da eine neue Kassette, auf der waren ein paar sehr schöne Münchner-Freiheit-Lieder drauf. Ich sah Marco im Dunkeln an und musste ganz besonders an ein Lied denken:
 

„Nacht im Raum, seh dich kaum, Mondlicht auf der Haut.

Bilder so vertraut.

Das bist du.

Weit und breit, steht die Zeit, kann dich atmen hörn,

Deine Nähe spür´n,

Das bist du.

Niemand weiß was wir beide erleben.

Niemals waren sich Wünsche so nah.

Niemand weiß was wir beide uns geben.

Wir allein wir sind hier wir sind da

Komm und flieg mit mir, übers Meer, träum von weißem Sand.

Gib mir deine Hand

Hör mir zu

Niemand weiß was wir beide erleben,

Niemals waren sich Wünsche so nah,

Niemand weiß was wir beide uns geben

Wir allein wir sind hier wir sind das wir sind

Hmmm hm hmmm…"
 

Und so war es ja auch. Niemand wusste, was Marco und mich verband, nicht mal wir selbst. Aber noch mehr konnte niemand nachvollziehen, was wir beide uns gaben und wie nahe wir uns wirklich waren.

Ich hatte ernsthafte Schwierigkeiten zu schlafen. Manchmal, so ganz kurz zwischendurch begannen meine Gedanken sich selbständig zu machen und ich war dabei in den Schlaf zu gleiten. Aber sobald ich soweit war, kamen meine Gedanken zurück und ich war wieder mehr wach als schlafend.

Ich hatte einfach Angst, ich könnte etwas von Marco verpassen.

Ihm schien es allerdings nicht anders zu gehen. Wann immer ich auch nur tief Luft holte, streichelte er mir mit seiner rechten Hand die Seite, als wolle er mich beruhigen und sich selbst versichern, daß ich noch da war. Ich lächelte dann immer ins Halbdunkel, ich glaubte zu spüren, daß er genauso fühlte wie ich.
 

Am Morgen war ich einigermaßen gerädert. Ich hatte kaum geschlafen, ich glaube, die letzten zwei Stunden war ich dann in ein Erschöpfungskoma gefallen. Dennoch gelang es mir nicht noch mal wieder einzuschlafen, als ich erstmal zu Bewusstsein gekommen war. Vor allem als mir bewusst wurde, WO ich zu Bewusstsein gekommen war.

Marco war auch verhältnismäßig früh wach. Normalerweise konnte er wirklich bis in den Nachmittag hinein schlafen, jedenfalls sagte er mir das. Aber an diesem Sonntag waren wir bereits um 10 so wach, daß wir wirklich nicht mehr liegen bleiben konnten.

Ich ging ins Bad und putzte meine Zähne, wusch mich kurz und versuchte meine Haare zu sortieren. Ich hatte meine Haarbürste vergessen. Naja, egal, sehe ich halt aus wie Edward mit den Scherenhänden.

Als ich aus dem Bad rauskam kam Marco mir entgegen geschlurft. Er bekam die Augen kaum auf und auch er sah auf dem Kopf aus, als hätte er letzte Nacht mit Mäusen gekämpft. Er brummelte irgendetwas Unartikuliertes in seinen nicht vorhandenen Bart und schlurfte mit hängenden Armen an mir vorbei ins Bad.

Du meine Güte, darauf hätte er mich vorbereiten sollen!

Ich suchte meine Kleidung zusammen und zog mich an. Dann wusste ich nicht, was ich tun sollte. Einfach ins Wohnzimmer gehen und mich vor den Flimmerkasten hocken wollte ich nicht, immerhin wohnte ich hier nicht.

In die Küche gehen und Frühstück machen war aus demselben Grund nicht gerade empfehlenswert. Also setzte ich mich auf Marcos Bett und machte mir eine Zigarette an. Auf seinem kleinen Schreibtisch stand eine angebrochene Flasche Cola. Ich schnappte mir die Flasche und wollte einen ordentlichen Schluck daraus trinken, habs dann aber bei einem kleinen Nipp gelassen. So ganz ohne den Ansatz eines Kohlensäuregehaltes war diese Plörre einfach ungenießbar!

Na gut, dann eben auf Marco warten und hoffen, daß er ein halbwegs passables Frühstück hatte. Eine Scheibe Brot wäre schon nicht schlecht.

Ich hatte gerade meine Zigarette im Ascher ausgedrückt als Marco ins Zimmer kam. Er war wie ausgewechselt. Gekämmt, angezogen und mit Zahnpasta-Werbe-Grinsen kam er rein und flötete: „Guten morgen.“

Wäre ich es nicht längst schon gewesen, hätte ich mich sofort in ihn verliebt.

„Ich muss was essen.“ Sprachs und verschwand wieder aus dem Zimmer.

Ich hielt das für eine Aufforderung ihm zu folgen und hüpfte beschwingt von Marcos Bett und taperte hinter ihm her in die Küche.

Dort stand er am offenen Kühlschrank, bis an die Hüften war er darin verschwunden.

Er holte Margarine, Käse und Wurst hervor und holte aus einem Schrank eine Packung Brot. Dann suchte er noch ein Brett und ein Messer hervor und begann sich sein Frühstück zu machen.

Ich stand etwas desorientiert in der Küche und wusste nicht so recht, was ich machen sollte.

Marco schien meinen Blick gespürt zu haben und drehte sich halb zu mir um.

„Is was?“ fragte er mit Schalk in den Augen.

„Ja, was ist mit mir?“ antwortete ich vorsichtig. Seine Augen waren jeansblau. Das waren sie immer, wenn er Flausen im Kopf hatte.

„Wieso?“ fragte er unschuldig. „Hast du dir nichts mitgebracht?“

ARGH, so ein Widerling!

„Nein, hab ich nicht. Ich dachte, du hättest mich eingeladen.“ Antwortete ich beleidigt.

„Das schon, aber nicht zum Essen.“ Grinste er. Er schien es wirklich zu genießen, mir immer wieder vor den Kopf zu stoßen.

Kein Wunder, daß Natascha mit ihm Schluss gemacht hatte.

Mir fehlten schlicht die Worte und ich schnappte nur nach Luft.

Ich war ernsthaft sauer!

„Hier, komm her, hier hast du ein Stück Brot.“ Grinste er dann gönnerhaft.

„Neeh, lass man! Bin eh auf Diät!“ gab ich zickig zurück.

Der kann sein altes dröges Brot von mir aus alleine kauen!

„Wirklich nicht?“

Er hielt mir jetzt ein Stück Graubrot mit Margarine unter die Nase und hatte irgendwie etwas leicht Überhebliches an sich. Vor allem amüsierte er sich köstlich auf meine Kosten.

„Nö!“ gab ich sehr kurz zur Antwort.

„Jetzt will ich nicht mehr!“ sagte ich patzig.

„Na gut, dann nicht.“ Er zuckte nur kurz mit den Schultern und drehte sich wieder um zu seinem Brett.

Er VERSUCHTE nicht mal, mich davon zu überzeugen, doch ein Stück Brot zu essen. Ja sach ma, hatte dieser Typ denn wirklich überhaupt kein Feingefühl?

Ich kochte innerlich und unter meiner Schädeldecke sammelte sich mit bedrohlicher Druckentwicklung der Dampf, den ich jetzt nun wirklich nicht ablassen konnte! Die Genugtuung würde ich ihm nicht geben! So ein Blödian!

Als der Blödian dann mit seinem Frühstück, das er im Stehen einnahm, fertig war fragte er mich wann mein Bus denn fährt.

„Ach so!“ keifte ich jetzt fast. „Willst du mich auch schon wieder los werden!“

„Joa!“ griente er hinterlistig.

Ich wusste ehrlich nicht, was ich davon halten sollte.

„Der nächste geht um 12 vom ZOB aus. Der müsste dann um 10 nach 12 in Engelsby sein!“ klärte ich ihn patzig auf.

„Willst du mit dem Bus fahren? Oder ist da noch später einer?“ fragte er. Er ging nicht im Geringsten auf meine Laune ein. Er blieb einfach irgendwie rotzfrech! Er schien das für ein lustiges Spiel zu halten, jedenfalls grinste er immer noch hochvergnügt. Mir war allerdings wenig zum Lachen zu Mute.

„Du willst mich doch loswerden!“ maulte ich ihn pampig an.

„Naja, dann fährst du halt mit dem um 12.“ Marco zuckte mit den Schultern und grinste weiter.

„Jetzt ist es halb 12, soll ich dich mit dem Fahrrad hinbringen?“ plauderte er.

„Weiß nicht, willst du?“ Irgendwie war ich jetzt sauer, daß er mich nicht überredete, doch den späteren Bus zu nehmen.

„Kann ich ja.“

Marco schien es überhaupt nicht mit zu bekommen, daß ich stinksauer auf ihn war. Oder er missachtete das erfolgreich. Beides fand ich überhaupt nicht liebenswert.

Schlussendlich fuhr er mich dann tatsächlich mit dem Rad nach Engelsby und ich stieg tatsächlich in den Bus, der um 10 nach 12 in Engelsby abfuhr. Und wir hatten keine neue Verabredung gemacht.

„Du kannst ja anrufen, wenn du Lust hast. Vielleicht hab ich ja Zeit.“ Sagte er wie nebenbei, setzte sich auf sein Rad und verschwand.

Super! Ich war sauer! Mochte er mich doch nicht? War ich nur eines seiner Betthäschen? Aber warum hab ich mich dann so wohl bei ihm gefühlt? So sicher? Warum hatte ich so viel Vertrauen in ihn, wenn er mich doch nicht mochte?

Ach man, versteh einer diesen ungehobelten Dumpfbeutel!

Kapitel VII
 

„Ich brauche dringend eine Pause, ich bin schon fast heiser.“ Ich sehe auf mein Glas Cola, aber es ist so gut wie leer.

„Wie Pause, du kannst doch jetzt keine Pause machen. Wir können eine Rauchen gehen, dann wird auch deine Stimme schon wieder geschmeidig.“ Nicole springt eifrig auf und zerrt mich beinahe in meine Küche.

„Ok, eine Zigarette ist eine gute Idee.“ Stimme ich zu.

„Boa, das Wetter wird auch nicht besser.“ Sagt Nicole, als sie aus dem Fenster guckt.

„Inzwischen ist der Sturm so stark, daß man meinen könnte, der Regen fällt nicht, sondern er steigt diagonal hoch.“ Nicole reicht mir eine bereits brennende Zigarette.

„Musst du nicht bald nach Hause?“ frage ich sie.

„Wieso, wie spät ist es denn?“ Nicole guckt auf ihre Uhr.

„Ach du meine Güte. Schon fast drei Uhr. Wann kommen denn deine Jungs nach Hause?“

„Och, die sind mit Papa im Sumsum, ich schätze mal, daß die nicht vor heute Abend nach Hause kommen.“

„Im Sumsum? Bei dem Wetter?“

„Naja, das Meiste ist doch überdacht.“ Winke ich ab.

„Na, dann haben wir noch ne Menge Zeit. Neh, warte mal, ich hab um vier eine Verabredung… Moment…“ Nicole holt ihre Handtasche und gräbt darin nach etwas.

„Das muss doch hier… Ah da ist es ja.“ Sie holt ein Handy aus der Tasche hervor und wählt gleich die Nummer.

„Ich muss mal kurz telefonieren. Ja? Katja? Ich bins, Nicole. Du, wir waren doch heute Nachmittag verab… Ja? Nicht? Wieso… Ach so. Na gut. Alles klar. Rufst du an? Super. Nein, heute Abend bin ich wohl nicht zu Hause. Genau. Rufst einfach morgen an. Supie, alles klar, dann bis neulich. Tschüs.“ Ok, alles klar. Katja mag bei dem Wetter nicht vor die Tür, kann man ihr nicht verübeln, ich bin auch froh, daß ich nicht unterwegs sein muss.“

Nicole strahlt über das ganze Gesicht.

„Mein Männe kommt auch erst morgen Nachmittag nach Hause, wir haben also ein paar Stunden gewonnen.“

„Boah, ich bin schon total kratzig im Hals.“ Jammere ich und reibe meinen Kehlkopf.

„Hier wird nicht genörgelt. Also, wie geht es weiter? Ihr seid ja noch nicht zusammen, oder?“ Nicole macht sich direkt ihre zweite Zigarette an und legt mir die Schachtel so hin, daß ich mir auch eine nehmen kann, wenn ich möchte.

„Versuchst du jetzt, mich mit Kippen zu bestechen?“ necke ich sie.

„Jup! Man kann es ja mal versuchen.

Dieser Marco ist aber wirklich ein seltsamer Kautz. Was hast du an dem Gefunden?“

„Kann ich dir nicht sagen. Eigentlich hatte ich immer das Gefühl, daß er sensibel und feinfühlig wäre. Daß er auch zwischen den Zeilen lesen kann und einfach nicht so eine Dumpfbacke wäre. Ich glaube, das war auch oft ein Grund, warum wir uns dann nicht mehr ertragen konnten.“

„Aber du hast auch ganz schön zickig reagiert.“ Fügt Nicole an.

„Das stimmt. Wir waren beide noch jung. Er Gigolo, ich Zicke.“ Sage ich nachdenklich lächelnd.

„Wieso Gigolo?“ Nicole macht große Augen.

„Naja, ich war nicht die Einzige. Er hatte neben mir sicher noch vier bis fünf andere Mädchen laufen.“

„Er hat WAS? Und du hast dir das gefallen lassen?“ Sie wirkt geschockt.

Ich grinse verlegen.

„Naja, schon. Normalerweise ist das auch nicht mein Stil, aber ich wollte etwas von Marco abhaben, um jeden Preis. Und da hab ich das toleriert. Wir waren uns auch dahingehend einig: Keine Eifersucht.“

„Hattet ihr darüber gesprochen und das so abgemacht? Wie krass!“ Nicole verschränkt ihre Arme vor der Brust und sieht mich böse und verständnislos an.

„Nein, das war wie mit der Schule. Wir mussten uns nicht darüber unterhalten. Das war einfach für beide klar. Es lief von selbst.“ Erkläre ich ihr.

„Du warst nicht eifersüchtig auf die anderen Weiber?“ Nicol kommt aus dem Staunen nicht raus.

„Doch! Und wie! Aber ich durfte nicht eifersüchtig sein. Das war die Bedingung. Genauso durfte er aber auch nicht eifersüchtig sein, wenn ich einen Freund hatte.“

„Ja, hattest du denn überhaupt andere Freunde? Du wolltest doch Marco, oder nicht?“

„Doch, ich hatte schon andere Typen. Wenn du so willst, dann war das Jahr, in dem ich jetzt angekommen bin, mein wildes Jahr.

Erst war ich mit diesem Türken Murat zusammen, für vier Wochen und außer Küssen lief nix. Dann hat ein Jonas, den ich mal auf dem Jahrmarkt getroffen hab, spontan beschlossen, daß ich jetzt mit ihm gehe, als er hörte, daß ich solo war. Naja, ich fand ihn auch ganz süß. Aber er war ein Stümper in jeder Beziehung. Keine Gefühle, alles nur der Sache wegen. Meine Mum hat ihn immer „Blondgefärbtes Abziehbild“ genannte. Das hielt nur drei Monate. Ich war dann noch mal einen Nachmittag bei Marco.“ Ich zähle die Ereignisse an meinen Fingern ab.

„Danach war ich mit Victor zusammen, der Typ, der mir damals nachgestellt hatte, als Marco meinen Guardian Force machte. Das waren zwei Monate. Während dieser zwei Monate lernte ich Donald kennen. Der war auf See und ich hab geschrieben, dann hat er geschrieben, den Brief hab ich Victor gezeigt und dann war ich mit Victor auseinander und abends…“

„Halt, halt, halt!“ unterbricht mich Nicole. „Mal langsam. Bis zu Victor konnte ich noch folgen. Dann hast du einen Brief geschrieben, an wen? Weswegen?“

„Ok, der Reihe nach. Ich war also schon seit einigen Wochen mit Victor zusammen.“
 

*
 

Victor arbeitete aushilfsweise in einem winzigen Türkischen Lokal in der Großen Straße in Flensburg. Früher war da mal das Cremers Diners. Meine Mum hat sich da gerne aufgehalten. Dann hat der Pächter vom Cremers Diners aber seinen Laden zumachen müssen und nun war da eben ein Türke drin.

Wie gesagt arbeitete Victor da. Er war als Aushilfe in der Küche angestellt. Ich lief ihm irgendwann mal in der Stadt über den Weg und wir kamen ins Gespräch. Ich weiß auch nicht, was mich an Victor angezogen hatte. Vielleicht weil er einfühlsam und auch irgendwie sensibel war. Auf jeden Fall war er total verknallt in mich. Das hat auch nicht wirklich lange gehalten, aber es hätte früher schon vorbei sein sollen, nur hatte ich wieder nicht den Mut zu sagen, was ich dachte. So wie bei Ralf damals.

Meistens traf ich mich mit Victor im La Paloma, so hieß das ehemalige Cremers Diners jetzt. Ali war der Chef, dann war da seine Frau Medin und ein kleiner Sohn. In der Küche war Bernd der Chef. Er war etwas ruppig, wirkte unfreundlich, konnte aber wirklich Spaß machen. Es war nur schwierig zu erkennen, was Spaß und was Ernst war.

Meistens hab ich im Gastraum gewartet.

Victor war nicht sonderlich groß, nur wenig größer als ich. Er war sechs Jahre älter als ich und eigentlich nicht mein Typ. Er sah nicht gerade gut aus, besonders wenn er lachte. Und die Lache war so peinlich, daß man nur wünschen konnte, es würde niemand einen Witz erzählen. Und er war das, was man als pervers bezeichnen würde, nur wusste ich das anfangs natürlich nicht.

Wir waren mal zusammen unterwegs, wir hatten einen Spaziergang durch Glücksburg gemacht. Irgendwann musste ich dringend mal hinter einen Busch.

Als ich wieder herauskam machte er dümmlich grinsend und kichernd meine Bewegungen nach, als ich da hockte.

Das heißt: Er hat mich beobachtet!!!

Ich hätte ihm eine kleben sollen!

Dann hatte ich mal ziemlich schmerzhafte und juckende Probleme im Intimbereich. Die Diagnose war ein Pilz. Nichts besonderes, aber für mich ausgesprochen erschütternd. Um das besser wegzustecken hab ich dann darüber gewitzelt, es wären Champignons. Da der Partner sich immer mit behandeln muss, blieb mir nichts andere übrig, als Victor darin einzuweihen.

Nur zwei Tage später trafen wir in der Stadt eine junge Frau, die er wohl kannte. Und was tut dieser Bastard? Er erzählt dieser für mich vollkommen fremden Frau daß ich jetzt Champignons in der Unterhose züchte!!!

Einmal hab ich ihn tatsächlich mal nach Hause eingeladen. Also, zu meine Eltern nach Hause. Ich wohnte noch bei meinen Eltern.

Victor sollte also zum Sonntagskaffee kommen.

Er stand pünktlich vor der Tür und hatte einen großen Strauß Blumen dabei. Die waren nicht für mich, die waren für meine Mutter.

Meine Mum war sehr amüsiert darüber. Sie hatte extra Kuchenstücke vom Bäcker geholt und wie immer so viel, daß wirklich auch der übelste Vielfraß gründlich auf seine Kosten kommen würde. Mein Dad war zu dem Zeitpunkt auf See und mein Bruder mit seinen Kumpels los.

Wir drei setzten uns also an den Kaffeetisch und Meine Mum verteilte die erste Runde Kuchen.

Jeder aß seinen Kuchen, trank seinen Kaffee (ich trank allerdings Tee, von Kaffee werde ich müde) und meine Mum unterhielt sich mit Victor. Ich hab immer wieder erfolglos versucht das Thema auf total unwitzige Dinge zu lenken, aber keine Chance! Irgendwann lachte Victor!

Meine Mum guckte erst entgeistert und starrte mich entsetzt an. Dann konnte man nicht übersehen, daß sie sich kaum halten konnte.

Sie prustete los.

Ich wusste warum.

Victor nicht.

Und Victor lachte jetzt mit meiner Mum und die lachte über diese entsetzliche Lache von Victor!

Nachdem meine Mum wieder halbwegs normal atmen und sich die Tränen aus den Augen wischen konnte, bot sie noch weiteren Kuchen an. Jeder nahm noch ein Stück.

Victor war sehr schnell mit seinem Stück Kuchen fertig und meine Mutter bot ihm noch ein Stück an.

„Ja, gerne.“ Sagte dieser und ließ sich ein drittes Stück geben.

Ich war inzwischen auch mit meinem zweiten Kuchen fertig, war aber definitiv satt.

Als Victor abermals den Teller leer hatte, bot Mum ihm ein viertes Stück Kuchen an und Victor ließ sich auch ein viertes Mal nach geben. Ganz offensichtlich entging ihm das diebische Vergnügen, daß aus den Augen meiner Mum glitzerte, völlig. Ich saß nur dabei und sah mir das Schauspiel an.

Bei dem fünften Stück konnte man schon sehen, wie er nur noch mit ganz langen Zähnen aß. Das sechste reizte ihn inzwischen beinahe zum Würgen.

Aber meine Mum konnte sich das einfach nicht verkneifen. Sie lachte gelöst über jeden Mist und ich wusste, warum. Sie lachte eigentlich über Victor, der sich aus purer Höflichkeit ein Stück Kuchen nach dem anderen heruterwürgte, nur um die Gastgeberin nicht zu kränken. Meine Mum nutzte nun die Stellen, wo Victor sowieso lachte, um sich nicht mehr beherrschen zu müssen. Das Gesprächsthema war ihr total egal, wahrscheinlich hatte sie seit Kuchenstück Nummer vier schon gar nicht mehr zugehört.

Dieses listige kleine Spiel ging tatsächlich soweit, bis der ganze Kuchen vertilgt war. Inzwischen hatte Victor drei Walnusscremeschnitten, zwei Apfelschnitten, zwei Himbeerschnitten mit Sahne und zwei Windbeutel gegessen und sah so aus als würde er innerlich gerade einen Eid ablegen, nie wieder Kuchen zu essen. Sein höfliches Lächeln wirkte gequält und ich hätte schwören können, daß er Schweißperlen auf der Stirn hatte. Aber aus lauter Höflichkeit versuchte er die natürlich gleich mit den Hautporen wieder aufzusaugen.

Als wir mit dem Kaffee fertig waren ging meine Mum in ihre Werkstatt, sie hatte zwei Privataufträge und dementsprechend noch viel Arbeit.

Victor und ich blieben im Wohnzimmer, wir wechselten den Sitzplatz nur auf die Couch.

„Was wollen wir denn jetzt machen?“ fragte ich Victor.

„Ich weiß nicht, was möchtest du denn machen?“ fragte er zurück.

„Keine Ahnung, wollen wir einen Film gucken?“ schlug ich vor.

„Möchtest du denn?“ gab Victor die Frage zurück.

„Ich weiß es nicht, was magst du denn gucken?“ ich war leicht genervt und sah an die Decke.

„Was magst du denn gucken?“ parierte er meine Frage abermals.

„Was Lustiges oder was mit Action?“ schlug ich genervt vor und rollte mit den Augen.

„Was möchtest du denn?“ fragte Victor.

„Ich-weiß-es-nicht! Wir können auch spazieren gehen!“ Ich war kurz davor an die Decke zu gehen.

„Wenn du willst?“ Victor hatte keine Eigene Meinung oder wollte keine haben. Ich bin sicher daß er das nur aus lauter Rücksicht und Höflichkeit tat und gar nicht merkte, wie sehr er meine Zehennägel dazu brachte sich einzeln aufzukräuseln!

„Oh man, dann lass uns raus gehen!“ fauchte ich schließlich. Ich sagte meiner Mum kurz bescheid, daß wir wieder weg waren und bugsierte Victor schließlich aus dem Haus.
 

*
 

„Boah, was war denn das für eine Type?“ Nicole hat während der Erzählung mehrmals prustend laut losgelacht und dabei die beiden letzten Heidesandkekse gleichmäßig in meinem Wohnzimmer verteilt.

„Wieso warst du denn mit dem zusammen?“ Sie wischt sich einige Lachtränen aus den Augen.

„Keine Ahnung, Verzweiflung? Jonas war ja nur mit mir zusammen weil man mich einigermaßen vorzeigen konnte und weil er ab und zu mal einen wegstecken wollte. Als ich ihm gesagt hab, daß ich keine französischen Erfahrungen hatte und ich die auch garantiert nicht bei Ihm sammeln wollte, war er der Meinung, er müsse wieder zu seiner Exfreundin zurück, die konnte wenigstens Französisch.“ Erzähle ich ihr.

„Deine Mum hat sich da ja so richtig ein Fest draus gemacht, mit Victor und dem Kuchen!“ Nicole lacht wieder herzlich los.

„Jap! Wir lachen heute noch sehr oft und sehr ausgiebig darüber.“ Bestätige ich.

„Wie hast du es denn geschafft, ihn wieder los zu werden? Ich meine, du sagtest ja, du hättest dich nicht getraut?“ fragt Nicole und schnäuzte sich jetzt die restlichen Lachtränen aus der Nase.

„Erzähl ich dir. Moment, ich hole mir nur noch die Cola aus dem Kühlschrank.“
 

*
 

Victor und ich haben uns wie schon gesagt, meistens im La Paloma getroffen. Ich hab dann immer gewartet, bis er Feierabend hatte. Den hatte er nämlich erst dann, wenn die Küche gerade vor war.

Und während ich dann also so manche Stunde im Gastraum verbrachte, weil ich in der Küche nur im Weg gestanden hätte und dort sowieso nicht rein durfte, lernte ich natürlich auch noch andere Leute kennen. Unter anderem einen jungen Mann, der gelegentlich mal hinter dem Tresen aushalf. Er war groß, schlank und hatte blonde schulterlange Haare. Allerdings naturblond, nicht so wie Jonas. Der hatte ja allen Ernstes gefärbt!

Er trug meistens ein weißes Oberhemd, eine schwarze Weste und eine schwarze Hose. Halt, wie jemand gekleidet sein sollte, wenn er hinter dem Tresen stand. Er war super lustig und unheimlich nett. Wenn er da war, vergingen die Stunden nur all zu schnell. Er wurde von allen Donald genannt. Den Grund dafür kannte ich nicht, geschweige denn seinen richtigen Namen. Dafür interessierte ich mich aber auch nicht wirklich. Er war so eine richtige Stimmungskanone und ich sehr schnell eingenommen von ihm.

Dann war er mal eine Zeitlang nicht da. Zuerst fiel mir das nicht besonders auf, aber irgendwann schon. Ich traute mich aber auch nicht zu fragen. Ich wollte ja Victor gegenüber nicht zu viel Interesse an Donald zeigen.

Eines Tages, es war schon Ende Oktober, ging ich wie mit Victor vereinbart zum La Paloma um ihn von der Arbeit abzuholen.

Da saß Donald an einem Tisch. Als er mich sah und erkannte, begrüßte er mich überschwänglich und sehr herzlich.

Beinah hätte ich vergessen, warum ich eigentlich da war. Ich setzte mich zu Donald an den Tisch und wir klönten über dies und das. Erst als Ali mir mitteilte, daß Victor nicht da wäre, er wäre sehr erkältet und konnte daher nicht zu Arbeit kommen, fiel mir wieder ein, daß ich ja nicht wegen Donald da wäre.

„Oh, ja, danke.“ Sagte ich leicht abwesend zu Ali.

„Dann werde ich ihn nachher einfach mal anrufen.“ Fügte ich noch hinzu.

Inzwischen hatte Donald mir eine Cola bringen lassen. Er erzählte, daß er jetzt zur See fuhr. Mit einem kleinen Stückgutfrachter. Er arbeitete da hauptsächlich in der Maschine und was sonst noch alles zu tun war. Darum war er auch so lange nicht im La Paloma. Ich war ganz hin und weg und hab eigentlich kaum richtig zugehört. Im Radio spielte ein Lied, „I just wanna be close to you“ und ich hatte nur noch Ohren für dieses Lied und Augen für Donald, der mir gegenüber saß.

„Hast du Zeit und Lust mit mir einkaufen zu gehen?“

Das war der erste Satz von Donald, den ich dann wieder verstand und der mich aus meinem Tagtraum holte.

„Klar, ist ja noch mitten am Tag.“ Sagte ich begeistert.

Also stiefelten wir los. Zuerst ging es in ein Musikgeschäft und Donald kaufte für ungefähr 150 DM CD´s. Dann waren wir bei Hertie, wo er noch mal 200 DM für CD´s ausgab. Zum Schluss wollte er noch nach Schauland in der Holmpassage und kaufte weitere CD´s für 200 DM.

Ich konnte nur staunen. Ich bekam überhaupt nicht mit, was er da alles aussuchte. Er war sehr schnell mit dem Durchsuchen der CD´s, es schien, als hätte er eine lange Liste im Kopf die er nur abhaken brauchte. Und er erzählte nebenher ungeheuer viel, aber auch davon bekam ich kaum die Hälfte mit.

Als Donald schließlich davon überzeugt war, genügend CD´s zu besitzen, wollte er mich ganz spontan zum chinesischen Essen einladen.

Nun, ich war ja noch mit Victor zusammen. Und der Fairness halber rief ich dann bei ihm zu Hause an und fragte ihn, ob es in Ordnung sei, wenn ich mich von Donald zum Essen einladen lasse.

Victor hatte nichts dagegen. Er wünschte uns sogar viel Spaß.

Nun, damit brauchte ich kein schlechtes Gewissen haben und nahm Donalds Einladung an.

Der beste Chinese in Flensburg war immer noch der am Norder Markt. Dort bestellte Donald eine Platte, die hieß ‚9 Köstlichkeiten‘ und noch drei andere Platten, wo er meinte die würden sich gut anhören. Jede Platte war für zwei Personen.

Ich wusste nicht, wovon ich mehr beeindruckt sein sollte, von den Unmengen Essen, die er bestellte und wohl auch vertilgen wollte, oder von dem Geld, mit dem er nur so um sich warf.

Natürlich aßen wir mit Stäbchen und natürlich hat jeder von allem probiert. Und beinahe natürlich wurde ich gelegentlich von Donald mit einem besonders gut aussehenden Häppchen gefüttert.

Sehr zu meinem Erstaunen hat Donald es tatsächlich geschafft, alles das, was ich nicht schaffte, zu vernichten. Unfassbar! Nicht mal Marco hätte so viel essen können.

Schließlich waren wir dann fertig und machten uns gemütlich auf den Weg zum ZOB. Er musste nach Hause zu seinen Eltern, die wohnten in Steinbergkirche. Das lag an der Nordstraße von Flensburg Richtung Kappeln und damit fuhren wir mit demselben Bus.

Er erzählte und erzählte. Er war kaum zu bremsen. Irgendwo, zwischen Wees und Ringsberg schlug er mir dann vor, doch mal eine kleine Fahrt mit ihm mit zu machen. Das könne man sicher alles regeln. Und er gab mir eine Karte mit der Adresse von der Reederei, damit ich ihm schreiben könnte. Damit erfuhr ich dann auch, daß Donald eigentlich Andreas hieß.

Als wir schließlich in Langballig ankamen, musste ich raus. Donald nahm mich kurz bevor ich aussteigen konnte in den Arm und küsste mich zum Abschied.

Leicht verdaddert stolperte ich dümmlich grinsend aus dem Bus und winkte noch, so lange der Bus stand. Dann fuhr er los und nahm Donald mit sich.

Ich war verwirrt.

Irgendwie hatte mir Donald total imponiert.

Und mich für sich eingenommen.

Wie sollte ich Victor das jetzt erklären?

Erstmal sollte ich Donald schreiben und abwarten, was er dazu sagen würde.

Noch am gleichen Abend setzte ich mich hin und schrieb an Donald. Natürlich sagte ich ihm nicht direkt, daß ich mich in ihn verliebt hatte. Ich schrieb ihm nur, daß ich den Nachmittag und den Abend total schön fand und ich ein weinig verwirrt war.
 

Längst hatte auch schon für mich das neue Schuljahr begonnen, auf der Fruerlundschule, aber ohne Marco.

Ich machte mir auch in dieser Klasse nicht die Mühe mir Namen zu merken. Nur ein paar, mit denen ich öfter zu tun hatte und die nett waren.

Die Fächer waren vom Inhalt her langweilig für mich. Ich hab mir keine große Mühe gegeben mit dem Lernen und dennoch hatte ich als schlechteste Note eine Vier in Schrift und mein schlechtestes Fach war Geschichte mit einer Drei.

Wirklich interessant war nur das bevorstehende Berufspraktikum.

Ich hatte in der letzten Klasse in der Realschule einen neuen Lehrer in Chemie bekommen und plötzlich war dieses Fach ein offenes Buch für mich. Als hätte jemand einen Schalter umgelegt kam ich mit Leichtigkeit von einer Fünf im Zeugnis auf eine gute Zwei. Der Chemielehrer vergab Einsen nur in ganz besonderen Fällen.

Ich war so gut in Chemie und hatte so viel Spaß an der Materie, daß ich Chemie sogar als Wahlfach nahm. Und auch da bekam ich nur einmal einen Eins, weil eine Reaktion bei mir besonders gut abgelaufen war. Ansonsten stand ich in diesem Fach mit einer super Zwei.

Aber eben nur in diesem Fach.

Dieser Wandel jedenfalls hatte mein Interesse an der Chemie so weit geweckt, daß ich mir sogar vorstellen konnte, das mal Beruflich zu machen.

In der Fruerlundschule sollten nun alle ihren Berufswusch äußern und die Lehrer sorgten dann für die Unterbringung in einem entsprechenden Betrieb. Für mich gab es nur ein einziges Angebot, aber immerhin eines. Ich musste nicht irgendeine Alternative wählen, die vielleicht nicht mit Chemie zu tun hatte.

Es gab in Harrislee, der Nachbarstadt von Flensburg, eine Firma, die nannte sich Nopi. Dort wurden Plastikfolien aller Art hergestellt und mit Klebstoff bedampft. Der Betrieb gehörte zu Beiersdorf.

Hier nun sollte ich die nächsten 14 Tage in einem Labor verbringen und mir wurde gezeigt, was man da alles so zu tun hätte.

Die physikalischen Tests begriff ich alle sehr schnell, zumindest die Praxis. Die Theorie entzog sich mir gänzlich. Chemisch war da verhältnismäßig wenig zu tun, ganz wenig bis gar nicht.

Aber ich verstand mich mit den Laboranten recht gut.

Während dieser Praktikumszeit nun bekam ich dann endlich Antwort von Donald. Natürlich zu mir nach Hause, nicht ins Labor.

Es waren inzwischen drei Wochen vergangen, seit ich mit ihm im Chinarestaurant war. Er schrieb nicht lange um den heißen Brei herum sondern brach gleich am Anfang des Briefes in wahre Begeisterungsstürme aus. Er begann sofort mit der Feststellung, daß auch er sich in mich verliebt hatte und sich darauf freute, wenn ich kommen würde. Er wollte auch alles in die Wege leiten, daß ich in den Weihnachtsferien mitfahren könnte. Die Reederei hatte nichts dagegen einzuwenden, da hatte er schon gefragt.

Ein Bild von der MS Silvia hatte er auch mit in den Brief gelegt.

Ich war überglücklich, alleine schon die Tatsache, daß Donald mich ganz ohne Zweifel auch mochte.
 

Ich nahm den Brief am nächsten Tag mit. Nachmittags wollte ich mich mit Victor treffen. Als wir dann im La Paloma saßen, Teilte ich ihm die Neuigkeit mit.

„Ich hab Donald geschrieben.“ Begann ich.

„Und hast du schon eine Antwort bekommen?“ fragte Victor mich begeistert.

„Ja hab ich.“ Sagte ich ernst.

„Und, was schreibt er?“ Victor war ehrlich interessiert.

„Willst du es selbst lesen?“ fragte ich.

„Ja, klar, gib her.“ Er schnappte sich den Brief und begann zu lesen.

Daß in der Kopfzeile ‚Liebe Carmen‘ stand, machte Victor noch nicht unbedingt stutzig. Aber je weiter er las umso ernster wurde seine Miene.

Als er zu Ende gelesen hatte faltete er den Brief ganz ruhig wieder zusammen, steckte ihn in den Umschlag und gab ihn mir zurück.

Er sah mich ernst an und fragte: „Und?“

Am liebsten hätte ich jetzt etwas gesagt wie: „Was meinst du?“ weil er mich mit diesen Gegenfragen immer so genervt hatte. Aber das war hier nicht wirklich angebracht.

„Ich möchte gerne mit fahren.“ Sagte ich ruhig.

„Aha.“ Machte Victor nur kurz.

„Naja. Du kannst mir ja mal irgendwann erzählen, wie es dazu gekommen ist und was dich an mir stört.“ Er stand auf und wünschte mir noch viel Glück und viel Spaß mit Donald. Dann ging er.

Noch am selben Abend klingelte dann das Telefon. Es war Donald. Er war gerade in Perth in Schottland und rief von der Brücke des Schiffes aus, mit dem er unterwegs war, an.

Ich erzählte ihm, wie das mit Victor abgelaufen ist. Und ich konnte ihm auch mitteilen, daß meine Mum eingewilligt hatte, mich mit Donald auf dem Schiff mitfahren zu lassen.

Donald war mehrfach begeistert. Dazu kam, daß er noch an jenem Tag Geburtstag hatte.

Nun waren wir also zusammen.
 

Es war eine lange, sehr lange Fahrt. Ich musste mit dem Zug nach Amsterdam. Das war eine einigermaßen übersichtliche Stadt mit einem ebenso übersichtlichen Hafen in den Niederlanden. Ich war schon oft in Amsterdam, mein Vater fährt ja ebenfalls zur See.

Ich fuhr im Grunde genommen total blind und naiv los. Ich hatte keinen Plan, wo ich genau hinsollte. Nur eben, daß das Schiff in Amsterdam liegen sollte, wenn ich da ankommen würde. Es wurde mir mehrfach erklärt, wo ich genau hin sollte, meine Mum hat natürlich auch mit der Reederei gesprochen und versuchte es mir noch mal zu erklären. Aber im Kopf war ich schon dabei meinen Koffer zu packen und zu überlegen, was ich unbedingt mitnehmen musste.

Ich bekam von meinen Eltern zu Weihnachten 500 DM für die Reise und einen kleinen Koffer.

Schließlich saß ich dann endlich im Zug. 22 Stunden Fahrt lagen vor mir, es war endlos.

Als ich schließlich in Amsterdam ankam und mich auch zu Hause und bei der Rederei meldete, wurde mir mitgeteilt, daß die Silvia, das Schiff, mit dem Donald unterwegs war, nicht mehr in Amsterdam war, sondern bereits auf dem Weg nach Rotterdam. Rotterdam ist die größte Hafenstadt von den Niederlanden und gleichzeitig die größte Hafenstadt von Europa. Dort hatten die Liegestellen keine bestimmten Namen, dort ging es nur ‚Havens 1000 bis 2000‘ und so weiter. Ein paar Häfen hatten Namen. Aber meistens ging es nach Nummern. Mir wurde jetzt mitgeteilt, mit welchem Zug ich weiter fahren sollte und daß die Silvia um 11 Uhr vormittags am ‚Eurokai‘ liegen würde. Ein Agent der Reederei würde mich in Rotterdam erwarten.

Ich machte mich dann also auf den Weg zu dem Zug, der mich nach Rotterdam bringen sollte. Dort kam ich dann an und nahm in dem ersten Hotel, daß mir bekannt vorkam, ein Zimmer für die Nacht. Dort war ich vor einigen Jahren schon mit meiner Mum und meinem Bruder gewesen. Den Agenten hatte ich inzwischen komplett verdrängt.

Als ich etwas geschlafen hatte, dachte ich, ich könnte ja ein bisschen in die Stadt gehen und mich umsehen. Die Uhr war erst Acht und so hätte ich ein bisschen Zeit.

Allerdings hatte ich das Gefühl, ich sollte mich gleich auf den Weg zum Eurokai machen, da konnte ich dann in Ruhe auf den Dampfer warten.

Ich ging also in das Zimmer zurück, in dem ich die Nacht verbracht hatte, sammelte mein Gepäck zusammen und checkte an der Rezeption aus. Dann schnappte ich mir ein Taxie und versuchte dem Fahrer zu erklären, daß ich zu dem und dem Kai musste und das Schiff würde Silvia heißen und so aussehen. Ich hatte das Bild von der MS Silvia dabei.

Nach etwa einer Stunde dann hatte ich mit Hilfe des Taxifahrers tatsächlich den richtigen Kai gefunden und stand endlich vor dem Schiff, das schon seit den frühen Morgenstunden im Hafen lag. Donald hatte das Taxi wohl schon erwartet und kam mir an der Pier entgegen.

Ich war so überglücklich und erleichtert als ich endlich ein bekanntes Gesicht sah, daß ich ihm kurzerhand entgegenlief und mich von ihm auffangen ließ.

Donald nahm meinen Koffer und zusammen gingen wir über die Gangway an Bord. Er stellte mich kurz dem Kapitän vor und brachte mich dann in seine Kammer.

Die Kojen waren quer zum Schiff angebracht. Ich kannte das eigentlich nur Längsseits. Die Kammer war sehr klein, aber in der Koje würden wir sicher genug Platz haben.

Donald schlug vor, daß ich mich erstmal ausschlafen sollte, es war immerhin eine sehr lange Reise, die ich hinter mir hatte.

Dankbar nahm ich das Angebot an.

Viel später, als der Dampfer bald wieder ablegen sollte, gingen wir dann rauf auf die Brücke von wo aus ich bei meiner Mum anrief.

Sie war aufgelöst und furchtbar wütend darüber, daß ich mich nicht eher gemeldet hatte.

Wollte Donald das nicht für mich erledigen?

„10 Stunden lang warst du verschwunden! Der Agent, der dich in Rotterdam in dem Hotel treffen sollte, hat nur berichtet, daß du da nie angekommen wärest! Wir wussten nicht, wo wir dich suchen sollten! Du kannst nur froh sein, daß du so weit weg bist!“

Meine Mum fauchte und tobte. Sicher wäre sie durch das Telefon gekrochen, wenn sie es gekonnt hätte. Dann hätte sie erst mich ganz langsam erwürgt und dann eventuell auch Donald.

Meine Hochstimmung war gesunken.

Menno, ich hab doch alles gefunden? Ich bin doch heil angekommen? Statt sich jetzt für mich zu freuen macht sie mir die Hölle heiß?

Beleidigt und eingeschnappt stellte ich meine Ohren auf Durchzug und wartete einsilbig darauf, daß sie endlich fertig wurde und sich verabschiedete. Ich musste ihr natürlich versprechen, mich aus jedem Hafen zu melden.

Auch der Kapitän hatte eine ‚ganz schön leichtsinnig‘- Miene aufgesetzt. Ich huschte so schnell ich konnte von der Brücke und Donald nahm mich mit in die Messe.

Die Messe war der Raum, in dem die Mannschaft verköstigt wurde. Diese Messe war eigentlich nur ein kleiner Raum, etwa so groß wie die Kammer von meinem Dad an Bord der Camshipp-Schiffe. Es war ja auch eben ein kleiner Frachter, ein Stückgutfrachter. Der wurde nur von sechs Leuten gefahren. Im Fachjargon der christlichen Seefahrt war das Schiff eigentlich sogar nur ein Schlickrutscher. Die werden so genannt, weil sie so klein sind, daß sie in sehr flache Gewässer fahren können, da würde ein richtiges Schiff im Schlick auflaufen. Die Silvia wäre allenfalls als Beiboot für eines der Schiffe, die mein Papa fährt, in Frage gekommen.

Aber egal, es war ein Schiff, wenn auch ein kleines, und es war ein Frachtschiff. Wir würden also in ‚normalen‘ Häfen anlegen. Es war kein Schiff der Marine. Das sind alles Süßwassermatrosen. Die werden doch um jedes Wetter herumgeleitet oder legen gar nicht erst, wenn sich Wetter ankündigte. Die hatten auch keinen Termindruck und befolgten lediglich ihre Befehle. Die christliche Seefahrt dagegen kannte sich mit jedem Wetter aus. Da wird nicht drum herum gefahren. Schließlich ist Zeit Geld und die Ware muss termingerecht ankommen.

Und das galt auch für die Silvia. Sie war klein, aber ein Frachtschiff mit eben den gleichen Regeln, wie für ein großes Frachtschiff. Hier wurden keine Befehle befolgt, sonder man handelte mit Selbstverantwortung.

Und so fuhren wir dann auch, als wir in Rotterdam abgelegt hatten und Kurs nach Schottland nahmen, durch eben so ein Wetter hindurch.

Da ich schon gewisse Erfahrung auf See gemacht hatte, durfte ich trotz des Sturmes mit auf die Brücke. Der Kapitän war einigermaßen angetan von der Tatsache, daß ich nicht Seekrank war. Das war für mich nichts besonderes. Immerhin bin ich auf Schiffen aufgewachsen.

Es war schön die Akustik zu hören, die man eben nur auf einem Schiff erlebt. Wie die Silly, wie wir sie liebevoll nannten, sich zäh und träge durch die Wellentäler schob. Sie hatte mächtig zu kämpfen, einige Wellen schlugen bis zur Brücke. Man darf ja nicht vergessen, wenn eine hohe Welle kommt, dahinter ist ein tiefes Tal und das lässt die Welle dann doppelt so groß werden. Und wenn eine große Welle unter dem Schiff entlang rollt, merkt man das kaum. Wenn aber die Welle dann etwas mehr als die Hälfte vom Schiff geschafft hatte, neigte sich der Bug steil abwärts in das Tal und schlug dort hart auf. Der ganze Dampfer zitterte und ratterte unter der Wucht des Aufpralls.

Aber ich stand aufrecht auf der Brücke und konnte mich gar nicht satt sehen.
 

Wir hatten zwei Häfen in Schottland, die wir anfuhren. Der eine war Dundee, die Stadt liegt ziemlich dicht an der Nordseeküste und der andere Hafen war Perth weiter innen im Land. Da haben wir auch die meiste Zeit gelegen.

Während dieser Zeit bekam ich meine Tage. Das war furchtbar! Ich hatte total vergessen, daß die ja auch noch auf dem Plan standen und hatte keine Tampons dabei. Leider hatten wir auch noch Silvester! Zu allem Unglück kam dann noch dazu, daß in Schottland am zweiten Januar nur ein einziger Laden geöffnet hatte: Woolworth! Und dort bestand die Hälfte der Waren aus Süßigkeiten aller Art, der Rest aus Dingen, die man noch nie gebraucht hatte und sicher nie brauchen würde.

Das einzige, was ich fand, waren Watterollen in einer Pappröhre. Frau sollte sich jetzt also die ganze Röhre einführen und dann mit einem Schieber die Watterolle so hoch drücken, daß sie da bleiben würde, wenn man die Einführhilfe wieder entfernte. Das war gelinde gesagt eine sehr unappetitliche Katastrophe!!! Aber was half es, ich hatte nichts Besseres.

Es war kalt und in Schottland regnete es viel. Da wir Sojaschrot in den Luken hatten, mussten diese immer wieder zugefahren werden wenn es regnete. Wenn Sojaschrot nass wird; wird er hart wie Zement und sehr rutschig.

So lagen wir fast zehn Tage länger in Perth, als veranschlagt wurde. Dadurch kam ich auch zu spät wieder nach Hause, um rechtzeitig in der Schule zu erscheinen. Der Kapitän fühlte sich leicht veräppelt, als er tatsächlich eine Entschuldigung für mich schreiben musste.

In Delfzjil in den Niederlanden ging ich dann schließlich von Bord und sollte über Aachen mit dem Zug nach Hause fahren.

Da ich aber nicht gerade wenig Geld in Schottland ausgegeben hatte, hatte ich nicht mehr genug um ein Ticket bis nach Hause zu lösen. Ich sollte dann von einem Agenten der Rederei in Aachen erwartet werden.

Als ich da ankam, war da aber kein Agent. Ich hatte ihn wohl wieder verpasst. Zu allem Überfluss sprach ich die Sprache nicht. Also, Aachen liegt ja schon in Deutschland, aber ich hab den Dialekt nicht verstanden.

Schlussendlich bekam ich dann aber doch noch die Genehmigung nach Hause fahren zu dürfen. Ich bekam ein spezielles Ticket, das die Reederei dann nachträglich bezahlen würde.

Kurz gesagt, die Reise war eine logistische Katastrophe, wenn auch eine schöne Zeit für Donald und mich.
 

Nachdem dann einige Wochen vergangen waren und auch die – rückwirkend betrachtet durchaus berechtigte Wut meiner Mum verraucht war, sollte Donald dann auch wieder aussteigen. Er wollte dann an Land bleiben, meinetwegen. Zuerst wohnte er noch bei seinen Eltern. Schließlich nahm er dann eine kleine Wohnung auf dem Scheersberg. Meine Mum hatte Donald inzwischen auch kennengelernt. Sie sah sich diesen Typen genau an und befand ihn dann für akzeptabel. Immerhin gelang es ihm mehrere Stunden am Stück mit ihrer Tochter zu verbringen, ohne sich das Leben zu nehmen.

Die Sommerferien verbrachte ich dann bei Donald, ohne zwischendurch nach Hause zu fahren.

Donald arbeitete wieder in seinem alten Beruf als Elektriker. Dadurch war er den ganzen Tag nicht zu Hause und kam erst gegen sechs Uhr abends nach Hause.

Auf dem Scherenberg, wo Donald seine Wohnung jetzt hatte, war noch weniger los als mitten in einem Kaufhaus ohne Waren. Ich war so einsam, daß ich anfing den Nachtfaltern an der Wand draußen am Haus Namen zu geben und mich mit ihnen zu unterhalten. Ok, es waren sehr einseitig Monologe, aber ich hatte sonst niemand.

Fernsehen hatten wir nicht. Wir hatten kein Gerät. Dementsprechend war es auch nicht möglich einen Videofilm zu gucken.

Ich versuchte mich dann im Kuchen backen. Ohne Handrührgerät und Erfahrung eine echte Herausforderung. Aber man konnte das Ergebnis einigermaßen essen. Es war nur etwas anstrengend zu kauen. So muss sich ein Hund mit seinem Gummiknochen fühlen.

Wenn Donald dann nach Hause kam übernahm er dann überwiegend das Essen machen. Er hatte einen Gusseisernen Wok, den man auf einem Stövchen beheizt, in dem ein Spiritusbrenner stand. Es wurde also über offenem Feuer gekocht. Eigentlich war es immer das gleiche. Er kochte Reis in der Küche im Topf auf dem Herd. Dann wurde je nach Angebot oder Appetit Fleisch, Fisch oder sonst, was man mochte im Wok angebraten. Dazu kam Gemüse, Gewürze und auf jeden Fall eine kleine Dose Tomatenmark. Zum Schluss wurde dann noch der Reis mit dazugegeben. Das ganze einige Minuten ohne Feuer ziehen lassen. Es schmeckte ganz ok. Und da ich nicht kochen konnte, meckerte ich auch nicht.

Donald war ein ausgesprochen spontaner Typ. Wenn ihm etwas in den Kopf kam, dann setzte er das sofort in die Tat um. Zum Beispiel wollten wir eines Sonntags Brötchen holen. Wir fuhren von einem Dorf ins nächste und schließlich landeten wir auf dem Parkplatz vom Freizeitpark Tolk. Statt also mit Brötchen zu frühstücken, gingen wir in den Park und aßen gleich zu Mittag. Ein Vertreter für Weine aller Art hatte dort ein kleines Zelt aufgeschlagen und man konnte eine ausgiebige Weinprobe machen. Das schienen auch Viele in Anspruch genommen zu haben. Jedenfalls war der Tisch, an dem wir saßen, voll mit verschüttetem Wein. Die Fliegen fanden großen Gefallen daran und kamen immer wieder um ausgiebig von den alkoholischen Pfützen zu naschen. Und soll man es für möglich halten? Fliegen können sich genauso besaufen wie Tiere oder Menschen! Sie torkeln regelrecht. Eine Fliege nahm über den halben Tisch Anlauf und sprang todesmutig in die Tiefe. Offenbar hatte sie nicht mehr mit den Flügeln schlagen können. Eine andere hob ab, machte aber eine seltsame Drehung und fiel zurück auf den Tisch. Ich bin sicher sie dümmlich lachen gehört zu haben. Wieder eine andere flog auf den Tisch zu, stürzte aber regelrecht ab, ähnlich wie die Albatrosse. Und ein Brummer war wirklich besonders dämlich. Er nahm Anlauf, hob dann auch ab und schlug mit den Flügeln. Mitten im Flug allerdings vergaß er weiter mit den Flügeln zu schlagen und fiel einfach runter. Vielleicht ist er in dem Moment auch ins Delirium gefallen, ich konnte ihn nicht fragen.

Dort lernten wir auch ein junges Pärchen kennen, das Donald dann ganz spontan zum Essen nach Hause einlud. Es war wirklich witzig.

Zur Sommersonnenwende sind wir an den Strand gefahren. Donald hatte ein bisschen im Sand gebuddelt. Schließlich hat er einen Grill gebaut. Er fuhr rasch los, holte einen Grillrost, Kohle, Fleisch und Würstchen und wir grillten über diesem Loch am Strand.

Die größte Spontanität jedoch bewies Donald dann im August, als er die Kneipe, die unter seiner Wohnung schon seit Jahren leer stand, bei seiner Vermieterin pachtete. Meine Mum hatte sich bereit erklärt uns zu helfen wo sie konnte.

Das Mobiliar war alt und verbraucht. Aber mit etwas Arbeit hatte meine Mum die Stühle zerlegt, die Polster erneuert und die Bezüge gewaschen. Als diese dann wieder drauf getackert waren, sahen die Stühle aus wie neu. Auch die Tische wurden geschmirgelt und neu lackiert. Ich hab zwar mitgeholfen, aber ich fand die Arbeit sehr lästig. Ich drückte mich wo ich konnte.

Meine Mum hatte für die Kneipe sogar neue Gardienen genäht. Als alles fertig war hatte die dunkle muffige Kneipe ein neues helles Gesicht.

In der Zwischenzeit hatte Donald sich um das Übrige gekümmert, einen Tresen mit Zapfanlage und Großhändler, von denen wir die Getränke bezogen. Auch mein Bruder war fleißig dabei und half meiner Mum wo er konnte.

Schließlich war alles fertig und wir konnten Eröffnung feiern, der Termin wurde auf den ersten Oktober festgelegt.

Wir rührten fleißig die Webetrommel und am Eröffnungstag waren dann auch einige Leute gekommen sich anzugucken, was da jetzt aus dem ollen Gasthof geworden war. Und zur Feier des Tages verkündete Donald dann ganz offiziell, daß ich von jetzt ab seine Verlobte sein sollte.

Schon vom ersten Tag an hatten wir einen Stammkundenkreis. Einige der jungen Leute aus Queern, die bis dato immer in die Stadt nach Flensburg oder nach Steinbergkirche mussten, wenn sie ausgehen wollten. Nun hockten Abend für Abend beinahe immer dieselben zehn Leute in unserer Kneipe. Es war immer lustig. Donald hatte vom Automatenaufsteller zwei Dartautomaten bekommen. Mit einer kleinen Überbrückung konnte er Freispiele freischalten. Das wurde dann auch oft genug gemacht. Wir haben sogar mal ein Darttournier veranstaltet. Der Abend war ein voller Erfolg.

Es dauerte nicht lange und wir hatten jeder einen eigenen Satz Darts mit allem was dazu gehörte. Wir hatten eine tolle Zeit.

Eines Abends spielte ich mit Holger an dem Dartautomaten, der in der Garderobe stand. Wir konnten von da aus den Stammtisch nicht sehen. Dort saßen etwa sechs oder Sieben unserer Stammkunden einschließlich meiner Mum und knobelten. Knobeln ist ein Spiel, daß ich noch von der Seefahrt her kenne. Man braucht dazu drei Würfel, einen Würfelbecher und 15 Bierdeckel, Pappen genannt. Ziel des Spieles ist, keine der Pappen zu bekommen und einem in der Runde alle Pappen, die man doch bekommen hatte, zuzuspielen. Gesammelt werden Einsen und Sechsen.

Es wird immer der Reihe nach drei Mal gewürfelt. Einer fängt an, würfelt, hebt den Becher hoch und guckt, was er geworfen hat. Eine Eins ist sehr gut, eine Sechs ist auch gut. Hat man zwei Sechsen, kann man einen Sechs zu einer Eins umdrehen, lässt diese Eins draußen und würfelt die andere Sechs noch Mal. Der dritte Wurf wird dann zugelassen und der nächste ist dran. Hat man schon zwei Einsen, hat man einen ‚Max‘. Zwei Einsen und eine zwei wäre dann ein ‚Max Zwei‘. Zwei Einsen und eine Sechs ist dann ein ‚Max Sechs‘. Hat jetzt einer ‚Max Zwei‘ und der andere ‚Max Drei‘, bekommt der mit dem kleineren ‚Max‘ drei Pappan.

Hat man einen ‚Max Eins‘ dann ist das ein ‚General‘, oder ein ‚Max aus‘ das höchste was man beim Knobeln werfen kann. Dann ist diese Runde fertig und der mit dem kleinsten Wert bekommt die verlorene Hälfte. Das Spiel besteht aus zwei Hälften. Verliert einer beide Hälften in Folge, hat er einen ‚GG‘, einen ‚Glatten Gang‘. Wenn einer die erste Hälfte und ein anderer die zweite Hälfte verlieren, dann wird in einem Duell ausgeknobelt, wer von beiden ganz verloren hat. Da legt dann die erste Hälfte der zweiten vor, beginnt also das Duell.

Dann gibt es noch ein paar niedrigere Werte. Zum Beispiel die Straße, wobei eine 123 natürlich weniger wert ist als eine 234. Eine Straße ist zwei Pappen wert. Und es gibt den ‚Harten‘. Das sind drei gleiche Augen. Ein ‚Harter‘ ist drei Pappen wert. Und es gibt die ‚Unwerte‘, wenn man zum Beispiel eine Eins, eine vier und eine Sechs würfelt. Da wird dann von der größten zur niedrigsten Zahl gelesen. Unser Bespiel wäre also eine 641. Haben alle so etwas ähnliches geworfen, also keinen ‚Max‘, keine Straße und keinen ‚Harten‘, dann wird geguckt, wer die niedrigste Zahl hat und der bekommt dann eine Pappe.

Holger und ich spielten also außerhalb der Sichtweite zum Stammtisch gegeneinander Dart und hörten den Gästen beim Knobeln zu.

Man stelle sich jetzt vor, einer der Gäste würfelt deutlich hörbar, knallt den Becher auf den Tisch und hebt ihn ab, so daß jeder die Würfel sehen kann.

Gast 1: „Boah, ein Harter, und das im ersten Versuch!“

Gast 2: „Lass ihn doch Stehen.“

Gast 3: „Nimm die Finger weg, das kannst du zu Hause machen!“

Holger und ich guckten uns nur kurz an und lagen dann weinend vor Lachen auf der Erde!
 

Obwohl wir die Kneipe zum Winter hin eröffnet hatten, konnten wir bald schwarze Zahlen schreiben. Allerdings nur sehr kleine. Mit den Ausgaben und Einnahmen standen wir zwar ganz gut da, aber zum Leben reichte es nicht.

Donald kündigte auf den Vorschlag meiner Mum hin, so lange bei uns zu wohnen, seine Wohnung auf. Um etwas Geld zu verdienen stieg er dann auch bald wieder bei der gleichen Reederei, bei der er schon gefahren ist, auf ein Schiff ein und sollte eine Weile zur See fahren, während vorwiegend meine Mum und mein Bruder die Kneipe führten. Ich war im Grunde auch mit dabei, stellte mich aber nicht besonders geschickt an. Eigentlich waren meine Mum und mein Bruder ganz froh darüber, daß ich nicht ständig dabei war.

Doch nur drei Wochen, nachdem Donald an Bord gegangen war, kam er auch schon wieder nach Hause zurück. Er hatte sich das Bein schwer verletzt und konnte nicht mehr weiter fahren. Wir mussten sehen wie es weiter gehen würde.

Natürlich war ich super glücklich, daß mein Donald wieder da war.

Nach weiteren drei Wochen, in denen Donald dann wieder ganz genesen war, stieg er wieder ein und fuhr weiter zur See.

Inzwischen setzte bei mir die Regel aus.

Um Geld zu sparen, hatte ich in dem Monat, in dem Donald das erste Mal wieder eingestiegen war, die Pille nicht genommen. Ich hatte ja nicht vor fremd zu gehen. Allerdings hatte ich nicht darüber nachgedacht, als er dann unverhofft eher nach Hause kam.

Ja, genau, ich war Schwanger!

Es war absolut kein Diskussionspunkt, ob ich das Kind behalten würde oder nicht. Donald war hellauf begeistert. Er freute sich riesig über diese Nachricht und wollte sofort wieder aussteigen.

Ich entschied jedoch, daß ich das Baby nicht wollte.

Ich entschied mich für einen Abbruch, der dann auch sehr schnell durchgeführt wurde.
 

Im Februar, fünf Monate nach der Eröffnung der Kneipe, die ja offiziell „Gasthof zum Scheersberg“ hieß, bekamen wir Ärger mit dem Bauamt in Schleswig. Uns wurde vorgeworfen, daß wir keinen Eingang und keine Toiletten hätten.

Ausgesprochen erstaunt über diese Mitteilung fragten wir uns natürlich, wie wir denn die letzten fünf bzw. sechs Monate in die Kneipe reingekommen waren. Nach vielem Hin und Her und nachdem meine Mum mit den Bauplänen in Schleswig war stellte sich dann heraus, daß die Verpächterin vor einigen Jahren den Gasthof verkleinert hatte. Sie hatte ihn in zwei Teile getrennt und in der Hälfte, die nun nicht mehr zum Gasthof gehörte, hatte ihr Sohn ein Fitnesscenter eröffnet.

Da die Verpächterin aber nur in ihrem Bauplan die entsprechenden Änderungen eingezeichnet hatte und diese nie beim Bauamt angemeldet hatte, musste das Bauamt davon ausgehen, daß alles noch so war, wie auf dem Plan, der eben in Schleswig war.

Um das jetzt genehmigen zu lassen, wie es eben war, hätten wir viel Geld bezahlen müssen. Mehr, als wir hätten aufbringen geschweige denn abfangen können.

Am Ende mussten wir die Kneipe dann schließen.
 

Um wieder auf die Füße zu kommen hatte Donald in Unewatt einen Job als Küchenjunge angenommen. Unewatt wurde vor Kurzem zum Museumsdorf erklärt, da es allem Anschein nach der älteste urkundlich erwähnte Ort im Raum Schleswig-Flensburg war. Das kurbelte natürlich den Fremdenverkehr mächtig an und es wurden viele Leute gesucht. Auch meine Mum hatte in der gleichen Gaststätte einen Job als Serviererin angenommen.

Donald fing allerdings an einen Mist nach dem anderen zu bauen. Nicht nur bei seiner Arbeit, auch bei uns zu Hause. Wir stritten uns oft. Meistens wegen Kleinkram. Er zog sich zurück. Einige Wochen zuvor hatte er sich eine Wohnung angesehen, die er auch beziehen wollte. Ich wollte schon gar nicht mehr mit. Ich fühlte mich nicht mehr wohl mit ihm.

Einmal, da sollte er in der Stadt für den Gasthof einkaufen. Er nahm mich mit, weil ich sagte, ich wolle mich mit einer Freundin treffen. Am Süder Markt ließ er mich dann raus. Als er außer Sichtweite war ging ich direkt zur Busstation und nahm den nächsten Bus, der in die Elbestraße fuhr. Natürlich nicht zu einer Freundin. Nein, ich fuhr zu Marco.

Er war alleine im Haus seiner Eltern, die waren mal wieder in Dänemark bei ihrem Wohnwagen.

Es war schön wieder mit ihm zusammen zu sein. Ich erzählte ihm von meinen Nöten und von meinem Kummer. Ich konnte ihm mein ganzes Herz ausschütten. Er hielt mich im Arm, hörte zu, tröstete mich. Und ich lag in seinem Arm und fühlte mich so wohl, so sicher und geborgen wie schon lange nicht mehr.

„Wenn du Kummer hast, dann weißt du wo ich bin.“ Sagte Marco nur und sah mich eindringlich an.

Marco nutzte die Situation auch nicht aus, von wegen erst mal trösten, dann sehen wir weiter. Er war einfach da. Das einzige, was er machte, er küsste mich. Erst ein bisschen, ein ganz kleiner schneller Schmatz, wobei sich unsere Lippen kaum berührten. Ich wehrte mich nicht. Lehnte auch nicht ab. Dann ein nicht ganz so schneller Schmatz. Dann schon ein Küsschen auf den Mund und schließlich lag ich in seinen Armen und wir küssten uns fast so wie damals, als wir uns gerade erst entdeckt hatten.

Mehr passierte nicht.

Donalds Abstieg hörte derweil nicht auf. Wir stritten uns immer öfter, er stritt sich mit meiner Mum, meine Mum stritt sich mit mir.

Alles lief schief! Donald kam immer öfter sehr spät erst nach Hause.

Am Ende kam er sogar besoffen nach Hause. Ich war nur froh, daß ich in unser Wohnzimmer ausgewandert war, er hatte mir nämlich das Bett vollgekotzt!

Noch am gleichen Tag musste er früh zur Arbeit nach Unewatt. Da er noch nicht wieder nüchtern war hat ihn der Cheff kurzerhand rausgeworfen.

Meine Mum hat mich nur angerufen und mir gesagt, ich solle ihn nicht rein lassen, er wäre immer noch betrunken und unberechenbar.

Eine Weile stand er dann vor der Haustür und hat wild gehämmert, geklingelt und gepöbelt. Nach einer halben Stunde hat er dann aufgegeben und verschwand.

Erst nach drei Tagen meldete er sich dann wieder. Er sollte dann noch mal vorbei kommen und seine Sachen abholen, die ich und meine Mum in Kartons verpackte hatten.

Er kam dann auch. Sehr zornig und überheblich. Es war nicht schön, aber es war zu Ende.

Ich war nicht wirklich traurig.

Schon bald nahm ich das Angebot von Marco an und fuhr zu ihm. Ich schüttete ihm mein Herz aus und er fegte dann alles zusammen und warf es weg, auf den Müll, wo es hingehörte. Er nahm mich in den Arm und gab mir ein Gefühl von Liebe und Ausgewogenheit und ich konnte entspannen.

Ich blieb in der Nacht bei Ihm.

Kapitel VIII
 

Das Wiederholungsjahr in der Fruerlund-Schule war schnell vorbei. Der Stoff war langweilig und so hatte ich keine Schwierigkeiten ein gutes Zwischenzeugnis zu bekommen. Ich hatte mich dann für die weiterführende Schule entschieden um meine Mittlere Reife nachzuholen.

Das war alles in der Zeit, wo ich mit Donald zusammen war. Der Stoff in der Berufsfachschule war auch nicht wirklich schwer. Ich konnte das leicht schaffen. Besonders in Chemie war ich richtig aufgeblüht.

Leider gab es für meine Interessen keine Ausbildungsplätze im Raum Flensburg. Für den Chemielaboranten und/oder die Pharmazeutisch Technische Assistentin (kurz PTA) hätte ich mindestens nach Neumünster ziehen müssen. Das wollte ich aber nicht. Erstens hatte ich noch nie alleine gewohnt oder mich alleine um meine Angelegenheiten gekümmert. Zweitens war ich viel zu unselbständig das jetzt von heute auf Morgen zu lernen. Und drittens außerdem wollte ich nicht von da weg, wo ich alles kannte und liebte.

So war alles viel einfacher.

So entschied ich mich dann letztendlich für eine Ausbildung, die meinen Wünschen wenigstens nahe kam: Der Pharmazeutisch Kaufmännischen Angestellten (kurz PKA) Früher war das einfach die Apothekenhelferin. Die Apothekenkammer hatte allerdings beschlossen, daß man diesen Ausbildungsberuf jetzt der aktuellen Zeit anpassen müsste, hat drei Lehrjahre daraus gemacht und eben die neue Bezeichnung gewählt. Ich sollte also eine der ersten PKA werden.

Ich bewarb mich im Frühjahr, kurz bevor das mit Donald dann endgültig in die Brüche ging, bei insgesammt 56 Apotheken! Schriftlich! Ich hab die Bewerbungsmappen fertig gemacht und alle abgeschickt. Und ich habe insgesamt 8 (in Worten: acht) Antworten bekommen. Davon waren 9 eine Absage!

Ich hatte also zum Abschluss der Berufsfachschule keinen Ausbildungsplatz bekommen. Meinem Bruder ging es nicht besser. Er ist zwar drei Jahre jünger als ich. Da er aber sehr viel früher von der Waldorfschule weggegangen ist, dadurch natürlich auch sehr viel früher auf eine normale Schule gekommen ist und damit auch genauso viel früher mit dem normalen Lehrplan in Berührung kam, als ich, ist er nicht sitzen geblieben. Ich hatte durch den Schulwechsel drei Jahre verloren. Wir waren also zeitgleich mit der Schule fertig. Und genauso zeitgleich hatten wir beide zur selben Zeit keinen Ausbildungsplatz.

In der Berufsberatung bekamen wir dann die Möglichkeit, eine Art ‚soziales Jahr‘ zu machen.

Wir bewarben uns und wir wurden genommen.

Also gingen wir nach den Sommerferien auf die Akademie in Flensburg.

Allerdings nicht als Akademiker.

Lediglich der ‚Unterricht‘, dem wir von jetzt an beiwohnen sollten, fand in einem Raum der Akademie statt.

Man konnte das wirklich nicht Unterricht nennen. Wir unterhielten uns über dies und das. Mal irgendetwas mit Mut und Spontanität. Daran kann ich mich erinnern, weil ich wiedermal als einzige „HIER“ geschrien habe, als es darum ging sich zu profilieren, sich zum Volldeppen zu machen.

Es ging um eine komplett verrückte Handlung, die man ganz spontan machen sollte, wozu Mut gehörte.

Der Dozent verlangte von allen, die „HIER“ geschrien hatten – also von mir, andere Trottel gab es in der Klasse nicht – sich ganz spontan auf einen Tisch zu stellen und ein Gedicht aufzusagen.

Ich rezitierte ‚Die Made‘ von Heinz Ehrhard.

Auf dem Tisch.

Nur eine Stunde später hatte ich Lippenherpes!

So reagiere ich immer auf Stress.

Und etwas über Computer ist mir im Gedächtnis geblieben, etwas über Byte und Bitt, Mega-Byte und Mega-Bitt… Wahnsinnig spannend.

In der zweiten Woche stand an einem Vormittag plötzlich meine Mum auf dem Akademie-Platz und sammelte mich ein. Ich hätte einen Anruf von einer Apotheke bekommen und sollte sofort zum Vorstellungsgespräch, erklärte sie mir unterwegs.

Ja, gesagt und getan, etwa zwei Stunden später hatte ich einen Ausbildungsplatz für die PKA, die nächsten drei Jahre war ich abgesichert.

Die Ausbildung war dual, das bedeutet, daß ich in der Apotheke arbeitete und an zwei Tagen in der Woche Berufsschule hatte.

Ich musste auch sehr schnell feststellen, daß dieser Beruf meinen Interessen tatsächlich lediglich nur nahe kam. Von naturwissenschaftlichen Fächern war weit und breit nichts zu sehen und pharmazeutisch wurde ich nur darin ausgebildet, von der PTA oder dem Apotheker vorgefertigte Arzneimittel fertig zu machen und abzupacken. Wenn die PTA also eine Salbe angerührt hatte, durfte ich sie fertig rühren und in die Krucke (das Töpfchen) abfüllen.

Dafür lernte ich alles über die Lagerhaltung, Annahme und Weiterbearbeitung der Lieferungen, Rechnungen, Buchhaltung, Retouren, Gesetzeskunde und Wirtschaft und Politik, kurz WiPo, Verbandstoffe, Rezeptur-Equip, die Herstellung von Arzneimitteln bzw. welche Arzneiformen in der Apotheke hergestellt werden konnten und wie ich dann mit den fertigen Produkten zu verfahren hatte.

Aber nur in der Theorie.

Außerdem mussten wir ellenlang Rezepte taxieren, also, ausrechnen, was das Arzneimittel dann kosten sollte, Tees taxieren, was eine PKA alles abfüllen durfte und wie man im Labor alles reinigte, wenn das pharmazeutische Personal mit der pharmazeutischen Arbeit fertig war und das Chaos für die Helferin, bzw. PKA zurückließ.

Wir waren kurz gesagt Mädchen für alles.

Alles außer der für mich wirklich interessanten Arbeiten.

Ich hatte zwar die Bezeichnung "pharmazeutisch" in meiner Berufsbezeichnung, war aber nicht einmal pharmazeutisches Personal.

Mit den praktischen Dingen kam ich schnell zurecht. Allerdings erwies ich mich als nicht besonders teamtauglich. Ständig geriet ich vor allem mit der ausbildenden Apothekenhelferin aneinander. Es hat viel an mir gelegen. Damals war es mir allerdings nicht bewusst. Meine Mum sagte zwar immer: Such den Fehler bei dir! Das hatte mir jedoch nicht wirklich weiter geholfen.

Da ich aber eine Auszubildende war, konnte man mich auch nicht so einfach vor die Apothekentür setzen.

Es half nichts, wir alle mussten da durch.
 

Die Apotheke war in Engelsby. Das passte wunderbar mit meiner Buslinie zusammen. Ich stieg da aus, wo ich in den vergangenen drei Jahren auch ausgestiegen war, nur daß ich jetzt lediglich um zwei Ecken gehen brauchte um an meinem Ausbildungsplatz zu sein.

Natürlich beschränkte sich mein Leben jetzt nicht nur auf die Apotheke. Ich hatte ja auch Mittagspausen, Feierabende und Freizeit und Wochenenden, gelegentlich mal Urlaub.

In den Mittagspausen, die zwei Stunden dauerten, fuhr ich fast immer in die Stadt runter. Da konnte ich dann im Musikladen in der Holmpassage Klavier spielen. In dem Geschäft stand eine wunderbare Yamaha Clavinova. Der Klang war überirdisch. Ich spielte so oft ich konnte.

Abends kam Marco manchmal vorbei. Er hatte mitbekommen, daß ich Salmiakpulver in der Apotheke herstellte. Marco liebte Salmiakpulver und ich hab ihm manchmal ein Döschen davon abgezweigt.

Einmal stand Marco vor der Apotheke, als ich gerade Feierabend hatte. Er saß auf seinem Rad und stand regelrecht in den Startlöchern.

Er grinste mich an und ich sollte gleich aufsteigen.

„Ich hab den Schlüssel für die Wohnung von meinem Bruder. Da könnten wir ganz ungestört und alleine sein.“ Erklärte er mir.

Ich war geschmeichelt, daß er da gleich an mich dachte.

Allerdings war irgendetwas an seinem Verhalten komisch.

Ich schob es aber gleich weg. Ich konnte Marco immer vertrauen, er würde das jetzt sicher nicht missbrauchen.

Als wir bei der Wohnung seines Bruders ankamen, konnte es Marco nicht schnell genug gehen. Er schubste mich fast die Treppe rauf und als wir in der Wohnung waren machte er kaum das Licht an. Nur auf dem Flur. Er bugsierte mich in ein Zimmer, in dem ein Bett stand und fiel fast augenblicklich über mich her.

Ich spürte, daß es ihm scheinbar nur um die Sache ging. Er wollte nur Sex mit mir haben. Er war hastig und beinahe ein bisschen Rücksichtslos. Aber er machte es nicht mit mir, sonder für sich.

Ich hab geweint.

Er hat es nicht gesehen.

Es war kein Licht im Zimmer, nur auf dem Flur.

Ziemlich bald musste er mich dann auch wieder nach Engelsby bringen.

Ich war verletzt und traurig.

Was war das gerade?

Das war doch nicht mein Marco?

So ohne Gefühl?

Er wartete noch mit mir zusammen auf den Bus, dann verschwand er.
 

Ich war inzwischen beinahe ein halbes Jahr in der Apotheke. Die Schule lief ganz gut und die Arbeit war nicht sonderlich schwer. Aber auch nicht sonderlich interessant.

Die Apotheke lag in einem kleinen Einkaufszentrum in Engelsby. Da gab es noch einen Aldi, Schlecker, einen Bäcker und ein Geschäft für Obst und Gemüse. Nicht zu vergessen der Metzger und der Fischladen. Über der Apotheke war ein chinesisches Restaurant und es gab noch ein kleines Zeitungsgeschäft.

Mein Arbeitsplatz war überwiegend der hintere Bereich der Apotheke. Nach vorne kam ich nur, wenn ich Ware wegsortieren sollte.

Ansonsten habe ich sehr, sehr viel Zeit an einem großen Arbeitstisch verbracht, wo ich aus einem, großen Schaufenster gucken konnte. Mein Ausblick war bombastisch. Alleine dafür hat es sich schon gelohnt, in dieser Apotheke zu arbeiten.

Man beachte den sarkastischen Unterton.

Ich guckte auf einen Parkplatz.

Der bestand aus einer Reihe Stellplätzen.

Dahinter ein Holzbretterzaun, ca. zwei Meter hoch.

Direkt hinter dem Zaun waren Bäume und Büsche, gefühlte 100 Meter hoch. Den Himmel konnte ich nur im Winter sehen, wenn die Bäume und Büsche keine Blätter hatten. Und dann auch nur so lange es hell war. Und im Winter wird es im Norden sehr früh dunkel.

Zwischen der Reihe parkender Autos und meinem Schaufenster war die Straße, auf der die Autos ja irgendwie an diese Parkplätze kommen mussten.

Meistens sah ich also die rückwärtige Ansicht verschiedenster Automodelle.

Gelegentlich auch mal eine Frontansicht, aber es parkten nicht sehr viele Leute rückwärts ein.

So konnte ich den ganzen Tag die Autos meines Chefs, meiner Ausbilderin und der PTA begucken. Gelegentlich auch das Auto des zweiten Apothekers, der meinen Chef vertrat, wenn dieser frei hatte oder im Urlaub war.

Und natürlich das Kommen und Gehen von Leuten, die hier einkauften.

Wie gesagt: Spannung pur!

Manchmal allerdings war es tatsächlich spannend. Zum Beispiel hatte ich ab und zu die Möglichkeit einen Transam Firebird Tornardo anzuschmachten, solange sein Besitzer beim Einkaufen war. Mal von vorne, mal von hinten.

Oder gelegentlich kam auch jemand mit einer gelben Corvette zum Einkaufen.

Einmal saß ich gerade wieder an meinem Arbeitstisch und hakte die Lieferscheine ab, als ich einen Motor sehr hochtourig aufheulen hörte.

„Nanu? Wer quält denn da sein Auto im Leerlauf?“

Ich stand auf und beugte mich dichter an das Fenster ran. So konnte ich mehr von der Parkreihe überblicken.

Das einzige Fahrzeug, aus dem dann jemand ausstieg, war ein kleiner roter Flitzer. Ganz offensichtlich war das der Peiniger, der sein Auto quälte.

Und der Typ, der da aus dem Auto gekleckert kam war einfach nur der Hammer!

Er sah nicht nur gut aus, er strahlte auch, daß man buchstäblich geblendet war.

Ich jedenfalls.

Er schloss sein Auto ab und guckte in Richtung des Fensters, an dem ich gerade meine Nase platt drückte, als hätte er mich bemerkt.

Natürlich sah er mich dann auch.

Und er strahlte mich an.

Und ich war sofort sublimiert. Also, vom festen Aggregatzustand ohne dahin zu schmelzen gleich Gasförmig!

Er lachte mit einer so selbstverständlichen Art über das ganze Gesicht, was sag ich da, der ganze Mann war ein einziges Lächeln.

Er ging weg, kam aber nach sehr kurzer Zeit mit einer Zeitschrift und einer Tüte vom Bäcker wieder zurück, strahlte mich noch einmal an, stieg in sein Auto und fuhr los.

Ich hatte keinen Plan, was das für ein Auto war. Er erinnerte mich stark an einen Scirocco, war aber sicher keiner. Das kleine Heckfenster an der Seite des kleinen roten Flitzers war kleiner und auch schräger. Die Schnauze war im Verhältnis zum Scirocco länger und flacher. Dazu war das Auto auch irgendwie breiter. Dann die Frontschürze, die ich noch nie an einem Scirocco gesehen hatte. Die Felgen waren toll. Die hatten nur fünf mehr oder weniger runden Löchern. Auf jeden Fall gefiel mir das Auto. Der Fahrer hatte Geschmack.

Ich bemühte mich, mir schnell seine Autonummer zu merken. Vielleicht kam er ja mal wieder vorbei? Dann konnte ich ihn daran erkennen.

Nur wenige Tage später tat er mir den Gefallen. Er ging plötzlich von Rechts nach Links an meinem Fenster vorbei, strahlte mich an und verschwand. Sofort war ich geplättet und sprachlos.

‚Das muss der Typ mit dem roten Auto sein. Irgendwie eine symmetrische Zahl auf dem Nummernschild…‘ Ich beugte mich wieder vor und siehe da: Ganz da hinten, da stand der kleine Rote Wagen. Aber wieder mit der Schnauze zu mir hin. Die Zahl war symmetrisch. Also war ER es.

Der Wagen hatte eine seltsame Plaquette auf der Motorhaube, ganz vorne. Es konnte auch ein Wappen sein, von der Form her.

Aber dieses Wappen sagte mir nichts.

In dem Moment kam der junge Mann dann auch schon wieder vorbei, grüßte mich strahlend und verschwand mit seinem Auto.

Wow, der Typ war einfach… Lecker! Man kann es nicht anders sagen.

Er hatte dunkelbraune Augen, dunkle kurze Haare und dieses Lachen…

Ein bisschen erinnerte er mich an Tom Cruise.

Er kam ziemlich regelmäßig zwei Mal die Woche, holte sich eine Zeitschrift und eine Tüte vom Bäcker.

Einmal, als er gerade wieder an meinem Fenster vorbei kam, schnappte ich ganz schnell mein Portemonnaie und rief nur kurz im Laufen: „Ich gehe mal kurz zum Bäcker!“ und war auch schon aus der Tür raus.

Ich sah ihn gerade beim Bäcker verschwinden. Dann stand ich hinter ihm, fast neben ihm. Ich hörte, wie er sich zwei einfache Brötchen bestelle.

Man, der Typ hatte eine Stimme aus dunklem Samt!

Er sah mich nicht.

Ich war trotzdem hin und weg.

Hätte er mich angesehen, währe ich sicher sofort in Ohnmacht gefallen.

Als ich wieder in der Apotheke an meinem Arbeitstisch saß, stand sein Auto noch da.

Ich nannte ihn „Slax“. Das waren die Buchstaben auf seinem Nummernschild.

Ich kannte ja seinen Namen nicht.

Da ich aber immer viel an ihn denken musste, brauchte ich einen Namen.

Gut daß er nicht SLTZ oder so etwas auf dem Nummernschild hatte…

Ich wollte dieses Mal jedenfalls aufpassen, ob ich das Heck seines Autos zu sehen bekam.

Ich hatte einmal das Wappen abgezeichnet und meinem Bruder gezeigt. Der kannte sich mit Autos aus.

„Das ist ein Porsche.“ Sagte er, als ich ihm die Skizze zeigte.

„Kann nicht sein.“ Staunte ich.

„Doch, das ist das Wappen von Porsche.“ Beharrte mein Bruder.

Also wollte ich jetzt wissen, ob mein Bruder Recht hatte.

Der kleine rote Flitzer sah nicht aus wie ein Porsche. Wie schon gesagt, er hatte große Ähnlichkeit mit einem Scirocco.

Endlich kam ‚Slax‘. Er lächelte mich wieder so einnehmend an, daß ich ganz weiche Knie bekam. Dann stieg er ein und fuhr los.

Ich bekam das Heck des Autos lange genug zu sehen um lesen zu können, was einmal quer über der ganzen Heckklappe unter dem Spoiler geschrieben stand: PORSCHE

Mein Bruder hatte also Recht, das war tatsächlich ein Porsche.

Ich mochte keine Porsche.

Porsche sind Proletenautos.

Potenzverstärker!

Aber ‚Slax‘ sah absolut nicht so aus, als wenn er einen Potenzverstärker nötig gehabt hätte.

Im Gegenteil!

Die Frauen würden ihm sicher auch dann noch zu Füßen liegen, wenn er einen Trabbie fahren würde der sich größtenteils schon aufzulösen begann!

Andererseits stand ihm dieser kleine rote Porsche wirklich gut. Die zwei passten zusammen.

Und dieser Porsche war auch nicht so hässlich. Es war kein 911 oder Carrera.

Es ging eine ganze Weile, daß ‚Salx‘ kam und ging, immer zweimal die Woche und immer vormittags.

In der Zwischenzeit wusste ich, daß er rauchte.

Wie ich.

Er rauchte Marlboro.

Wie ich.

Er hatte einen rosa oder roten Duftbaum in seinem Auto am Rückspiegel hängen.

Ich hatte keinen, ich hatte ja nicht mal einen Führerschein, geschweige denn ein Auto.

Sein Porsche war ein 924 S Targa.

Ich hatte mich informiert.

Und er hatte Zeit.

Scheinbar viel Zeit.

Arbeitete er denn gar nicht?
 

Mein Geburtstag rückte näher und meine Ausbilderin fragte mich, was ich mir denn Wüschen würde.

Ich konnte ihr auf diese Frage keine Antwort geben.

‚Ein Date mit Slax.‘ dachte ich bei mir, aber das konnte man nun wirklich nicht laut äußern.

‚Slax‘ ging mir nicht mehr aus dem Kopf.

Seit einigen Wochen ging das nun schon so.

‚Slax‘ kam, strahlte mich an und verschwand wieder.

Aber kein Zeichen dafür, ob er sich vielleicht mal mit mir treffen würde.

An meinem Geburtstag bekam ich von der Apotheke eine sehr hübsche Glasschale mit Naschereien.

‚Slax‘ kam nicht.

Naja, er wusste ja auch nichts von meinem Geburtstag.

Ich hätte auch kein Geschenk erhofft, aber alleine daß er gekommen währe, währe wie ein Geburtstagsgeschenk gewesen.

Er kam die ganze Woche nicht.

Die folgende Woche auch nicht.

Ich wurde langsam traurig und dachte schon, daß ich ihn verloren hatte, bevor ich ihn wenigstens nach seinem Namen hätte fragen können.

Ich ärgerte mich, daß ich noch nicht den Mut gefunden hatte, ihn anzusprechen. Irgendwie hatte ich das immer wieder verschoben. Naja, ich war auf Arbeit, nicht um herumstreunende Kerle anzuquatschen.

Trotzdem schwor ich mir, die nächste Gelegenheit währe meine!

Ich würde ihn ansprechen!

Egal wie!

Dann, in der dritten Woche, kam ‚Slax‘ endlich wieder vorbei.

Ich sah ihn nur und hechtete durch die Apotheke und zum Hauptausgang raus.

Plötzlich stand ich direkt vor ihm.

Er lächelte überrascht und blieb stehen.

„Hi!“ sagte ich etwas aus der Puste.

„Hi.“ Antwortete ‚Slax‘

Diese Stimme…

„Ich wollte dich mal fragen, ob wir uns nicht mal treffen könnten? Das Fenster dazwischen nervt mich langsam ziemlich.“ Platzte ich heraus ohne nach zu denken und perplex von meinem eigenen Mut.

Ein unbeschreiblicher Duft wehte mir von ihm entgegen, er hatte einen sehr guten Geschmack, was Deo oder Parfum betraf.

„Ja, klar!“Strahlte ‚Slax‘

„Ich hab um 18 Uhr Feierabend.“ Erklärte ich ihm.

„Heute ist es schlecht, aber wie ist es mit morgen?“

Uwow, er war nicht abgeneigt.

„Ja, super. Morgen dann um 18 Uhr?“

Sag ja, bitte, bitte sag ja…

„Alles Klar, dann sehen wir uns morgen um 18 Uhr.“ Antwortete er.

Ich platzte innerlich.

Geschafft!

Ich hatte allen Ernstes ein Date mit ‚Slax‘!

Argh, verdammt…

„Warte“, rief ich ihm hinterher, als er schon an mir vorbeigegangen war, um sich seine Brötchen zu holen.

„Wie heißt du?“ hätte ich doch beinahe das wichtigste vergessen.

„Jörn.“ Lächelte ‚Slax‘ – nein JÖRN lächelte.

„Ich heiße Carmen.“

Dann trennten sich unsere Wege.

Jörn, oder war es Björn? Ging zum Bäcker und ich schwebte zurück in die Apotheke.

Hinten in der Apotheke, wo wir die Lieferungen bearbeiten, durften wir das Radio anhaben.

Als ich mich an meine Arbeit zurückbegab, tönte aus dem Radio „Ich bin so froh das ich ein Mädchen bin.“ Von Lucilectric. Ja, ich war wirklich froh, ein Mädchen zu sein.
 

Hatte ich alles dabei? Makeup, Lippenstift, Kajal, Mascara, mein Abdeckstift, der Weintraubenpulli meiner Mum. Meine Mama ist ja Damenschneidermeisterin. Und sie ist sehr experimentierfreudig. Sie kam auf die Idee doch Muster aus Pannesamt ausschneiden, auf einem Untergrund aus Pannesamt zu fixieren und dann mit dem Knopflochstich mit der Nähmaschine fest zu nähen.

Der Prototype war der Pulli mit den Weintrauben. Blaue (eigentlich violette) Trauben in drei Farbschattierungen ‚hingen‘ an einer Rebe über den Pulli aus schwarzem Pannesamt vorne wie auch hinten. Dazwischen reichlich Weinblätter in ebenfalls drei Farbschattierungen aber eben grün und ein paar Kringel für die Rebelnden. Die Grundfarbe war Schwarz. Kurz gesagt, der Pullie war ein Kaskade aus Trauben und absolut edel.

Für Jörn (oder hieß er doch Björn?). Es muss Björn sein, von Jörn hab ich noch nie was gehört. Naja, man kann aber auch nicht alle Namen kennen, die es gibt.

Für Björn jedenfalls wollte ich gut aussehen und ich durfte den Pulli leihen.

Meine Güte, ich war so aufgeregt, daß ich die Nacht schon wenig bis gar nicht geschlafen hatte. Lange bevor mein Wecker losgehen sollte, war ich schon wach. Ich hatte geduscht, meine Haare gewaschen und geföhnt, meine Utensilien zurechtgelegt und war gerade dabei die vierte Frisur auszuprobieren, die mir einfiel, als dann auch der Radiowecker losging.

Ich war total aufgekratzt und die Zeit ging und ging einfach nicht weiter. Meine Mum wusste, daß ich den Abend erst später nach Hause kommen würde. Ich brauchte auch keinen Grund angeben. Inzwischen war ich 22 und konnte schon ganz gut auf mich selbst aufpassen.

Endlich war es soweit, ich musste zum Bus.

Ich prüfte noch mal, ob ich alles dabei hatte. Das Portemonnaie wanderte wieder in die hintere Hosentasche, mein Zigaretten in die Jackentasche. Ich wollte meine Wildlederjacke mit den Cowboyzotteln an den Ärmeln anziehen. Die hatte zwar nicht viel Platz in den Taschen. Dafür sah sie aber gut aus. Der Hausschlüssel… Alles da.

Als ich in Engelsby aus dem Bus ausstieg, hätte ich mir gewünscht, das ‚Slax‘, nein Björn, oder doch Jörn? Jedenfalls wünschte ich mir fast, daß er schon da wäre, einfach weil er es vielleicht auch nicht erwarten konnte.

Natürlich war er nicht da.

Wie kindisch von mir.

Der Vormittag ging einigermaßen zügig vorbei. Wir hatten eine große Lieferung von Ratiopharm bekommen die bearbeitet werden musste.

Natürlich sah ich immer wieder suchend aus dem Fenster und natürlich war Björn? Jörn? Er war nicht vorbei gekommen um sich seine Brötchen und die Zeitschrift zu holen.

Er würde ja nachher kommen.

Ich freute mich wie ein Kleinkind an Weihnachten.

Ich WUSSTE daß er heute kommen würde.

Ganz sicher.

Dann hatten wir Mittagspause.

Ich fuhr in die Stadt runter, wie fast jede Mittagspause.

Normalerweise ging ich in die Spielothek am ZOB. Dort standen zwei Billardtische. Ein Bekannter von mir war da immer um zu spielen. Irgendwann bin ich einfach auch mal da reingegangen.

Man konnte dort auch Dart spielen. Und da ich einen eigenen Satz Darts hatte und auch nicht die schlechteste Spielerin war, machte ich das auch oft.

Und ich sah den Jungs beim Billard zu.

Heute aber wollte ich nicht irgendwo sitzen und darauf warten, daß die Zeit vergehen würde. Ich konnte auch nicht in den Musikladen um auf ‚meiner‘ Clavinova zu spielen. Dafür zitterten meine Hände zu stark.

Alleine bleiben sollte ich aber auch nicht. Ich traf eine Bekannte aus meiner Klasse in der Fruerlundschule.

Ich erzählte ihr von meiner Aufregung und warum ich so hibbelig war. Jessika fand das auch wahnsinnig aufregend. Ich wollte ihr gerade beschreiben, wie dieser unfassbare Mann aussah, als er nur wenige Meter vor uns den Südermarkt überquerte.

Ich hätte fast aufgeschrien. Ich erklärte Jessika wo Jörn? Björn? Ich musste ihn das auf jeden Fall nachher noch mal fragen. Jedenfalls erklärte ich Jessika wo er war und wie sie ihn erkannte. Er hatte eine rostbraune Jacke an und war einfach nicht zu übersehen.

Jessika quiekte leise wie eine Maus, der man auf den Schwanz getreten war.

„Der da?“ kicherte sie kleinmädchenhaft.

„Ja, genau der da.“ Kicherte ich ebenfalls kleinmädchenhaft.

„Ist er nicht ein Traum?“ schwärmte ich.
 

Endlich, Feierabend. Naja, fast, noch 15 Minuten.

Ich räumte die letzten Arzneischachteln in die Schubladen.

Noch 14 Minuten.

Ich räumte den Tisch auf, wo ich die Sendung fertig gemacht hatte, deren letzte Packungen ich gerade in das Alphabeth eingeräumt hatte.

Noch 13 einhalb Minuten.

Ich überprüfte im Computer, ob die Bestellung für den nächsten Tag schon an den Großhändler rausgegangen war.

Noch 13 Minuten.

Nagut, dann gucke ich halt mal, ob im Labor noch etwas abzuwaschen ist. Ich fand auch tatsächlich zwei Kaffeetassen. Mit mehrfach zitternden Händen machte ich die Tassen schnell sauber.

Ich konnte nicht mehr, die Zeit verging nicht und ‚Slax‘ war auch noch nirgendwo zu sehen.

Nein, Björn. Oder Jörn.

Ich schnappte mir meine Tasche und ging in den winzigen Waschraum. Dort zog ich den Weintraubenpulli an, schminkte mich und machte meine Haare noch mal ordentlich.

Als ich zurück kam war es fünf Minuten vor 6 und meine Ausbilderin ließ den Rollladen runter. Ich schulte noch mal unter durch, aber es war kein roter Porsche zu sehen.

Verdammt, kam er doch nicht? Vielleicht war ich ihm zu forsch?

Mir war ganz schwindelig vor Aufregung.

Endlich!

Endlich nahm meine Ausbilderin ihre Jacke aus dem Schrank und eröffnete damit offiziell den Feierabend.

„Tschüß, bis morgen.“ Sagte sie kurz und war auch schon auf dem Weg zum Lieferanteneingang.

Ich schnappte mir meine Lederjacke, warf sie mir über und versuchte ein möglichst entspannt neutrales Gesicht zu machen.

Als ich aus dem Lieferanteneingang kam und über die Reihe mit den Autos guckte, fand ich ihn nicht.

War er noch nicht da? Kam er gar nicht? Vielleicht steht er vorne um das Gebäude herum?

Ich ging also nach vorne. Dort war er auch nicht. Panik ergriff meinen Magen und knüllte ihn auf die Größe einer Erdnuss zusammen.

Kam er doch nicht?

Ich war schon fast den Tränen nahe.

Als ich wieder nach hinten gehen wollte, kam er schon von dort mit dem Auto und hielt genau neben mir an.

Mein Magen faltete sich schlagartig wieder auf die normale Größe auseinander und mein Herz schlug mir bis zum Hals.

Ich bemühte mich so zu wirken, als sei es die normalste Sache der Welt für mich zu einem Traumtypen in den Porsche einzusteigen.

Wie schon gesagt, Porsche war sicher nicht meine Automarke der Wahl, aber es hatte doch ein gewisses Etwas. Jedenfalls entging mir der erstaunte Blick meiner Ausbilderin nicht.

„Hi.“ Grüßte ich, als ich eingestiegen war.

„Hi.“ Entgegnete Jörn, Björn?

Noch bevor ich richtig angeschnallt war machte ich mir eine Zigarette an.

„Ja, in diesem Auto darf geraucht werden.“ Sagte er milde lachend.

„Ich weiß.“ Antwortete ich.

Wie dämlich!

Blöd!

Peinlich!

Wie konnte ich das nur einfach so voraussetzen? Gut, ich hab ihn oft in seinem Auto rauchen sehen, aber das klang ja jetzt, als hätte ich ihn beobachtet. Observiert.

Wie unhöflich und unpassend!

Er sagte nichts weiter und fuhr los.

„Wo sollen wir denn jetzt hin?“ fragte er mich gut gelaunt.

„Ich weiß nicht? Ich hatte gehofft, du wüsstest etwas?“ antwortete ich.

„Nö, keine Ahnung.“ Jörn, oder war es doch Björn? Stand an der Ausfahrt vom Parkplatz bei der Apotheke und guckte mich kurz fragend an.

Er fuhr dann jedenfalls erstmal in Richtung Kappeln auf die Nordstraße.

Ich wollte gerade das Fenster auf meiner Seite aufmachen. Ich fand keine Kurbel, dafür aber einen Knopf.

‚Uh‘, dachte ich. ‚Elektrische Fensterheber, wie cool.‘

Björn, oder Jörn bekam das aus dem Augenwinkel mit.

„HALT!“ rief er.

„Nicht da drauf drücken. Die Hebemechanik ist kaputt. Ich bekomme das Fenster nie wieder zu.“

Oha.

Ich nahm ganz schnell die Hand wieder weg.

„Ich war ganz schön überrascht, als du gestern plötzlich vor mir standest.“ Sagte er schmunzelnd und öffnete das Fenster auf seiner Seite.

„Ich hab auch lange daran gearbeitet, genügend Mut zusammen zu kratzen.“ Erwiderte ich etwas verlegen.

Wir unterhielten uns über dies und das. Hauptsächlich über mich. Was ich da in der Apotheke mache, wie ich dazu gekommen bin, als wir an Langballig vorbei kamen erzählte ich ihm, daß ich da wohnen würde, in Streichmühle erklärte ich ihm, was eine ‚schlafende Ampel‘ ist, weil da eine Ampel stand und Jörn, Björn? meinte: "Ich weiß nicht, warum da ne Ampel steht. Die ist nie an, wenn ich komme. Wofür braucht man denn dann da eine Ampel?"

Inzwischen waren wir schon an Gelting vorbei.

„Wo sollen wir denn jetzt mal hinfahren?“ fragte er mich gut gelaunt.

„Ich weiß nicht, hier kenne ich mich nicht wirklich aus.“ Gab ich zur Antwort.

„Nagut, dann fahren wir nach Damp. Da weiß ich auch, wo ich parken soll.“ Sagte er dann und trat zielbewusst auf das Gaspedal.

Als wir durch Kappeln durch waren und auf der Straße Richtung Damp fuhren, überholte uns ein BMW.

„Na, siehste. Da kannste jetzt behaupten, du hättest mal einen Porsche überholt!“ rief ich dem BMW hinterher, was der natürlich nicht mit bekam.

Aber sicher hatte es mein Fahrer mitbekommen.

Ich war ja auch laut genug.

Wie Peinlich.

Schon wieder ein fettes, saftiges Fettnäpfchen. Ich bin mit beiden Beinen gleichzeitig hineingesprungen und bis an die Achselhöhlen versunken!

Ich kam mir echt dümmlich vor.

Jörn oder Björn reagierte nicht darauf. Ich denke mal, er hat es einfach großzügig überhört.

Ich war ihm sehr dankbar dafür.

Man, der musste ja sonstwas von mir denken…

Endlich hatten wir Damp erreicht.

Björn bzw. Jörn parkte sein Auto und wir stiegen aus.

Von jetzt an tauschten wir die Rollen. Er erzählte über sich und ich hörte zu. Ich hätte ihm stundenlang zu hören können. Selbst wenn er das Telephonbuch vorgelesen hätte.

Wir hatten Ende März aber der Himmel war klar und die Luft milde. Die Sonne war zwar schon fast untergegangen, aber es war noch recht hell.

Er erzählte mir, daß er eigentlich aus Fulda kam. Er wohnte da in einem kleinen Ort in der Nähe der Stadt. Durch den Bund war er nach Flensburg gekommen und dann geblieben. Und das schon seit sieben Jahren. Ich erfuhr, daß er keine Geschwister hatte und ein sehr gutes Verhältnis mit seinen Eltern. Im Haus seiner Eltern gäbe es ein Fenster, wo die Treppe in das Obergeschoss führte. Es war so groß, daß es über beide Stockwerke reichte. Zu hoch für seine Mum. Und jedes Mal, wenn er nach Hause kam, durfte er dieses Fenster putzen. Was er natürlich gerne machte.

Er berichtete mir über die Entfernung seiner Weisheitszähne. Alle vier gleichzeitig, ohne Betäubung. Die Sprechstundenhilfen in der Praxis hätten nur gestaunt und konnten das gar nicht glauben.

Ich auch nicht.

Aber er hatte etwas unglaublich vertrauenerweckendes. Er schwindelte oder übertrieb sicher nicht.

Wir gingen über die Stege im Yachthafen von Damp und irgendwann dann in die Gegend, wo kleine Ferienhäuser standen, die eigentlich nur aus Dach und Fenstern bestanden.

Inzwischen hatte ich dann auch erfahren, daß er 28 Jahre alt war und daß er an dem einzigen Freitag den 13 Geburtstag hätte, den wir in dem Jahr hätten.

Im Kopf war ich gerade dabei auszurechnen, wann das wäre, als er mich auch schon darüber aufklärte, daß das im Mai sein würde.

Ich überschlug kurz und als ich gerade feststellte, daß er dann von Sternzeichen Stier sein müsste, verkündete er das ebenfalls schon laut.

Er erzählte und erzählte, ich hörte zu und ich hätte stundenlang so weiter machen könne.

Mein Lieblingswort damals war genial. Bei mir war alles genial. Jörn bzw. Björn fand alles prima.

Er erzählte gerade etwas von einem Freund oder Bekannten, jedenfalls hieß der Björn.

Ich erinnerte mich daran, daß ich noch immer nicht wusste, wie er denn jetzt genau hieß?

„Wie heißt du jetzt eigentlich?“ fragte ich ihn endlich.

„Björn oder Jörn?“ ich zog die Augenbrauen hoch.

„Jörn.“ Antwortete er gut gelaunt.

„Björn heißt mein Kumpel.“

Jörn.

Klingt seltsam.

Ungewohnt.

Aber schön.

Ein heller Name. Hellblau.

„Guck mal, da vorne.“ Ich zeigte im Halbdunkel auf einen Busch vor uns.

„Da ist ein Hase.“

„Ja, da hinten läuft er.“ bestätigte Jörn. Dann blieb der Hase hocken.

„Wenn die Hasen laufen, dann kann man die helle Unterseite vom Hasenschwanz sehen. Und weil es aussieht, als würde der Hase beim Laufen Lichtzeichen geben nennt man den Schwanz vom Hasen Blinker.“ Erklärte ich ihm.

„Ahaaa“ machte Jörn lang gezogen, „Das muss ich noch mal sehen.“ Riefs und rannte auch schon leicht gebückt und in die Hände klatschend in die Richtung, in der der Hase noch hockte. Das Tier lief wie gewünscht los und Jörn konnte nun sehen, daß das Hinterteil des Hasen tatsächlich blinkte.

Hoch zufrieden und sich wie ein kleiner Junge freuend kam er dann zu mir zurück.

„Tatsächlich, du hattest Recht. Der blinkt ja wirklich.“

Er erzählte dann vom Autofahren. Daß ja die großen schwarzen Krähen häufig am Straßenrand sitzen und nicht den Eindruck machten, als würde der Verkehr sie sonderlich beeindrucken. Im Gegenteil. Die blieben einfach stehen.

Inzwischen hatten wir auch sein Auto wieder erreicht. Wir waren dreieinhalb Stunden spazieren gewesen. Es war auch schon ziemlich dunkel geworden. Am Horizont war zwar noch deutlich ein heller Streifen, aber der ein oder andere Stern war schon deutlich zu sehen.

Der Frühling hatte sich noch nicht so richtig eingestellt. Manche Knospen waren zwar schon aufgegangen, aber nur die, die sowieso sehr früh im Jahr grün wurden.

Als wir wieder im Auto saßen und in Richtung Flensburg über die Nordstraße fuhren, unterhielten wir uns über den Frühling.

„Ich liebe das frische Frühlingsgrün.“ Schwärmte Jörn.

„Wenn das Gras so schön grün ist, daß man sich in die Wiese schmeißen und ein Stück davon abbeißen möchte.“

Ich pflichtete ihm bei, besser hätte ich es nicht ausdrücken können.

"Und irgendwann erwische ich auch den Typen, der die grünen Blätter im Frühling an die Bäume pappt!" verkündete Jörn siegessicher und hob seinen Zeigefinger beschwörend in die Luft.

Jörn wollte noch etwas trinken gehen. Aber keiner von uns wusste wo. In Gelting am Hafen war alles zu. Er fuhr dann eine kleine Nebenstraße rein an deren Ende dann auch tatsächlich ein Gasthof war. Wir gingen rein und setzten uns an die Bar.

Jörn erzählte immer noch begeistert aus seinem Leben und ich hörte immer noch genauso begeistert zu, wie noch vor zwei Stunden oder drei Stunden.

Er war so begeistert und fröhlich bei der Sache, das steckte an.

Im Radio lief ein Lied von Richard Marx: Now and forever.

Ich war kurz davor vom Barhocker zu fließen.

Die Uhr war nach 11 Uhr abends, als er mich nach Hause brachte. Er war auch einer der wenigen Auserwählten, der mich bis vor die Haustür fahren durfte. Vor die RICHTIGE Haustür.

Es kam schon mal vor, daß mich wer relativ fremdes einfach mitnahm und nach Hause fahren wollte. Meistens wollte ich die dann aber nicht noch mal treffen. Die ließ ich dann in der Nähe von da, wo ich tatsächlich wohnte vor ein Haus fahren. Dort stieg ich dann aus, tat so als würde ich den Weg zur Haustür hochgehen und wen sie außer Sichtweite waren, ging ich die letzten zig Meter zu meinem richtigen zu Hause.

Vor der Einfahrt blieb Jörn dann mit seinem Wagen stehen und kramte etwas aus seiner Jackentasche heraus. Es war eine Visitenkarte die er mir mit den Worten: „Wir können ja mal einen Kaffee trinken gehen.“ In die Hand drückte.

„Klar, ich ruf dich an.“ Sagte ich.

„Tu das.“ Lachte Jörn.

„Prima.“ Erwiderte ich.

„Genial.“ Antwortete Jörn lachend.

Ich machte die Tür von seinem Auto zu und er fuhr los. Ich sah ihm so lange nach, bis ich den Motor seines Wagens nicht mehr hören konnte. Dann ging ich ins Haus.

Kapitel IX
 

Ich hatte mir fest vorgenommen, ihn nicht gleich anzurufen. Das würde blöd aussehen. Es sollten mindestens ein paar Tage dazwischen liegen. Zwischen unserem ersten Treffen und dem nächsten.

So oder so ähnlich dachte ich jedenfalls, als ich die Haustür an dem Abend hinter mir zu machte.

Es war spät und ich war total fertig, aber immer noch high. Er war fantastisch.

Berauschend.

Ein irrer Typ.

Überirdisch.

Und er schien mich zu mögen.

Ich lehnte an der geschlossenen Haustür im Vorflur und hielt seine Karte in der Hand.

Ich sah auf die einfache Schrift.

Da stand sein Name, seine Adresse, seine Telefonnummer. Er hatte sogar ein Mobiltelefon.

Alles da und ich hatte es in der Hand.

Aus ‚Slax‘ ist ein richtiger Mensch geworden, mit Interessen, Gefühlen, einem Leben und einer Telefonnummer.

Und einem unfassbarem Charakter.

Jörn.

War ich verliebt?

Keine Ahnung.

Vielleicht?

Auf jeden Fall war er niemand, den ich einfach so abgehakt hätte.

Auf keinen Fall.

Ich wollte ihn wieder sehen.

Ich löste mich aus der Starre und ging ins Haus.

Dann unter die Dusche.

Dann ins Bett.

Seine Visitenkarte unter dem Kopfkissen.
 

Ich stand am Computer in der Apotheke und checkte die Aufträge für die Großhändler. Der Auftrag für den Arznei-Großhändler Jenne war dran bereit gestellt zu werden.

Ich war immer wieder fasziniert, daß das so einfach ging. Mit dem Computer über die Telephonleitung. Der Großhändler rief bei uns an und der Computer sendete dann unsere Bestellung.

Alles automatisch.

Schon toll die Technik.

Ich sah auf die Uhr, 10:25 Uhr, Zeit, den Auftrag zu aktivieren.

10:25 Uhr, jetzt war es schon beinahe 11 Stunden her, daß ich mich von Jörn verabschiedet hatte mit der Option doch mal einen Kaffee trinken zu gehen.

Ich trank zwar keinen Kaffee, aber das war ja auch nur eine Floskel.

Sollte ich vielleicht doch schon anrufen?

Ich wollte ihn wieder sehen.

In der Tasche an meinem Kittel hatte ich seine Visitenkarte.

Ich wollte sie immer dann aus der Tasche nehmen können, wenn mir der vorige Tag irgendwie unwahrscheinlich vor kam.

Unecht.

War das wirklich passiert?

Ich tastete nach der Karte.

Meine Finger erfassten sie in der Kitteltasche.

Ich zog sie ein Stück weit heraus, so, daß ich lesen konnte, was darauf stand.

Ja, es war wirklich passiert.

Wow.

Während des Vormittages sah ich immer wieder auf den Parkplatz raus. Aber Jörn war weit und breit nicht zu sehen.

Egal.

Ich hatte seine Nummer.

Ich konnte ihn anrufen wenn ich wollte.

Aber nicht gleich sofort.

Das wäre aufdringlich.

Ich war noch immer ganz benebelt und schwebte auf rosaroten Wolken. Nichts brachte mich aus meiner zuckerwattenen Ruhe.

Ich lächelte nur in mich hinein.

Ließ den Abend immer und immer wieder Revue passieren.

Wann konnte ich ihn anrufen?

Nicht gleich schon am nächsten Tag.

Aber ich wollte ihn wieder sehen.

Was, wenn er nur heute oder morgen Zeit hätte?

Was wenn ich morgen oder übermorgen anrufen würde und er wäre dann nicht erreichbar?

Nein, es wäre aufdringlich, wenn ich ihn gleich wieder anrufen würde.

In der Mittagspause hielt ich es nicht mehr aus.

Ich war auf dem ZOB und steuerte die nächste Telephonzelle an.

Ich wählte seine Nummer und hatte große Mühe mein Herz immer wieder hinunter zu würgen, daß mir im Hals schlug und aus dem Mund zu hüpfen drohte.

Es tutete ein zwei Mal dann ging er tatsächlich ran.

„Ja, Hallo?“ hörte ich seine sonore fast flauschige Stimme am anderen Ende der Leitung.

„Hi, ich bins.“ Meine Stimme zitterte und meine Worte klangen unsicher.

„Wer ist ich?“ Jörn konnte es sich scheinbar schon denken, ich konnte ihn lächeln hören.

„Carmen.“ Antwortete ich ein wenig holprig.

Ich musste mich räuspern.

„Ach, hallo Carmen. Grüß dich. Na? Wie geht es dir?“

Jörn klang so fröhlich und gut gelaunt, als hätte er schon auf meinen Anruf gewartet.

„Gut, danke. Jetzt geht es mir besser.“ Meine Nervosität legte sich etwas.

„Es geht dir besser? Ging es dir denn schlecht?“ er klang etwas besorgt, aber nicht wirklich betroffen. Es schien eigentlich so, als könne er sich schon denken, was ich meinte.

„Ja, nein - Doch - Ach - Ist nicht so wichtig.“ Stotterte ich. Sicher konnte man weithin sehen, daß in dieser Telephonzelle jemand stand der gerade dunkelrot vor sich hin leuchtete.

„Na, das ist doch schön.“ Strahlte Jörn.

„Was gibt es denn?“

Als wenn er das nicht schon ahnte. Ich konnte ihn direkt lächeln hören, aber es war auch, als würde er mich mit seiner Stimme in den Arm nehmen.

„Du sagtest doch, wir könnten mal einen Kaffee trinken gehen?“ fing ich vorsichtig an, ein Bisschen die Angst im Hintergrund, er könne ablehnen.

„Ja freilich.“ Antwortete er.

„Wann hast du denn mal Zeit?“ meine Stimme zitterte wieder.

„Also, heute geht es leider nicht. Da muss weg. Und morgen ist auch schlecht.“ Sagte er.

„Oh, schade.“ Mehr brachte ich nicht raus.

Klar, ich hätte doch ein zwei Tage warten sollen. Jetzt hält er mich für aufdringlich.

„Aber am Freitag hätte ich Zeit.“ Fügte er dann hinzu.

Am Freitag war Karfreitag, da hatte ich ohnehin den ganzen Tag frei, da hatte jeder Frei.

„Ja, klar, sicher. Wann?“ freute ich mich.

„So gegen 17 Uhr?“ Ich konnte Jörn wieder strahlen hören.

„Ja.“ Brachte ich nur zu Stande.

„Ich hol dich zu Hause ab?“ fragte er.

„Ja. Um 17 Uhr am Freitag?“ Er wollte mich tatsächlich auch wieder sehen.

„Gut, dann sehen wir uns am Freitag.“ bestätigte Jörn. Er klang fast liebevoll, aber ich wollte mir auch nichts einreden.

„Ok.“ Ich hätte am liebsten noch so viel gesagt, aber ich brachte einfach keinen anständigen Satz zusammen.

„Dann bis Freitag.“ Lächelte Jörn.

„Bis Freitag.“ Wiederholte ich.

Wir verabschiedeten uns kurz und dann hängte ich den Hörer wieder ein.

Ich schwebte aus der Telephonzelle.

Ich durfte ihn wieder sehen.

Nicht heute.

Nicht morgen.

Aber am Freitag.

Und er würde mich zu Hause abholen.

Und wir hätten alle Zeit der Welt.

Am liebsten hätte ich ihn gleich wieder angerufen, aber ich hatte ja einen Termin für unser zweites Date. Es fiel mir sehr schwer mich zu beherrschen.

Ich wollte seine Stimme hören, ihn lächeln hören, Seine wundervollen Augen in Gedanken vor mir sehen.

Ich hatte mich doch verliebt.
 

Inzwischen war es endlich Freitag.

Ich hätte ihn darauf aufmerksam machen können, daß ja Karfreitag wäre und das ich schon viel früher Zeit gehabt hätte. Aber ich wollte ihn nicht verschrecken. Nicht drängen.

Dieses Mal zog ich meinen schwarz/weißen Fleezepulli an, den meine Mum nach meinen Wünschen figurbetont geschneidert hatte. Dazu eine blickdichte hautenge schwarze Leggin die ich statt einer Strumpfhose unter der Jeans trug. Und natürlich wieder meine schwarze Lederjacke.

Um halb fünf war ich fix und fertig geschminkt, gestylt und angezogen. Ich saß bei meinem Bruder im Zimmer auf der Fensterbank und beobachtete die Straße.

Wenn er kommt, dann musste er hier lang.

Ich würde ihn sehen, sobald er um die Kurve an der Schule vorbei kommen würde.

Ich rauchte eine Zigarette nach der anderen. Ich rauchte beinahe Kette. Bei fast jedem Blick auf die Uhr waren wieder nur eine höchstens zwei Minuten vergangen.

Die halbe Stunde zog sich hin wie alter zäher Kaugummi.

Mein Bruder war nicht in seinem Zimmer, der saß unten mit unserer Mum im Wohnzimmer und guckte „Die 10 Gebote“.

Der Film kam immer am Karfreitag.

Ich konnte heute keinen Film gucken.

Jedenfalls nicht jetzt.

Dafür war ich viel zu aufgeregt.

Meine Hände zitterten so sehr, daß man das Zittern gar nicht mehr wahr nahm. Aber hätte ich jetzt etwas in die Hand genommen, hätte ich es fallen lassen oder kaputtgeknüllt.

Ein Blick auf die Uhr verriet mir, daß dann tatsächlich doch noch etwas Zeit vergangen war. Ganze 20 Minuten.

Vielleicht kommt er ja ein bisschen früher?

Nein, so wie ich ihn einschätzte würde er pünktlich kommen.

Auf die Minute.

Ich drückte meine Zigarette in dem Aschenbecher aus, der vor mir auf der Fensterbank stand, holte nur einmal tief Luft und machte gleich die nächste an.

Ich hatte einige Mühe die Zigarette aus der Packung zu puhlen, ich war so aufgeregt, daß sie ganz krumm dabei wurde.

Heute war Karfreitag.

Die Geschäfte hatten alle zu.

Aber sicher hatte irgendwo ein Gasthof oder ein Kaffee geöffnet.

Endlich!

Ich konnte den Motor von seinem Wagen hören.

Ich rutschte von der Fensterbank und während ich das Zimmer meines Bruders verließ guckte ich noch mal schnell aus dem Fenster.

Ja, tatsächlich, er fuhr gerade an unserem Grundstück vorbei.

Meine sämtlichen Innereien zogen sich zusammen.

Ich ging runter und traf meine Mum auf dem Flur.

„Ist er da?“ fragte sie.

„Jap, gerade angekommen.“ Antwortete ich.

Natürlich ist meiner Mum nicht verborgen geblieben, daß ich da was am Laufen hatte. Und da Jörn mich von zu Hause abholen wollte, musste ich sie wohl oder übel einweihen. Als sie 'Gutaussehend' und 'roter Porsche' hörte, musste sie natürlich wissen, wer das war.

Meine Mum hechtete in die Küche, von da aus konnte sie den vorderen Bereich des Grundstückes sehen und alles, was vor unserer Haustür war.

Mein Bruder muss uns gehört haben denn auch er eilte in die Küche. Gemeinsam drückten sie sich jetzt die Nasen platt.

„Was macht ihr denn da?“ fragte ich tadelnd.

„Ich wollte nur mal sein Auto sehen.“ Antwortete mein Bruder ohne sich vom Fenster weg zu drehen.

„Ich wollte diesen Typen mal sehen.“ Erläuterte meine Mum.

„Na, dann habt ihr es ja jetzt gesehen.“ Sagte ich trocken.

Ich wollte Jörn nicht gleich entgegeneilen, also blieb ich im Flur stehen, meine Handtasche über die Schulter gehängt, fix und fertig.

Es klingelte.

Mein Magen implodierte.

Meine Mum öffnete die Haustür.

„Moin. Ich wollte zu ihrer Tochter.“ Hörte ich Jörn gut gelaunt und sympathisch sagen.

„Ja, Moment.“ Gab meine Mum zurück.

Ich ließ sie nicht erst nach mir rufen. Das Klingeln konnte ich ja nicht überhört haben. Da war es dann nicht mehr aufdringlich, wenn ich mich jetzt beeilte.

Ich drückte mich an meiner Mum durch den engen Vorflur vorbei.

„Grüß dich.“ Strahlte Jörn.

„Hi.“ Brachte ich mit heiserer Stimme hervor.

Ich hätte vielleicht nicht so viel Rauchen sollen.

„Tschüß, Mutsch.“ Sagte ich noch.

Dann gingen Jörn und ich zu seinem Auto. Er hatte nicht auf der Auffahrt geparkt sondern auf dem kleinen Parkplatz neben unserem Grundstück.

Als ich einstieg sah ich, daß meine Mum noch in der Tür und mein Bruder noch am Küchenfenster standen.

Jörn ließ den Motor an und wir fuhren endlich los.

„Ich hab ganz vergessen, daß heute Karfreitag ist. Die meisten Geschäfte und Lokale haben heute geschlossen.“ erklärte Jörn.

„Ach ja, stimmt ja.“ Pflichtete ich ihm bei. Ich wollte nicht daß er dachte, ich hätte das irgendwie berechnet.

„Nu weiß ich gar nicht, wo wir hinfahren sollen.“ Sagte Jörn.

Ich ging im Kopf alles durch, was mir an Lokalitäten in Flensburg einfiel, aber es war absolut nichts Brauchbares dabei.

„Ich auch nicht.“ Gab ich schließlich zur Antwort.

Jörn fuhr über die Nordstraße in Richtung Flensburg.

Ich sah in von der Seite an.

Das war tatsächlich Jörn.

‚Slax‘

Ich saß in seinem Auto.

Ich war wie betäubt.

„Ich weiß was wir machen.“ Strahlte Jörn dann über das ganze Gesicht.

„Wir fahren zu mir und gucken einen Film. Ich habe gestern „Allein mit Onkel Buck“ aufgenommen. Hast du den schon gesehen?“ sprudelte es dann aus ihm hervor.

„Nein, nicht wirklich.“ Antwortete ich.

Ich hatte den Film schon gesehen, allerdings nur die erste Hälfte. Mein Bruder und ich wollten den gestern zusammen gucken. Aber ich konnte mich nicht darauf konzentrieren. Die erste Hälfte hab ich also nicht mal richtig mit bekommen. Die zweite Hälfte gar nicht. Da bin ich draußen gewesen, ich brauchte frische Luft.

Dieser Mann machte mich fertig und er konnte nicht mal etwas dafür.

Er tat ja eigentlich gar nichts.

Er flirtete nicht mit mir.

Machte keine zweideutigen Andeutungen.

Er schäkerte nicht mit mir.

Ja, er versucht nicht mal mir zu imponieren.

Er war einfach nur er selbst.

Nett.

Freundlich.

Witzig.

Aufmerksam.

Charismatisch.

Auch wenn er das nicht wusste, nicht ausnutzte.

Er hatte ein einehmendes Wesen und ich war hin und weg.

Und das imponierte mir.

Schließlich waren wir dann bei ihm angekommen. Er parkte seinen Wagen auf dem Rondell, daß am Ende einer Sackgasse war. Wir gingen zu dem Haus, in dem er wohnte. Der Vorflur war groß. So groß, daß sogar eine Garderobe mit Spiegel darin stand. An der Garderobe hingen Jacken und davor standen Schuhe in Kinder- und Erwachsenen-Größe.

Ganz offensichtlich war das die Garderobe von Jörns Vermieter.

Zur linken war eine Tür. Durch die gelangten wir auf eine Treppe, die zu seiner Wohnung hoch führte. Auf dem Vorflur und der Treppe roch es nach Heizöl. Ich liebte diesen Geruch, erinnerte er mich doch an meinen Vater und die Seefahrt.

Als ich das letzte Mal auf einem Containerfrachter gewesen bin war ich 15 und gerade seit ein paar Wochen mit Ralf zusammen. Es war die Cam Ebene die damals in Hamburg im Hafen lag.

Die Schiffe wurden mit Schweröl angetrieben, also Heizöl. Und alles an Bord und im Hafen roch nach diesem Treibstoff. Es war ein Teil meiner Kindheit und ich liebte es wie andere Rosenduft lieben.

„Tut mir leid, mit dem Öl. Das kommt irgendwie aus dem Keller. Mein Vermieter hat noch nicht herausfinden können, woran das liegt.“ Entschuldigte er sich bei mir.

„Kein Problem, ich mag diesen Geruch.“ Erwiderte ich versonnen lächelnd.

„Ehrlich? Wieso das?“ fragte Jörn ungläubig.

Ich begann von meinem Vater und der Seefahrt zu erzählen.

Währenddessen hatten wir die Wohnungstür erreicht, die direkt am Ende der Treppe lag. Jörn schloss auf und wir gingen hinein. wir kamen auf einen langen schmalen Flur. Der war bestimmt vier Meter lang. Am von mir aus rechten Ende war eine Tür. Dann war da noch die Tür, durch die wir gerade reingekommen waren und links endete der Flur in einem L, da waren zwei Türen nebeneinander.

Wir gingen durch die erste Tür auf der linken Seite und waren im Wohnzimmer.

Es war ein großer Raum. Und wirklich geschmackvoll eingerichtet.

Links von mir im Wohnzimmer war noch eine Tür. Sie stand halb offen und ich konnte erkennen, daß da wohl die Küche war.

Dann würde also die Tür links vom Wohnzimmer, die ich auf dem Flur gesehen hatte, in die Küche führen.

Jörn bedeutete mir mich auf das Sofa zu setzen. Vor dem Sofa stand ein Wohnzimmertisch mit einer Glasplatte.

Jörn hockte vor seinem Fernseher und bereitete den Videorekorder darauf vor, gleich den Film abzuspielen.

Als er damit fertig war kam er zu mir auf das Sofa.

Ich erzählte noch weiter von der Seefahrt und Jörn hörte gespannt zu.

„Na, dann bist du ja richtig in der Welt herumgekommen.“ Stellte Jörn fröhlich fest.

„Ja, kann man so sagen.“ Antwortete ich.

„Magst du was trinken?“ fragte Jörn.

„Klar. Hast du eine Cola da?“

Jörn war bereits aufgestanden und in die Küche gegangen.

„Jap, hab ich da.“ Tönte es aus der Küche.

Mit zwei Gläsern in der einen und einer Flasche Cola in der anderen Hand kam er dann zurück. Er schenkte für uns beide ein. Dann nahm er die Fernbedienung und ließ den Film starten.

Er saß anständig neben mir auf dem Sofa und machte keine Anstalten sich mir zu nähern. Geschweige denn sich mir ‚unsittlich‘ zu nähern. Natürlich hätte ich durchaus nichts gegen einen ‚unsittlichen‘ Annäherungsversuch gehabt. Ganz im Gegentum! Aber wie schon gesagt, Jörn machte keine Anstalten dazu.

Nun gut, man muss es ja nicht gleich überstürzen.

Und wir unterhielten uns ja so auch ganz gut.

Ich bekam von dem Film auch dieses Mal nicht so sehr viel mit, wie am Vortag. Schon ein bisschen mehr, aber ich war viel zu aufgeregt um mich ernsthaft auf die Handlung zu konzentrieren. Eigentlich bekam ich nur gerade so viel mit, daß ich verstand, warum Jörn gelegentlich lachen musste.

Ich mochte sein Lachen.

Es klang herzlich und ungekünstelt und wahr unwiderstehlich ansteckend.

Er war überhaupt natürlich.

Kein aufgesetztes Gehabe.

Aber so sehr anständig.

Ich fragte mich schon, ob er vielleicht Schwul war? Naja, ich meine, ein gutaussehender Mädchenschwarm mit unbeschreiblichem Charme alleine mit einem volljährigen Mädchen in seiner Wohnung – und er versuchte nicht mal mir tief in die Augen zu sehen? Geschweige denn mir einen Kuss abzuschwatzen?

Er hätte nicht lange schwatzen müssen, natürlich wollte ich von ihm geküsst werden.

Aber er tat es nicht.

Und ich wollte mich auch nicht gleich aufdrängen. Schließlich war ich kein Flittchen.

Wir guckten dann noch den Film, den er danach auf dem Band hatte, die Nackte Kanone zweieinhalb.

Nun gut, ok, kein Thema. So schlecht war der Film nicht. Vor allem hat Jörn viel gelacht und er war einfach umwerfend, wenn er lachte.

Ich war in seiner Nähe, ich war wirklich bei ihm und wir waren allein. Das musste dann vorerst genügen.

Als auch dieser Film zu Ende war, ließ er den Fernseher aus und machte an seiner Musikanlage das Radio an. Enjoy-Radio. Ich war bisher immer RSH Vertreter. Radio Schleswig-Holsten. Das war meine Richtung. Auf Enjoy liefen vor allem Techno und diese ganz modernen Songs.

Er war wirklich ein flippiger Vertreter seiner Art.

Er erzählte dann noch viel von sich und was er so erlebt hatte.

Er hatte früher mal lange Haare, so etwas länger als Schulterlang.

Ich stellte mir vor, daß er damit ungeheuer gut ausgesehen haben musste. Wie ein Indianer. Er hatte das, was man eine Cäsaren-Nase nannte. Einen kleinen Höcker auf dem Nasenbein, der ihm aber wirklich gut stand.

Auf seiner rechten Wange hatte er eine Narbe. Es waren drei langgezogene gerade Linien. Zwei davon verliefen parallel, die dritte kreuzte die ersten beiden beinahe im rechten Winkel. Als wenn jemand versucht hätte, ihm ein Tic-Tac-To einzuritzen, aber er hatte sich dann gewehrt.

Er erzählte mir, auf meine Frage, wie er zu der Narbe kam, daß er mal bei seiner Oma war. Da war er noch Teanager. Er fuhr auf seinem Rad einen Berg hinunter, an dessen Hang das Grundstück seiner Oma war. Er konnte nicht bremsen und verlor das Gleichgewicht. Gestoppt hat ihn dann der Dornenbusch in den er mit samt dem Rad ungebremst hinein rauschte.

Er erzählte von einem Kumpel, mit dem er auf der Autobahn unterwegs war. Sie waren schon sehr lange unterwegs. Sein Kumpel fuhr dann auf eine Raststätte wo er langsam hinter einem LKW rollte. Der LKW hielt an, sein Kumpel nicht. So fuhr er dann auf den Laster auf.

Der Brummifahrer stieg aus seinem LKW aus, ging nach hinten und klopfte bei Jörns Bekannten an die Scheibe. Dieser drehte das Fenster runter und sagte allen Ernstes: „Entschuldigen Sie, aber ich hab Sie nicht gesehen.“

Der Fahrer des Lasters war so perplex, daß er nichts mehr sagte.

Und noch viele andere lustige Geschichten.

Wir haben viel gelacht.

Aber er hat mich nicht geküsst.

Gegen 23 Uhr hat er mich dann wieder nach Hause gefahren.

Ungeküsst.
 

Es vergingen einige Wochen in denen Jörn und ich fast jeden Abend stundenlang telephonierten. Ich besorgte mir eine Telephonkarte nach der anderen und verbrachte viele Stunden und Abende in der Telephonzelle in Langballig. Wir unterhielten uns über dies und das. Alles Mögliche.

Aber er hatte keine Zeit für ein weiteres Treffen.

Dann gegen Ende Mai hatte er dann tatsächlich mal wieder Zeit für mich. Er wollte mich am Mittwochabend in der folgenden Woche von der Arbeit abholen.

Ich freute mich wie ein Schneekönig.

Durch die vielen Telephonate waren wir schon sehr vertraut miteinander, vielleicht küsste er mich ja doch noch?

Die Theorie mit der Homosexualität hatte ich jedenfalls längst verworfen. Er hatte mir erzählt, daß er eine Freundin gehabt hätte. Sie war sieben Jahre älter als er und hatte eine Tochter, die schon im Teanageralter war. Sie ließ sich natürlich gerne von dem Freund ihrer Mutter im Porsche zur Schule fahren.

Leider ging die Beziehung sehr hässlich zu Ende, weshalb Jörn sich auch erstmal nicht mehr fest binden wollte.

Das verstand ich.

Und ich wollte ihn nicht drängen.

Vielleicht hätte ich ihn dann verloren.

Er brauchte seine Zeit und die wollte, die MUSSTE ich ihm lassen.

Aber ich würde dran bleiben.

Mein Chef bat mich dann Anfang der Woche, in der ich mich am Mittwoch mit Jörn treffen wollte, ob ich nicht den nächsten Mittwoch, an dem ich nachmittags eigentlich frei hätte, arbeiten könnte. Ich könnte mir dann einen anderen Mittwochnachmittag frei nehmen, an dem ich sonst hätte arbeiten müssen. Spontan fragte ich, ob ich den jetzt kommenden Mittwoch frei haben könnte.

Mein Chef war etwas verblüfft, gab dann aber sein Einverständnis.

Noch in der Mittagspause rief ich Jörn an, ob er mich schon mittags abholen könnte. Den Mittag hatte er jedoch zu tun, aber er hätte dann gegen vier Uhr nachmittags frei und würde mich dann wieder von zu Hause abholen.

Natürlich war ich einverstanden.

An dem Mittwoch holte Jörn mich dann wie verabredet von zu Hause ab. Ohne große Umschweife fuhren wir wieder zu ihm nach Hause.

Er switchte dann ein wenig im Fernsehen herum und blieb auf VIVA hängen. Die Musikvideos waren nicht schlecht und die Musik ebenfalls nicht.

Eines davon war ‚Return to Innocence‘ von Enigma. In dem Video lief alles Rückwärts. Unter anderem fielen die herbstlichen Blätter nicht zu Boden, sonder sie flogen vom Boden zurück an die Bäume. Und ein Winzer schien seine Weintrauben zurück an die Rebe zu hängen.

„Jetzt weiß ich endlich, wer die Blätter im Frühling an die Bäume klebt.“ Rief Jörn begeistert aus.

Wir lachten beide.

Ich hatte wieder den Fleezepulli an, den ich beim letzten Treffen schon an hatte. Und die schwarze Leggin unter der Jeans.

Als es schon gegen Abend ging fragte ich einfach ganz frech, ob es ihm was ausmachen würde, wenn ich die Jeans ausziehen würde, mir wäre sehr warm.

Jörn hatte nichts dagegen.

Ich ging dann ins Bad, das am Ende des langen Flures lag.

Ich weiß, das war ziemlich dreist. Aber irgendwie musste ich doch herausfinden, ob er zugänglich war oder nicht.

Als ich zurückkam, ohne Jeans, aber in der schwarzen Leggin erhielt ich auch die gewünschte Reaktion.

„Mhhhm.“ Machte Jörn angenehm überrascht.

Ich setzte mich wieder auf das Sofa neben ihn. Naja, ich setzte mich nicht direkt, eigentlich lag ich so halb.

Wir guckten weiter Musikvideos und lachten und schwatzen viel.

Irgendwann ließ ich mich ein bisschen an seine Seite sinken, so als wäre ich müde und kurz vor dem Einschlafen.

„Na? Soll ich dich Heim fahren?“ fragte Jörn.

„Nö, geht schon.“ Antwortete ich.

„Na dann.“ Jörn legte tatsächlich seinen Arm um mich.

Eine Weile saßen wir so da. Wir hörten der Musik auf VIVA zu und ab und zu sagte einer etwas wie: „Das Lied finde ich toll.“ Oder „Das Video ist klasse.“

Dann, auf Einmal, ohne Vorwarnung ging es ganz schnell.

Plötzlich lag ich buchstäblich in seinen Armen.

Von unten sah ich jetzt zu ihm hoch und Jörn sah mir direkt in die Augen.

Er sah mir tief in die Augen.

Ich schmolz.

Er lächelte nicht verschmitzt oder frech. Oder als hätte er den Schalk im Nacken.

Nein.

Seine Augen leuchteten sinnlich.

Und er sah tief, ganz tief in mich hinein.

Ich zerfloss.

Dann küsste er mich.

Und wie!

Es war Wahnsinn!

Überirdisch!

Nicht in Worte zu fassen!

Mein Körper fühlte sich an, als hätte ich Brausepulver unter der Haut. In meinen Adern sprudelte Selters und alles prickelte und kribbelte.

Ich war elektrisiert. Eigentlich hätte man Myriaden von winzigen blauen Blitzen über meine Haut sprühen sehen müssen.

Sein Kuss war Erotik pur. Genauso überirdisch wie sein Lachen, sein Strahlen. Seine Augen sagten, was er mit Worten nicht ausdrücken konnte. Es war, als würde er mich mit seinem Charisma, seinem Charme verschlucken.

Und ich versank.

Ich ertrank.

In seinem Kuss.

Seinen Augen.

Seinen Armen.

So musste es sich anfühlen, wenn man Rauschgift nahm.

Er küsste mich lange, ausgiebig, als wenn er etwas nachholen wollte.

Irgendwann saß er dann auf dem Boden vor mir, ich lag lang ausgestreckt auf dem Sofa.

Er sah mich an und ich sah ihm in die Augen, seine wundervollen braunen Augen, in denen alles stand, was er dachte, was er fühlte.

Aber er ging nicht weiter.

Das musste er auch nicht.

Ich glaube, wenn es noch weiter gegangen wäre, wäre ich nie wieder losgekommen.

Ich wäre verhungert, wenn er nur kurz den Raum verlassen hätte.

Spätestens jetzt war mir klar, daß ich ihm verfallen war.

Ich hatte mich aufgelöst.

In seinen Augen.

Seinem Kuss.

Seinen Berührungen.

Ich hatte mich in ihm aufgelöst.

Ich war regelrecht willenlos.

„Ich glaube, ich sollte dich langsam nach Hause bringen.“ Sage er dann zärtlich.

„Warum?“ fragte ich berauscht.

„Du sollst morgen wieder zur Arbeit.“

Er sah mich so unendlich zärtlich an daß ich erneut zerfloss.

Ich sah auf meine Armbanduhr, es war kurz nach 23 Uhr.

„Das ist nicht wichtig.“ Antwortete ich. Ich war wie benebelt.

„Doch, das ist sehr wichtig.“ Beharrte er zärtlich, aber bestimmt.

„Na gut.“ Ich fügte mich, ich war eh willenlos.

Ich hätte alles getan, wenn Jörn es gesagt hätte.

Ich richtete mich mühsam auf, wie betrunken.

Dann fuhr er mich nach Hause.

Im Auto gab er mir dann noch einen langen Kuss.

„Bis demnächst.“ Verabschiedete er sich.

„Bis bald.“ Flüsterte ich.

Dann ging ich ins Haus.

Kapitel X
 

In den folgenden drei Tagen hielt der Rausch an. Ich schwebte mit dem Kopf in den Wolken. Nichts und niemand konnte mir etwas anhaben.

Natürlich telefonierten wir weiterhin jeden Tag. Ich rief ihn immer aus der Telefonzelle in Langballig an und hielt mich stundenlang darin auf.

Jörn hatte einen Anrufbeantworter. Es kam schon mal vor, daß ich ihn anrief, er aber nicht zu Hause war.

Den Spruch, den er auf dem AB hatte, konnte ich auswendig mitsprechen.

„Hallo, hier ist Jörn Franzmann, ich bin leider nicht zu Hause, aber wenn Sie mir Ihren Namen und Ihre Telefonnummer hinterlassen werde ich Sie schnellstmöglich zurück rufen. In dringenden Fällen können Sie mich unter meiner Mobilnummer erreichen…“

Zumindest konnte ich so seine Stimme hören.

Einmal, als ich in der Stadt war, sah ich seinen roten Wagen am Straßenrand im Sürdergraben stehen. Ich hatte meine Photokamera mit und nutzte die Gelegenheit sein Auto aus allen Richtungen zu photographieren. Ich zeichnete sehr gerne und zu der Zeit zeichnete ich besonders gerne Autos.

Ich hatte schon einen TransAm mit Kreide und Kohle gemalt. Das Auto und der Vordergrund waren schwarz und dahinter ging die Sonne unter.

Im gleichen Stil wollte ich die kleine rote Renngurke von Jörn malen und ihm das Bild dann bei Gelegenheit schenken.

Außerdem fand ich in einem Tabakgeschäft ein Feuerzeug. Es war ein Porsche 911 Kabrio und kostete nicht die Welt. Es war zwar auch nicht billig, aber wenn ich mir vorstellte, wie Jörn reagieren würde, wenn ich es ihm mitbringe, dann war der Preis überhaupt kein Diskussionspunkt.

Wenn man bei dem Auto auf das zurückgefaltete Verdeck drückte, kam aus der Motorhaube die Flamme. Das würde ihm sicher Spaß machen.

Ich ließ den Film mit den Photos von Jörns Auto entwickeln und zu Hause machte ich mich gleich an die Arbeit.

In der Zwischenzeit löste der Sommer den Frühling ab.

Seit dem letzten Treffen, wo wir uns endlich geküsst hatten, hatte er keine Zeit für mich. Wir telefonierten immer noch viel und lange. Fast jeden Abend. Manchmal rief er auch bei mir zu Hause an und da quatschten wir genau so lange.

Einmal sollte ich in der Berufsschule eine Klausur in Wirtschaft und Politik schreiben. Es ging um Bundesrat und Bundestag. Ein gelinde gesagt staubtrockenes Thema mit dem ich mich einfach nicht anfreunden konnte.

Ich erzählte Jörn davon am Telephon und er bot mir spontan seine Hilfe an. Er hätte das mal angefangen zu studieren und hätte einige hilfreiche Unterlagen für mich. Er wollte mir das zufaxen. Meine Mum hatte ein Fax, daher war das kein Problem.

Als ich dann zu Hause war sagte ich ihm kurz Bescheid und dann rauschte schon eine Seite nach der anderen aus dem Fax. Über dreißig Seiten!

Ich schnitt dann das Thermopapier auf ein brauchbares Format zurecht und lernte damit.

In der Klausur hatte ich dann auch tatsächlich eine 2 geschrieben.

Jörn war ehrlich stolz auf mich.

Ich hätte diese Unterlagen gerne lange aufgehoben, schließlich waren sie von Jörn. Leider wurde der Ordner versehentlich nass. Um die Papiere zu trocknen legte ich sie auf die Heizung.

Am Tag darauf war fast alles schwarz!

Jetzt wusste ich, warum das Papier ‚Thermopapier‘ genannt wurde.

Und warum man es von Wärmequellen fern halten sollte.
 

Am 1. Und 2. Juli feierte RSH seinen achten Geburtstag in Flensburg/Mürwik im Stadion. Es sollte eine große Veranstaltung werden und der Eintritt war frei.

In diesem Sommer war ich viel mit dem Fahrrad unterwegs, auch zur Arbeit und zurück.

Ich verabredete dann mit Marco, daß ich zu ihm kommen würde und bei ihm übernachten dürfte. Ich kam mit dem Rad.

Sicher wäre in der Nacht etwas gelaufen, aber ich wollte nicht. Ich war zwar nicht mit Jörn zusammen und ihm keine Rechenschaft schuldig. Aber ich hätte dennoch das Gefühl gehabt, ihn zu betrügen oder fremd zu gehen, wenn ich mich auf ein Abenteuer mit Marco eingelassen hätte.

Marco akzeptierte das.

Und es war trotzdem ein schöner Abend.

Am nächsten Morgen machte ich mich dann auf den Weg zum Stadion. Ich fuhr mit meinem Rad hin.

Natürlich hatte ich die Hoffnung, daß Jörn auch da sein würde. Auch wenn ich eher das Gefühl hatte, daß Jörn nicht gerne auf eine Veranstaltung gehen würde, wo man zwischen hunderten fremder Mensch eingekesselt herumstehen würde. Jörn mochte keine Menschenmassen, da war ich mir sicher. Aber genauso sicher war ich mir mit der Annahme, wenn nur ein wirklich guter Grund vorliegt, doch in eine solche Veranstaltung zu gehen, dann würde er sicher kommen.

Und ich hoffte, daß es einen so wirklich guten Grund gäbe.

Als ich dann das Mürwiker Stadion erreicht hatte, sollte meine Vermutung sich bestätigen. Da stand der kleine Porsche von Jörn. Ohne Zweifel.

Mit dem kleinsten Wendekreis, den ich mit meinem Fahrrad machen konnte, drehte ich um. Das Fahrrad würde ich nicht direkt bei dem Festival stehen lassen, sondern es bei Marco so deponieren, daß ich auch dann damit nach Hause kam, wenn er nicht da wäre.

Ich gab ihm dann kurz Bescheid und war dann auch schon wieder verschwunden.

Ich musste nicht lange suchen, als ich im Stadion ankam. Es waren noch nicht sehr viele Leute da. Und tatsächlich, da hinten, an der Bier-Bude, da stand er. Gut gelaunt und in Begleitung eines Mannes, der mir seltsam unsympathisch war. Dabei kannte ich ihn nicht, hatte ihn nie zuvor gesehen. Aber er hatte etwas Bedrohliches an sich, ich mochte ihn nicht.

Jörn allerdings schien diesen Mann durchaus für eine angenehme Gesellschaft zu halten. Ich blieb ein paar Meter abseits stehen und freute mich einfach daran, ihn zu sehen.

Jörn entdeckte mich auch nach einigen Minuten und er grüßte mich.

Leider winkte er mich nicht zu sich. Aber er unterhielt sich mit dem Mann, der mit ihm da war und dieser sah sich dann in meine Richtung um.

Nein, ich mochte diesen Menschen nicht, er war seltsam. Er hatte eine ganz eigenartige Ausstrahlung.

Es wurden immer mehr Menschen auf dem Platz. Die Bühne konnte ich gut sehen, aber die Sicht zu Jörn wurde mir mehr und mehr versperrt.

Ich traute mich dann doch etwas näher zu ihm zu gehen. Aber wirklich unterhalten haben wir uns nicht. Ich hatte auch das Gefühl, daß Jörn nicht wirklich wollte, daß ich so bei ihm in der Nähe sein würde.

Nach einiger Zeit hab ich mich dann auch wieder davon gemacht. Ich hatte mir eigentlich nicht wirklich etwas davon versprochen, wenn ich Jörn da jetzt treffen würde. Aber ein bisschen traurig war ich schon.

Es war schon so lange her, daß ich mich an seinem Kuss berauscht hatte.

Ich fuhr dann direkt wieder nach Hause.

Als ich da ankam packte meine Mum mich fast augenblicklich ins Auto und wir fuhren wieder zum RSH-Geburtstag hin. Natürlich hatte ich ihr nichts von Jörn gesagt. Sie wollte selbst einfach hin und gucken ob es etwas zu gucken gab. Da sie aber nicht alleine gefahren wäre, war sie ausgesprochen angetan, daß ich gerade um die Ecke kam.

Als meine Mum und ich in Mürwik ankamen sah ich auch schon gleich, daß Jörn Auto nicht mehr an seinem Platz stand.

Nun hatte die Veranstaltung für mich jedweden Reiz verloren.
 

Es sollte noch viel Zeit vergehen. Im Sommer hatten Jörn und ich – aus welchem Grund auch immer, ich habs vergessen – einige Wochen, in denen wir uns fast täglich schrieben. Dafür telephonierten wir nicht mehr, sonst hätte man ja schon erfahren, was in dem jeweiligen Brief des anderen stehen würde.

Er hatte eine tolle Schrift. Ich mochte die Art, wie er die kleinen F´s schrieb.

In einem Brief erklärte er mir, daß er nie vorhatte mir zu imponieren. Er sprach auch davon, daß ich mir doch lieber jemanden in meinem Alter suchen sollte, jemanden, der jünger war als er. Aber was sollte ich denn mit jemandem anfangen, der jünger war als Jörn oder sogar in meinem Alter, wenn ich ihn nicht mochte? Ich liebte Jörn und ich würde nicht damit aufhören.

Einmal war er ganz ohne Vorwarnung zwei Wochen lang verschwunden. Ich rief ihn zu den unmöglichsten Zeiten an in der Hoffnung, ihn gerade zu erwischen. Aber immer hatte ich nur den AB dran.

„Hallo, hier ist Jörn Franzmann, ich bin leider nicht zu erreichen, aber wenn Sie mir Ihren Namen und Telephonnummer hinterlassen, werde ich Sie schnellstmöglich zurückrufen. In dringenden Fällen können Sie mich unter meiner Mobilnummer erreichen...“

Ich hab oft angerufen.

Auch ein paar Mal die ‚Notfallnummer‘.

Als er dann endlich wieder da war, erklärte er mir, daß er ganz spontan weggefahren wäre, zu einem Freund auf ein Boot. Er erwähnte auch, daß er über 30 Anrufe in den vergangenen zwei Wochen hatte. Aber der Anrufer hätte keine Nachricht hinterlassen.

Ich sagte ihm nicht, daß das unter Umständen alles von mir war.

Der Sommer verging und der Herbst ebenfalls.

Ein weiteres Treffen mit Jörn hatte nicht statt gefunden.

Dennoch gab ich die Hoffnung nicht auf.

Am letzten Samstag im November, einen Tag vor dem 1. Advent, telefonierte ich mit Jörn wie immer von der Telefonzelle in Langballig aus. Wir unterhielten uns schon seit fast dreieinhalb Stunden als Jörn mir komplett aus dem Zusammenhang heraus ein Angebot machte.

„Du kannst mich jetzt für verrückt erklären.“ Begann er geheimnisvoll.

„Wenn du jetzt ‚Ja‘ sagst, bin ich in 15 Minuten bei dir, wenn nicht, dann ist das auch nicht schlimm.“ Ich konnte ihn direkt verschmitzt lächeln hören.

Ich war perplex und eine Weile sprachlos. In Gedanken versuchte ich die richtigen Worte zu erhaschen.

Schließlich antwortete ich:

„Ich bin verrückt, ich sage ‚JA‘“

„Gut“ sagte Jörn, „Dann bin ich gleich bei dir.“

Wir legten auf und ich fuhr mit meinem Fahrrad so schnell ich konnte nach Hause.

Ich flog nach Hause.

So schnell ich konnte raffte ich die Dinge zusammen, die ich brauchen würde für die Nacht und den nächsten Morgen. Außerdem dachte ich noch an das Bild, daß ich für ihn gezeichnet hatte, die Photos von seinem Auto und das Feuerzeug.

Es war spät abends.

Kurz vor 23 Uhr.

Es war ein absolut logischer Schluss, daß er mich nicht nach ein paar Stunden wieder nach Hause bringen würde.

Es sei denn, ich würde darauf bestehen.

Aber das wollte ich ja gar nicht.

Sobald ich alles zusammen hatte ging ich wieder aus dem Haus. Ich wollte ihm entgegen gehen.

Nach einigen Minuten hörte ich dann auch ein Auto kommen. Dem sportlichen Klang nach zu urteilen war es Jörn. Dann hörte ich kreischende Reifen. Aber, ja, das war Jörn. Er wendete den Wagen und hielt dann direkt bei mir an.

Ich stieg ein.

Jörn grinste spitzbübisch.

„Hab ich doch glatt die Ausfahrt verpasst.“ Grinste er.

Ich lachte unternehmungslustig zurück.

Wir redeten nicht viel auf dem Weg zu ihm nach Hause.

Als wir bei ihm waren, saßen wir erstmal im Wohnzimmer. Er küsste mich und ich war im Himmel.

„Ich hab etwas für dich.“ Strahlte ich ihn voller Vorfreude an und kramte in meiner Tasche. Das war früher mal meine Schultasche, aber sie war immer noch sehr praktisch und unentbehrlich.

Zuerst holte ich die Photos von seinem Auto hervor.

„Ich hab mir die Freiheit genommen, ein paar Bilder von deinem Auto zu machen. Allerdings denke ich, daß sie eher dir zustehen.“

Ich reichte im den kleinen Stapel.

Jörn freute sich und guckte sich jedes der Bilder an.

„Na mein kleiner süßer.“ Sagte er zu einem der Photos, wo der Porsche recht klein abgebildet war und ‚kitzelte‘ mit einem Finger das kleine Auto.

„Ich brauchte die Photos für das hier“ fuhr ich fort und reichte Jörn jetzt das Bild, daß ich in Kohle und Kreide gemalt hatte. Die Silhouette seines Autos in schwarz, dahinter ein Sonnenuntergang.

Jörn freute sich ehrlich und sah sich das Bild ganz genau an.

„Sogar die Lippe vorne kann man erkennen. Das hast du wirklich ganz toll gemacht.“ Lobte er mich und zur Belohnung bekam ich einen Kuss.

„Ich habe noch etwas.“ Sagte ich schließlich.

„Noch etwas? Aber ich hab doch gar nicht Geburtstag?“ staunte Jörn.

„Das hier konnte ich einfach nicht im Geschäft lassen. Ich dachte das passt besser zu dir.“ Ich übereichte ihm die Schachtel mit dem Feuerzeug.

„Wow, Carmen, du sollst doch dein Ausbildungsgeld nicht so ausgeben.“ Jörn war ganz aus dem Häuschen.

„Das war nicht so teuer.“ Gab ich dann ganz verlegen zurück.

Jörn freute sich wie ein kleiner Junge. Er packte den Porsche aus, sah ihn sich von allen Seiten an und probierte auch aus, ob das Feuerzeug ging. Natürlich ging es.

„Der kommt erstmal wieder zurück in die Garage.“ Grinste er wie ein kleiner Junge und ‚fuhr‘ mit „Brumm Brumm“ das Auto wieder in den Karton.

„Danke, das hättest du nicht tun müssen“ Jörn überfiel mich geradezu, schloss mich in seine Arme und küsste mich.

Alleine dafür hatte es sich gelohnt.

Nachdem wir dann noch eine Weile gequatscht hatten beschloss Jörn, daß es Zeit wäre, Schlafen zu gehen.

Mir wurde es angenehm kribbelig und ich stimmte ihm zu. Immerhin war es fast 12 Uhr nachts.

In Jörns Schlafzimmer kam man nur, wenn man vom Wohnzimmer aus in die Küche ging, diese durchquerte und dann da, wo ich eher eine Speisekammer vermutet hätte, durch die Tür eben ins Schlafzimmer ging.

Vom Grundriss her war das Zimmer nicht klein. Aber es hatte zwei Schrägwände, da es in einem Anbau unter dem Dach lag.

Jörn begann sich auszuziehen und ich tat es ihm gleich.

Auf einer Kommode neben der Tür legte er seine Kette ab. Es war ein Kreuz. Die ‚Balken‘ wurden je von zwei ineinander verschlungenen Ketten dargestellt, es war silbern und hängte an einer etwas dickeren Panzerkette die ebenfalls aus Silber war. Auf der Kommode standen außerdem noch zwei Wecker, ebenso stand auf dem Nachttisch neben dem Bett ein Radiowecker.

„Wofür brauchst du denn drei Wecker?“ fragte ich ihn.

„Damit ich aus dem Bett komme.“ Gab er zur Antwort.

„Erst geht der eine Wecker an. Den mache ich meistens im Halbschlaf aus. Dann geht der nächste Wecker, für den ich schon aufstehen muss, aber auch dann schlafe ich noch. Erst der dritte Wecker macht mich dann so wach, daß ich nicht mehr ins Bett zurück krabbele.“ Erklärte er.

Als Jörn mit dem Auskleiden fertig war hatte er nicht eine Textile mehr an sich.

Normalerweise behielt ich zumindest den Slip an, aber ich beschloss dann es ihm gleich zu tun und hüpfte wie Gott, oder eher meine Eltern, mich geschaffen hatten zu ihm in das große Ehebett. Er hatte zwei Federbetten bezogen mit rotem Satin. Der Stoff war kühl aber nicht unangenehme.

Er wartete nicht lange und drehte sich gleich zu mir um.

„Hast du schon lange darauf gewartet?“ fragte er mich dann zwischen zwei leidenschaftlichen Küssen.

„Ewigkeiten!“ hauchte ich.

Ich war wie elektrisiert, ich hätte platzen können vor Glück.

Mittendrin musste ich mich einfach davon überzeugen, daß er wirklich der war, mit dem ich es mir schon so lange gewünscht hatte.

„Jörn, Jörn.“ Rief ich laut und voller Lust.

„Was ist?“ er hielt für einen Moment inne, weil er dachte, er würde mir weh tun.

„Ich liebe dich.“ Sagte ich dann erregt.

„Das weißt du doch gar nicht.“ Antwortete er.

Aber ich wusste es.

Ich war ganz sicher.

Ich liebte ihn.

Und gerade war ich definitiv im Himmel.
 

Ich lag in seinen Arm gekuschelt neben ihm im Bett und genoss die Nachwirkungen dessen, war gerade geschehen war.

Wir redeten nicht viel, aber es gab auch nicht viel zu sagen.

Schließlich machten wir einfach das Licht aus um die Rest der Nacht mit Schlafen zu verbringen.

„Ich kann nicht gut einschlafen, wenn ich auf dem Rücken liege. Aber wenn ich schlafe, dann ist es nicht ausgeschlossen, daß du nicht noch mal näher kommen kannst.“ Lächelte Jörn in die Dunkelheit.

„Ist ok.“ Sagte ich nur müde.

Ich kuschelte mich in die glatte dicke Federdecke und machte die Augen zu.

Es roch nach Rosenöl. Nicht stark, aber deutlich wahrnehmbar.

Es dauerte nicht lange, dann war ich eingeschlafen.
 

Am morgen wurde ich vor Jörn wach. Er lag zu mir gedreht und ich konnte ihm beim Schlafen zusehen. Allerdings nicht lange. Als hätte er nur darauf gewartet, daß ich aufwachen würde, öffnete er die Augen, sah er mich an, lächelte und schnappte mich.

Es dauerte eine Weile, bis wir dann tatsächlich aus dem Bett kamen.

„Ich gehe Duschen.“ Sagte er. „Wenn du magst, kannst du mitkommen.“

Jörn verließ das Schlafzimmer.

Ich musste erstmal meine Gliedmaßen sortieren. Dann schälte auch ich mich aus den Federn und folgte ihm ins Bad. Er stand bereits unter der Dusche und ich wartete nicht lange. Vielleicht wäre ja noch ein kleiner Quickie unter der Dusche drin?

Ich stieg zu ihm in warmen Regen und wir schmusten ein bisschen während wir uns einseiften. Aber es gab keinen Quickie. Jörn war schnell fertig und ließ mich allein unter der Dusche.

Ich durfte sein Duschgel benutzen. Nivea for Man. Es roch ungeheuer gut.

Es roch nach ihm.

Als ich fertig war lag ein Handtuch für mich bereit. Als ich meine Haare abrubbelte guckte ich mich ein bisschen um. Vor dem Spiegel stand ein Flakon aus mattem Glas, es sah fast aus als wäre er aus Eis.

‚Nino Cherruti 1881‘ stand darauf. Ich öffnete den Deckel und roch daran. Ja, das war definitiv Jörns Duft.

Ich huschte dann ins Schlafzimmer und zog mich an. Als ich in die Küche kam, war Jörn schon dabei den Frühstückstisch zu decken. Jedenfalls soweit der Kühlschrank es möglich machte.

Aber er hatte etwas Brot, Butter und ein wenig Aufschnitt.

An seinem Platz stand noch ein Glas mit Wasser, in dem eine Orange Brausetablette sprudelnd tanzte.

„Das ist mein Vitamindrink.“ Erklärte er mir.

„Vitamine sind wichtig und so bekomme ich immer, was ein ganzer Kerl am Tag braucht.“

Der einzige Käse den Jörn da hatte, waren die Schmelzkäsescheiben, die man zum Überbacken von Toast benutzte. Aber immerhin, er hatte etwas, daß man aufs Brot machen könnte und er teilte mit mir.

Gegenüber der Tür, die ins Schlafzimmer führte, war eine weitere Tür. Die musste auf den Flur führen. Ganz offensichtlich wurde sie aber nicht benutzt denn es lagen einige Hanteln davor.

„Die brauche ich auch oft.“ Erklärte Jörn, als er meinen Blick verfolgte.

„Ein richtiger Mann braucht ja auch einen durchtrainierten Körper.“ Fügte er hinzu.

Ich schmunzelte.

Er erzählte dann ein bisschen von seinem Alltag.

„Wenn ich Post bekomme, hab ich viele Rechnungen dabei. Ich warte dann immer, bis die letzte Mahnung kommt. Die mache ich auf und dann freu ich mich. ‚Letzte Mahnung‘ Super, dann hab ich ja endlich meine Ruhe.“ Er lachte.

Fast direkt nach dem Frühstück fuhr er mich dann nach Hause. Ich wäre gerne noch geblieben, am liebsten den ganzen Sonntag, den ganzen 1. Advent. Aber ich wollte ihm auch nicht auf die Nerven fallen.
 

Im Laufe der nächsten Monate war ich noch zwei weitere Nächte bei Jörn. Das letzte Mal Ende Januar. Wir telefonierten auch weiterhin viel. Nicht mehr so oft wie noch im Sommer, aber immer noch viel.

Einmal war ich noch mit meinem Bruder bei Jörn. Ich hätte gehofft, er würde sagen, daß ich bleiben darf, mein Bruder wäre dann nach Hause gefahren und Jörn hätte mich dann später oder erst am folgenden Tag nach Hause gebracht.

Leider hatte er nichts in der Richtung gesagt.

Aber an der Tür bekam ich noch einen Abschiedskuss.

Irgendwie ahnte ich, daß das für sehr lange Zeit der letzt Kuss von ihm war.
 

Im April feierte mein Vater seinen 40sten Geburtstag ganz groß im Gasthof Ringsberg.

Nach dem Essen stahl ich mich davon und rief Jörn wieder an.

Wir unterhielten uns. Dann wurde er seltsam.

„Was würdest du sagen, wenn ich wegziehen würde?“ fragte er mich.

Ich war geschockt.

„Wohin?“ fragte ich mit zitternder Stimme.

„Weißt du wo München ist?“ fragte er.

Natürlich wusste ich nicht genau, wo München liegt, aber ich wusste, daß es in Bayern war und das ist sehr weit weg.

„Ja“ antwortete ich und musste mich räuspern.

„Südlich davon.“ Fügte er hinzu.

Ich überschlug im Kopf wo die Himmelrichtungen auf einer Straßenkarte waren.

Südlich davon, daß wäre noch weiter weg als München. Das wäre so weit weg, daß ich ihn nicht mehr wiedersehen würde.

Ich beherrschte mich nicht mehr, ich weinte.

„Hey, weinst du?“ fragte Jörn verlegen.

„Ja!“ sagte ich ohne Umschweife und ohne den Versuch, ihn das nicht merken zu lassen.

„Es ist ja nur ein Angebot, daß ich bekommen habe. Ich weiß noch nicht ob ich das annehmen werden.“ Versuchte Jörn mich zu trösten.

„Warum erschreckst du mich dann so?“ schluchzte ich.

„Das wollte ich nicht.“ Jörn tat es ehrlich leid. Ich beruhigte mich dann auch wieder, aber der Schreck hat mich so schnell nicht wieder losgelassen.
 

Nur eine Woche später hatte ich mir überlegt Jörn anzurufen und ihn direkt zu fragen, ob ich zu ihm kommen dürfte.

Ich duschte ausgiebig, machte mich hübsch und fuhr mit dem Rad zur Telefonzelle.

„Ja?“ meldete sich Jörn am Telefon.

„Hi, hier bin ich, Carmen.“

„Du, kannst du mich gleich noch mal anrufen? So in 10 Minuten? Ich hab gerade Besuch.“ Sagte er dann.

„Klar, mach ich.“ Antwortete ich.

Ich hängte den Hörer ein und verließ die Telefonzelle.

Nach Ablauf der 10 Minuten rief ich ihn dann wieder an.

„Na, was gibt es denn?“ fragte er.

Ich wollte nicht lange darum herumreden und Zeit verschwenden, die wir besser zusammen verbringen konnten.

„Holst du mich heute wieder ab?“ fragte ich gerade heraus.

„Nein, das ist schlecht. Auch die nächste Zeit wird das nichts. Ich bin seit gestern Abend liiert.“

Eine Abrissbirne schien direkt in meinen Kopf einzuschlagen. Der Boden unter meinen Füßen öffnete sich und ich viel in ein bodenloses Loch.

Ich war erstarrt, konnte nichts denken, nicht atmen, mein Herz hatte aufgehört zu schlagen.

„Bist du noch da?“ fragte Jörn nach einigen Minuten besorgt.

„Ja“ antwortete ich heiser und mit zitternder Stimme.

„Es hat sich ganz unerwartet ergeben. Ich kenne sie auch schon eine Weile. Sie ist ein Jahr jünger als du und Studiert. Sie hat eine Eigentumswohnung und mit ihrem Vater bin ich schon seit einiger Zeit befreundet. Sie ist auch gerade hier, aber ich hab ihr gesagt, daß ich das mit dir allein besprechen muss. Das hat sie auch verstanden.“ Erzählte er dann.

Ich sackte in mich zusammen, hockte auf dem Boden der Telefonzelle und wäre am liebsten sofort gestorben. Das Loch, in das ich fiel, hatte ganz tief unten doch einen Boden und ich schlug hart darauf auf.

„Wenn sie es denn gut mit dir meint?“ weinte ich.

„Das tut sie.“ Erwiderte er.

Ich musste ihn gehen lassen.

Ich liebte ihn zu sehr.

Ich wollte nur, daß er glücklich ist.

Auch wenn er es nicht mit mir sein würde.

Auch wenn es bedeutete, ihn gehen zu lassen.

„Ist alles in Ordnung mit dir? Soll ich kommen?“ fragte er besorgt.

„Nein.“ Schluchzte ich.

Das hätte ich nicht ertragen.

Ich hatte ihn verloren, ich hatte zu lange gewartet, zu wenig deutlich gemacht, wie sehr ich ihn liebte.

„Wirklich nicht?“ Jörn machte sich wirklich Sorgen um mich.

„Es geht schon.“ Antwortete ich mit belegter Stimme. Wenn er jetzt gekommen wäre, hätte ich ihn nicht mehr losgelassen.

„Du verstehst sicher, wenn ich dich darum bitte, nicht mehr anzurufen?“ fragte er dann.

„Ja.“ Weinte ich.

„Du wirst mich irgendwann vergessen, Carmen.“ Versuchte er mich zu trösten.

„Nein“ schluchzte ich, „Ich werde dich ewig lieben.“

„Du wirst jemanden anderes Kennen lernen. Jemanden in deinem Alter.“ redete er sanft auf mich ein.

„Aber ich will keinen anderen.“ Erwiderte ich weinend.

„Es tut mir leid, ich wusste ja nicht, wie ernst es dir war.“ Es tat ihm wirklich leid. Er war so lieb.

„Ich weis.“ Brachte ich gebrochen hervor.

„Es wird eine Weile weh tun, das weiß ich.“ Sagte Jörn dann.

„Aber es wird dann auch wieder besser.“ Fügte er noch hinzu.

Wir verabschiedeten uns.

Für immer.

Ich wünschte ihm nur das Beste.

Aber sollte ich je erfahren, daß dieses Weibsbild ihn schlecht behandelt, dann würde ich ihr die ein Jahr jüngeren Augen auskratzen und mit ihr ihre Eigentumswohnung in Schutt und Asche legen!
 

Ich war fertig.

Kaputt.

Ich spürte meinen Körper kaum noch und ich hatte eine unglaubliche Leere in meinem Kopf.

Irgendwie schlich ich dann nach Hause.

Ich hielt nicht viel von Alkohol, aber ich hatte das dringendste Bedürfnis mich gründlich zu besaufen.

In der Speisekammer meiner Mum fand ich dann ein paar Flaschen „Russische Schokolade“ Es waren kleine Flachmänner in denen sich Wodka mit Schokolade versetzt befand. Ein Konzentrat, das man normalerweise in andere Getränke gab, mindestens in heiße Milch.

Ich nahm mir einige der Flaschen mit in mein Zimmer und leerte eine nach der anderen, bis ich so besoffen war, daß ich einschlief.

Leider hielt der Rausch nicht lange an. Gegen drei Uhr Morgens wurde ich wieder wach. Ich war noch immer nicht ganz nüchtern, aber die Realität brach über mir mit aller Macht zusammen.

Er ist weg.

Meine Sonne ist weg.

Meine Sonne ist untergegangen.

Für immer.

Unwiderruflich.

Ich hatte ihn verloren, noch bevor ich ihn ganz für mich gewinnen konnte.

Ich hatte jetzt nur noch einen Gedanken, ich brauchte Hilfe.

Und ich wusste, wo ich Hilfe bekommen könnte.

Marco.

Ich wusste, daß ich ihn jederzeit anrufen konnte, wenn ich ihn brauchte. Und im Moment brauchte ich ihn mehr als alles andere auf der Welt.

Ich wankte ins Wohnzimmer. Meine Eltern waren längst schlafen gegangen.

Ich wählte Marcos Nummer.

Inzwischen hatte er eine eigene Wohnung und eine eigene Telefonnummer.

Es dauerte eine Weile. Sicher war er schon im Bett.

Dann ging er endlich ran.

„Lotz?“ hörte ich ihn am anderen Ende der Leitung verschlafen murmeln.

Sofort brach die Trauer wieder über mir zusammen und ich schluchzte. Ich versuchte so deutlich wie möglich zu sagen, was los war, aber ich brachte nicht viel heraus.

„Meine Sonne“, weinte ich.

„Meine Sonne ist untergegangen. Ich brauche dich, ich brauche Hilfe.“

Ein Weinkrampf schüttelte mich und machte es mir unmöglich mehr zu sagen.

„Ich komme gleich, ich werde aber etwas brauchen. Ich komme mit dem Fahrrad.“ Versuchte Marco mich zu beruhigen.

Ich legte auf, nahm meine Schachtel Zigaretten und machte mich schluchzend auf den Weg, ihm entgegen zu gehen.

Ich war längst an der Nordstraße und auf halbem Weg nach Ringsberg, als Marco endlich kam.

Ich brach auf dem Fußweg zusammen und Marco konnte nur noch meine Reste zusammen sammeln.

Er nahm mich in den Arm und ließ mich weinen.

„Lass es raus.“ Tröstete er mich und strich mir über die Haare, meinen Rücken, meine Arme.

„Lass es raus. Was ist denn passiert?“ fragte er nachdem ich einige Minuten hemmungslos geheult hatte.

„Jörn.“ Brachte ich heiser hervor.

„Jörn ist weg.“ Schluchzte ich erneut.

„Ach Carmen, das wird wieder.“ Versuchte er weiter zu trösten und hielt mich fest im Arm.

„Aber ich hab ihn so geliebt.“ Ein neuer Weinkrampf machte es mir unmöglich, mehr zu sagen.

„Komm.“ Sagte Marco dann fürsorglich.

„Ich bring dich nah Hause.“
 

Tagelang nach diesem Wochenende war ich todtraurig. Ich hatte keine Meinung und mir war alles egal. Ich wollte nirgendwohin, ich wollte niemanden sehen, ich wollte mit niemandem zusammen sein.

Es dauerte fast drei Wochen, bevor ich wieder einigermaßen am Alltag teilnehmen mochte.

Ich hatte Jörn so tief, so bedingungslos geliebt. Und genauso groß war dann auch der Schmerz, ihn gehen zu lassen.

In für immer gehen zu lassen.

Kapitel XI
 

Der Sommer kam und wurde fast so heiß wie der im Vorjahr. Und das auch schon von Mitte Mai an. Wir schwitzten wie die blöden und es war weit und breit keine Wolke zu sehen, die ein wenig Abkühlung versprochen hätte. Schon nach wenigen Wochen stieg die Wassertemperatur in der Ostsee über 24°C und war auch bald keine Erfrischung mehr.

Dennoch war es abends immer wie ein Kurzurlaub nach der Arbeit schnell mal in die Förde zu hüpfen, bis zur Boje raus, einmal drum herum und wieder zurück zu schwimmen. Meine Mum und ich machten das fast jeden Abend.

Ich hatte auch meinen Spaß daran, gemeinsam mit meiner Mama die „Kurzurlaube“ zu machen.

Allerdings nicht so viel, wie ich hätte haben können.

Ich nagte immer noch an dem Verlust, den ich Ende April erfahren hatte.

Sicher, ich konnte inzwischen wieder lachen, hatte Lust und Spaß daran, meine Freizeit zu gestalten. Aber er fehlte mir und ich träumte oft von ihm. Meistens träumte ich davon, daß Jörn in seine kleine rote Renngurke einstieg, mir gut gelaunt zuwinkte und dann wegfuhr, weit weg und für immer.

Zurück blieb nach dem Aufwachen diese dumpfe Leere und die verfolgte mich fast den ganzen Tag. Ich war niedergeschlagen, fast depressiv.

Und ich war etwas zynisch geworden. Nicht so sehr, daß es mir und den Menschen um mich schaden würde, aber ich merkte es deutlich. Allerdings war es mir gleichgültig.

Ich hatte so eine ‚scheißegal‘ Laune.

Ich hatte keine eigene Meinung und auch keine Lust dazu, eine zu haben. Wenn jemand fragte, möchtest du dies oder möchtest du das, dann hab ich meistens gesagt: „Ja, kann ich ja.“

Wie gesagt, ich konnte lachen, aber alles was ich tat hatte diesen zynischen Unterton. Eine zynische Gleichgültigkeit.
 

Einmal saß ich während der Mittagspause bei Hertie im Restaurant, knabberte meinen Salat, den ich mir geholt hatte und las in einem dicken Roman.

Schräg mir gegenüber saß ein junger Mann, südländischer Typ, nicht unattraktiv. Er sah oft zu mir herüber. Ich auch zu ihm, aber ich hatte nicht dieses Kribbeln wie sonst beim Flirten.

‚Wenn er was will, dann soll er sich bemerkbar machen.‘ lautete meine Devise. Als ich mich das letzte Mal bemerkbar gemacht hatte, hat es mir das Herz gebrochen. Und die Trümmer musste ich erst wieder zusammen suchen und flicken. Ich hatte schon immer ein großes Herz, ich hatte mich mit Leib und Seele in die Liebe für Jörn gehängt, daher hatte ich jetzt auch ziemlich viele Puzzleteile.

Ich guckte ab und an zu dem Südländer rüber und sah, daß er durchaus interessiert war. Er lächelte mich an und guckte dann schüchtern wieder auf seinen Teller. Naja, halbschüchtern, immerhin guckte er ja nicht gerade missverständlich.

Ich lächelte höflich zurück, machte aber sonst keinerlei Zeichen, ob ich ebenfalls interessiert wäre oder nicht. Es interessierte mich zwar schon, wie sehr er um mich bemüht währe, eitel war ich schließlich doch noch. Aber ich maß dem nicht so sehr viel Bedeutung zu, wie vielleicht, wenn ich nicht gerade an einem Herz-Puzzel gearbeitet hätte.

Wenn er ging, dann ging er halt.

Nachdem ich wieder ein paar Absätze gelesen hatte, guckte ich zu seinem Tisch rüber, er war verschwunden.

‚Na gut, dann halt nicht.‘ Dachte ich bei mir. Ein wenig war ich schon gekränkt, die Eitelkeit, man weiß ja. Aber es war mir auch gleichgültig. Sein Pech, wenn er sich nicht traute. Ich wollte gerade weiter in meinem Buch lesen als von hinten eine männliche Stimme kam.

„Wenn Sie noch etwas Zeit haben, dann kann ich in 10 Minuten wieder da sein.“ Sagte die Stimme leise.

Ich drehte mich um, es war der junge Mann von schräg gegenüber.

„Ok, aber um halb drei muss ich am ZOB sein.“ Erwiderte ich.

„Gut, dann bis gleich.“ Antwortete er und verschwand in Richtung der Fahrstühle.

Er hatte einen deutlichen Akzent, war also definitiv kein Deutscher. Aber er sprach sehr gut Deutsch. Gut genug um mir zu imponieren.

Ich knabberte weiter an meinem Salat und widmete mich meinem Buch.

Nach etwa 10 Minuten kam er tatsächlich zurück und setzte sich dieses Mal gleich mit an meinen Tisch.

„Hi.“ Grüßte er lächelnd.

„Hallo.“ Erwiderte ich.

„Ich heiße Massis, wie ist Ihr Name?“ fragte er. Er sprach wirklich ein gutes flüssiges Deutsch. Das war schon mal ein guter Anfang, dann würde es keine Missverständnisse geben. Ich musste an Murat denken, der kein Deutsch sprach. Nach zwei Wochen hatte sich herausgestellt, daß er gut drei Jahre jünger war als ich und damit so alt wie mein Bruder. Das ging gar nicht!

„Ich heiße Carmen.“ Gab ich zur Antwort.

„Sie sind eine sehr hübsche junge Frau.“ Schmeichelte er dann und hatte dabei einen ganz weichen Blick.

„Danke.“ Sagte ich nur und wurde leicht warm im Gesicht.

„Aber ich denke nicht, daß es notwendig ist, daß wir uns siezen.“ Fügte ich hinzu.

Wir unterhielten uns eine Weile. Ich erfuhr, daß er aus Persien stammt und vor einem halben Jahr nach Deutschland gekommen war.

„Wow, dafür sprichst du aber sehr gut Deutsch.“ Bemerkte ich.

„Danke. Ich mache auch einen deutschen Sprachkurs. Ich dachte mir, wenn ich in Deutschland etwas werden will, dann muss ich die Sprache beherrschen.“

Diese Einstellung gefiel mir sehr gut. Endlich mal ein Ausländer, der weiß, wie man sich in einem fremden Land zu benehmen hat. Immerhin wird auch von uns erwartet, daß wie uns an die entsprechenden Gepflogenheiten halten, wenn wir im Ausland sind. Und sei es nur, daß wir dort ein paar Tage Urlaub verbringen.

Ich erfuhr, daß er fünf Jahre älter war als ich und er kam nach Deutschland, um ein neues Leben anzufangen.

Er gefiel mir ganz gut, er war nett, höflich und hatte eine angenehme Art.

„Ich muss jetzt zu meinem Bus.“ Sagte ich dann, nachdem wir uns ein bisschen unterhalten hatten. „Ich soll um drei Uhr wieder in Engelsby sein, dann ist meine Mittagspause zu Ende.“ Fügte ich erklärend hinzu.

„Ich kann dich fahren, wenn du möchtest. Dann haben wir noch ein paar Minuten.“ Bot Massis spontan an.

„Ok.“ Stimmte ich zu. Ich hatte bei ihm nicht das Gefühl, daß er das in irgendeiner Weise ausnützen würde. Er war ehrlich, das fühlte ich.

Wir gingen dann auch zu seinem Auto und er fuhr mich nach Engelsby.

„Ich möchte dich wieder sehen.“ Sagte er dann, als ich aussteigen wollte.

„Ja, klar. Wo und wann?“ fragte ich und blieb vor der offenen Wagentür stehen..

„Wann hast du Zeit?“ fragte er.

„Ich hab ab nächster Woche 14 Tage Urlaub. Wir könnten uns aber auch morgen in der Mittagspause treffen, wenn du willst.“ Schlug ich vor.

„Bis nächste Woche sind es noch“ er zählte an den Fingern ab, „zwei Tage, das Wochenende mitgezählt vier Tage. Es wäre schön, wenn wir uns früher sehen könnten. Morgen Mittag ist es bei mir schlecht, da muss ich arbeiten. Aber am Freitag hab ich wieder Spätschicht, da könnten wir uns in deiner Mittagspause sehen. Wo sollen wir uns treffen?“ Er sah mich mit Dackelaugen an.

„Ok, die Mittagspause am Freitag sollte kein Problem sein. Treffen wir uns doch einfach wieder bei Hertie. Ich bin gegen halb zwei da.“ Stimmte ich seinem Vorschlag zu.

„Wann beginnt deine Mittagspause? Ich könnte dich abholen.“ Lächelte er.

„Meine Mittagspause beginnt um 13 Uhr, dann macht die Apotheke für zwei Stunden zu.“ Erwiderte ich.

„Also gut. Ich hole dich ab, bis Freitag dann.“ Lächelte Massis. Ich stieg aus und ging zur Arbeit. Massis fuhr dann auch gleich wieder davon.
 

Am Freitag stand er dann wie verabredet um 13 Uhr vor der Apotheke und wartete, daß ich herauskommen würde.

Er konnte ja nicht wissen, daß auf der anderen Seite des Gebäudes der Lieferanteneingang war, den wir Angestellten benutzten. Es war aber auch kein Problem, ich kam um die Apotheke herum und er sah mich gleich.

„Hallo, ich dachte schon, du bist gar nicht da.“ Freute er sich strahlend.

„Doch doch, aber wir gehen immer hinten raus.“ Erklärte ich.

„Ach so.“ Massis schlug sich mit der Hand an die Stirn.

„Dann kann ich hier ja lange auf dich warten. Magst du was essen?“ er machte eine Geste, daß ich mit ihm zum Auto gehen sollte. Er war sehr galant, das musste man ihm lassen. Er war zwar leger gekleidet, aber ordentlich. Es passte zu seinem südländischen Typ.

„Ich kenne einen wirklich guten Chinesen. Magst du chinesisches Essen? Ich lade dich ein.“ Er flehte fast darum, daß er mich zum Essen einladen durfte.

„Klar, ich liebe Chinesisch. Kannst du mit Stäbchen essen?“ fragte ich ihn herausfordernd.

„Nein, nicht wirklich. Ich bekomme das nicht hin.“ Gestand Massis ein bisschen kleinlaut.

„Ich zeige dir, wie das geht.“ Beruhigte ich ihn.

Wir fuhren dann nach Flensburg in die Stadt und er parkte am Hafendamm. Er führte mich direkt dahin, wo ich schon oft gegessen hatte, wo ich damals mit Donald das spontane Abendessen hatte und wo ich mit meiner Familie schon oft war. Der Chinese am Nordermarkt.

„Ja, da hast du Recht.“ Bestätigte ich sein Versprechen, einen wirklich guten Chinesen zu kennen.

„Hier war ich schon öfter.“

„Es gibt keinen besseren Chinesen.“ Freute Massis sich.

Zur Mittagszeit war erstaunlicher Weise nicht viel los. Aber das Lokal lag ein bisschen versteckt in einer Seitengasse am Nordermarkt. Man musste schon wissen, daß hier ein chinesisches Restaurant war. Allerdings hatten wir so freie Wahl, was den Sitzplatz betraf.

Der Ober war gleich zur Stelle. Er reichte mir und Massis je eine Speisekarte und wir bestellten etwas zu Trinken.

„Ich hätte da schon etwas, was ich gerne bestellen möchte, für zwei. Bist du einverstanden?“ fragte mich Massis zuvorkommend.

„Klar, ich lasse mich gerne mal überraschen.“ Er war wirklich nett, galant, ein richtiger Kavalier. Ich klappte meine Speisekarte zu und legte sie zur Seite.

Schon bald war der Kellner mit den Getränken zurück und Massis bestellte eine Platte für zwei, die ‚Acht Köstlichkeiten‘ hieß und dazu zwei Mal Essstäbchen.

Ich grinste innerlich, das war die gleiche Platte, die Donald damals bestellt hatte.

Als erstes bekamen wir unsere Teller mit den Schalen und den Stäbchen.

„Pass auf, ich zeige dir wie das geht.“ Sagte ich zu Massis, als ich den leicht hilflosen verlegenen Blick bemerkte, den er seinen Stäbchen beimaß.

„Wir machen das zusammen. Zuerst musst du ein Stäbchen in die Beuge zwischen Daumen und Zeigefinger legen. Dieses Stäbchen ist das feste, es wird nicht bewegt. Du klemmst es mit dem Daumen an die Fingerkuppe des Ringfingers, so daß es stabil liegt und nicht wegrutscht.

Dann nimmst du das andere Stäbchen und hältst es mit Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger wie einen Stift, den du zum Schreiben hältst. Dieses Stäbchen ist das bewegliche. Nun musst du noch beide Spitzen so aneinander bringen, daß sie wie eine Pinzette zusammen passen, dann kannst du essen.“

Massis machte ein sehr angestrengtes Gesicht als er versuchte, meinen Anweisungen zu folgen. Nach einigen Versuchen hatte er aber zumindest die Stäbchen schon mal so in der Hand, daß der eine fest lag und er den anderen bewegen konnte.

Ich zeigte ihm dann, was man mit den Stäbchen alles machen kann, das Feuerzeug aufheben, die Zigarette halten, Reiskörner aus dem Salzfass fischen. Er staunte und versuchte es nachzumachen, bei dem Feuerzeug allerdings hatte er keinen Erfolg.

Als dann das Essen da war legte er aber gleich mit Feuereifer los und schaffte es nach einigen Versuchen tatsächlich die doch recht rutschigen Gemüse und Fleischstreifen zu fassen und ohne sie fallen zu lassen in den Mund zu bekommen.

Nur bei dem Reis war er sich nicht sicher, wie das funktionieren sollte. Zuerst versuchte er es mit einzelnen Körnern, so wie bei dem Salzfass.

„Nein, nicht so.“ lachte ich.

„Auf diese Weise bist du sicher bald verhungert. Guck, das ist extra Klebereis, den kannst du in kleinen Klumpen aufgabeln.“ Ich machte es ihm vor und er verstand schnell.

„Ahach, ich verstehe. So geht das.“ Massis hatte richtig Freude am Essen gefunden. Er war aber auch ein sehr gelehriger Schüler, das musste ich ihm lassen.

Nach dem Essen gingen wir noch ein Eis essen, es war warm, zu warm und eine Abkühlung war nötig.

„Dir scheint die Wärme ja nichts auszumachen.“ Bemerkte ich.

„Naja, das wird daran liegen, daß es in Persien fast immer so warm ist.“ Sagte er.

„Wie ist es da?“ fragte ich ehrlich interessiert.

„Das willst du nicht wissen.“ Wehrte er ernst ab.

Ich war etwas erschrocken. Seine Antwort klang leicht schroff, abweisend, verbittert.

„Warum?“ versuchte ich ihn vorsichtig um zu stimmen.

„Wie spät ist es, haben wir noch Zeit für eine Cola?“ fragte er plötzlich komplett aus dem Zusammenhang gerissen.

Ich verstand, er wollte nicht darüber reden, also würde ich ihn nicht weiter drängen.
 

Schon an meinem ersten Urlaubstag wollte Massis mich wieder treffen. Dieses Mal allerdings würde er mich von zu Hause abholen. Auch Massis war einer der wenigen, dem ich meine richtige Adresse verriet.

Ich stand gerade in der Küche als ich sah, daß Massis mit seinem Golf an unserem Grundstück vorbeifuhr und auf dem Parkplatz neben der Auffahrt hielt.

„Ich bin dann weg.“ Rief ich meiner Mum noch zu, die in ihrer Werkstatt war, um zu Nähen. Ich schnappte meine Tasche und war auch schon aus der Haustür. Massis stieg extra aus um mir die Beifahrertür zu öffnen, daß ich einsteigen konnte.

Ich warf einen Blick zum Küchenfenster, in dem ich – wie erwartet – meine Mum sah. Sie sah beeindruckt aus. Vielleicht ein bisschen belustigt. Mir war klar, daß sie sofort an Victor denken musste.

Allerdings war Massis durchaus nicht peinlich.

„Du hast deine Badesachen dabei?“ fragte Massis unternehmungslustig.

„Jap, alles dabei, wie befohlen.“ Lachte ich.

„Gut. Wir fahren erstmal zu mir und frühstücken.“ Sagte er dann.

„Es ist halb 10 Uhr vormittags und du hast noch nichts gegessen?“ fragte ich ungläubig.

„Schon, aber das war vor drei Stunden. Ein Mann braucht mehrere Mahlzeiten am Tag.“ Entgegnete er.

Auf dem Weg nach Flensburg kamen wir an einem Straßenstand vorbei, der Erdbeeren verkaufte.

„Magst du Erdbeeren?“ erkundigte Massis sich kurz.

„Ich liebe Erdbeeren.“ Gab ich zur Antwort.

Er stieg in die Eisen, drehte den Wagen sehr rasant und fuhr zurück. Am Erdbeerstand holte er dann zwei Schalen der roten Früchte, drückte sie mir in die Hände und wendete erneut, um weiter nach Flensburg zu fahren.

Seine Wohnung war in einem Altbau im Junkerhohlweg. Sie bestand nur aus zwei Zimmern, einem Schlaf- und einem Wohnzimmer, hatte aber eine große Küche.

Es war sauber und ordentlich.

Zum Frühstück, oder eher zum Brunch, gab es Brötchen, einen halben geräucherten Aal und die Erdbeeren, kleingeschnippselt mit Zucker und Milch.

„Seit ich ihn das erste Mal gegessen hab, kann ich von dem Räucheraal nicht genug bekommen.“ Gestand Massis und holte einen weiteren großen Räucheraal aus dem Kühlschrank.

„Das kann ich verstehen.“ Pflichtete ich ihm bei und nahm das Stück Aal, daß er mir reichte, gerne an.

Als wir fertig waren und alles weggeräumt hatten, sammelte Massis schnell seine Badesachen zusammen und wir machten uns auf den Weg zum Strand.

Vor der Haustür fragte er mich dann: „Du hast doch einen Führerschein?“

„Ja.“ Antwortete ich etwas erstaunt.

Ich hatte meinen Führerschein in dem Jahr gemacht, in dem die Geschichte mit Jörn war.

„Was hältst du davon, wenn du fährst?“ er grinste mich schelmisch an.

„ICH? Bist du sicher?“ ich war echt von den Socken.

„Klar, du brauchst doch sicher Praxis.“ Bestätigte Massis.

Ok, bevor ich mich schlagen ließ nahm ich das Angebot an.

Wie schon kurz erwähnt hatte Massis einen Golf. Einen Golf 1. Also, einen alten Golf, so einen mit ohne Servolenkung.

Er stand seitlich geparkt am Straßenrand. Vor und hinter dem Auto standen auch je ein Auto, allerdings ziemlich dicht, fast Stoßstange an Stoßstange.

„Bist du wirklich sicher, daß du mich fahren lassen willst?“ erkundigte ich mich skeptisch. Die Unterschrift auf meinem Führerschein war kaum richtig trocken. Ich hatte ihn zwar im Januar bestanden, aber aus Mangel eines eigenen Autos eben nicht die meiste Fahrpraxis.

„Doch, bin ich.“ Massis drückte mir den Schlüssel in die Hand.

„Na gut, du musst es wissen.“ Ich schloss die Fahrertür auf und in Ermangelung einer Zentralverriegelung musste ich für Massis dann die Beifahrertür von innen öffnen.

Immerhin bekam ich den Wagen gleich gestartet, bis hier hin war alles gut.

Mein Bruder hat zum bestandenen Führerschein einen kleinen Fiat 45 bekommen, den ich auch gelegentlich mal fahren durfte. Ich hatte die kleine Fischdose schon aus einer engen Parklücke herausbekommen, durch viel hin und her Gekurbel, aber der Wagen hatte wenigstens eine leichte Lenkung, ich glaube, es war eine Lenkhilfe.

Der Golf von Massis hatte keine Unterstützung, geschweige denn eine Servolenkung.

Was so eine Servolenkung dann für ein Luxus ist bemerkte ich in dem Moment, als ich versuchte das Lenkrad scharf nach links zu drehen.

Im Stand ein Ding der Unmöglichkeit! Es sei denn man steht auf gebrochene Arme!

Also musste ich gaaaanz sachte Gas geben, damit der Wagen ein bisschen Bewegung hatte und ich das Lenkrad einschlagen konnte.

Nach einer viertel Stunde Kraftakt hatte ich Massis´ Auto dann endlich ohne Blessuren aus der Parklücke heraus und auf die Straße bekommen.

Der Rest war leicht, wenn so ein Auto erstmal fährt, macht auch eine fehlende Servolenkung keine Probleme mehr. Allerdings hatte ich wirklich das Gefühl die Reifen direkt in der Hand zu haben.

Massis lotste mich zuerst in eine Gegend, die ich selbst noch nicht kannte. Wir fuhren zu einem Platz, der recht hoch gelegen war. Ich sollte den Wagen am Straßenrand parken. Massis führte mich durch einen Knick am Straßenrand und es eröffnete sich ein wunderschöner Blick auf ein kleines hügeliges Tal komplett mit Bachlauf.

„Wow, ist das schön hier.“ Rief ich begeistert aus.

„Das wollte ich dir unbedingt zeigen.“ Sagte Massis.

Wir setzten uns eine Weile ins Gras und blickten in das Tal.

„Da, wo ich herkomme, wo ich aufgewachsen bin, ist ein ähnliches Tal. Nur viel größer.“ Bemerkte Massis wehmütig.

„Hast du Heimweh?“ fragte ich vorsichtig.

Massis schwieg und wirkte sehr nachdenklich.

„Ja.“ Sagte er dann nach einer langen Pause.

„Aber es war Krieg… Darum bin ich hier.“ Ergänzte er dann.

Ich schwieg, es machte mich betroffen, ihn so nachdenklich und traurig zu sehen. Er hatte sicher schlimmes durchgemacht.

Eine Weile saßen wir dann schweigend nebeneinander.

„Komm, wir wollten doch Baden gehen.“ Rief er plötzlich aus und war wie ausgewechselt.

Er stand auf, half auch mir auf die Beine und wir gingen zurück zum Auto.

Ich war etwas erstaunt über diesen Wechsel, aber ich wollte auch keine dummen Fragen stellen.

Ganz offensichtlich hatte er einen Schmerz, den er nicht teilen wollte, nicht konnte.

Wenn er es für richtig hielt würde er sicher darüber reden.

Wir fuhren nach Glücksburg an den Strand. Allerdings nicht an die Promenade, vor dem Strandhotel. Da wollten die Leute allen Ernstes Geld dafür nehmen, daß wir in dieselbe Förde zum Baden gehen konnten, in die wir auch ein paar hundert Meter weiter völlig kostenlos hopsen konnten. Das war einfach absurd.

Wir hatten zwar keinen Strandkorb, aber wer braucht so etwas wirklich? Ich jedenfalls nicht und auch Massis machte nicht den Eindruck, daß ihm etwas dergleichen fehlen würde.

Als er sein T-Shirt auszog war ich im ersten Moment etwas überrascht. Daß er eine ordentlich behaarte Brust hatte konnte man schon an den Shirts mit V-Ausschnitt sehen, die er immer trug. Das stand ihm auch sehr gut, fand ich. Aber daß sich diese Behaarung über die Schultern bis auf den Rücken fortsetzen würde, das war nicht zu erahnen.

Aber nun ja, nur weil er einen behaarten Rücken hatte, machte ihn das nicht zu einem schlechteren Menschen. Es war nur etwas, sagen wir, fusselig ihm den Rücken mit Sonnencreme ein zu reiben und meine Hände kribbelten, als ich damit fertig war.

Als ich dann in´s Wasser wollte, machte Massis nicht gerade Anstalten dazu, mir zu folgen. Und als ich ihn aufforderte doch mit zu kommen, wehrte er ziemlich heftig ab.

Ich versuchte wirklich alles ihn zu überreden, aber er blieb standhaft.

"Du wolltest doch mit mir Baden gehen? Wie soll das funktionieren, wenn du nicht mit ins Wasser kommst?" Fragte ich ihn erstaunt.

„Ich kann nicht Schwimmen!“ platzte es dann aus ihm heraus.

Er machte ein Gesicht wie ein kleiner Junge, der etwas verbrochen hatte und jetzt mit der Wahrheit herausrückte.

„Aber, wieso wolltest du dann mit mir an den Strand?“ fragte ich ihn etwas ungläubig, ob diesem seltsamen Geständnisses.

„Ich dachte, das macht ihr doch so, in Deutschland? Wenn Sommer ist und warm, dann geht ihr doch zum Strand.“ Druckste er unsicher herum.

„Ach du Nasenbär.“ Lachte ich.

„Nur weil Sommer ist, heißt das doch nicht, daß wir zum Strand MÜSSEN. Magst du wenigstens ein bisschen plantschen, wo du noch stehen kannst?“ versuchte ich ihn erneut zu locken.

„Ach ich weiß nicht…“ Er war schon etwas unverständlich, obwohl er meine Sprache beherrschte.

Schließlich brachte er mich dann wieder nach Hause, ohne daß er im Wasser war.
 

Wir trafen uns fast jeden Tag und unternahmen irgendetwas. Einmal sind wir nach Kappeln gefahren, weil er gehört hatte, daß man da besonders guten Räucheraal bekommen konnte. Allerdings traf diese Information nur auf die Herignstage in Kappeln zu, und die sind im Frühjahr.

Dann waren wir in Glücksburg im Schloss, ein anderes Mal fuhr er sogar mit mir nach Husum. Dort bekamen wir dann tatsächlich Räucheraal und auch sehr günstig Nordseekrabben.

Ich hab selten einen Menschen so viel Fisch verschlingen sehen.

Wir hatten viel Spaß. Mein Urlaub verging fast wie im Flug.

Allerdings hatte ich immer mehr das Gefühl, ihn würde etwas bedrücken.

Wir saßen gerade mit einer großen Portion Schokoladeneis bei ihm zu Hause und unterhielten uns über dies und das, als er mit einem Male still wurde.

„Was ist los?“ fragte ich vorsichtig.

„Ich weiß nicht…“ er schien mitten im Satz abzubrechen.

„Bedrückt dich irgendetwas?“ versuchte ich weiter ihn sanft aus der Reserve zu locken.

Eine Zeitlang schwieg er.

Ich drängte ihn nicht.

„Ich mag dich.“ Sagte er dann etwas kleinlaut.

„Ich mag dich auch.“ Gab ich zurück.

„Aber du bist nicht mit deinen Gedanken bei mir.“ Stellte Massis dann fest.

„Doch, warum sollte ich nicht?“ Ich war etwas gekränkt. Ich war doch die ganze Zeit mit ihm zusammen, warum sollte ich mit den Gedanken woanders sein?

„Du hast mir noch nicht alles erzählt.“ Er klang, als wenn er mir einen Vorwurf machen wollte.

„Wieso ich? Du hast mir auch nicht alles erzählt, aber ich dränge dich doch deswegen nicht, oder?“ Das war einfach unfair von ihm.

„Ich hatte eine Frau und ein Kind.“ Sagte Massis, ohne mich anzusehen.

„Ich war im Krieg, im offenen Feld. Überall Gefahr. Wir durften nicht mal rauchen, weil man das Licht der Zigarettenglut über hunderte Meter hätte sehen können. Man wäre ein gutes Ziel in der Dunkelheit gewesen.“ Er sprach, als würde er eine Last abladen, ohne sie wirklich los zu bekommen.

Ich verstand warum er nach Deutschland gekommen war.

„Aber meine Frau und mein Kind sind noch da. Ich weiß nicht mal, ob sie noch leben.“

Ich schwieg. Ich hätte nicht gewusst, was ich hätte sagen können.

„Und du hast auch einen anderen.“ Sagte er jetzt. Aber es klang nicht bitter. Eher, als würde er einfach eine Feststellung machen.

„Aber, ich habe keinen anderen.“ Sagte ich zu Massis. Das entsprach der Wahrheit.

„Aber dein Herz ist bei einem anderen.“ Sagte Massis und sah mich jetzt an.

Für einen Moment hatte ich das Gefühl, er würde durch mich hindurch sehen.

Ich ahnte, was er meinte.

„Dein Herz ist nicht bei mir.“ Sagte Massis.

„Auch wenn du sagst, da ist niemand. Aber da war jemand. Und du hast ihn noch nicht losgelassen.“

Es war fast unheimlich.

Ich schwieg und überlegte fieberhaft, ob er wirklich meinte, was ich dachte, das er meinen könnte.

„Du hast einen Schmerz in dir, der dich davon abhält, mit deinem Herzen bei mir zu sein. Aber das ist ok, ich kann mit meinem Herzen auch nicht bei dir sein.“ Führte Massis den Gedanken weiter.

Mir dämmerte, was er meinte.

„Du meinst, ich hätte noch Liebeskummer?“ fragte ich ihn.

„Ich weiß nicht. Es mag sein, daß du ihn verdrängt hast, aber dein Herz ist nicht frei. Genau wie meines. Das ist keine gute Basis für eine Beziehung.“

Auf einmal hatte ich das Gefühl, daß Massis nicht nur fünf Jahre älter war als ich. Auf jeden Fall war er sehr viel weiser, als ich je vermutet hätte. Er muss schlimmes durchgemacht haben.

„Du könntest Recht haben.“ Sagte ich dann.

„Ich war sehr verliebt, unermesslich. Dann hab ich ihn verloren.“ Erzählte ich traurig.

„Ein Unfall?“ fragte Massis.

„Nein, eine Jüngere.“ Sagte ich.

„Oh.“ Machte Massis nur.

Es war so ziemlich das seltsamste Gespräch, das ich je hatte. In den letzten Tagen dachte ich Massis ein wenig kennen gelernt zu haben und plötzlich musste ich feststellen, daß ich ihn überhaupt nicht kannte. Er war klug, sehr klug, aber nicht im Sinne von Allgemeinbildung oder sonst einer Bildung. Er war zwischenmenschlich betrachtet klug und er öffnete mir die Augen.

Ich dachte, ich wäre irgendwie über Jörn hinweggekommen, dabei hatte ich ihn nur verdrängt. Mein Herz war wirklich nicht bei Massis, es war eigentlich bei niemandem. Ich hatte mein Herz, soweit es ging, verschlossen.
 

An diesem Tag trennten sich Massis´ und meine Wege.

Er ist zu dem Schluss gekommen, daß wir nicht zusammen passten und ich hab dem einfach zugestimmt. Es war keine Basis, auf der man hätte etwas aufbauen können.

Wir waren viel zu verschieden.

Kapitel XII
 

Wir hatten inzwischen seit Mitte Mai Sommer, Hochsommer. Seit zweieinhalb Monaten hatte die Sonne nichts anderes zu tun als am Vormittag die wenigen Wölkchen, die sich in der Nacht gebildet hatten, schnellstens weg zu schmelzen um den Rest des Tages gnadenlos mit voller Kraft auf uns herunter zu brennen. Das Getreide vertrocknete am Halm, die Straßen waren weich und der Teer lief regelrecht von den Dächern. Barfuß laufen war absolut undenkbar, weil der Boden so heiß war, daß man nicht mal eine Weile stehen bleiben konnte, selbst wenn man Schuhe anhatte. Blieb man dennoch stehen, wurden die Füße heiß und die Gummisohlen vulkanisierten geradezu mit dem Boden.

Ich hab sogar gesehen, wie eine Frau mit Stöckelschuhen über die Straße ging und dabei kleine Löcher hinterließ. Bei den stehenden Fahrzeugen platzte hin und wieder ein Reifen, einfach so.

Alles vertrocknete, jeder japste nach Wasser, nach Abkühlung, doch die war nicht in Sicht.

Ganz allmählich machte die Hitze uns allen zu schaffen. In der Nacht kühlte es kaum auf unter 30°C ab, die Luft war stickig, weil die Ostsee verdunstete. Das machte die Hitze noch drückender, noch beschwerlicher. Reihenweise fielen die Leute um, weil die Hitze körperlich nicht mehr zu verkraften war. Selbst in der Apotheke hatten wir inzwischen nahe an die 30°C. Wir durften sogar ohne den Apothekenkittel arbeiten.

Ich hatte schon seit Tagen Kopfschmerzen.

Das war insoweit nichts Ungewöhnliches, ging ich sowieso immer mit Kopfschmerzen ins Bett und stand morgens damit wieder auf. Ich hatte die Migräne meiner Mutter geerbt und im Grunde schon seit meinem 7. Oder 8. Lebensjahr ständig Kopfweh. Beim ersten Mal war ich um die 5, 6 Jahre alt. Ich erinnere mich gut daran, mein linkes Auge, die Schläfe und das Jochbein taten weh. Damals wusste ich noch nicht, was das genau war und ob man etwas dagegen machen konnte. Ich hab auch nichts gesagt, warum weiß ich nicht mehr. Aber spätestens seit ich in die Pubertät kam beginnt kaum ein Tag für mich ohne eine Schmerztablette.

Dennoch, die Kopfweh die ich in dem Sommer hatte, waren nicht einfach nur eine Migräne. Mein ganzer Kopf glühte, meine Augen waren schwer und ich hatte das Gefühl als hätte mir jemand heißes Quecksilber ins Hirn gegossen, das bei jeder Bewegung schwer wie Blei hin und her schwabbte.

Kurz gesagt: Es ging mir richtig beschissen!

An einem Morgen, es war der 1. August, stand ich schon mit starken Schmerzen, Übelkeit und Schwindel auf. Ich schluckte zwei Tabletten und fuhr zur Arbeit.

Wir hatten in der Nacht eine Lieferung von Bayer bekommen. Eine große Lieferung. Das lenkte mich ein bisschen ab, aber nicht wirklich viel.

Was mich allerdings schon ein bisschen mehr von meinem miesen Befinden ablenkte war die Tatsache, daß da ein verhältnismäßig junger Mann um die Apotheke schlich und immer wieder schüchtern zu mir rüber schielte, wenn er an ‚meinem‘ Fenster vorbei kam.

Er sah nicht besonders gut aus, war aber auch nicht unbedingt hässlich. Er hatte en rundes Gesicht, eine hohe Stirn mit deutlichen Geheimratsecken und trug eine Brille. Allerdings war die Brille nicht das was störte, es war eher sein sehr weiblich geformter Mund der viel zu dicht unter der Nase war. Aber er war ganz ordentlich gekleidet und wirkte auch sonst eigentlich nett.

Allerdings hatte ich an meiner Einstellung: „Wenn er was will, soll er sich bemerkbar machen.“ Noch nichts geändert. Dennoch schmeichelte es mir natürlich, daß ich wieder mal ganz offensichtlich das Interesse beim anderen Geschlecht geweckt hatte.

Ich beobachtete den Fremden aus dem Augenwinkel, sah nicht immer direkt hin, wenn er guckte. Aber ab und zu ließ ich mir doch gnädig ein Lächeln abringen.

Er schlich inzwischen seit eineinhalb Stunden um die Apotheke, so sehr, daß es schon meinem Chef auffiel.

„Sagen sie mal, Frau Raap, kennen sie den?“ fragte mein Chef mich.

„Nein, nicht im entferntesten.“ Antwortete ich Wahrheitsgetreu.

Ich sah nur, daß er mit einem kleinen orangen Opel Kadett da war, der sicher mal richtig Rot gewesen war, der Lack sah sonnengebleicht aus. Das Auto hatte ein Flensburger Kennzeichen. Dann kann man ruhig zwei Mal hingucken, dachte ich bei mir.

Der junge Mann schlich weiter umher, kam immer wieder an meinem Fenster vorbei, mal von der einen, mal von der anderen Seite.

‚Naja,‘ dachte ich, ‚Die Öffnungszeiten stehen ja vorne an der Tür. In 20 Minuten beginnt meine Pause, wenn er dann noch da ist, mal gucken ob er mich anspricht.‘

Nur fünf Minuten später kam der fremde junge Mann dann noch einmal an meinem Fenster vorbei, lächelte mich an, ging zu seinem Auto, stieg ein und fuhr davon. Nachdem er schon seit dreieinhalb Stunden hier immer um das Gebäude gewandert war, konnte er nicht noch 15 Minuten warten, bis meine Mittagspause begann!

‚Wie, jetzt?“ dachte ich empört.

„Erst hier den Stalker markieren und dann eine Viertelstunde vor Toresschluss die Kurve kratzen? Den Stert einziehen? Sich verzwiebeln? Na, dann hat er halt Pech gehabt!‘

In der Mittagspause fuhr ich wie immer in die Stadt runter um bei Hertie im einigermaßen klimatisierten Restaurant wenigstens ein bisschen Salat zu essen.

Ich hätte mir das Mittagessen sparen können. Ich aß eine Gurkenscheibe und drei Salatblätter, dann war mir schon wieder zu übel. Ich hatte mir statt meiner üblichen Cola eine Flasche mit stillem Mineralwasser geholt, die ich tapfer austrank.

Ich war direkt froh, als es endlich soweit war, daß ich mit dem Bus zurück nach Engelsby fahren konnte, die Warterei, daß die Zeit umgeht, war alles andere als komisch. Schon gar nicht, wenn man sich fühlte, als hätte jemand einen gegessen und wieder ausgespuckt.

Als ich dann in Engelsby zurück war, guckte ich prophylaktisch nach dem kleinen roten Kadett. Der war allerdings nirgends zu sehen.

Dann halt nicht.

Als ich dann aber kaum wieder an meinem Tisch saß, um die Mittagslieferung zu bearbeiten, ging der Fremde wieder an meinem Fenster vorbei und grinste mich an.

Ok! Er war also doch da. Aber wo war sein Auto? Das stand nämlich nicht da.

Nachdem er dann eine weitere gute Stunde um die Apotheke geschlichen war, ging er zu einer grünen Limousine, stieg ein und wollte losfahren.

Auf dem Kennzeichen stand „LM“.

‚LM? Wo soll den das sein? Kenne ich nicht, dann muss es Ossihausen sein.‘ Dachte ich bei mir.

Aber wieso jetzt ein so anderes Auto? Mit ‚ausländischem‘ Kennzeichen? Ein dunkelgrüner Opel Vectra? Es war aber durchaus ein schickes Auto.

Er parkte den Wagen rückwärts aus und wollte an meinem Fenster vorbei den Parkplatz verlassen.

Direkt vor dem Fenster allerdings hielt er an.

Allem Anschein nach nicht freiwillig, denn ich konnte sehen, daß er verzweifelt versuchte, den Motor wieder zu starten.

Er stieg dann aus, schob sein Auto auf den nächsten freien Parkplatz und stieg wieder ein.

Die Sonne stand etwas ungünstig und spiegelte sich stark in der Heckscheibe, so daß ich nicht sehen konnte, was er machte.

Nach einer Weile stieg er dann wieder aus, kam direkt auf mich zu und hielt mir einen kleinen Zettel an die Fensterscheibe.

„Darf ich dich mal anrufen?“ stand darauf.

Ich gab ihm ein Zeichen, daß er zum Lieferanteneingang kommen sollte.

Mir war schwindelig und es drehte sich alles, als ich aufstand.

Als ich dann die Tür aufmachte stand er schon da und wartete.

„Anrufen ist total schlecht.“ Sagte ich dann. „Meine Mum ist immer ganz furchtbar, wenn ich einen männlichen Gesprächspartner am Telephon habe.“ Erklärte ich weiter.

Das stimmte.

Immer wenn ich telephonierte, fragte meine Mum, wer da dran wäre. Und wenn es ein junger Mann war, dann rief sie gleich laut: „NIMM IHN!“ was mir schon so manchen Kandidaten vergrault hatte.

„Darf ich dir dann mal schreiben?“ fragte der Fremde nun schüchtern und schaukelte dabei ungelenk mit dem Oberkörper hin und her.

„Klar, ich gebe dir meine Adresse.“ Sagte ich. Mir war so schwindelig, daß ich am liebsten umgefallen wäre.

„Machen wir es einfacher, ich gebe dir meine Visitenkarte.“ Sagte er und holte ein kleines weißes Kärtchen aus seinem Portemonnaie, das er mir dann reichte.

„Ok, das können wir machen.“ Sagte ich und nahm die Karte entgegen.

„Wann hast du Feierabend?“ fragte er noch.

„Um sechs heute Abend.“ Sagte ich.

„Ok.“ Gab er zurück, ging zu seinem Auto und stieg ein.

Ich sah gerade noch, wie er mit dem grünen Auto wegfuhr, als ich es plötzlich sehr eilig hatte, zur Toilette zu kommen.

Das Wasser vertrug sich offenbar nicht mit den Häppchen Grünzeug, das ich gegessen hatte und verlangte sofortigen Auslass. Kurz gesagt, ich ließ mir mein Wasser mit dem Salat noch einmal durch den Kopf gehen.

Als ich zurück kam sagte meine Ausbildern nur knapp: „Du setzt dich jetzt da hin. Du siehst gar nicht gut aus. Ich hab schon mit dem Chef gesprochen und deine Mutter wird auch gleich da sein.“

In gewisser Weise war ich dankbar, aber es war mir trotzdem sehr unangenehm, jetzt von der Arbeit nach Hause geschickt zu werden. Es war noch viel Arbeit zu erledigen.

Ich hatte aber auch keine Kraft, mich dagegen zu sträuben, sie hatte Recht, es ging mir wirklich nicht gut. Und ganz offensichtlich stand mir das Elend ins Gesicht geschrieben.

Nur eine Viertelstunde später war dann meine Mum auch zur Stelle und packte mich ins Auto.

Zu Hause sollte ich mich erstmal hinlegen, unten im Wohnzimmer, wo es nicht so warm war wie in meinem Zimmer. Mein Zimmer war im Obergeschoss und direkt unter dem Dach. Ich bekam viel Wasser mit noch mehr Eis und so langsam wurde es besser.

Die ganze Zeit hatte ich diese Visitenkarte in der Hand.

„Ulrich Hansen“ stand darauf. Eine mir vollkommen fremde Postleitzahl und als Wohnort „Hühnfelden“.

Aha, das war wirklich nicht in der näheren Umgebung.

Als ich wieder etwas beisammen war und auch wieder etwas besser denken konnte, schnappte ich mir meinem Straßenatlas und guckte nach der Postleitzahl.

Ach, da unten, aber nicht Ossiehausen. Bei Frankfurt am Main. Das LM stand dann wohl für Limburg. In der Nähe von Limburg jedenfalls war Hünfelden eingetragen.

Ich guckte dann, wo Flensburg lag und stellte schnell fest, das war weit weg. Sehr weit weg.

Naja, schreiben kann man ja trotzdem mal.
 

In der letzten Zeit war ich öfter mal wieder bei Marco. Er hatte inzwischen längste eine eigene Wohnung und machte jetzt eine Lehre als Dachdecker. Ich blieb sogar ab und an mal über Nacht. Allerdings war keine Rede davon, daß wir jetzt ein Paar wären.

Ich wusste auch, daß ich nicht die einzige war, die er am Laufen hatte. Wir schliefen miteinander und es war jedes Mal schön mit ihm. Aber ich wusste, daß er das auch mit anderen Mädchen tat. Solange er aber nicht davon erzählte, oder die Mädchen auch noch da hatte, wenn ich kam, konnte ich da einigermaßen mit umgehen. Mir war klar, in dem Moment wo ich sagen würde: „Ich liebe dich und ich will dich für mich alleine haben.“ Wäre ich ihn losgewesen. Er hätte dann keine Zeit mehr für mich gehabt, wäre nicht zu erreichen und ich würde den besten Freund verlieren, den ich hatte.

Denn ich konnte ihm alles erzählen.

Er hatte immer ein offenes Ohr.

Und wenn ich jemanden brauchte, der mich einen Moment hielt, dann war Marco da.

Ich fühlte mich wohl bei ihm.

Ich wollte so viel von ihm abhaben, wie ich bekommen konnte, also tolerierte ich dieses stille Einvernehmen.

Absolut nicht meine Art, solche Beziehungen wahren eigentlich keine, aber mit Marco... Ich kann es nicht erklären, ich konnte es damals nicht und ich werde es auch in Zukunft nicht erklären können. Irgendetwas verband uns, ließ mich nicht von ihm loskommen.

Einmal hat er mich gefragt, ob ich nicht bei ihm einziehen wollte, wir könnten uns die Mietkosten teilen.

Ich war total perplex und wusste nicht, was ich sagen sollte. Am liebsten hätte ich laut gejubelt: „Klar, wann, jetzt gleich oder sofort?“

Aber er hatte die schlechte Angewohnheit gelegentlich mal solche oder ähnliche derben Scherze zu machen. Ich wusste nicht, ob er das Angebot wirklich so meinte, wie er gesagt hatte, oder ob er sich nur wieder lustig machen wollte.

Aus Vorsicht, nicht doch in eine Falle zu tappen, blieb ich ihm die Antwort einfach schuldig.
 

Ich hatte inzwischen an Ulrich geschrieben und bekam auch bald eine Antwort.

Natürlich hatte ich ihm erstmal erzählt, daß ich 23 Jahre alt war und was ich so machte und ihn bei der Gelegenheit auch gleich gefragt, warum er nur eine Viertelstunde vor dem Beginn meiner Pause verschwand und wie er an einem Tag mit zwei Autos unterwegs sein konnte.

Alles fiel mir ein.

Autohandel.

Auto geklaut.

Leihwagen...

Eine Möglichkeit aber wäre mir nie eingefallen.

Er war im Urlaub da und der Tag, an dem er mich gefragt hatte, ob er mich mal anrufen dürfte, war sein Auto vormittags in der Werkstatt. Da der 1. August sein letzter Urlaubstag war und er in der Nacht wieder nach Frankfurt fahren sollte, wollte er bei Aldi noch ein paar Besorgungen machen. Dafür bekam er das Auto seiner Schwester. Die wohnte in Flensburg also hatte ihr Auto ein Flensburger Kennzeichen. Er verschwand deshalb kurz vor meiner Mittagspause, weil er sein Auto aus der Werkstadt holen musste. Und dann war er mit seinem eigenen Auto noch mal da um zu gucken, ob ich auch wieder da sein würde. Eigentlich hatte er sich nicht getraut mich anzusprechen, aber sein Auto war der Meinung, direkt vor dem Fenster, an dem ich zum Arbeiten saß, einfach auszugehen und sich nicht mehr starten zu lassen. Erst als er mir den Zettel ans Fenster gehalten und die Visitenkarte gegeben hatte, ließ der Wagen sich wieder starten und er konnte nach Hause fahren.

Das erklärte so ziemlich alles.

Ich erfuhr aus seinem Brief auch, daß er 33 Jahre alt wäre und in Frankfurt auf dem Flughafen arbeiten würde. Er war Flugzeugmechaniker.

Wow, das klang wirklich gut. Meine Mum würde sagen, eine richtig gute Partie.

Ich hörte sie direkt in meinem Kopf: „NIMM IHN!!!!“

Natürlich erzählte ich meiner Mutter nichts davon. Sie würde mir nur wieder in den Ohren liegen. Ich hatte wirklich das Gefühl, sie wollte mich nur endlich loswerden, mich unter die Haube bringen. Außerdem hatte sie wirklich ein einmaliges Talent dafür, mich mit meinen ‚Freunden‘ aufzuziehen. Sie musste nur irgendwie aufgeschnappt haben, daß ich mit nem Jungen etwas Zeit verbracht hatte. Und wenn sie dann auch noch den Namen wusste, konnte sie richtig gut zielen.

„Verhältst du dich bei dem und dem genauso?“

„Sprichst du mit dem und dem auch so?“

Oder

„Der ist doch nicht dein Ernst. Guck dir den mal an, der kann nichts und hat nichts.“

„Was willst du nur mit diesem Schwachkopf?“

„Du lässt dich da echt in deinem Niveau runterziehen!“

"Der ist das doch überhaupt nicht wert!"

Selbst wenn sie manchmal nicht ganz falsch lag, es war trotzdem gemein. Sie kannte die Leute, mit denen ich gelegentlich mal rumhing, gar nicht.

Auch wenn ich ihr von meinen Interessen oder Freizeitlichen Erfolgen erzählte. Zum Beispiel war ich inzwischen eine ganz gute Billardspielerin geworden. Ich malte mit Kreide, von Donald hatte ich zu Weihnachten sogar mal einen Farbkasten mit Künstlerkreide bekommen, mit 36 Farben. Ich modellierte mit einer Tonähnlichen Modelliermasse, die alleine aushärtete. Und ich zeichnete gerne Elfen und Feen.

Aber an allem hatte sie etwas auszusetzen, nie waren meine Arbeiten perfekt genug. Bis auf eine blaue Rose, die ich mal mit Wasserfarben gemalt hatte. Ich hab bis heute keine Erklärung, warum, aber ich sollte diese Rose meiner Oma schenken. Es herrschte kein gutes Verhältnis zwischen meinen Eltern und den Eltern meine Vaters, um es gelinde auszudrücken. Dennoch sollte ich meine geliebte blaue Rose an meine Oma verschenken.

Diskussionen mit meiner Mum nützten auch nichts. Es endete nur im Streit und sie machte alles, was ich mochte schlecht. Mein scheiß Billard, mit dem ich meine Freizeit verschwenden würde, das Geschmiere mit der Künstlerkreide und ähnliches, mit dem ich meine Zeit "verschwendete". Ich solle meine Zeit doch sinnvoller gestalten.

Wenn ich eine Diskussion wegen irgendetwas anfing, dann hatte ich schon verloren, bevor ich den Mund richtig aufmachen konnte. Und wenn ich Probleme mit meinen Mitmenschen hatte, dann war ER es entweder nicht wert, oder ich solle den Fehler mal bei mir suchen.

Das hat mir immer sehr geholfen, doch, hat mich echt weiter gebracht!

Ich wusste nicht, wo ich bei mir hätte suchen sollen, ich bekam ja keinen brauchbaren Hinweis. Andererseits war ich auch der Meinung, daß meine Mum sich nicht ganz in die jeweilige Situation hineinversetzen konnte. Ich hatte immer das Gefühl, sie hörte mir nicht zu. Sie sah nur, wie ich war, und daraus bastelte sie sich dann ein Argument zusammen, warum der Fehler wieder mal bei mir lag.

Wenn ich irgendeinen noch so kleinen Erfolg mitteilen wollte, dann wurde nur gesagt: „Ja, nett. Warum gibst du dir nicht mal mit dem Aufräumen so viel Mühe?“

Wenn ich etwas zu einem Gesprächsthema beitragen wollte, dann wurde nur mit: „Ach, du hast doch gar keine Ahnung, wovon du da redest.“ Oder „Überleg erstmal, was du da sagst.“ Reagiert. Und das nicht nur von meiner Mum, oder meinem Dad, wenn der im Urlaub war. Nein, auch mein kleiner Bruder schlug mit in diese Kerbe und meine Mum freute sich dann, wie intelligent ihr Sohn wieder war.

Ich fühlte mich in meiner Familie unverstanden, dumm und nutzlos.

Ich versuchte immer wieder ein bisschen Aufmerksamkeit zu erheischen, weshalb ich nie damit aufgehört hatte zu erzählen, daß meine Jungs mich gerne mit zu einem Billardtournier mitnehmen wollten oder daß ich in einer Arbeit ganz gut abgeschnitten hatte. Selbst von den Themen, die ich in meiner Ausbildung lernte, hatte ich allem Anschein nach keine Ahnung.

Dabei wollte ich nur ein bisschen als halbwegs erwachsene junge Frau akzeptiert werden.

Aber das gelang mir nicht.

Ich hatte das Gefühl, ich war nicht mal als halbwegs angemessenes Familienmitglied akzeptiert worden.

Also erzählte ich meiner Mutter längst nicht mehr alles. Zurzeit hätte sie aber auch keinen Kopf dafür gehabt.

Anfang September sollte das Norder Tor in Flensburg seinen 400sten Geburtstag feiern. Dafür plante die Stadt den Marktplatz an besagtem Tor in einen mittelalterlichen Markt zu verwandeln. Als Krönung war dann vorgesehen, auch etwas höher gestellte ‚Gäste‘ einzuladen.

Meine Mum war vor ein paar Jahren durch Zufall an eine Tanzgruppe geraten, die für den Geburtstag des Glücksburger Schlosses eine Quadrille tanzen wollte und zwar in Reifröcken. Diese wollten sie sich selbst nähen. Es war auch ein Bild in der Zeitung zu sehen, wo sich zwei der Mitwirkenden Damen je ein dreieckiges Stück Papier vor den Bauch hielt, das ganz offensichtlich ein Schnittteil des Reifrockes darstellen sollte.

Nun traf es sich, daß meine Mum nicht nur Schneidermeisterin und Meister ihres Faches war, sondern sich auch sehr für diese alten Kostüme interessierte und sogar stolze Besitzerin zweier original Schnittbüchern aus eben jener Epoche war.

Sie rief also bei diesem Tanzclub an und erkundigte sich, ob man da vielleicht mitmachen könnte.

„Das ist kein Problem, wir freuen uns immer über neue Mitglieder. Allerdings müssen Sie sich Ihr Kostüm selbst schneidern.“ Bekam meine Mum dann zur Antwort.

„Das ist kein Problem, ich bin Schneidermeisterin und hab die originalen Schnitte.“ Gab meine Mutter dann zur Antwort.

„Toll! Können Sie einen Kurs leiten?“ begeisterte sich die Vorsteherin des Tanzkreises.

So kam es dann, daß nicht nur meine Mum, sondern auch mein Bruder und ich zum 400sten Geburtstag des Glücksburger Schlosses im perfekten Kostüm auf dem Schloßhof tanzten.

Aus diesem Grund dachte sich dann die Stadt Flensburg den Tanzkreis anzuschreiben und darum zu bitten, ob wir nicht ganz ohne Tanz aber als gehobenere Gesellschaft auf dem mittelalterlichen Markt am Norder Tor flanieren könnten.

Natürlich nähte meine Mum eigens für dieses Ereignis neue Kostüme.

Insofern war es keine Schwierigkeit, ihr nicht zu erzählen, daß ich eventuell mal wieder einen neuen Kandidaten für eine Beziehung gefunden hätte.
 

Ulrich und ich schrieben uns regelmäßig und es schien eine ganz interessante Freundschaft zu werden. Er hatte sogar vor schon Anfang September wieder nach Flensburg in den Urlaub zu fahren, nur damit wir uns besser kennen lernen könnten.

Natürlich erzählte ich ihm von dem Ereignis, das in eben jener Woche der Geburtstag von dem erwähnten Tor sein würde. Ulrich war begeistert. Besonders feixte er sich, als er seinen Eltern, die ja in Flensburg wohnten, von dem Event erzählte und die ganz platt waren, woher er das denn wüsste.

Auf jeden Fall kam Ulrich dann wie versprochen Ende August. Er wollte von Donnerstag bis zum darauf folgenden Donnerstag bleiben. Am Mittwoch würde er hier rauf fahren und für den Donnerstag waren wir dann verabredet.

Ich erklärte allen meinen Freunden und Bekannten, daß ich in der Woche keine Zeit für niemanden haben würde.

Am besagten Mittwochabend stand er dann auch an der Hintertür von der Apotheke.

Als ich auf den Parkplatz rauskam und ihn da an seinem Auto gelehnt stehen sah, begrüßte er mich mit einem ziemlich schlacksigen: „Hallo Carmen.“ und schaukelte wieder so unbeholfen mit dem Oberkörper.

Er wirkte wie ein Volldepp.

‚Ach du dicke Backe, was hatte ich mir denn DA angelacht? Den hab ich aber irgendwie anders in Erinnerung.' Dachte ich bei mir und verdrehte innerlich die Augen.

„Hallo, Ulrich.“ Grüßte ich nur kurz.

„Ich hab jetzt aber keine Zeit, mein Bruder holt mich gleich ab. Wir waren aber doch auch nicht für heute Abend verabredet, oder?“ erklärte ich hastig.

„Nein, ich wollte dich aber überraschen.“ Grinste er unbeholfen.

Im selben Moment kam mein Bruder um die Ecke und ich stieg bei ihm ein.

Ich war leicht erschüttert. Irgendwie war das nicht gerade der, den ich erwartet hatte.

Naja, vielleicht hatte der Eindruck aber auch nur getäuscht. Immerhin war er gerade erst gute 7 Stunden auf der Autobahn gewesen. Soetwas schlaucht und macht müde. Mal sehen, morgen ist er sicher besser drauf.
 

Ulrich würde nur für eine Woche da bleiben und bemühte sich inzwischen seit zwei Tagen jede freie Minute mit mir zu verbringen. Er wollte auch zu dem Ereignis mit dem Markt kommen. Alleine deswegen schon konnte ich meiner Mutter nicht länger verschweigen, daß ich jemanden kennen gelernt hätte, dem sie mich am liebsten gleich mit Sack und Pack in die Arme drücken würde.

Aber es blieb keine andere Wahl, ich musste mit der Sprache raus und sie wenigstens darauf vorbereiten.

Natürlich nahm sie die Sache ernster, als ich. Ich hatte inzwischen schon festgestellt, daß Ulrich nicht gerade das verkörperte, was ich mir als einen festen Freund vorstellen würde. Sicher, er hatte einen guten Job, hatte kein schmales Portemonnaie und auch ein wunderbares Auto, daß ich sogar schon mal fahren durfte. Aber das war meiner Meinung nach keine gute Basis für eine längerfristige Beziehung. Ich mochte ihn schon, er war kein unangenehmer oder peinlicher Gesellschafter. Aber ich konnte nicht behaupten, daß ich ihn lieben würde. Ehrlich gesagt war ich schon die ganze Zeit am überlegen, wie ich ihm beibringe, daß mein Interesse an ihm nicht groß genug wäre, ohne ihn zu verletzen. Zumal er schon handfeste Pläne machte, daß ich in meinem Herbsturlaub für eine Woche zu ihm runter nach Limburg kommen sollte. Er wollte sogar die Fahrtkosten übernehmen.

Er war wirklich nett und großzügig und ich konnte mich einfach nicht dazu durchringen, ihm zu sagen, daß ich eigentlich lieber keine Beziehung mit ihm eingehen wollte.

Andererseits war da noch eine ganz andere Stimme. Eine, die irgendwo ganz tief in meinem Kopf saß und leise, aber unüberhörbar hämmerte.

„Schick ihn nicht in die Wüste.“
 

Meine Mum hatte vor einigen Monaten in der Zeitung eine Jobanzeige gelesen, wo eine Schneidergesellin um eine Meisterin geworben hatte. Die Gesellin hätte eine kleine Boutique und wollte ihre eigenen Kollektionen anbieten, durfte das aber nur, wenn ein Meister mit Brief als ihre Teilhaberin in der Boutique arbeiten würde.

So kam es dann, daß meine Mum sich ihren Wunsch nach einem eigenen Geschäft, zumindest teilweise erfüllen konnte. Überwiegend wurden in dem Laden allerdings Änderungen oder Reparaturen an Kleidungstücken aller Art gemacht. Eine Art Änderungsschneiderei. Aber eben mit der Möglichkeit auch eigene Arbeiten an den Kunden zu bringen.

In dieser Boutique zogen mein Bruder, meine Mum und ich uns dann für das Bevorstehende Fest um. Meine Mum hatte sich mal wieder selbst übertroffen.

Mein Bruder Marco bekam das Kostüm von ‚Heinrich dem IV.‘. Da er so ein sehr schmales Hemd war, musste meine Mutter ihm die Brust im Kostüm etwas auspolstern, damit er wenigstens halbwegs wie ein Monarch wirkte.

Ich sollte dann als ‚Maria di Medici‘ erscheinen. Meine Mum schlussendlich ging als meine Mum, ‚Margareta di Medici.‘ Wir waren also extra vom französischen Königshof nach Flensburg gereist um der freundlichen Einladung der Stadtherren nach zu kommen.

Auf dem Markt waren wir natürlich der Blickfang schlechthin. Die Kleider waren aus Pannesamt, Spitze und Brokat, reich mit Perlen und Straß bestickt und kompliziert geschneidert.

Schon nach wenigen Minuten entdeckte ich Ulrich, der eigens für diese Veranstaltung seine Kameraausrüstung dabei hatte. Allerdings war es schwierig, sich richtig zu unterhalten. Als VIP wurde ich immer wieder angesprochen:

„Können Sie Sich bitte noch mal drehen?“

„Ich hätte gerne ein Photo von Ihnen.“

„Ich möchte gerne auf ein Photo mit Ihnen zusammen.“

„Ach könnten Sie nicht nochmal bitte zeigen, wie Sie Sich mit diesem Kleid setzen können?“

„Hat man denn vor 400 Jahren schon geraucht?“

So und ähnlich ging es alle 10 Minuten.

Und alle 10 Minuten bekam Ulrich meine Zigarette und meine Dose Cola in die Hand gedrückt, damit ich wieder für irgendeine Kamera posieren konnte.

Natürlich war das ein wunderbares erhebendes Gefühl und ich spielte meine Rolle als gnädige Adlige nicht ohne Spaß daran. Immerhin hatte das Fußvolk ja allen Grund mich auf einem Ihrer Photos zu wünschen.

Ulrich wurde dann schnell in den Stand eines Zoferichs erhoben. Natürlich lernte er da auch meine Mum und meinen Bruder kennen. Er benahm sich schüchtern unterwürfig, aber höflich, als wüsste er schon, daß mit meiner Mutter nicht gut Kirschen essen war, wenn man sich ihr gegenüber nicht anständig benahm.

Von um 10 Uhr vormittags bis um 18 Uhr abends sollten wir nun auf dem Marktplatz flanieren und uns zeigen. Zwischendurch wurde noch eine Art Modenschau veranstaltet, wo wir alle noch mal namentlich und mit der Rolle, in die wir geschlüpft waren, vorgestellt wurden.

Einmal saß ich bei meiner Mum auf einem der Steine, die vor dem Norder Tor lagen, neben mir Ulrich. Ich hatte wir immer eine Zigarette in der Hand. Als dann zum gefühlten 1000sten Mal mit einer Kamera auf mich gezielt wurde, hatte ich keine Lust die Kippe weg zu packen und Ulrich hatte seinerseits keine Lust gleich wieder aus dem Bild zu hüpfen, weil er ja nicht zum VIP gehörte.

Zum Abschluss dann sollten sich alle Darsteller zu einem großen Gruppenphoto zusammen stellen und die Reporter aller Zeitungen stellten sich ihrerseits zu einem Halbkreis auf und machten ein Bild nach dem anderen. Auch Ulrich setzte sich ganz frech mit in die vorderste Reihe und gab den Darstellern sogar Anweisungen, daß sie etwas zusammenrücken sollten oder zu ihm gucken. Jeder hielt ihn aufgrund der Photoausrüstung für einen waschechten Reportet.

Als wir dann am Abend endlich in die Boutique zurückkehrten, taten uns alle Füße weh. Wir waren erschöpft aber rundherum zufrieden und beschwingt von dem reichlichen Beifall, den wir wieder einmal geerntet hatten.

Ulrich war mit uns zusammen geblieben und mit in die Boutique gekommen. Meine Mum lud ihn dann kurzer Hand zu uns nach Hause ein.
 

Natürlich verbrachten wir auch die folgenden Tage viel miteinander. Wir fuhren nach Glücksburg zum Schloss, ich zeigte ihm die wunderschöne Aussicht, die man auf die Flensburger Außenförde hatte, wenn man von Westerholz nach Langballig fuhr. Ich zeigte ihm den Scheersberg, wo ich mit Donald die Kneipe hatte. Ich zeigte ihm die Gegend, schließlich war er ja nicht von hier.

Als er mich am Dienstagabend von der Arbeit abholte, fuhren wir wieder zu mir nach Hause. Meine Mum unterhielt sich gut mit ihm und sie schien ihn zu mögen. Zumindest behandelte sie ihn wie einen Erwachsenen und nahm auch ernst, was er erzählte. Als es dann spät wurde und wir beschlossen die Kaffetafel aufzuheben sagte Ulrich: „Und ich armer kleiner Ulrich muss jetzt wieder ganz alleine nach Hause fahren.“

Kurzer Hand und vor allem ohne mich zu fragen, quartierte meine Mum ihn einfach bei mir ein.

Dabei wollte ich ihn gar nicht in meinem Zimmer haben.

Aber was sollte ich tun? Jedwede Diskussion wäre nur peinlich geworden, hatte also keinen Sinn. Außerdem nahm Ulrich diese Einladung nur zu gerne an.

Gottseidank hatte ich mein Zimmer etwas umgebaut. Ich hatte die Schränke so gegen die Schrägwand gestellt, daß ich praktisch dahinter meinen Schlafbereich abgetrennt hatte. Wenigstens musste ich mich Ulrich dann nicht in halbnacktem Outfit zeigen.

Er bekam das Gästebett und sollte auf der anderen Seite meiner Schrankwand nächtigen.

Inzwischen hatten wir auch fest geplant, daß ich in meinem Urlaub Anfang Oktober mit dem Zug zu ihm nach Limburg fahren sollte. Meine Mum wusste Bescheid und war begeistert von der Idee. Wie vermutet lag sie mir täglich in den Ohren.

„Ein so gut situierter Mann mit beiden Beinen fest am Boden und in dem Alter. Solche Männer laufen nicht sehr viele frei herum. Den solltest du dir festhalten.“ Und: „Ohne Papiere gehst du nicht mit runter.“

Mir war klar, was das bedeutete.

Meine Mum wollte, daß ich Ulrich heiraten und mit nach Frankfurt beziehungsweise nach Limburg gehen sollte.

Ich war eigentlich wenig begeistert, bei diesem Gedanken. Noch weniger begeistert war ich von der Idee, so weit weg von zu Hause leben zu sollen. Aber wie wiederholte meine Mum ständig: „Wie weit wohnt er weg? 700 Kilometer? NIMM IHN!!!!“

Sogar Händeringend!

An Ulrichs letztem Tag schließlich kam er noch mal in der Apotheke vorbei um mir eine einzelne kleine Rose und eine Diddle-Karte zu überreichen auf der stand: „Ich werde immer an dich denken.“

Ich war einigermaßen gerührt und wusste gar nichts zu sagen. Wir verabschiedeten uns kurz und ich ging wieder an meine Arbeit zurück.

„Frau Raap? Können Sie mal kommen?“ rief mein Chef aus seinem Büroraum.

Ich folgte der Aufforderung selbstverständlich sofort.

Als ich in das Büro kam saß mein Chef an seinem Schreibtisch und hatte eine Zeitung aufgeschlagen.

„Sagen Sie mal, das sind doch Sie, oder?“ mein Chef deutete auf ein recht großes Photo in der Zeitung. Darauf zu sehen war ich, wie ich auf dem Stein vor dem Norder Tor in meinem Medici-Kostüm sitze, mit einer Zigarette in der Hand. Neben mir saß – Ulrich! Der Ulrich, der sich gerade verabschiedet hatte um sich auf den langen Weg nach Hause zu machen.

Der Untertitel des Bildes: „Maria di Medici nebst Fußvolk bei einem Wohlverdienten Zigarettenpäuschen.“

„Ja.“ Konnte ich nur leicht erschrocken antworten.

Da lässt man einmal alle Etikette fahren und landet gleich damit in der Zeitung!
 

In den nächsten vier Wochen würden wir uns nicht schreiben können, hatte Ulrich mir erklärt. Er sollte für drei Wochen nach Usbekistan zu einem Arbeitskollegen fliegen und von da aus funktioniert es mit der Post in beiden Richtungen nur sehr schlecht. Wahrscheinlich würde er, selbst wenn er die Briefe alle zwei Tage abschicken würde, mit eben dem Flieger wieder nach Hause kommen, in dem die Post, gesammelt in den letzten drei Wochen, gerade nach Deutschland ausgeflogen werden sollte.

Wir vereinbarten dann, daß wir uns zwar jeden Tag schreiben, das dann aber als Maxibrief sammeln würden.

Ich hielt mein Versprechen so gut es ging. Ich schrieb fast jeden Tag. Über das Wetter, was so passierte, wie es mir ging und was ich so machte.

Ich schrieb sogar weiter an dem Brief, als ich am Wochenende Mitte September bei Marco blieb. Wir wollten auf den Jahrmarkt und später noch an die Küste.

Meiner Mum erzählte ich, ich wäre bei einer Freundin. Sie mochte Marco nicht. Er war mal für zwei Tage bei uns weil er angeboten hatte, das Dach vom Anbau meiner Mutter dicht zu machen.

Irgendwas lief dann da bezahlungstechnisch schief, Marco hatte etwas versprochen dann aber nicht gehalten. Ich glaube es ging um die Entsorgung für die Reste des Daches. Meine Mum hatte ihn für die Entsorgung im Voraus bezahlt aber Marco hat die Entsorgung verpeilt.

Dennoch blieb ihr nichts anderes übrig als zuzustimmen, als ich damals zur Silberhochzeit meiner Eltern Marco als meinen Begleiter wählte. Ich sollte einen Begleiter haben, Jörn wollte damals aber partout nicht mitkommen, diese Feier währe ihm zu intim, zu familiär gewesen. Marco erklärte sich jedoch bereit mit mir zu kommen.

Leider hatte er die schlechte Angewohnheit die Ärmel seiner Hemden immer hoch zu krempeln. So auch in diesem Fall, was meine Mum sehr verärgerte.

Mir war es jedoch relativ egal. Ich hab schon versucht Marco davon zu überzeugen, doch eventuell die Ärmel ordentlich zu machen. Marco wollte aber nicht. Und ich wollte ihn nicht ärgern. Ich war so froh, daß er da war. Mein Marco. Auf diesem Fest. Und ganz für mich alleine.

Auch wenn ich Jörn viel lieber dabei gehabt hätte. Aber es war schön mit Marco und ich fühlte mich wohl. Die Nacht durfte er sogar bei mir übernachten.

Also erzählte ich meiner Mutter lieber nichts davon, daß ich übers Wochenende zu Marco wollte. Sie hätte das auch sicher schon aus dem Grund missbilligt, da sie mich ja mit Ulrich schon so gut wie liiert betrachtete.

Ich betrachtete das allerdings noch ganz anders.
 

Wie geplant sind Marco und ich zum Jahrmarkt gefahren, allerdings nicht ganz allein. Unser Fahrer war Aurich, ein Freund von Marco. Er war dann auch mit von der Partie und wir gingen zu dritt. Leider war Marco allem Anschein nach mehr an der Gesellschaft von Aurich interessiert, als an meiner. Ich fühlte mich wie das fünfte Rad am Wagen und war einigermaßen sauer. Trotzdem wollte ich nicht weg, ich wollte bei Marco bleiben.

Als wir am Superhopser vorbei kamen musste ich an den Jahrmarkt denken, wo Marco bei dem Fahrgeschäft gejobbt hatte. Ich fuhr damals bestimmt sieben Mal mit dem Superhopser, nur weil Marco da die Chips einsammelte und gelegentlich auch mal mit fuhr. Allerdings maß er mir sehr viel weniger Aufmerksamkeit bei, als ich es mir gewünscht hatte. Er flirtete lieber mit den anderen Mädchen.

Das konnte ich dann nicht mehr ertragen und war dann erstmal fertig mit dem Superhopser.

Eigentlich war ich ziemlich oft sauer auf ihn. Aber ich konnte ihm nie lange böse sein.

Wir konnten uns keine 24 Stunden am Stück ertragen, so sehr wir es immer wieder versuchten. Aber ganz ohne den anderen ging es auch nicht.

Nach dem Jahrmarkt sind wir dann auch wie verabredet an die Küste gegangen. Auch hier war Aurich mit von der Partie, allerdings hatten wir nun wirklich zu dritt Spaß.

In der Nacht, als wir dann bei Marco zu Hause waren und Aurich längst zu sich nach Hause gefahren war, blieb es natürlich nicht beim Kuscheln allein.

Die Nachbarn beschwerten sich am nächsten Tag bei Marco, wenn er Pornos gucken wollte, dann solle er das doch bitte nicht so laut machen. Ich wurde ganz rot, als er mir das erzählte.
 

Anfang Oktober sollten dann die Herbstferien beginnen. Da ich zum Teil in der Berufsschule war, diese aber ebenfalls an der Einrichtung der Schulferien teilnahm, hatte auch ich quasi Ferien. Allerdings nicht im Sinne von Urlaub. In den Schulferien ging ich lediglich nicht zur Berufsschule. Stattdessen hatte ich Vollzeit in meinem Ausbildungsbetrieb zu sein. Andererseits war mein Chef aber sehr viel eher bereit, einem Urlaubsantrag zuzustimmen der in die Ferien fiel, da nicht die Gefahr bestand, daß die Berufsschule einfach geschwänzt wurde.

Und die Erste Ferienwoche hatte auch ich Uralaub genehmigt bekommen. In dieser Woche sollte ich dann mit dem Zug nach Limburg fahren. Beziehungsweise hatten Ulrich und ich uns darauf geeinigt, daß ich nach Gießen fahren sollte, von da aus wollte er mich dann mit dem Auto abholen.

Schon am Samstagmorgen in aller Frühe nahm ich den ersten Zug, der Richtung Süden fuhr. Das erste Mal musste ich in Neumünster umsteigen, nach etwa eineinhalb Stunden Fahrt. Von da aus fuhr ich noch mal eine Stunde bis nach Hamburg auf den Hauptbahnhof, wo ich ein zweites Mal umsteigen sollte. Ich hatte eine halbe Stunde Aufenthalt bis dann der nächste Zug Richtung Hannover abfahren würde. Auf dem Weg nach Hannover musste ich noch zwei Mal umsteigen, von Hannover ging es weiter nach Kassel wo ich wieder drei Mal umsteigen musste. Das Wochenendticket galt nur für Regionalzüge, ich durfte nicht mit einem ICE mitfahren. Das bedeutete daß ich auf einer Strecke von ungefähr 650 Kilometern 12 Stunden unterwegs sein würde und gefühlte 100 Mal umsteigen müsste, quasi an jeder Milchkanne! Eine grauenhafte Reise, angereichert mit Verspätungen, Umschiftungen und anderen netten Überraschungen. Eine davon war, daß wir auf einer Eisenbahnbrücke eine gute dreiviertel Stunde festsaßen, weil es irgendwo vor uns auf dem Gleis einen Unfall gegeben hatte.

Alles in allem war ich dann insgesamt 15 Stunden unterwegs, musste 12 Mal umsteigen und war extrem fertig mit der Welt, als es endlich hieß: „Nächster Halt, Gießen!“

Die ganze Fahrt über hatte ich genug Zeit zum nachdenken.

Was tat ich da eigentlich?

Ich fuhr hunderte von Kilometern zu einem eigentlich wildfremden Macker, dem ich dann hilflos ausgeliefert wäre.

Was, wenn er sich als Verbrecher herausstellte? Was, wenn es mir absolut nicht behagte? Wenn ich nach Hause wollte? War ich eigentlich noch ganz sauber im Kopf?

Mein Verstand verneinte diese Frage heftig. Die Stimme in meinem Hinterkopf klopfte mir beruhigend auf die Schulter und faselte etwas von „Es ist schon das Richtige“ und „Vertraue in dein Schicksal“.

Mein Herz hielt sich gepflegt aus der Diskussion zwischen Verstand und Stimme heraus.

Es ließ sich von den Ereignissen vorwärts ziehen und wartete einfach ab, was dabei herauskommen würde.

Es war immer noch mit dem Heilungsprozess beschäftigt.

Es war längst dunkel, als ich in Gießen ankam und ich war ehrlich froh, als ich Ulrich auf dem Bahnhof sah. Endlich ein Gesicht, das ich kannte, nun war ich wenigstens nicht mehr allein.

Alleine in der Fremde, weit weg von zu Hause.

Kapitel XIII
 

„Moment mal.“ Unterbricht mich Nicole.

„Du willst mir sagen, daß du allen Ernstes zu einem Kerl gefahren bist, der 700 Kilometer von deinem zu Hause weit weg wohnte, den du erst vor zwei Monaten gesehen und seit dem eigentlich nur mit ihm Briefkontakt hattest?“ sie sieht mich mit großen Augen ungläubig an.

„Ja, das will ich damit sagen.“ Gebe ich zur Antwort.

„Das hätte ich nie gemacht.“ Keucht sie.

„Hätte ich eigentlich auch nicht, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, daß ich das machen musste. Ich kann es nicht erklären.“ Erläutere ich ihr.

„Du meinst den kleinen Mann in deinem Ohr?“ hakt Nicole nach.

„Die kleine Stimme in meinem Kopf. Ja, die meine ich.“ Antworte ich.

„Hattest du denn gar keine Angst?“ fragt Nicole weiter.

„Doch, eigentlich schon. Aber irgendwie hatte ich das Gefühl, daß es sich zum Positiven entwickeln würde.“ Erkläre ich weiter.

„Man, das klingt irgendwie naiv.“ Bemerkt sie.

„Erzähl weiter, was passierte dann?“ fordert sie mich jetzt auf.
 

*
 

Die Fahrt mit dem Auto zu Ulrichs Wohnort dauerte lange, beinahe zu lange für meinen Geschmack. Ich war fix, fertig und alle. Ich wollte nur noch endlich ankommen.

Draußen war es so dunkel, daß ich mir den Weg kaum merken konnte. Außerdem fielen mir die Augen immer wieder zu.

„Na, da warst du ja richtig lange unterwegs.“ Versuchte Ulrich sich mit mir zu unterhalten.

„Ja, könnte man so sagen.“ Erwiderte ich matt.

„Gut nur, daß ich mir immer die Informationen geholt hab, was auf der Strecke alles los war. Du hattest immerhin drei Stunden Verspätung.“ Sagte er.

„Nicht ich hatte Verspätung, der Zug!“ verbesserte ich ihn müde.

Lange sagte keiner von uns etwas. Ich war ziemlich müde und Ulrich schien auch nicht gerade ein Entertainer zu sein.

„Wir sind bald zu Hause, guck, da vorne ist gleich Limburg.“ Sagte er dann nach gefühlten vier Stunden.

„Wenn du Glück hast ist auch der Limburger Dom beleuchtet.“ Erklärte Ulrich.

Als wir über die nächste Bergkuppe fuhren konnte ich auf die Stadt runter blicken. Ich hatte Glück, der Dom wurde angestrahlt. Er stand zur Linken auf einem Berg und sah wirklich majestätisch aus. Auf der rechten Seite, ebenfalls auf einem Berg, war das Krankenhaus von Limburg zu sehen.

Die Stadt war ein Lichtermeer und glitzerte in der aufkommenden Kälte.

Für einen Moment konnte ich den Anblick genießen, dann war ich aber einfach zu matt um die Augen auf zu halten.

Wir tauchten mit dem Auto in die Stadt ein und fuhren hindurch.

„Jetzt dauert es nicht mehr lange.“ Tröstete Ulrich mich.

Und richtig, schon nach 10 Minuten waren wir dann endlich da.

Ich sah das Ortsschild von Kirberg und atmete erleichtert auf. Ein weiteres Straßenschild wies darauf hin, wenn man in diese Richtung fährt, kommt man nach Ohren.

Was für ein toller Ortsname.

Ich hatte zu Hause in meinem Straßenatlas schon mal geguckt, was es sonst noch für Orte in der Nähe von Limburg gab. Besonders aufgefallen waren mir da Orte wie Obertiefenbach, ein Widerspruch in sich. Oder Oberrod und Niederrod. Dann gab es hier Selters, Oberselters und Niederselters.

Besonders gelacht hab ich allerdings über Brechen, Oberbrechen und Niederbrechen, ich bin bald abgebrochen!

Lauter lustige Ortsnahmen.

Endlich bog Ulrich ein letztes Mal ab und brachte den Wagen zum Stehen.

„Wir sind da.“ Verkündete er gut gelaunt.

Wir standen vor einem großen Haus. Unten wohnte Ulrichs Vermieter, der gleichzeitig ein Arbeitskollege von Ulrich war, mit seiner Familie. Allerdings war keiner von ihnen da. Der Arbeitskollege von Ulrich war als ‚Springer‘ unterwegs. Das bedeutete, daß er immer für ein paar Monate auf einem Flughafen im Ausland stationiert war. Seine Familie kam dann einfach mit. Zurzeit waren sie in Taschkent und würden auch nicht so bald wiederkommen.

Ulrich bewohnte die Wohnung im ersten Stock. Vier Zimmer hatte er zur Verfügung. Ich hatte schon Photos von seiner Wohnung gesehen. Sie war ausgesprochen ordentlich, beinahe wie aus einem Möbel-Katalog.

Er nahm meinen Koffer und führte mich rauf in seine Wohnung.

Ahch, endlich, ein Sofa. Und ein weiches dazu.

Ich ließ mich fallen und sprang beinahe sofort wieder hoch.

So weich wie das Sofa aussah, war es keinesfalls. Ich hatte mir beinahe das Steißbein gebrochen.

Etwas vorsichtiger setzte ich mich dann wieder hin.

„Ich mache uns eine Kleinigkeit zum Essen.“ Rief Ulrich aus der Küche, die nur vom Wohnzimmer aus zu erreichen war.

Das erinnerte mich an Jörns Wohnung.

Ein kleiner Stich zuckte durch mein Herz.

‚Ach Jörn…‘

Nach einigen Minuten verbreitete sich schon ein appetitlicher Duft im Wohnzimmer und nur wenige Minuten weiter brachte Ulrich einen Teller mit jeder Menge dreieckiger Waffeln zu mir und stellte sie auf den Wohnzimmertisch.

„Greif zu.“ Sagte er einladend.

Ich war so gut wie ausgehungert und folgte gleich seiner Aufforderung.

Die Dreiecke waren heiß und entpuppten sich als Hawaii Sandwiches. Sehr lecker und genau nach meinem Geschmack.

Ulrich setzte sich ebenfalls auf das Sofa. Es waren ein dreisitziges und ein zweisitziges Element die durch ein rundes Eckstück miteinander verbunden waren.

„Wo möchtest du denn schlafen?“ fragte Urlich mich etwas unbeholfen und schüchtern.

„Ich weiß nicht, was steht denn zum Angebot?“ fragte ich müde.

„Ich könnte dir das Gästezimmer anbieten, im Schlafzimmer hätte ich allerdings ein großes Doppelbett.“ Den letzten Teil nannte er eher kleinlaut.

Ich hatte keine Meinung dazu, ich würde ihm die Auswahl lassen.

Ich blieb ihm die Antwort schuldig.

Es war schon spät also war es durchaus an der Zeit sich zum schlafen gehen umzuziehen. Ich ging mit meinen Sachen ins Bad, putzte meine Zähne und zog ein langes einfaches Kleid an. Eigentlich war es ein Sommerkleid, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, ich sollte ein Nachthemd tragen. Er hatte so eine eigenartige Schwingung an sich.

Ich kam dann wieder ins Wohnzimmer, wo wir uns noch ein wenig unterhielten. Dann ging Ulrich mit dem Teller in die Küche und räumte diese auf.

Währenddessen beschloss ich einfach einzuschlafen.

Auf diese Weise wollte ich testen, wo Ulrich mich am Liebesten zum Schlafen haben wollte und ob er vielleicht auch eine Kavaliersseite an sich hätte.

Als er dann wieder ins Wohnzimmer zurück kam sah er gleich, daß ich ‚eingeschlafen‘ war.

Er hob mich auf und brachte mich ins Bett. Ins Schlafzimmer, in das große Doppelbett.

Das war ok. Das bedeutete ja nicht gleich, daß ich auch mit ihm schlafen musste. Es war mir zwar schon irgendwie unbehaglich, aber die kleine Stimme in meinem Hinterkopf sagte ganz leise: ‚Es ist gut so. Keine Angst.‘ Ulrich machte keinen Versuch mich in irgendeiner Weise anzufassen, was mich schon mal beruhigte.

Ich schlief dann auch fast sofort endgültig ein.
 

Mitten in der Nacht schreckte ich mit einem Schrei aus dem Schlaf. Ich hatte einen entsetzlichen Alptraum gehabt. Es war irgendetwas mit einem dunklen stark rostigen und schmutzigen Zug. Überall wo er vorbeikam brachten die Menschen sich auf bestialische Weise mit den eigenen Händen um, gegen die sie sich scheinbar nicht wehren konnte. Der Zug fuhr sehr schnell, aber wenn es wieder einen Menschen erwischte, dann schien die Szene in Zeitlupe abzulaufen. Ich war auf diesem Zug und musste dabei zusehen, wie die Menschen sich die Schlagadern aus dem Hals rissen, sich mit den Fingern tief durch die Augenhöhlen das Hirn aus dem Schädel zogen, sich die Zungen aus dem Hals rissen. Sie schrieen in Panik, Schmerzen und Angst… Zurück blieb die entsetzliche Panik und das dringendste Bedürfnis sofort wieder nach Hause zu fahren.

Ich horchte in die Dunkelheit, ob Ulrich etwas bemerkt hätte, aber er rührte sich nicht.

Gottseidank, er hatte es nicht bemerkt.

So etwas war mich noch nie passiert. Ich hatte zwar schon mal Alpträume, aber nie so heftig, daß ich schreiend wach wurde.

Ich versuchte wieder einzuschlafen und dachte darüber nach, was er wohl sagen würde, wenn ich gleich wieder nach Hause wollte.

Nach einiger Zeit schlief ich dann auch endlich wieder ein und hatte keine weiteren Träume mehr.
 

Am anderen Morgen wachte ich wie gerädert auf. Ich schob das allerdings auf die vergangene Horrortour mit dem Zug. Wahrscheinlich hatte ich deswegen auch diesen entsetzlichen Alptraum gehabt. Ulrich war schon aufgestanden und bereitete das Frühstück vor.

Er kam gerade ins Schlafzimmer, als ich versuchte die letzten Nachwirkungen des Traumes los zu werden, die mich immer noch schüttelten.

„Magst du ein Ei zum Frühstück?“ fragte er mich zuvorkommend.

„Oh ja, das wäre gut.“ Erwiderte ich.

„Magst du es lieber weich oder mittel?“ forschte er weiter.

„Weich, wenn es geht.“ Antwortete ich.

Er verschwand wieder in die Küche.

Ich erzählte ihm nichts von dem Alptraum. Auch nicht, daß ich immer noch das dringende Verlangen hatte, sofort nach Hause zu fahren. Ich schluckte dieses Gefühl runter und versuchte es so gut es ging zu verdrängen. Schließlich war ich hier im Urlaub und es gab sicher so einiges zu Sehen.
 

Als wir mit dem Frühstück fertig waren räumte Ulrich sofort alles weg und machte sauber.

Seine ganze Wohnung war so makellos sauber. Nirgendwo ein Staubteilchen oder ein Krümelchen, daß sich verirrt hatte. Alles war hübsch ordentlich, adrett und funktionell und sah aus, als hätte er gerade erst den Frühjahrsputz fertig bekommen. Es wirkte fast ein bisschen steril. Er hatte sich allem Anschein nach mächtig ins Zeug gelegt, um mich zu beeindrucken.

„Was möchtest du heute machen?“ fragte Ulrich mich, als er mit der Küche fertig war.

„Ich weiß nicht, was steht denn so alles auf dem Plan?“ erkundigte ich mich.

„Wenn du Lust hast können wir nach Limburg fahren.“ Schlug Ulrich vor. Da er keine weiteren Optionen zur Auswahl nannte, stimmte ich dem einen Vorschlag einfach zu.

Also fuhren wir nach Limburg an der Lahn.

Auf dem Weg dahin zeigte Ulrich auf einen Berg, der weit hinten am Horizont lag, mit einem kleinen Turm darauf.

„Das ist der Feldberg.“ Erklärte er. „Der höchste Berg im Taunus.“

Bei uns zu Hause in Flensburg war es schon recht kühl gewesen, der Herbst hatte längst alle Blätter mit brauner, roter und gelber Farbe versehen.

Hier, in Hessen allerdings war es noch recht warm. Die Bäume begannen gerade damit ihre Blätter um zu färben und die Luft war mild.

Ich hatte die falsche Garderobe eingepackt.

Ulrich parkte in einer Parkgarage mitten in der Altstadt. Nur wenig davon entfernt war C&A. Er ging direkten Weges mit mir nach C&A und suchte mit mir zusammen einen langen grauen Rock aus und ein paar Oberteile, die dazu passten.

Großzügig bezahlte er alles.

Mir war nicht ganz wohl dabei, ich hatte das Gefühl, er würde irgendeine Gegenleistung von mir erwarten. Dennoch nahm ich das Geschenk an. Man muss ja nicht immer gleich das Schlechteste von den Menschen annehmen, nur weil man sie nicht richtig kennt. Ansonsten machte er ja auch nicht gerade den Eindruck, daß er nicht Vertrauenswürdig wäre.

Ulrich zeigte mir dann die Altstadt von Limburg.

Ich war begeistert. Der gesamte Stadtkern war erhalten, einige Häuser schon über 700 Jahre alt. Die Architektur war schief und wirkte sehr instabil. An einer Stelle berührten sich sogar zwei Häuser mit den Regenrinnen, zwischen denen unten eine kleine Gasse verlief.

Ulrich führte mich auch hinauf zum Dom, der, wie schon gesagt, auf einem Berg stand. Es war ein steiler Aufstieg und alles über Kopfsteinpflaster. Aber das Gebäude war wirklich sehr beeindruckend. Neben dem Gotteshaus war ein kleiner Friedhof gelegen, auf dem die Äbte bestattet lagen, die einst den Dom und seinen Stadt geleitet hatten. Auch im Inneren des Bauwerkes waren einige Grabplatten in den Boden eingelassen. Es wirkte alles sehr erhaben.

Meiner Mutter hätte es hier sicher gefallen.

Wieder zurück in der Stadt gingen wir durch die Einkaufsstraßen. Fast die ganze Innenstadt war Einkaufsstraße. Bei Karstadt guckten wir uns die Diddlekarten und die anderen Diddelsachen an. Ich fand die Maus wirklich süß und auch Ulrich schien sie zu gefallen.

Er kaufte eine Karte auf der Diddle seinen kleinen Teddy im Arm hielt und mit einem schmachtenden Blick verkündete: ‚Mit dir ist es am schönsten.‘

Ulrich schenkte mir diese Karte gleich und bekam vor Verlegenheit rote Ohren.

Er zeigte mir einen Brunnen, der wie eine Pusteblume aussah. Auf einer Stange saß ein kleiner Ball aus Metall und an diesem Ball waren viele Rohre angebracht. Durch jedes dieser Rohre schoss das Wasser gegen einen Widerstand, so daß es am Ende des Rohres in alle Richtungen geleitet wurde. So sah jedes dieser Rohre aus wie ein Fallschirm aus einer Pusteblume.

„So einen Brunnen gibt es nur hier in Limburg.“ Erklärte Ulrich.

Wir aßen bei Nordsee zum Mittag und fuhren dann erst einmal wieder zu ihm nach Hause.

„Hast du Lust dich hier ein bisschen umzusehen?“ fragte er dann.

„Klar, gerne.“ Sagte ich.

Wir gingen dann durch Kirberg spazieren. Auch dieses Dorf war alt, der Kern sicher auch schon um die 700 Jahre. Auf einem hohen Felsen stand der klägliche Rest einer alten Burg. Ich konnte keinen Aufstieg dahin erkennen, der Felsen war schroff und ging beinahe senkrecht runter bis auf das Niveau des Dorfes. Es waren auch noch ein paar Teile der alten Stadtmauer erhalten. Also war Kirberg früher einmal eine Stadt.

„Hier kann man sehr gut essen gehen.“ Erklärte mir Ulrich, als wir an einem Gasthof vorbeikamen der ‚Gasthof zur Burg‘ hieß.

Wenn du willst, können wir hier nachher hingehen.“ Schlug er vor.

„Gerne, das können wir machen.“ Erwiderte ich. Wir gingen noch weiter durch den Ort. Es gab wirklich viele alte Häuser zu sehen, schiefe und nicht ganz so schiefe, Häuser, die sicher einmal hohen Herrschaften gehört hatten und sogar einer alten Apotheke.

Ich interessierte mich sehr für die Apotheke, schließlich war ich ja selbst Apothekenpersonal. Wenn auch nicht pharmazeutisches Personal. Ich hatte im Laufe meiner Ausbildung zur PKA erkannt, daß ich eigentlich lieber die PTA erlernt hätte, aber dafür hätte ich nach Neumünster gemusst. Das wollte ich dann doch nicht.

Wir gingen dann in die Apotheke rein, nur um mal zu gucken, wie die Räume so sind. Ich kaufte eine Packung Schmerztabletten, die brauchte ich sowieso immer. Aber so war ich wenigstens nicht wie ein neugieriger Tourist hier einfach rein gestiefelt nur um mal zu gucken.

Als wir wieder rauskamen bemerkte ich, daß es schon langsam anfing dunkel zu werden.

„Was meinst du, sollen wir etwas essen gehen?“ fragte Ulrich.

Ich stimmte zu und so gingen wir gleich zu dem Gasthaus, das er mir vorhin gezeigt hatte.

Es war gemütlich eingerichtet. Ein bisschen dunkel vielleicht, aber die Stadtmauer ging auch sehr dicht an dem Gebäude vorbei. Das Essen war gut und reichlich.

Wir unterhielten uns.

Naja, eigentlich unterhielt ich Ulrich.

Er erzählte nicht viel, eigentlich sagte er nur etwas, wenn er mir etwas zeigen wollte oder um mich zu fragen, was ich möchte.

Dafür erzählte ich.

Ich erzählte, was ich so alles erlebt hatte, was für komische Leute ich schon getroffen hatte und auch von den verflossenen Verhältnissen. Ich erzählte ihm das nicht, weil ich mich damit brüsten wollte. Eigentlich erzählte ich das alles nur um ihm ein paar Hinweise zu geben, was ich nicht leiden konnte und was für mich unentbehrlich war. Außerdem, wenn es tatsächlich etwas Festes werden sollte, dann war es besser, er erfuhr alles von mir als daß irgendwann mal jemand käme und sagen würde: „Hey, wusstest du das mit deiner Freundin schon?“

Meine Eltern hielten es genauso. Jeder wusste über den anderen Bescheid. So konnte es keine Missverständnisse geben.

Nach dem Essen gingen wir dann zu Fuß wieder zu ihm nach Hause. Es war ein ganz schöner Aufstieg. Das Gasthaus lag im Tal und das Haus wo Ulrich wohnte war am Ortsrand, also eher hoch gelegen.

Wir gingen dann auch bald schlafen. Es war recht spät geworden und Ulrich hatte mir für den folgenden Tag eine Überraschung versprochen.

Dieses Mal jedoch ging ich selbst ins Schlafzimmer zum Schlafen. Es war ok, ich war so nicht allein.

Er hatte noch keine Anstalten gemacht, mich vielleicht zu küssen. Dennoch wurde ich das Gefühl nicht los, daß er eine gewisse Gegenleistung erwartete, für all die schönen Sachen die er mir zeigte und schenkte.

Aber darauf würde ich mich nicht einlassen, ich war nicht käuflich.
 

Am folgenden Tag sagte Ulrich nur zu mir, ich solle mich hübsch machen.

Wir stiegen dann in sein Auto und er fuhr genauso los, wie den Vortag schon, nur daß er im Dorf an der Kreuzung nicht nach Rechts auf die 417 fuhr, sonder nach Links abbog. Den Straßenschildern nach zu urteilen ging es hier nach Wiesbaden, der Landeshauptstadt von Hessen. In einem kleinen Ort, der sich Görsroth nannte, bog er ab in Richtung Idstein. Es war eine wundervolle Serpentine durch ein Tal. Die Berge waren mit Wald bewachsen und reichten hoch in den Himmel. Es war wirklich malerisch. Kurz vor Idstein jedoch fuhr er auf die Autobahn, die A3. Diese Autobahn war sechsspurig, also drei Spuren pro Fahrtrichtung.

Wow, hier wollte ich nicht selbst fahren müssen. Alles ging so schnell und man musste gleich drei Spuren im Auge behalten.

„Das ist mein täglicher Arbeitsweg.“ Verkündete Ulrich.

An einer Art Talüberführung erwähnte er, daß links von uns Niedernhausen liegen würde. Der Lärmschutz war zwar transparent, dennoch konnte ich von der Stadt nicht viel sehen. Dahinter aber, am Horizont, da lag der Feldberg. Er war jetzt viel näher als am Tag zuvor und wirkte sehr hoch.

Alles war so bergig und beeindruckte mich wirklich.

Ulrich folgte der Autobahn in Richtung Frankfurt am Main. In Kelsterbach fuhr er von der Autobahn ab. Schon vorher konnte ich erkennen, daß es wohl zum Flughafen ging. Immer wieder starteten Flugzeuge und flogen dicht über der Autobahn hinweg. Auch das war beeindruckend. Ich kam gar nicht aus dem Staunen heraus. Alles war so hoch und groß, die Berge, die Autobahn, die Städte, alt und erhaben.

Statt das er jetzt aber direkt zum Flughafen fuhr, bog er in die entgegengesetzte Richtung ab. Beim ‚Tor 23‘ bog er dann ein weiteres mal ab.

Ulrich fuhr in ein Parkhaus, in daß er nur reinkam, weil er eine spezielle Mitarbeiterkarte hatte, die ihn als Flughafenpersonal auswies. Mit dem Auto musste er dann in einer Spirale soweit hochfahren, bis ein paar freie Parkplätze zu sehen waren. Er fuhr sehr schnell hoch und mir wurde übel. Als er nach gefühlten 50 engen Kreiseln endlich aus dieser Spirale raus fuhr und das Auto parkte war keiner so froh wie ich.

Unten vor dem Parkhaus stellten wir uns an eine Bushaltestelle. Hier würde uns ein Bus einsammeln und zum Flughafen bringen. Ich kam aus dem Staunen gar nicht heraus. Die Flugzeuge so nahe starten und landen zu sehen, der hohe Lärmschutzwall um den Flughafen, das riesige Parkhaus, ich konnte meine Augen gar nicht weit genug aufbekommen, um alles zu sehen. Ulrich schien das mit Genugtuung zu beobachten.

Das Flughafenterminal war riesig. Es war nun nicht so, daß ich noch nie einen Flughafen gesehen hätte, aber ich war damals noch kleiner und konnte mich nicht mehr an alles erinnern.

Er führte mich im Terminal zur Aussichtsterasse. Dort konnte man sitzen und etwas essen, während man den ankommenden Flugzeugen beim Landen zusehen konnte. Und die kamen in schnellem Takt aufeinander folgend. Kaum daß die eine Meise gelandet war, konnte man die nächste schon im Landeanflug sehen. Zwischen den einzelnen Fliegern waren es kaum 30 Sekunden Abstand. Teilweise konnte ich bis zu fünf Flugzeuge am Himmel hintereinander erkennen. Die Landescheinwerfer waren sehr hell und obwohl es ein sonniger Tag war gut zu sehen.

Ich staunte und kam aus dem Staunen nicht heraus. Alles war voller Menschen, es war laut und hoch interessant.

Als wir vom Flughafenterminal genug hatten führte Ulrich mich wieder zur Bushaltestelle.

Dieses Mal stiegen wir aber schon am ‚Tor 22‘ wieder aus und Ulrich führte mich an ein kleines Häuschen, das zwischen den mit hohen Gittertoren versperrten Straßen lag. Es wirkte wie ein kleines Zollhaus und das war wohl auch in etwa der Zweck dieser Einrichtung.

An dem kleinen Tresen sollte ich einen Zettel ausfüllen mit meinem Namen, Geburtstag und Wohnort, dazu wollte der Beamte meinen Ausweis sehen. Außerdem füllte Ulrich einen Antrag aus, der es ihm ermöglichte einen Besucher, der nichts mit dem Flughafen zu tun hatte, mit auf das Gelände zu nehmen. Ich bekam dann einen Aufkleber der mit „Besucher“ beschriftet war und deutlich sichtbar an der Kleidung befestigt werden sollte. Außerdem wies uns der Beamte noch darauf hin, daß ich nur eine befristete Zeit als Besucher berechtigt war, mich mit diesem ‚Ausweis‘ auf dem Flughafengelände aufzuhalten.

Wie erwartet musste ich durch eine Kontrolle so wie die auf dem Flughafen, wo man zu den Flugzeugen kommt. Ich musste meine Handtasche und alles, was ich in den Taschen hatte in eine Plastikschale legen. Diese fuhr durch ein Röntgengerät. Ich selbst ging durch ein Tor, das Lärm machen würde, wenn ich noch Metallgegenstände bei mir getragen hätte.

Ich kam aber wie erwartet ohne Schwierigkeiten durch. Schließlich hatte ich nichts zu verbergen.

Auf der anderen Seite der Kontrolle erwartete Ulrich mich schon. Er musste nicht durch diese Kontrolle, immerhin war er hier angestellt.

Er brauchte nur seinen Ausweis, mit dem er schon am Parkhaus Einlass erhalten hatte, an seiner Jacke befestigen und durfte überall hin.

Er führte mich in eine große Halle, in der zwei Flugzeuge standen. Bei dem einen Flugzeug waren die Turbinen unter den Tragflächen geöffnet und ein Mechaniker war daran beschäftigt. Bei dem anderen Flugzeug stand eine Art Baugerüst über das man in die Maschine reingehen konnte. Zu diesem Flugzeug lotste Ulrich mich. Er grüßte die Männer, die uns hier begegneten. Ganz offensichtlich waren das seine Kollegen. Ulrich klärte mich auch darüber auf, daß das eigentlich seine Schicht sei, er hatte aber zurzeit Urlaub. Ich bemerkte die erstaunten Blicke der Männer, die sie ihrem Kollegen zu warfen und die anerkennenden, die ich erntete. Offenbar wurde Ulrich nicht häufig mit einer hübschen jungen Frau gesehen.

Wir betraten das Flugzeug und er führte mich gleich ins Cockpit. Ich durfte sogar auf dem Sitz für den Kapitän Platz nehmen. Ulrich zeigte mir ein paar der Instrumente, erklärte mir, daß das, was ich für das Steuer des Flugzeuges hielt im Grunde nur dazu diente, das Flugzeug in Bewegung zu setzten und um es in der Luft zu steuern. Am Boden hatte der Kapitän einen kleinen Joy-Stick links neben seinem Sitz. Mit diesem Joy-Stick lenkte er das Fahrwerk des Fliegers und konnte ihn so auf die Rollbahn fahren oder von der Rollbahn zum Gate bzw. in den Hangar. Er erklärte mir auch das sämtliche Instrumente in dreifacher Ausführung vorhanden waren, weshalb man auch solche Unmengen von Schaltern, Knöpfen und Lichtern in einem Cockpit vorfand.

Ich war wirklich begeistert. Ich liebte das Fliegen und alles, was damit zu tun hatte. Ulrich hatte wirklich einen sehr interessanten Beruf.

Auf die Frage, was er denn an einem Flugzeug alles machen würde, antwortete er einfach mit ‚Alles‘.

„Was ‚Alles‘?“ fragte ich ihn.

„Naja, alles eben. Reifen wechseln, Bremsen warten, Klimaanlage, Triebwerke, Bordtoilette, einfach alles, was an einem Flieger zu machen ist. Ich berechne die Menge Kerosin, die ein Flugzeug braucht und sorge dafür, daß getankt wird. Oft muss ich auch auf die Landebahn raus und die Flieger ‚einfangen‘.“

Ich stellte mir gerade vor wie Ulrich mit einem gewaltigen Schmetterlingsnetz über die Landebahn rannte um die Meise zu erwischen, die einfach durchstarten wollte um ihm zu entkommen.

„Das bedeutet, daß ich den Flieger abfange und noch auf der Rollbahn warte. Meistens haben wir dann auch schon über Funk die Anweisung bekommen, was zu machen ist.“ Erklärte er dann, als er meinen verwunderten Blick bemerkte.

„Ich krieche auch in den Tragflächen herum und überprüfe, ob alles dicht ist.“ Ergänzte er weiter.

„Ich könnte nicht nur ein Flugzeug auseinandernehmen und wieder zusammenbauen, ich könnte es auch fliegen. Wir haben alle regelmäßig Training in den Flugsimulatoren.“ Erzählte er nicht ganz ohne Stolz.

Das war wirklich etwas, worauf man stolz sein konnte. Er hatte sehr viel Verantwortung zu tragen. Wenn eine Meise abstürzte, dann suchte man zuerst nach den Leuten, die daran ‚geschraubt‘ hatten, so drückte Ulrich es aus.

Er zeigte mir noch die Bordküche, die man als Fluggast auch nicht oft zu sehen bekam und die kleinen Verschläge, in denen das Flugpersonal auf langen Flügen etwas schlafen konnte.

Nach so viel Information hatte ich gewaltigen Hunger bekommen. Ulrich ging mit mir in die Flughafenkantine, in der er immer aß, wenn er Pause machen konnte. Das Essen war nicht gerade der Renner, aber ich hatte schon schlechter gegessen.

Nach dem Flughafen fuhr Ulrich noch mit mir in das ‚MTZ‘, das ‚Main-Taunus-Zentrum‘. Es war eine Einkaufsanlage mit vielen verschiedenen kleineren und größeren Geschäften. Auf der einen Seite war Karstadt, auf der anderen Seite der Anlage lag das das Kinopolis, eines der größten Kinos im Bereich Frankfurt am Main. Dazwischen war eine Einkaufsstraße, die mit harmonisch aufeinander folgenden Erhöhungen dem Anstieg des Berges folgte, an dem die Anlage errichtet war. Der größte Teil der so eingerichteten Einkaufstraße war überdacht mit gläsernen Dächern. Alles war immer wieder mit bepflanzbaren Insen versehen, einem Brunnen in der Mitte der Straße und alles war herbstlich dekoriert. Es gab viele interessante Läden, Buchläden, Bastelläden, Geschäfte für kleine Geschenke und Dekoartikeln, ein Musikgeschäft, Mediamarkt, einige Schuhläden, Nordsee, einen Chinesen, einen Petshop viele kleine Boutiquen und viele andere Geschäfte mehr.

Am besten gefiel mir das Bastelgeschäft. Ulrich ging mit mir zu dem kleinen Chinesen. Das Essen aus der Kantine war nicht so super und wir hatten beide einen ‚Leckerhunger‘, der befriedigt werden musste. Also bestellten wir uns beim Chinesen eine Kleinigkeit und ich zeigte Ulrich wie man mit Stäbchen aß.

Nach dem Chinesen lud Ulrich mich dann direkt ins Kino ein, Caspar lief und er hätte den noch nicht gesehen. Ich stimmte zu da ich den Film auch noch nicht gesehen hatte.

Als der Film zu Ende war, war es schon sehr spät. Ich kam gerade noch mit zum Auto, dann fielen mir fast augenblicklich die Augen zu.
 

*
 

„Man, da hat er sich ja richtig ins Zeug gelegt.“ Staunt Nicole.

„Ja, das kann man wohl sagen. Er ließ sich wirklich nicht lumpen. Sogar Popcorn, Cola und Eis hat er im Kino bezahlt. Und die Tage waren wirklich dicht gepackt mit Ereignissen. Ich hatte gar keine Zeit mehr das irgendwie Zweifel oder Bedenken hätten aufkommen können. Meistens war ich abends so kaputt, daß ich nur noch ins Bett fiel. Ich hatte aber auch keine Träume mehr, jedenfalls keine schlechten.“ Erläutere ich ihr.

„Das war ja echt ein fieser Traum, den du da hattest.“ Bestätigt Nicole.

„Vor allem, wenn man bedenkt, es heißt ja, das, was man in der ersten Nacht in einem fremden Bett träumt, das wird wahr.“ philosophiert sie weiter.

Ich nicke nur stumm. Was soll ich auch dazu noch sagen…
 

*

Kapitel XIV
 

Auch diese Nacht endete früh. Ulrich hatte vor mit mir zum Phantasialand in Brühl zu fahren, das liegt in der Nähe von Köln. Da er sich grundsätzlich auf den Autobahnen bei Bonn verfuhr, plante er gleich mehr Zeit ein.

Auf der Straßenkarte wollte er nachsehen, wie er zu fahren hatte. Ich setzte mich dazu und bot an, während der Fahrt den Navigator zu machen.

„Ich hab da viel Erfahrung. Meine Mum war mit mir und meinem Bruder oft im Ausland und ich hab früh gelernt die Karte zu lesen. So konnte meine Mum weiter fahren während ich ihr sagte, wo wir lang mussten.“ Erklärte ich ihm.

Ulrich stimmte meinem Vorschlag zu und wir machten einen Zettel mit den wichtigsten Punkten auf der Route.

Trotz allem hatte er sich dann auf den Autobahnen bei Bonn gründlich verfahren. Ich hatte ihm zwar gesagt, wo es der Karte nach langging, aber gelegentlich war er der Meinung, er wisse es besser und es war ja alles "so schön" ausgeschildert.

Als er dann erkannte, daß ich eventuell doch Recht gehabt hätte, wurde er muffelig. Er verzog das Gesicht und sprach nicht mehr mit mir. Ich versuchte dem keine Beachtung beizumessen und gab weiter Anweisungen, wo er lang fahren sollte. Er hielt sich zwar jetzt an die Route, die ich ihm beschrieb. Aber reden tat er trotzdem nicht mit mir.

Ich fühlte mich unbehaglich und wusste nicht, wie ich das jetzt ändern sollte.

Endlich waren wir angekommen und Ulrich kurvte über den riesigen Parkplatz um möglichst weit vorne einen Platz zu bekommen. Nach einiger Zeit hatte er dann Glück und konnte das Auto relativ nahe am Eingang abstellen.

Der Park hatte mehrere Eingänge, wir hatten den von Chinatown erwischt, bezahlen musste man aber an jedem Eingang.

Der Park war groß, voller Eindrücke und es gab viel zu sehen und zu erleben. Wie schlenderten in Ruhe durch die Straßen und guckten alles an. Wir fuhren mit der Achterbahn, eine, die in einer völlig dunklen Halle rasant durch Kurven und Höhenunterschiede jagte. Wir flogen mit einem Spaceshuttle, Gingen in ein 3D-Rundkino, in denen wir mit Kartons beworfen wurden und sehr dicht auf ein Auto auffuhren, aus dessen Heckklappe ein langer Balken rakte. Es sah aus, als würde uns der Balken gleich aufspießen.

Es gab eine Wassershow mit Delphinen, Seehunden und einem Orka Wal. Wir guckten uns auch eine Zaubervorstellung an und ein Theaterstück, in dem alle Darsteller aus computergesteuerten Pupen bestanden. Wir fuhren Wildwasserbahn und mit einer Bahn, die durch die ganze Parkanlage fuhr. Wir ließen in der Wildweststadt ein auf alt getrimmtes Photo von uns anfertigen, wofür wir uns extra in historische Kleidung werfen mussten. Wir besuchten auch die riesige tropische Anlage mit Vöglen und Schmetterlingen aus aller Welt.

Es gab aber nicht nur viel zu sehen. Natürlich probierten wir so viele kulinarische Köstlichkeiten, wie wir mochten. Ulrich war sehr spendabel. Es schien mir allerdings nicht so, daß er wirklich goßen Spaß gehabt hätte. Er wirkte steif und ein wenig ungehalten, so, als hätte man mit der Zeit wirklich etwas Sinnvolleres anfangen können. Aber er wollte mich ja beeindrucken und dafür riss er sich dann wohl zusammen. Ich war ausgelassen wie immer, wenn ich unterwegs war. Mit meiner Familie und auch mit den Freunden, mit denen ich bisher zusammen war, hab ich immer viel Spaß gehabt und wir haben uns ausgelassen amüsiert. Bei Ulrich war ich mir allerdings nicht wirklich sicher, ob er eventuell das Gefühl hatte, für derart freizügige Freude zu alt oder zu erwachsen zu sein. Ganz offensichtlich hielt er sich da an meine ‚Erfahrung‘ auf dem Gebiet der Freizeitgestaltung und machte einfach mit, wozu ich Lust hatte. Dennoch teilte er mir nicht wirklich mit, ob er Spaß hatte. Er lachte gelegentlich, machte ein freundliches Gesicht. Aber es kam kein Vorschlag von ihm, kein Interesse, das er an bestimmten Dingen hätte, Sachen, die er ausprobieren wollte oder die er unbedingt sehen musste. Er ließ sich einfach nur von mir durch den Park und die Attraktionen ziehen und machte ein freundliches Gesicht dazu.

Als dann am Abend der Park langsam immer leerer wurde, die Leute sich alle langsam auf den Heimweg machten, taten mir die Füße gründlich weh und ich war ziemlich erledigt. Ulrich schien nicht so erledigt zu sein. Naja, er behielt seine Energie ja auch lieber für sich.
 

Am nächsten Tag wollte er mit mir nach Wiesbaden. Wenn man schon mal in Hessen war und auch noch in der relativen Nähe, dann sollte man die Landeshauptstadt wohl schon mal gesehen haben. Der Weg war wirklich nicht weit, wir fuhren einfach die B417 bis zum Ende durch und waren in Wiesbaden. Die Stadt war verwinkelt, wir mussten an gefühlten 100 Kreuzungen immer wieder abbiegen, bis ich die Orientierung völlig verloren hatte. Am Stadtrand standen viele alte Villen an den Hängen der Berge. Die Stadt selbst bestand auch überwiegend aus alten Gebäuden. Wir gingen durch einen Park, wo eine Skulptur stand, die aussah, als hätte jemand eine gewaltige Kugel aus Eisen aufgeschlagen und in dieser Kugel lag eine weitere Kugel. In der Einkaufsstraße gab es viele riesige Geschäfte, Karstadt und Hertie, viel größer als in Flensburg. Und was mir besonders gut gefiel war ein Geschäft für Schreibwaren und Bastelartikel. Es gab dort einfach alles! Am liebsten hätte ich dort mein Zelt aufgeschlagen.

Von Wiesbaden aus fuhr Ulrich mit mir durch Königsstein im Taunus, eine wunderschön gelegene Stadt mitten im Mittelgebirge, mit Burg auf einem Berg und viel Wald drum herum. Überhaupt gab es hier viel Wald. Von da aus fuhr er mit mir auf den Feldberg. Die Straße schlängelte sich mit vielen Windungen bis zur Bergspitze hinauf, auf der der Aussichtsturm stand, den man von weit her sehen konnte. Ständig überholten uns Motorräder oder es kamen welche von oben runter. Und man soll es ja nicht für möglich halten, aber wir überholten auch jede Menge Radfahrer, die allen Ernstes den Berg hochstrampelten! Ich glaube, ich hätte mein Rad nicht mal rauf GESCHOBEN bekommen.

Oben war es um einiges kühler als noch am Fuß des Berges und der Wind ging scharf über die Bergkuppe hinweg. Es war karg und felsig, aber was sollte man von einem Berg auch anderes erwarten. Vom Aussichtsturm aus konnte man bis zum Odenwald gucken, auf der anderen Seite konnte man den Westerwald erkennen. Da die meisten Orte und Städte in einer Talsenke lagen, konnte ich nicht alle Ortschaften erkennen. Es gab zwar eine Karte, auf der bestimmte Punkte markiert waren, aber das half mir nicht wirklich viel weiter. Was ich erkennen konnte war die Skyline von Frankfurt, aber die war auch schwer zu verwechseln.

Schon bald wurde es wieder Abend, die Tage vergingen wie im Flug.
 

Leider machte sich am folgenden Tag meine Migräne bemerkbar. Einerseits war ich es ja gewohnt, aber es war fies. Immer, wenn ich mal einen richtig schönen Tag mit vielen Ereignissen und Freude hatte, wurde ich am anderen Tag dafür bestraft, daß ich mich so sehr amüsiert hatte.

Ich stand schon mit starken Kopfschmerzen auf. Ich nahm gleich drei Schmerztabletten und hoffte, die Migräne-Zäpfchen nicht zu brauchen. Die nahmen zwar die schlimmsten Schmerzen, hauten mich aber dennoch durch die Nebenwirkungen von den Füßen.

Das Frühstück würgte ich mir nur mühsam runter, mir war übel und meine Augen taten nicht, was sie sollten. In meinem Kopf stand ein glühender Ambos und riesiger Hammer schlug immer wieder darauf ein.

Es half nichts, ich musste Ulrich bitten, einen Tag auszulassen. Er schien nicht sonderlich begeister darüber, aber er wollte mich dann auch nicht quälen. Ich nahm dann eines der Zäpfchen und legte mich im Wohnzimmer auf das Sofa, um wenigstens halbwegs anwesend zu sein.

Ulrich gab mir dann eine Wolldecke und fragte, ob er etwas für mich tun könne. Ich verneinte, es gab wirklich nichts, was er hätte tun können.
 

Ich verschlief fast den ganzen Tag. Als ich wieder wach wurde, stand die Sonne schon tief am Himmel. Meine Kopfschmerzen waren auf ein erträgliches Maß abgeklungen.

Ulrich erkundigte sich fürsorglich um mein Befinden und ob ich eventuell Hunger hätte. Ich bejahte matt, ja, Hunger hatte ich tatsächlich.

„Bist du transportfähig?“ fragte er mich dann.

„Ich denke schon.“ Erwiderte ich.

Er lud mich dann kurzerhand ins Auto und wir fuhren nach Bad Camberg zu einem Chinesen, von dem Ulrich schon viel Gutes gehört hatte.

Das Restaurant war phantastisch eingerichtet. Über jedem Tisch hing ein roter Lampignon mit chinesischen Tuschezeichnungen. An der Wand waren viele schöne Bilder mit traditionellen Prinzessinnen und ihren Hofdamen. Tänzerinnen und Mädchen, mit Musikinstrumenten waren zu sehen. In der Mitte des Restaurants, das sich übrigens im ersten Stock befand, war ein Berg arrangiert aus Steinen, die ein Fluss glatt geschliffen hatte. Zwischen den Steinen wuchsen verschiedenste Pflanzen, kleine Bäume, richtige Bonsaibäume und viele blühende Gewächse. Um diesen Berg herum war ein richtiger Bach angelegt. Eine Brücke führte über den Bach zu dem Berg aus Steinen und Kois schwammen im Wasser herum. Um dieses Arangement herum waren die Tische für die Gäste verteilt, wie kleine Picknickplätze in einem Park. Der Tresen, hinter dem die Angestellten verschwanden um Getränke und die Speisen der Gäste zu holen, benutztes Geschirr wieder hin brachten und wo die Kasse stand war so versteckt, daß man ihn als Gast gar nicht wahrnahm. Dennoch war alles von den Wegen her für die Kellner und Kellnerinnen gut angelegt. Die Bedienung war freundlich, der Servic klasse, das Essen gut und die Preise im Rahmen des Akzeptablen. Alles in allem ein Restaurant, wo ich jederzeit gerne wieder hingehen würde.

Das chinesische Essen tat mir gut. Mein Kopf schmerzte nicht mehr so sehr, nur noch das alltägliche Wummern, das ich ohnehin immer hatte. Mein Körper fühlte sich entspannter und mir ging es insgesamt wieder besser.

„Es tut mir leid, daß ich den Tag heute so verdorben hab.“ Sagte ich zu Ulrich.

„Ist schon gut.“ Bemerkte er wie neben bei. Dennoch gelang es ihm nicht zu verbergen, daß er tatsächlich endtäuscht war. Oder wollte er es gar nicht verbergen? Ich fühlte mich plötzlich schuldig, als hätte ich die Pflicht den verdorbenen Tag wieder gut zu machen.

Andererseits fragte ich mich aber warum? Ich hab das doch nicht mit Absicht gemacht? Ich versuchte das Unbehagen bei Seite zu wischen so gut es ging.
 

Inzwischen war es Freitag geworden. Fast eine ganze Woche war so an mir vorbeigerast und hatte alle ihre Ereignisse auf mich abgeworfen. Der verlorene Tag mit der Migräne bescherte mir ein schlechtes Gewissen. Eigentlich hätte ich das sicher nicht haben müssen. Ich hatte noch Glück, normalerweise dauerten solche Anfälle drei bis vier Tage und waren von Schmerzen begleitet, die mir den Mageninhalt herauspressten und einen Zustand zwischen nicht leben und nicht sterben konnten mit sich brachten. Trotzdem wurde ich das Gefühl nicht los, daß Ulrich mehr beleidigt über mein mich Zurückziehen am Vortag war, als daß er sich freute, daß ich wieder in Ordnung gekommen war.

Da wir am Sonntag in der Nacht mit dem Auto nach Flensburg fahren wollten, hatten wir jetzt nur noch einen Tag an dem wir etwas unternehmen konnten. Den letzten Tag brauchten wir für die Reisevorbereitungen und die Besorgungen für die Fahrt.

Ulrich beschloss dann mir noch eine weitere schöne alte Stadt zu zeigen, eine mit Schloss und sogar einem echten Hexenturm. Allerdings wurden nie wirklich irgendwelche als Hexen oder Hexer angeklagte Menschen dort eingesperrt. Dennoch war auch Idstein damals eine Hochburg der Hexenverfolgungen und es wurden auch Menschen hingerichtet, davon zeugt eine Gedenktafel am Fuße des Turmes. In Idstein ist auch das alte Schloss erhalten, das aber nicht besichtigt werden kann. Es wird als Gymnasium weitergeführt. Der alte Stadtkern in Idstein ist absolut sehenswert. Es gibt viele sehr alte Häuser, zum Teil sogar noch aus dem 15. Jahrhundert. Einkaufstechnisch war diese Stadt allerdings nicht gerade ein Renner.

Auf unserem Spaziergang durch Idstein stießen wir auch auf ein großes Gebäude, an dem in großen Buchstaben „Fresenius Akademie“ zu lesen war.

Den Namen 'Fresenius' hatte ich im Zusammenhang mit meiner PKA-Ausbildung schon öfter gehört.

Ich war neugierig geworden und probierte einfach mal aus, ob die Eingangstür offen war.

Ulrich sah nicht sehr begeistert aus von dieser Idee. Jedoch ließ ich mich davon nicht abhalten. Wer nicht fragt, bekommt keine Antwort und wer nicht forscht, wird nichts Neues entdecken.

Die Eingangstür war offen. Wir betraten das Gebäude und guckten uns in der kleinen Halle um. In einem Schaukasten hingen Stundenpläne. Über den Stundenplänen standen Abkürzungen wie „CT“, „CTA“, „BTA“ und über zwei der Stundenpläne war deutlich „PTA“ zu lesen.

Eine PTA Schule! Ich wusste ja schon, das Fresenius ein Chemie-Institut war, in dem neben Arzneimittel auch Lebensmittel immer wieder auf ihre Inhaltsstoffe untersucht wurden. Aber das das Institut auch ausbildete, und sogar PTAs ausbildete, das wusste ich noch nicht.

Ich war begeistert. Ich wollte mehr sehen.

Nur widerwillig folgte Ulrich mir. Ich ging zielstrebig die erste steinerne Treppe nach oben. Dort trafen wir wieder auf eine kleine Halle, ähnlich der im Erdgeschoss. Aus einem der Räume kam eine Frau mit weißem Kittel. Sie hatte schulterlange dunkle Haare und sah mich freundlich forschend an.

„Guten Tag.“ Grüßte ich höflich.

„Guten Tag.“ Grüßte die Frau zurück.

„Kann ich Ihnen helfen?“ erkundigte sie sich dann.

„Ich weiß nicht, vielleicht? Bilden Sie hier die Pharmazeutisch Technische Assistentin aus?“ fragte ich wissbegierig.

„Ja, das machen wir hier.“ Erwiderte sie und lächelte mich an.

„Interessieren Sie sich dafür?“ fragte sie dann.

„Ja, ich denke schon. Ich bin zurzeit in einer Ausbildung zur PKA, aber ich habe festgestellt, daß mich das Labor doch eher interessieren würde.“ Plauderte ich.

„Zurzeit sind Semesterferien. Ich kann Ihnen aber gerne ein paar der Räumlichkeiten hier zeigen, wenn Sie möchten.“ Bot sie dann an.

Und ob ich mochte.

Ulrich hielt sich still im Hintergrund, beobachtete aber alles mit Interesse.

Die Dame, die sich schließlich als ‚Frau Becker‘ vorstellte, zeigte mir zuerst das Labor für Galenik.

Ich wusste schon, was Galenik war und war ganz begeistert. Galenik beinhaltet die Zusammensetzung, Herstellung und Prüfung aller denkbaren Arzneimittel.

Frau Becker zeigte mir die Arbeitstische, die wie in einem Chemielabor gefliest waren. Unter den Tischen waren die Schränke mit allen pharmazeutischen Gerätschaften, die für die Galenik benötigt wurden. Darüber waren auf gläsernen Regalen die Standgefäße mit Salbengrundlagen und verschiedenen Lösungen. An jedem Tisch war für drei Schüler, maximal für vier Schüler ein Arbeitsplatz vorgesehen. An jedem Arbeitsplatz stand eine mechanische Waage und es fanden sich Anschlüsse für Gas, das zum Betrieb der Bunsenbrenner benötigt wurde. Außerdem gab es in diesem Labor eine Dragiertrommel, einen Autoklaven und eine Vorrichtung, unter der keimfrei zum Beispiel Augentropfen hergestellt werden konnten. Die Maschine zum Tablettenpressen stand in der Vorhalle, wurde aber im jeweiligen vierten Semester ins Labor geholt und auch benutzt. Ich staunte und guckte mit großen Augen um mich.

Nebenan war ein weiteres Labor für die praktische Chemie. Die Arbeitstische waren ähnlich denen, die im Galeniklabor standen. Nur daß hier in den Standgefäßen Säuren, Basen und alkoholische Lösungen zu finden waren. Außerdem Abzüge, unter denen chemische Reaktionen gemacht wurden, die eine starke Gasentwicklung hatten.

Ich konnte gar nicht genug davon sehen und wünschte mir inständig hier bleiben zu können.

„Die Ausbildung dauert zweieinhalb Jahre.“ Erklärte Frau Becker mir jetzt.

„Zwei Jahre zu je zwei Semestern ausschließlich hier in der Akademie und ein halbes Jahr Praktikum in einer Apotheke. Leider werden wir vom Staat zwar anerkannt, nicht aber finanziell gefördert was bedeutet, daß eine Studiengebühr zu bezahlen ist. Die beläuft sich auf ungefähr 400,- DM monatlich.“ Fügte sie hinzu.

400,- Mark im Monat, das war nicht wenig.

Zwei Jahre in denen ausschließlich in der Akademie gelernt wurde, das bedeutete auch, daß ich nichts verdienen könnte.

Naja, es war sowieso zu weit weg. Ich hätte schon nach Idstein oder in die Umgebung ziehen müssen, um hier eine Ausbildung anzufangen.

Aber es war wirklich mal sehr interessant das aus der Nähe zu sehen.

Vielleicht würde ich doch nach Neumünster gehen, um da auf die Staatliche PTA-Schule zu gehen.

Von Idstein aus fuhren wir dann noch mal nach Bad Camberg, damit ich auch die Stadt zu sehen bekomme und nicht nur den Chinesen. Auch Bad Camberg war eine sehr alte Stadt mit einem erhaltenen Stadtkern. Außerdem gab es hier einen Turm aus der alten Stadtmauer. Dieser war aber aus Renovierungsgründen nicht zu besichtigen.

„Kannst du eigentlich kochen?“ fragte Ulrich mich dann wie nebenbei.

„Naja, nicht so richtig. Ich kann einen gefüllten Paprikatopf und ein bisschen was mit Fleisch. Aber so richtig kochen kann ich nicht.“ Gestand ich.

Ulrich sagte nichts weiter dazu.

„Wenn du willst, dann könnte ich die gefüllte Paprika doch heute machen.“ Bot ich ihm an.

Auch darauf erwiderte er nichts. Dafür fuhr er dann nach Aldi. Im Laden fragte er mich dann, was ich alles dafür bräuchte.

„Kringelnudeln, Möhren, Margarine, Brühe, Salz, Pfeffer, Knoblauch, Zucker, Eier, Paniermehl, Zwiebeln, Tomaten, rote oder gelbe Paprika, Hackfleisch und Tomatenmark.“ Zählte ich ihm auf.

Wir kauften dann alles ein und fuhren zu Ulrich nach Hause.

Dort machte ich mich dann gleich an die Arbeit.

Zuerst mischte ich das Hackfleisch mit dem Ei, Gewürzen, einem Teil der Zwiebel, die ich in kleine Würfel schnitt und etwas Paniermehl. Dann schnitt ich von vieren der Paprika jeweils einen Deckel ab und entfernte das Kerngehäuse und alles, was weiß war. Dann zerkleinerte ich die Möhren in kleine Scheiben und den Rest der einen sowie eine weitere Zwiebel in grobe Würfel. Ebenso verfuhr ich mit sechs der Tomaten, die wir gekauft hatten.

Die Hackfleischmasse verteilte ich auf die vier Paprikaschoten, füllte auch die Deckel aus und legte die Deckel dann auf die Paprika. Den Rest der Hackfleischmasse formte ich zu kleinen Klößen. Zusätzlich schnitt ich noch zwei weitere Paprikaschoten in grobe Würfel.

Die gewürfelten Tomaten stellte ich ganz unten in einen großen Topf, in dem ich vorher etwas Margarine hab schmelzen lassen. Darauf drapierte ich die gefüllten Paprikaschoten. Ich schichtete dann die Hälfte der Kringelnudeln aus der Tüte so drum herum und zwischen die Paprika, daß die gefüllten Früchte nicht mehr umfallen konnten ich füllte dann die Möhren, Zwiebeln und die gewürfelten Paprika auf die Nudeln, bis nur noch die Deckel mit den Stielen aus den Nudeln herausguckten.

Auf die Nudeln gab ich dann noch die Gewürze, mixte einen halben Liter Brühe mit dem Tomatenmark an und goss es gleichmäßig über die Nudeln. Dann füllte ich mit Wasser solange auf, bis das Gemüse fast bedeckt war. Als alles kochte stellte ich die Platte auf etwas unter halbe Kraft und ließ dann alles eine halbe Stunde vor sich hin garen.

Als dann alles fertig war holte ich zuerst die Paprika aus dem Topf, rührte das Gemüse mit den Nudeln im Sud gründlich um und legte dann zwei der vier gefüllten Schoten auf je einen Teller, die beiden anderen gingen zurück in den Topf. Zum Schluss verteilte ich noch etwas von dem Nudel-Gemüse-Mix zu den Früchten auf den Tellern und präsentierte Ulrich dann ganz stolz das Essen.

Ulrich aß, machte aber keine Miene dazu, ob es ihm schmeckte oder nicht.

Ich probierte dann von meinem Teller und war eigentlich ganz zufrieden mit dem Ergebnis.

Als Ulrich fertig war, nahm er sich eine weitere Paprika aus dem Topf und auch etwas von den Nudeln mit Gemüse.

Auch dieses Mal sagte er nichts, ob es ihm schmecke, ob er schon schlechter gegessen hätte oder ob er nur aß, weil er Hunger hatte.

Eigentlich sagte er überhaupt nichts.

„Schmeckt es dir nicht?“ fragte ich dann, als ich mit meinem Teller fertig war.

„Hmhm.“ Machte er nur.

Was immer das zu bedeuten hatte.

Ich war irgendwie endtäuscht, ich hätte gerne ein Lob gehabt oder wenigstens etwas Zustimmung, Anerkennung…
 

Am nächsten Tag stand dann alles auf Vorbereitung für die Fahrt nach Flensburg. Wir fuhren nach Limburg zum „MASSA“. Früher jedenfalls hieß das mal MASSA, bevor Real,- die Räume übernahm.

Der Supermarkt war riesig. Irrsinnig riesig. Alleine hätte ich mich sicher verlaufen.

Wir kauften ein paar Getränke für die Fahrt ein, Brötchen und etwas Aufschnitt.

An dem Parkplatz vor MASSA war eine Autowaschanlage und ich nötigte Ulrich, seinem Auto doch mal etwas Gutes zu tun und ihn zu waschen.

Nach einiger Überredung ließ er sich schließlich erweichen, ließ mich aussteigen und fuhr mit dem Wagen durch die Waschstraße.

Ich stand nun alleine auf dem Parkplatz in der Nähe der Waschanlage. Ich konnte durch einen etwa zwei Meter hohen Maschendrahtzaun auf die zweispurige Bundesstraße gucken, die nach Gießen führte und unter der A3 verlief. Außerdem hatte ich einen Blick über fast ganz Limburg. Ich sah den Dom auf seiner Bergkuppe stehen, etwas weiter dahinter das Limburger Krankenhaus. Ich blickte über den ganzen riesigen Parkplatz zu Real,- nein, zu MASSA hin und dachte noch so bei mir: ‚Hier wirst du eines Tages ganz selbstverständlich einkaufen gehen. Es wird dir ganz normal erscheinen, anders, als jetzt, wo alles noch so neu und groß ist. Hier wirst du wohnen und dich auskennen, wie man sich zu Hause auskennt.‘

Es war nicht so, daß ich jetzt beschlossen hätte, bei Ulrich zu bleiben, noch bevor er etwas davon wusste. Bis jetzt hatten wir uns ja noch nicht mal geküsst.

Ich fühlte mich auch nicht besonders wohl bei dem Gedanken, hier zu leben. Obwohl mir die Gegend sehr gefiel, die Berge, die Wälder, alles war groß, alt und erhaben. Fast jeder Ort hatte seine eigene Burgruine. Fast jeden Ort konnte man über die Autobahn erreichen. Diese war ebenfalls groß, schnell, mächtig…

Ich ahnte es einfach. Diese kleine leise Stimme in meinem Hinterkopf flüsterte mir unüberhörbar ins Ohr: ‚Das ist dein Weg. Er ist dir bestimmt und du musst ihn gehen. Alles andere wäre nicht richtig und würde dich auf einen falschen Weg bringen.‘

Kapitel XV
 

Am Abend waren dann alle Reisevorbereitungen fertig und wir setzten uns ins Wohnzimmer.

Ulrich machte eine CD an und wir ließen den Fernseher aus.

Wir unterhielten uns über die Route, die wir fahren würden. Ulrich erklärte mir, daß wir zuerst über die B49 nach Gießen mussten und von da aus über die Gießener Ringe auf die A5. Diese würden wir dann einfach Richtung Fulda nach Norden folgen. Die A5 ging dann bei Fulda in die A7 über, wir mussten dann einfach immer nur der Autobahn folgen, bis wir Flensburg erreichen würden.

Bis nach Gießen würde die Fahrt allerdings zäh werden. Überall waren Geschwindigkeitsbegrenzungen und genauso viele Blitzkästen verteilt. Alles in allem wären wir zwischen 6 und 8 Stunden unterwegs, je nach dem wie wir durchkämen und wie die Verkehrsdichte wäre.

Aus der Anlage klang das Lied „Kiss by a rose“ als es dann irgendwie dazu kam, daß er mich küsste. Ich erwiderte den Kuss und ließ es auch weitergehen.

Als es zum Äußersten kommen sollte, als wir anfingen uns gegenseitig aus zu ziehen, stellte sich heraus, daß er ihn nicht hoch bekam.

Gefrustet hörte er dann auf, zog sich wieder an und zog ein wütendes Gesicht.

„Das ist doch nicht so schlimm.“ Versuchte ich ihn zu beruhigen.

Aber es half nicht.

Er war stinkig und ich hatte irgendwie das Gefühl, daß er mir die Schuld daran gab.

Ich versuchte in Erfahrung zu bringen, woran das hätte liegen können, aber er kam mit der Sprache nicht raus. Er schwieg beharrlich. Er saß neben mir auf dem Sofa, würdigte mich keines Blickes und starrte mit zornverzogenem Gesicht ins Leere.

Und wieder fühlte ich mich schuldig. Ich hatte keinen Plan, warum ich eigentlich schuld sein sollte, aber eben das zermürbte mir das Gehirn. Wenn ich schon Schuld war, dann wollte ich wissen, warum? Aber er schwieg und beachtete mich auch nicht mehr. Ich versuchte noch mal herauszubekommen, was los wäre, aber scheinbar machte ich mit meinen Fragen alles noch schlimmer.

Schließlich gingen wir dann schlafen, um drei in der Nacht wollten wir aufstehen um dann los zu fahren. Nachts waren die Autobahnen nicht so voll und man kam besser durch.
 

*
 

„Du meine Güte.“ Sagt Nicole. Sie sitzt mit ihrer Tasse Tee vor dem Mund, ohne zu trinken. Das tut sie schon seit einigen Minuten, der Tee in ihrer Tasse dürfte inzwischen eiskalt geworden sein.

Ich sage erstmal nichts. Eine kleine Sprechpause ist im Moment ganz angenehm, zumal all die Gefühle von damals wieder hochkommen. Nicht sehr angenehm.

„Wieso ist er denn so komisch geworden? Ich verstehe das nicht.“ Sagt Nicole dann schließlich mehr zu sich selbst als zu mir.

„Tja…“ kann ich nur tonlos antworten.

„Aber ihr habt doch inzwischen zwei Kinder bekommen, sind die dann nicht von ihm?“ jetzt guckt mich Nicole mit großen Augen an.

„Doch“, erwidere ich, „Ich bin mir leider sogar ganz sicher, daß sie von ihm sind.“

„Wie habt ihr das denn gemacht?“ Nicole erinnert sich, daß sie von ihrem Tee trinken wollte, nippte an der Tasse und stellte sie leicht angewidert auf den Tisch. Der Tee ist wohl inzwischen wirklich kalt.

„So wie man eben Kinder macht.“ Ich zucke mit den Schultern.

„Aber, wenn er ihn nicht hochbekommen hat?“ Sie sieht mich fragend an.

„Es geht ja noch weiter.“ Antworte ich ihr.

„Ja“, sagt Nicole, mehr für sich als für mich.

„Das befürchte ich auch.“
 

*
 

Ich hatte Schwierigkeiten einzuschlafen. Meine Gedanken kreisten im Kopf und ich überlegte, was passiert sein muss, daß er nicht darüber reden wollte.

Ich war gerade einigermaßen eingeschlafen und hatte angefangen zu träumen, als der Wecker schon losging. Super! Das fehlte mir noch. Das geht ja gar nicht! Unausgeschlafen sollte ich mich jetzt auf eine 8-Stunden-Autofahrt begeben…

Naja, was half es.

Neben mir lag Ulrich. Er hatte mir den Rücken zugewandt. So lag er schon, als wir schlafen gingen. Es schien, als wolle er nichts mehr mit mir zu tun haben.

Das verletzte mich.

Gut, ich konnte nicht gerade behaupten, daß ich in ihn verliebt gewesen wäre, aber ich legte schon einen gewissen Wert auf seine Meinung über mich. Und ich war mir wirklich keiner Schuld bewusst, die sein abstoßendes Verhalten rechtfertigen würde.

Er regte sich nicht, obwohl der Radiowecker bestimmt schon seit 10 Minuten spielte.

Ich stand dann auf und ging ins Bad, putzte mir die Zähne, kämmte meine Haare und ging dann zurück ins Schlafzimmer, um mich anzuziehen.

In eben dem Moment stand Ulrich auf. Er wirkte, als hätte er schon wach gelegen und nur darauf gewartet, daß ich im Bad fertig wäre.

Er hatte immer noch diesen miesen Gesichtsausdruck und rauschte tonlos an mir vorbei.

Ehrlich, mein Vater konnte schon wirklich genervt aussehen, aber Ulrich schlug ihn um Längen! Man konnte die schlechte Laune gerade zu fassen und in Scheiben schneiden!

Ich bemühte mich, nicht zu sehr davon beeindruckt zu sein, was mir nur schwer gelang. Ich hörte, wie er sich im Bad die Zähne putzte und ich schwöre, er tat das aggressiver als normal!

Ein Blick auf die Uhr verriet mir, daß es inzwischen halb vier war.

Halb vier? Ich wollte seit einer halben Stunde UNTERWEGS sein!

Ganz offenbar hatte er mich nicht verstanden und den Wecker auf drei Uhr gestellt.

Ich wollte ihn darauf ansprechen, als er aus dem Bad kam, aber sein immer noch wütender Gesichtsausdruck würgte mir das Wort im Hals ab.

‚Lieber nicht ansprechen‘ dachte ich bei mir.

Komplett ohne Gespräch oder kurzen Wortwechsel brachten wir dann das Gepäck ins Auto. Seine Hemden – eines für jeden Tag – hatte er auf den Bügeln, die er ins Auto hing. Sonst würden die knittrig werden. Ich hatte nur meine Reisetasche dabei in der alles war, was ich brauchte. Zum Schluss noch eine vollgepackte Kühltruhe, eine Thermokanne mit heißem Kaffee und eine Kühltasche mit Getränken und wir machten uns endlich auf den Weg.

Es war inzwischen sieben Uhr morgens geworden. Die Kühltasche mit der Verpflegung musste unbedingt frisch vor dem Losfahren gemacht werden und Ulrich musste genauso dringlich noch den Abwasch wegräumen, sein Badezimmer sauber machen, da er ja geduscht und sich rasiert hatte, die Dusche durfte nicht feucht zurückbleiben, sonst gibt es Flecken auf den Fliesen, das Waschbecken im Bad ebenso. Dann musste er noch die Blumen alle mit Wasser versorgen, seine Schränke auf Ordentlichkeit überprüfen, das Bett akkurat machen und als er sah, das etwas von dem Seramis aus dem Topf seines Gummibaumes auf dem Teppich lag, saugte er kurzerhand die Wohnung einmal komplett durch. Zum Schluss, als dann alles im Auto verstaut war, kontrollierte er noch mal die Heizkörper, wischte seine Küche zum dritten Mal durch – inklusive der Steckdosen und Lichtschalter – Zog alle Stecker, die nicht in der Wand bleiben mussten und wischte die Fensterbänke ab. Bevor wir dann die Wohnung endlich verließen stellte er noch die Sicherungen ab, drehte das Wasser zu, ließ die Rollläden herunter und schloss alle Zimmertüren.

Endlich fuhren wir los.
 

Die Fahrt war lang, sehr lang und genauso ereignislos. Wir haben uns so gut wie gar nicht unterhalten. Offenbar war er immer noch eingeschnappt.

Es war verabredet, daß wir direkt zu meinen Eltern fahren würden, wo Ulrich dann auch bleiben würde.

Am späten Sonntagabend kamen wir dann endlich an. Ulrich machte immer alle eineinhalb Stunden eine Pause für mind. eine halbe Stunde. Warum erklärte er nicht und ich traute mich auch nicht zu fragen oder sogar zu drängeln, daß wir viel schneller ankommen würden, wenn wir nicht ständig so viele und lange Pausen machen würden.

Irgendwann hatten wir dann aber doch die Autobahn hinter uns gelassen und kamen bei mir zu Hause an.

Meine Mum empfing uns. Wir gingen gleich mit ihr in´s Wohnzimmer, wo wir uns alle auf der Couch niederließen. Sie bot uns einen kalten Zitronentee an.

„Wie war die Fahrt?“ begann meine Mum dann im Plauderton eine Unterhaltung.

Ich antwortete, Ulrich hatte sich offenbar immer noch nicht von seiner obskuren Laune erholt.

„Lang!“ gab ich kurz zur Antwort.

„Lang und langweilig. Nichts Erwähnenswertes. Wenigstens haben wir nicht im Stau oder in einer Baustelle gesteckt. Es war viel los, daher sind wir nicht ganz so schnell durchgekommen.“ Erzählte ich weiter. Ich merkte richtig, wie ich mich bemühte, die Belanglosigkeiten auszuschmücken um genug zu erzählen, daß ich die unangenehmen Einzelheiten nicht erwähnen brauchte.

„Sind Sie denn die Strecke ganz alleine gefahren?“ Sprach meine Mutter jetzt Ulrich direkt an.

„Ja.“ Antwortete er knapp.

„Aber meine Tochter hat doch einen Führerschein?“ wunderte sie sich dann.

„Sie hat aber noch nicht genug Erfahrung um eine so weite Strecke über die Autobahn zu fahren.“ Erwiderte Ulrich bemüht freundlich.

„Ach so?“ ich konnte meiner Mum das Unverständnis direkt ablesen.

Sie sah mich etwas erstaunt fragend an, ich konnte nur mit den Schultern zucken.

Eine Weile unterhielt sie sich dann noch mit Ulrich. Ich hörte nicht wirklich zu, ich hatte immer noch daran zu knabbern, daß ich ein Schlechtes Gewissen hatte. Ich konnte keinen Anlass dafür entdecken, das machte mich noch mehr fertig. Und die schlichte Tatsache, DASS es mich fertig machte, beschäftigte mich noch am meisten!

„Und Ihnen ist es dann so richtig ernst mit meiner Tochter?“ riss meine Mum mich schließlich aus meinen Gedanken.

„Ja.“ Antwortet Ulrich ein bisschen kleinlaut.

Ich war mir sofort sicher, was meine Mum damit meinte und daß Ulirch NICHT wusste, was meine Mum damit meinte! Und als er mit "Ja" antwortete, meinte er nicht das, was meine Mum meinte.

Sie schickte mich dann in die Küche, noch eine Kanne Tee anzurühren und als ich wieder ins Wohnzimmer kam duzte sie sich inzwischen mit Ulrich und war gerade dabei ein Fax für meinen Vater aufzusetzen.
 

„Deine Tochter heiratet, wann hast du Urlaub?“
 

War darauf zu lesen.

Ohne ein Wort von mir oder sonst wem abzuwarten ging sie in ihr Arbeitszimmer, in dem das Faxgerät stand, und schickte es an meinen Vater nach Korea, wo er sich zurzeit aufhielt.

Ich hatte keine Worte. Ich konnte nicht mal denken. Mir war irgendwie klar, was das bedeutete, aber ich konnte es nicht begreifen.

Meine Mum hatte mich gerade mit einem Menschen verkuppelt, den ich nicht kannte und irgendwie gar nicht wollte.

„Denk daran, so viele Männer in seinem Alter und mit seinem Berufsstand laufen nicht mehr frei herum. Du solltest ihn dir festhalten.“ Klang eine ihrer Tiraden wie ein altes Echo durch meinen Kopf, die sie mir in den Wochen bevor ich zu ihm nach Limburg fuhr immer wieder gehalten hatte. Und „Ohne Papiere gehst du nicht mit ihm runter!“

Meine Gedanken waren irgendwie gelähmt. Der winzige Versuch zu denken: ‚aber ich will doch gar nicht‘ wurde von der kleinen Stimme in meinem Hinterkopf unterdrückt. ‚du wirst!‘

Ulrich und ich unterhielten uns nicht darüber, auch nicht als wir schließlich das Gepäck aus dem Auto geholt hatten und in meinem Zimmer zum Schlafen gingen. Eigentlich sagte keiner von uns etwas.

Ich schlief in meiner kleinen Abgetrennten Kammer und Ulrich hatte vor der Schrankwand wieder das Gästebett.
 

Am nächsten Tag fuhr er mich zur Arbeit. Dadurch konnte ich eine gute Stunde länger schlafen. Es half allerdings nicht gegen dieses seltsame Taubheitsgefühl in den Gliedern. Ich machte meine Arbeit wie mechanisch, unterhielt mich kaum und vermied auch jede Art von Smalltalk. In der Mittagspause holte Ulrich mich ab, wir gingen in die Stadt zu einem Juwelier und kauften ein paar silberne Freundschaftsringe, die wir auch gleich gravieren lassen konnten. Gleich danach musste ich schon wieder zurück in die Apotheke. Am Abend holte Ulrich mich dann wieder ab und wir fuhren zu seinen Eltern, die in Tarup wohnten. Diese hatten zwar schon von mir gehört, aber noch nichts von mir gesehen. Alle waren natürlich sehr erstaunt über die Neuigkeiten, sein Vater, seine Mutter und seine Schwester, die noch im Elternhaus wohnte.

Je mehr ich die Bewunderungen, das Erstaunen und die Freude mitbekam, desto besser fühlte ich mich mit diesem Gedanken, daß Ulrich und ich bald heiraten würden.

Wir hatten noch immer nicht darüber gesprochen. Irgendwie schien es aber auch nicht nötig zu sein. Sonst hätten wir ja die Ringe nicht gekauft.

Nun war ich also verlobt, so richtig echt und offiziell verlobt.

Ohne Heiratsantrag.
 

*
 

Ich unterbreche meine Erzählung um einen Schluck Tee zu trinken, mein Mund ist trocken wie ein alter Schwamm und ich habe das Gefühl, mein Hals würde verkleben.

„Das hat deine Mutter gemacht? Warum hast du nichts gesagt? Ich meine, zu deiner Mutter?“ Nicole ist ehrlich verblüfft. Voller Unverständnis schüttelt sie langsam mit ihrem Kopf.

Ich sehe sie nicht an und behalte nachdenklich die Tasse vor meinem Mund.

„Keine Ahnung. Vielleicht weil ich wusste, daß ich eine Diskussion mit ihr verlieren würde. Es würde in ein Streitgespräch umgewandelt und am Ende bin ich die schlechte Tochter. Diesen Stress wollte ich vermeiden. Daher hab ich dann zu allem ‚Ja‘ und ‚Amen‘ gesagt. Ein paar Kleinigkeiten durfte ich sagen, aber nicht zu viel ablehnen. Immerhin wurden wir noch gefragt, ob wir am 16. Oder am 23. Februar heiraten wollten… Ich hab mich einfach nicht gewehrt und gehofft, daß auf diese Weise alles ein Ende haben würde. Ich wäre dann erwachsen, immerhin wäre ich dann verheiratet. Eine respektable Person, die man ernst nehmen musste. Ich wollte die Chance nutzen um ein neues besseres Leben anzufangen. Und ich wollte einmal das tun, was meine Mum für richtig hielt.“ Sprudelt es dann aus mir heraus.

„Aber geklappt hat es nicht.“ Wirft Nicole jetzt ein.

„Nein, geklappt hat es nicht.“ Pflichte ich ihr bei.
 

*
 

Als ich meinem Chef dann sagte, daß ich in der zweiten Februarwoche Urlaub bräuchte, war dieser nicht sehr begeistert.

„Das ist ja mitten in der Schulzeit?“ bemerkte er ungehalten.

„Ich werde natürlich in der Schule erscheinen, keine Frage.“ Versuchte ich ihn zu beschwichtigen.

„Wofür brauchen Sie dann Urlaub?“ fragte er.

„Ich heirate am 16.“ Gab ich kurz zur Antwort.

„Sie heiraten? Wen denn?“

Mein Chef machte ein Gesicht aus einer Mischung von Überraschung und Entsetzen.

Ich hatte in der Apotheke noch nichts von der Verlobung erzählt. Ich weiß nicht mehr genau, warum.

„Erinnern Sie sich an den Typen, der im Sommer faste einen ganzen Tag um die Apotheke geschlichen war?“ fragte ich meinen Chef.

„Ja?“ Er zog die Augenbraue hoch.

„Den werde ich im Februar heiraten.“ Fügte ich hinzu.

Nun zog mein Chef beide Augenbrauen hoch und holte tief Luft.

„Also, als ich meine Frau damals geheiratet hatte, da kannte ich sie aber schon ein bisschen länger…“ wunderte er sich verdutzt.

Ich machte nicht den Versuch etwas zu erklären, das ich selbst nicht verstand und lächelte nur.

„Na gut.“ Gab er dann schließlich nach.

„Aber Sie versprechen mir, daß sie zur Berufsschule gehen!“

Ich bejahte die Auflage und ging zurück an meine Arbeit, auch, um den Urlaub eintragen zu lassen.
 

Das Jahr ging zu Ende. Ulrich war längst wieder nach Hause gefahren und würde in diesem Jahr auch nicht mehr kommen können.

Ich fand das ehrlich schade. Diese ganze Situation mit der Hochzeit und allem war leichter zu ertragen, wenn er da war. Irgendwie hatte ich immer noch meine Schwierigkeiten damit.

Meine Mum hingegen war in wahrer Hochstimmung. Sie suchte Farben aus für die Tischkärtchen, machte Listen von allen, die eingeladen werden mussten, entwarf die Einladungen, stellte die Tischordnung auf, „Ich will vermeiden, daß sich Grüppchen bilden!“ betonte sie immer wieder. Sie entwarf Brautkleider und besprach sie mit mir. Eigentlich zeigte sie mir nur ihre Entwürfe, sagte, was sie leiden mochte und ich stimmte allem zu. Ich hatte erwähnt, daß ich mir blaue Rosen in meinem Brautstrauß wünschte. Daraufhin hat meine Mum dann eine ganze Reihe Brautkleider entworfen, in denen diese Farbe vorkam. Dann ging es um meine Frisur, den Ablauf des Tages, den Photographen, das Hochzeitsauto. „Der Vectra ist zu klein für den Reifrock, im Audi hat das schon nicht gepasst.“ Sagte sie immer. Dabei wäre der Innenraum im Vectra um einiges größer als in ihrem Audi.

Es ging darum, wer den Brautwagen fährt. Die Trauzeugen mussten bestimmt werden.

„Es ist ja ganz klar, wer dein Trauzeuge wird.“ Strahlte meine Mum mich an.

„Ja!“ pflichtete ich ihr bei und dachte an Marco Lotz. Er war der beste Freund, den ich je hatte.

„Dein Bruder!“ rief meine Mutter dann glücklich und war auch schon wieder mit einem anderen Thema beschäftigt.

Nagut, dann halt mein Bruder… Was solls…

Fast täglich war meine Mum in der Stadt um Dinge für die Hochzeit zu kaufen. Einmal kam sie strahlend vor Freude mit einem Strauß dunkelblauer Kunstrosen nach Hause, jede einzelne kostete sicher ein Vermögen.

„Guck mal“, präsentierte sie stolz ihre Beute, „Die sind für deinen Brautstraus. Die hab ich bei Hertie gefunden und die waren gar nicht teuer. Außerdem hab ich noch diese Bänder hier, die wir aufkräuseln werden und dann mache ich einen traumhaften Brautstrauß! Und guck mal, diese Spitze hab ich noch besorgt. Kannst du dir vorstellen, daß man die allen Ernstes als Gardine aufhängt?“ sprudelte sie mit Feuereifer.

Ich war zwar endtäuscht, ob der blauen Rosen aus Kunstseide. Ich hätte so gerne die echten Rosen gehabt mit dem sanften Blau, das nahe am Lavendelton lag, aber ich ließ mir nichts anmerken.

Ich hatte einfach keine Lust mich mit ihr zu streiten. Ich würde das schon durchstehen, auch mit dunkelblauen Seidenrosen im Brautstrauß.

Daß meine Mum in der Gardinenabteilung nach Stoffen für Reifröcke oder in diesem Fall für ein Brautkleid guckte, war nichts Sonderbares. Oft fanden wir die schönsten Spitzen bei den Gardinen und die sind nicht annähernd so teuer wie die Stoffe, die eigentlich für Kleider gedacht sind. Das war also kein Problem für mich. Auch nicht, daß das Blau, das sie in meinem Brautkleid verarbeiten würde, ein alter Hochglanzstoff vom Fasching war, den sie seit den 70ern herumliegen hatte. Nur das grelle Blau störte mich etwas und daß sie vor hatte, möglichst viel davon in dem Kleid zu verarbeiten.

Das Kleid, das sie dann schließlich daraus nähte, war schon für eine Prinzessin geeignet. Aber irgendwie für meinen Geschmack zu farbig, um noch ein Brautkleid zu sein.

Aber wie gesagt: Ja und Amen.
 

Weihnachten verging und das neue Jahr hatte begonnen. Es waren jetzt noch etwa vier Wochen bis zu dem großen Ereignis. Die Einladungen waren gedruckt, verziert und abgeschickt. Die meisten haben zugesagt. Das Brautkleid war fertig und stand im Wohnzimmer auf der Schneiderpuppe. Auf diese Weise konnte ich mich zumindest an den Anblick gewöhnen…

Mein Bruder war eingekleidet, mein Vater inzwischen zu Hause und ebenfalls schon ausstaffiert und meine Mutter und ich verbrachten jede freie Minute damit den Schleier zu gestalten, den Schmuck und die Verzierungen dafür zu machen und während dessen besprach meine Mum mit mir das Hochzeitsessen. Außerdem mussten wir ja noch an den Polterabend denken, der in meinem Elternhaus stattfinden sollte.

Mein Vater war angenehm gelöst. Er schien mich wirklich mal als einen erwachsenen Menschen zu betrachten und nicht mehr wie eine vorlaute Göre, die ihm nur auf den Wecker viel, sobald sie den Mund aufmachte. Meine Mum hatte inzwischen auch das nach ihrem Geschmack richtige Brautauto entdeckt. Es kam von einer Firma. Ich hatte keinen Plan, was für eine Firma genau, weil ich auch nicht genau zugehört hatte. Wichtig war nur, es war ein altes Auto, ein richtiger Oldtimer und er war kostenlos. Am Samstagvormittag sollte ich mit meiner Mum hinfahren und ihn ansehen. Außerdem musste noch besprochen werden, daß wir das Auto rechtzeitig bekämen, damit es für die Hochzeit geschmückt werden konnte.

An besagtem Vormittag fuhr ich dann auch wie verabredet mit meiner Mama nach Flensburg zu dieser Firma. Die Chefin begrüßte uns überschwänglich und gratulierte mir aufs herzlichste zu meiner bevorstehenden Heirat. Sofort begann sie mit meiner Mum das Verhandlungsgespräch und voller Feuereifer wurde beraten, daß wir das Fahrzeug schon am Vortag abholen würden. Es sollte dann über das Wochenende bei uns bleiben um dann am Montagmorgen zurückgebracht zu werden.

Endlich gingen wir dann hinaus auf den Firmenparkplatz um uns das Prachtstück anzusehen.

Es war ein alter Ford. Ein sehr alter Ford. Das alleine war kein Problem für mich. Das eigentliche Problem war: Es war ein Kastenwagen! Ein alter Ford-T Lieferwagen! Übersäht mit den verschiedensten Aufklebern!

„Wir stellen dann die beiden Sesel aus dem Wohnzimmer auf die Ladefläche. Und Papi fährt dann das Auto.“ Frohlockte meine Mum voller Entzücken.

Ich war entsetzt!

Ein alter Lieferwagen als Brautauto!

Großartig!

Genau das, was sich jede Braut zur Hochzeit wünscht!

Aber wie schon gesagt: Ja und Amen…
 

Schließlich war es dann soweit.

Die Urlaubswoche hatte ich vor der Hochzeit, für all die Vorbereitungen, Kleiderproben und allem, was zum Xten mal besprochen werden sollte.

Ulrich war auch eingetroffen und wohnte wie schon in seinem letzten Urlaub mit bei meinen Eltern. Nur die Nacht vor der Hochzeit sollte er dann bei seinen Eltern schlafen.

Meine Mum fuhr mit ihm in die Stadt und kleidete ihn ein. Auch er hatte eher wenig zu sagen, machte aber auch nicht den Eindruck, als wollte er irgendetwas sagen. Aus Limburg hatte er die Eheringe mitgebracht. Sie waren aus Silber mit einem Goldenen Streifen in der Mitte. Sie waren auch entsprechend graviert und warteten nur auf die große Stunde, in der sie ausgetauscht werden sollten.

Der Polterabend war nur für die engste Familie, was sich bei meiner „Familie“ etwas schwierig gestaltete, da ich ja seit meinem 18. Geburtstag so viel Familie hatte. Dennoch schaffte meine Mum alle unter einen Hut zu bekommen.

Vor der Haustür auf der Auffahrt wurden diverse Teller, Schüsseln und Tassen zerschmissen, die Ulrich und ich dann einvernehmlich wieder wegräumten. Es gab Frikadellen, Kartoffelsalat, Russische Eier und jede Menge Häppchen und natürlich auch Bowle und andere geistreiche Getränke.

Ulrichs Eltern kamen fast eine Stunde zu spät zum Polterabend, weil seine Mutter noch aufräumen und den Vogelkäfig sauber machen musste, meine Mum wird sich noch auf ihrem Sterbebett darüber aufregen.

Schließlich löste sich die Gesellschaft dann auf und auch Ulrich fuhr mit seinen Eltern und seiner Schwester in sein Elternhaus.

Dann war es soweit, der neue Tag brach an. Der erste Tag in meinem neuen Leben.

Schon früh wurde ich aus den Federn geholt. Die standesamtliche Trauung sollte am späten Vormittag im Standesamt in Langballig stattfinden.

Ich musste Duschen und gründlich Haare waschen. Meine Mum föhnte sie dann zuerst trocken, dann bekam ich Schaumfestiger in die Haare und sie wickelte sie auf Lockenwicklern auf. Ich hätte gerne eine einfache Frisur gehabt. Die Haare sollten glatt anliegen, so wie bei der Medichi. Meine Mum war allerdings der Meinung, es müsse alles gelockt sein.

Ja und Amen.

In der Zwischenzeit schlüpfte ich in das Kleid, mein Bruder und mein Vater machten sich ebenfalls fertig und bereiteten das Brautauto vor. Außerdem mussten noch die Sessel in den Kastenwagen gebracht werden.

Währenddessen löste meine Mum die Lockenwickler aus meinen Haaren und achtete darauf, daß keine Locke sich aushängen konnte. Dann steckte sie alles so zurecht, wie sie es haben wollte und ich bekam gefühlte 10 Flaschen Haarspray auf die Frisur gesprüht.

Eines muss man meiner Mum aber lassen: Die Frisur hielt bombenfest! Ich durfte nur nirgendwo anstoßen, sonst wäre sicher etwas abgebrochen…

Sie steckte mir dann die Tiara und den Schleier in die Haare und war kurz gesagt entzückt. Zum Schluss bekam ich dann noch die abnehmbaren Schleppe an das Kleid gesetzt, auf dem drei große blaue Karos prangten. Dermaßen aufgeputzt bestieg ich dann den Ford Kastenwagen, der mit seinem Brautschmuck immer noch aussah wie ein mit Aufklebern total vollgekleisterter Ford Kastenwagen aussah, nur eben mit einigen Bändern in Blau und Weiß und den kleinen Blumensträußen, die die Bänder am Wagen hielten.

Als ich beim Standesamt ausstieg waren alle ganz hingerissen von der hübschen Braut und mein Bräutigam sah auch aus, als müsse er gleich weinen.

‚Was machst du hier eigentlich?‘ meldetet sich mein Verstand kurz zurück.

Aber schnell wurde der Gedanke wieder weggewischt, die Gäste waren zu begrüßen. Manfred Spring, aus unserer Nachbarschaft und ebenfalls Familienmitglied der Clique Laikier, war unser Standesbeamte und sollte uns trauen.

Mein Kopf zog sich zusammen, ich hatte das Gefühl, irgendwo tief in meinem Körper zu sitzen und durch ein winziges Loch alles hilflos mit ansehen zu müssen.

Ich begrüßte Leute, schüttelte Hände, lächelte bescheiden versonnen und ließ mich von der Woge weitertragen. Es ging in das Zimmer für die Trauungen, alle Anwesende nahmen ihre Plätze ein, ich und Ulrich nahmen Platz auf den Stühlen vor dem Tisch des Standesbeamten.

Die Rede, die Manfred hielt, bekam ich nicht mit. Alles hallte vielfach in meinem Kopf wieder, wie in einem Metallfass und wurde bis zur Unverständlichkeit verzerrt. Mir war übel, ich hatte Beklemmungen und musste mich zusammenreißen, nicht um zu fallen.

„Was machst du hier?“ schrie mein Verstand jetzt in mir.

„Das willst du doch gar nicht? Du liebst ihn nicht mal? Was soll das? Nimm die Beine in die Hand und suche so schnell wie möglich das Weite!“

‚Es ist alles gut, es wird alles gut, du tust das Richtige.‘ Meldete sich auch die kleine Stimme in meinem Kopf und unterdrückte das Gefühl einer aufkommenden Panik.

Für einen Moment wünschte ich, Marco würde jetzt zur Tür hereingeplatzt kommen und die Hochzeit verhindern.

Aber die Tür blieb verschlossen.

„…dann antworte jetzt mit ‚Ja‘“ hörte ich Manfred sagen. Er sah mich dabei an und ich sagte so kräftig wie ich konnte. „Ja!“

Für einen Sekundenbruchteil wurde es schwarz vor meinen Augen. Aber das verflog so schnell, wie es aufgekeimt war.

Ich hatte es getan.

Mein frisch angetrauter Ehemann küsste mich, die Trauzeugen unterschrieben die Urkunde, dann setzte auch in mit meinem neuen Nachnamen mein Unterschrift auf das Papier. Die Anwesenden standen auf, klatschten Beifall und freuten sich. Glückwünsche und Tränen von allen Seiten.

Ich war wie aufgelöst. Wie Schaum auf den Wellen ließ ich mich weiter treiben und machte alles, was man von mir erwartete. Ich trieb auf der Welle aus dem Raum heraus, die Treppe vom Amt herunter und ließ mir auf die Ladefläche des Kastenwagens helfen.

Ich hatte es getan.

Ich hatte ‚Ja‘ gesagt.

Nun war ich verheiratet.

Kapitel XVI
 

Zunächst ging die Fahrt zurück in mein Elternhaus, nur daßs Ulrich jetzt auch dabei war. Er war still, wirkte etwas verkrampft. Ich fragte ihn nicht danach, was jetzt in ihm vorging. Ich hatte Angst irgendetwas zu erwischen, was ihm die Laune verderben würde oder seinen Argwohn auf mich ziehen könnte. Davon aber mal ganz abgesehen hatte ich viel zu viel mit mir selbst zu tun. Ich begriff noch immer nicht ganz, was gerade passiert war. Das ich das wirklich gemacht hatte, mich verkauft hatte…

Zu Hause angekommen wurde dann an meiner Frisur noch etwas herum gezupft. Mein Dad machte ein paar belegte Brote, kochte Eier und Kaffee. Mir viel da erst auf, daß ich noch nicht einen Bissen gegessen hatte, seit ich am Morgen aufgestanden war. Dafür hatte ich inzwischen die Hälfte meiner Schachtel Zigaretten aufgeraucht.

Widerwillig aß ich ein hartgekochtes Ei. Ich hatte keinen Appetit. Kaffee trank ich ohnehin nicht, ich werde müde von Kaffee. Der hätte mich wahrscheinlich nur ausgeknockt.

Auch Ulrich schien keinen Hunger zu haben. Aus Höflichkeit jedoch nahm er zwei belegte Brötchenhälften.
 

Schon sehr bald ging es wieder los, wir sollten zum Photografen nach Flensburg. Mein Dad fuhr uns, mein Bruder kam mit dem Trauzeugen von Ulrich nach. Er hieß ebenfalls Ulrich und war ein Arbeitskollege von meinem Mann.

Mein Mann.

Wie seltsam das klang…

Irgendwie falsch...

Irgendwie wollte ich nicht, daß er jetzt "mein Mann" war...
 

Mein Papa parkte den Kastenwagen vor der Alten Post, die vor eingen Jahren zu einer kleinen Passage umgebaut worden war. Dort sollten wir zum Photographen.

„Bewegt euch mal, probiert mal andere Stellungen.“ Sagte der Photograph. Ich kam mir vor wie in einem Pornofilm.

Dennoch ergriff ich die Initiative und spornte Ulrich an, es mir gleich zu tun. Der Photograph war sehr zufrieden mit uns. Ulrich war froh, daß er nichts zu entscheiden hatte.

Danach ging es dann wieder nach Hause. Zwei Stunden hatten wir jetzt noch Zeit, dann mussten wir nach Ringsberg in den Gasthof, wo die Feier stadtfinden sollte.

Ich legte mich mitsamt dem Brautkleid, dem in der Zwischenzeit erstmal die Schleppe abgenommen war, auf mein Bett und versuchte meine Gedanken zu ordnen. Es gelang mir nur mäßig bis gar nicht. Mir schwirrten 100 angefangene Gedanken durch den Kopf, alle gleichzeitig und einer lauter als der andere. Eine Kakophonie aus Worten, Bildern und Gefühlen.

Die zwei Stunden waren im nu vergangen und ich hatte in meinem Kopf immer noch dieses wahnsinnige Echo, daß mich aus allen erdenklichen Richtungen unaufhörlich anschrie.

„Was hast du getan?“

Und die kleine leise Stimme aus dem Hintergrund, die auf jedes Echo immer nur wieder antwortete: „Das was du tun musstest. Das, was für dich bestimmt war.“

Was für ein Trost!

Ich schwebte die Treppe herunter. Meine Gliedmaßen waren wie betäubt und ich hatte kein Schwerkraftgefühl mehr.

Ich ließ mir die Schleppe wieder anlegen und mir in den Kastenwagen helfen. Meine Mum weinte wieder einmal vor lauter Verzückung, als ich in dem Sessel auf der Ladefläche Platz nahm und Ulrich neben mir stand.

„Ihr seid ein so süßes Paar!“ lächelte sie selig unter Tränen und machte ein Photo.

Dann wurden die Türen geschlossen und wir ruckelten vom Hof.

In Ringsberg angekommen gingen wir gleich in die Gaststätte und nahmen unsere Plätze ein. Wir standen Spalier an der Eingangstür, ich auf der linken, Ulrich auf der rechten Seite. Mein Bruder neben mir, der Trauzeuge von Ulrich neben Ulrich. Dann weiter auf meiner Seite meine Mum und mein Dad, neben Ulrichs Trauzeuge stand niemand. Eigentlich hätten da seine Eltern stehen sollen, aber die waren noch nicht da. Wahrscheinlich musste der Vogelkäfig wieder erstmal sauber gemacht werden, oder eines der fünf Katzenklos für die insgesamt zur Zeit 9 Katzen.

Nachdem ich gefühlte 100 Hände geschüttelt und massenweise Hochzeitsgeschenke und Glückwünsche lächelnd entgegen genommen hatte, kamen dann auch seine Eltern nebst der Tochter und dem ältesten Sohn.

Der Abend war lang. Ulrich war aufgelöst, unsicher und wirkte eingeschüchtert. Den ganzen Abend hab ich mich bemüht ihn so gut es ging zu unterstützen.

Meine Mum hatte beschlossen, daß es keine Hochzeitstorte geben sollte. Wozu auch? Welche Braut wünscht sich schon eine Hochzeitstorte. Keine, oder? Die Begründung: „Ich hab keine blauen Marzipanrosen bekommen.“

Ganz eindeutig nachvollziehbar, oder? Entweder perfekt, oder eben gar nicht. Und bevor wir jetzt eine Hochzeitstorte, mit Brautpaar oben drauf und vielleicht noch rosa Marzipanrosen oder gar Zuckerrosen hinstellen, dann verzichten wir doch lieber darauf.

Nacheinander wurden die Speisen aufgetragen, die es in einer kleinen Speisekarte – natürlich ebenfalls von meiner Mum zusammengestellt und gestaltet – nach zu lesen gab.

Es sollte dann aber doch etwas Torte geben, in Gestalt dreier Torten auf einem versetzten Torttenständer. Gemäß der Tradition sollten mein Mann und ich dann die Torte anschneiden und an die Gäste verteilen. Jeder wartete darauf, daß sie umfallen würde, aber den Gefallen taten wir nicht. Ich war sehr geschickt darin abzuschätzen, welches fehlende Stück die Torten aus dem Gleichgewicht bringen würde.

Von Seiten meiner „Familie“ wurde nach dem Festschmaus einiges aufgeführt und erzählt. Meine Mum las für alle die Hochzeitszeitung vor, die sie selbst gedichtet und gestaltet hatte. Jeder Gast hatte ein Exemplar davon vor sich liegen, aus dem Original wurde vorgelesen und meinem Mann und mir zum Schluss feierlich überreicht.

Als die Aufführungen zu Ende waren wurde offiziell der Tanz eröffnet mit einem Brautwalzer. Ulrich hatte kein Talent zum Tanzen und ihm fehlte Taktgefühl, aber irgendwie stolperten wir uns die Hälfte des Liedes durch bis meine Mum uns das Signal gab, daß wie die Gäste zum Tanzen auffordern sollten. Ganz ohne Frage wollte natürlich jeder männliche Gast mit der Braut tanzen, mein Vater und ich mussten sogar einen Tanz ganz alleine machen.

Wie schon erwähnt, der Abend war lang. Sehr lang. Zu lang. Wir mussten bleiben, bis der letzte Gast verabschiedet war, morgens gegen drei Uhr!

Soviel zum Thema Hochzeitsnacht.
 

*
 

„Hochzeitsnacht?“ fragt mich Nicole nun mit großen Augen.

„Aber, er hat ihn doch nicht hoch bekommen, oder?“

„Naja, das ist auch so eine Geschichte für sich…“ gebe ich leise zur Antwort und gucke auf meine Finger. Ich gnibbele mit den Fingernägeln herum, schiebe die Nagelhaut immer wieder hoch, bis ich die Nägel darunter schieben und die Haut abheben kann.

„Nicht“, ermahnt mich Nicole, „Das kann sich böse entzünden. Bist du so nervös?“

Ich halte mit dem Spiel meiner Finger inne.

„Weis nicht…“ antworte ich matt.

„Wenn es dich so fertig macht, sollen wir erstmal Pause machen?“ fragt sie jetzt voller Anteilnahme.

„Wie spät ist es denn?“ Ich blicke auf, dankbar für die kleine Themenablenkung.

„Noch nicht so spät. Aber ich kann sonst morgen noch mal wieder kommen?“ Nicole legt mir den Arm um die Schultern.

„Lass ruhig, ich denke, das schaffe ich schon. Irgendwie tut es gut, alles mal raus zu lassen. Alles zu erzählen, ohne die unschönen Details raus lassen zu müssen oder zu beschönigen…“

„Komm, wir gehen in die Küche eine Rauchen.“ Schlägt Nicole vor und steht auf.

„Das ist eine brillante Idee.“ Ich bin gleich etwas gelöster bei dem Gedanken, meine Nerven mit der Inhalation von etwas Nicotin und Teer beruhigen zu können.

Als ich in die Küche komme, steht Nicole bereits mit zwei angezündeten Zigaretten da und reicht mir die eine.

„Danke!“ Ich ziehe an meiner Fluppe und atme den Rauch tief ein.

„War ja irgendwie nicht ganz das, was man von einer Hochzeit erwartet, wenn ich mir das so überlege.“ Resümiert Nicole jetzt.

„Kann man so sagen.“ Antworte ich ihr und betrachte die Glut meiner Zigarette.

„Normalerweise lässt man das Brautpaar doch vor Ablauf der Feier aufs Zimmer gehen, oder nicht?“ überlegt sie jetzt.

„So hatte ich das auch gedacht, aber du siehst ja. Bei uns ist nicht alles Normalerweise.“

„Naja, die Ehe vollziehen hättet ihr ja doch nicht können, oder?“ hakt Nicole geschickt nach. Sie will daß ich weiter erzähle, kann ich nachvollziehen.

„Doch, inzwischen schon.“ Antworte ich, ohne sie anzusehen.
 

*
 

Das Thema Ehevollzug war eines für sich.

Bei unserem ersten Annäherungsversuch hatte er ja komplett versagt. Nicht, daß ich ihn jetzt als Versager hinstellen will, er konnte sicher nichts dafür. Ich hatte keine Ahnung, woran es hätte liegen können, er erzählte mir nichts aus seiner Vergangenheit.

Als guter Mensch und beflissene zukünftige Ehefrau nahm ich mir aber vor, ihm auf jeden Fall dabei zu helfen, das zu ändern. Ihm zu beweisen, daß er kein Krüppel ist!

Was er inzwischen erzählt hatte war, daß er bei einem Unfall einen Hoden verloren hatte. Nun war es an mir ihm zu beweisen, daß er damit nicht impotent sein musste und ich ihn deswegen nicht als abstoßend betrachtete.

Zuerst musste ich ihn aus der Beklemmung holen. Das war auf die Entfernung nicht leicht. Wir schrieben uns. Und wir schrieben uns sehr intime Briefe, extra in einer anderen Farbe, als den übrigen Brief.

Natürlich machte ich den Anfang, ich hatte ja schon „Erfahrungen“ gesammelt.

Das war auch für mich nicht leicht, ich war auch in gewisser Weise verklemmt. Zum Beispiel hatte ich den ‚Johannes‘ meiner Sexpartner nie in die Hand genommen. Geschweige denn in den Mund! Da hatte ich ein echtes Problem mit. Ich war auch nicht in der Lage oben zu sitzen und die Führung zu übernehmen, dafür hatte ich einfach noch nicht den richtigen Partner gefunden.

Da nun aber dieser Ulrich mein vorerst letzter Partner in meinem Leben sein sollte, gab es keinen Grund nicht zu versuchen, die eigenen Grenzen neu zu stecken und ihm dabei zu helfen, seine zu überwinden.

Also schrieb ich so pornographisch ich konnte, was ich mit ihm anstellen würde. Malte alles bunt aus und steckte so viel Gefühl hinein, wie ich konnte.

Auch als er dann da war, die Woche vor der Hochzeit, machte ich vieles, was ich vorher nicht gemacht hatte und versuchte mich zu trauen, wo ich konnte. Ihn anzuspornen, wo ich konnte. Ich begann mit dem Liebesspiel, auch wenn ich ihn nicht da anfassen mochte. Ich überwand mich. Ich setzte mich auf ihn und verdrängte das Gefühl, mich wie eine Nutte zu prostituieren.

Nach einiger Zeit klappte es, er wurde immerhin so groß und hart, daß er in mich eindringen konnte. Und über die Zeit ging es immer besser.

Bis, naja, bis ich einmal sagte: „Du, ich mag heute nicht. Können wir einfach nur kuscheln?“

Er ließ von mir ab und drehte sich auf die andere Seite. Mehr noch, er rückte von mir weg, soweit das Bett es zu ließ! Er ließ mich fallen wie eine heiße Kartoffel!

Ich hatte ein schlechtes Gewissen.

Am nächsten Morgen hatte er wieder diese vorwurfsvolle schlechte Laune. Verzog das Gesicht zu einer hässlichen Fratze, die keinen Zweifel an seiner Pein ließen, die ich ihm zugefügt hatte.

„Was ist?“ fragte ich ihn. Er sah mich an. Und dieser Blick war schärfer als ein Laserschwert. Ich spürte geradezu wie sein Blick mich vernichtend durchbohrte und hinter mir in die Wand einschlug.

Entsetzt guckte ich zur Seite.

„Du ekelst dich doch vor mir!“ warf er mir an den Kopf. Nein, er kotzte es mir an den Kopf.

„Aber das stimmt doch nicht.“ Versuchte ich ihn zu beschwichtigen.

„Du ekelst dich vor den Haaren auf meinem Rücken!“ warf er mir weiter vor. Voller Abscheu sah ich zu, wie sich sein Gesicht noch hässlicher verzog. Er hatte eine Monsterfratze, er sah nicht mehr aus wie ein Mensch.

Ich übertreibe nicht, ich versuche nicht etwas deutlich zu beschreiben, indem ich die Tatsachen verzerre. Ich wünschte, ich würde das tun, dann wäre die Wahrheit nicht so schmerzhaft gewesen…

Von da an sprach er nicht mehr mit mir. Und er verbarg auch nicht, daß er mir die Schuld an seiner Pein gab.

Vier Tage lang.

Ich versuche alles, ihm diese schlechte Laune zu vertreiben, bemühte mich, alles wieder einzurenken, aber nichts half.

So kam dann der Tag der Hochzeit und ich sagte dennoch ja.
 

Ulrich war wieder nach Limburg zurück gefahren, schließlich hatte er ja noch eine Arbeit. Wir schrieben uns wieder, telephonierten auch. Immerhin, er sprach wieder mit mir. Scheinbar hatte er sich von dem Schlag erholt, den ich ihm wohl verpasst hatte.

Bis zum Ausbildungsabschluss war es auch nicht mehr lange. Er bestand in einem Schriftlichen und einem praktischen Teil. Der Schriftliche wurde in den Räumen der Berufsfachschule in Flensburg absolviert. Wenn dieser bestanden war, wurden wir zur praktischen Prüfung in Neumünster zugelassen.

Ulrich und ich hatten uns überlegt, daß wir am Tag meiner praktischen Prüfung dann nach Hause fahren. Ich würde an dem Tag also mit meinem alten Leben abschließen und mein neues anfangen.

Er hatte einen kleinen Kurzurlaub eingelegt, zwischen der Hochzeit und dem Prüfungstermin, weil noch einige Papiere zu unterschreiben waren. Er kam mit einem ganzen Stapel Unterlagen unter dem Arm und ich sollte überall unterschreiben.

Als ich damit fertig war sammelte er die Unterlagen zusammen und meinte dann grinsend: „So, und am 23. Oktober fängt dann dein erstes Semester an der PTA-Schule in Idstein an.“

Erstaunt sah ich ihn mit großen Augen an. Ich freute mich riesig und fiel ihm um den Hals.

Sofort spürte ich ein Kneifen in meiner Magengegend, sicher wollte er jetzt, daß ich mich mit Sex bei ihm bedanke, erkenntlich zeige, ihn zum Dank befriedigte…
 

Ich bestand die theoretische Prüfung mit einer guten Zwei. Mit meinem Chef besprach ich, daß ich auf jeden Fall nach Limburg gehen würde, selbst wenn ich die praktische Prüfung nicht bestehen würde.

Am 10. Juni packten wir dann meine restlichen Sachen ins Auto. Das Meiste hatte Ulrich nach der Hochzeit und bei dem kleinen Kurzurlaub schon mitgenommen gehabt.

Am 11. Sollte die Prüfung in Neumünster sein.

Am Abend des 10. gab ich dann meinen Haustürschlüssel ab. Ich würde nicht mehr so schnell wieder kommen.

Ich bestand die praktische Prüfung in Neumünster als eine der Besten. Ich empfand das auch nicht als schwer. Wir bekamen eine Kiste mit einer Lieferung und einem Lieferschein. Auf dem Lieferschein befanden sich 10 Positionen die abgehakt werden sollten. Ich fand ein Medikament, das nicht dem Lieferschein entsprach und vermerkte das entsprechend. Nach fünf Minuten war ich fertig.

Meine vier Mitstreiterinnen nicht. Ich hatte schon das Gefühl, daß ich etwas falsch gemacht oder übersehen hatte. Aber es war alles in bester Ordnung, auch nachdem ich meinen Lieferschein und die Medikamente ein drittes Mal nachkontrolliert hatte.

Über eine Telephonzelle informierte ich meinen Chef, daß ich bestanden hatte und nun nach Hause fahren würde. Auch meiner Mum teilte ich das Ergebnis mit.

Dann setzten wir uns auf die Autobahn und fuhren nach Hause.

Kapitel XVII
 

„Es ist nicht nötig, daß du mit aufstehst.“ Sagte Ulrich, nahm aber dennoch den Kaffee, den ich ihm gekocht hatte, wie selbstverständlich entgegen.

„Ist kein Thema, ich denke, ich kann eh nicht mehr schlafen.“ Antwortete ich. Es war halb vier Uhr morgens. Ulrich hatte Frühschicht und fing um sechs Uhr an. Da er aber noch 70 Km auf der Autobahn an Arbeitsweg vor sich hatte und im Bad länger braucht als ich, stand er immer schon um halb vier Uhr morgens auf.

„Was möchtest du auf deine Brote?“ fragte ich und holte das Schwarzbrot aus dem Schrank.

„Guck einfach, was im Kühlschrank ist.“ Rief er aus dem Badezimmer mit dem Mund voller Schaum. Er putze sich gerade die Zähne.

„Wie viel willst du mitnehmen?“ rief ich noch aus der Küche.

„grei Scheibm.“ Antwortete er undeutlich durch den Schaum.

Drei Scheiben, im Sinne von drei Scheiben Brot? Oder drei Stullen? Also, je zwei Scheiben Brot für eine Stulle, insgesamt sechs Scheiben…

Ach egal, ich mache jetzt drei Stullen, wenn es zu viel ist kann er den Rest ja meistbietend versteigern oder wieder mit nach Hause nehmen. Ich holte Käse, Salami und Cornedbeef aus dem Kühlschrank, strich Butter auf die Brotscheiben und belegte sie mit dem Aufschnitt. Dann packte ich das fertige Brot in seine Brotdose, goss den frisch aufgebrühten Kaffee (ich hab ihn so gemacht, wie ich ihn immer in der Apotheke machen sollte, ich konnte ja nicht wirklich Kaffee kochen) in die Thermokanne und verschraubte diese sorgfältig. Als kleine Überraschung legte ich ihm noch ein kleines MilkyWay mit in die Brotdose. Er sollte auch auf der Arbeit wissen, daß ich an ihn denke. Daß ich mir alle Mühe geben wollte, eine gute Ehefrau zu sein.

Als Ulrich dann fertig angezogen, rasiert und gestylt in die Küche kam, waren auch die zwei Toastscheiben fertig. Ich hatte ihm auch schon ein Frühstücksbrett, die Butter und ein Messer hingelegt.

„Was möchtest du auf das Brot haben?“ fragte ich ihn eifrig.

„Marmelade.“ Antwortete er wortkarg und knapp.

Naja, dachte ich mir, ist nicht wirklich die Uhrzeit sich zu unterhalten und wischte das leichte Unbehagen bei Seite.

Ich gab ihm das Glas Erdbeermarmelade aus dem Kühlschrank und er machte sich, weiterhin wortlos, seinen Toast.

Als er fertig war packte er die Brotdose und die Thermokanne in seine Arbeitstasche.

„So, ich muss los.“ Sagte er dann kurz, gab mir ein knappes Küsschen und verschwand.

Da saß ich nun.

Alleine.

In einer mir noch fremden Wohnung.

Quasi mitten in der Nacht, es war erst fünf Uhr morgens.

In dem leerstehenden Zimmer stapelten sich meine wenigen Habseligkeiten. Einige Bücher, ein paar Plüschtiere, mein Benjamin, den ich aus der Apotheke mitgenommen hatte. Er war wieder voller prächtiger grüner Blätter.

Meine Kleidung war schon im Schlafzimmerschrank eingeräumt.

Ich setzte mich ins Wohnzimmer und machte den Fernseher an. Ulrich hatte auch Premiere, da liefen eigentlich immer ganz gute Filme.

Mir war langweilig.

Ich wusste nicht, was ich jetzt anstellen sollte, den ganzen Tag alleine in einem Dorf, in dem ich niemanden kannte. In dem mich niemand kannte.

Draußen schien die Sonne. Ich beschloss dann, den Fernseher aus zu machen und raus zu gehen. Zu erforschen, wo ich jetzt wohnte.
 

Das Dorf war nicht klein, aber überschaubar. Je weiter ich den Berg hinunter kam und mich dem Ortskern näherte, umso älter sahen die Häuser aus. Der Ortskern war gut erhalten, auch von der alten Stadtmauer standen noch einige Stücke. Das hatte ich in meinem Urlaub hier ja schon festgestellt. Ansonsten gab es nichts besonders sehenswertes.

Ich entdeckte, daß es in Kirberg ein Freibad gab. Vielleicht konnten Ulrich und ich da später mal hingehen, wenn es noch so schön war wie jetzt.

Ich hätte gerne die Gegend erkundet. Mein Fahrrad hatte ich ja dabei. Aber es war hier einfach zu bergig, schon zu Fuß war es anstrengend.

Die Leute, an denen ich vorbeikam, grüßten nicht zurück oder nur sehr verhalten. Als würden sie mich argwöhnisch betrachten. Auch in den Straßen, wo niemand zu sehen war, fühlte ich mich unbehaglich. Hinter jeder Gardine wähnte ich einen geheimen Beobachter.

„Gertrud, sieh dir die Neue an. Frisch verheiratet und dann alleine auf dem Swutsch!“

Nun ja, den „Swutsch“ würden sie nicht kennen, aber ich wusste nicht, welcher Begriff dafür in Hessen gültig wäre.

Überhaupt war alles anders und fremd.

Als ich beim Bäcker ankam, war es schon sieben Uhr durch und er hatte geöffnet. Ich ging rein und bestellte bei der Dame hinter dem Verkaufstresen zwei Kieler.

„Zwei bitte was?“ wurde ich erstaunt gefragt.

„Zwei Kieler.“ Sagte ich etwas lauter und deutlicher als zuvor. Vielleicht hatte sie mich nicht richtig verstanden.

„Kieler? Was soll das sein?“ Das Erstaunen wuchs, auf beiden Seiten.

„Na, diese weichen Brötchen.“ Erklärte ich. Konnte es denn wahr sein, daß diese Bäckereifachverkäuferin tatsächlich nicht wusste was ein Kieler war?

„Ich habe hier Amerikaner, Berliner, aber keine Kieler?“ erklärte mir diese jetzt etwas hilflos.

„Nein, keinen Amerikaner und auch keinen Berliner.“ Lehnte ich ab.

„Wenn Sie ein weiches Brötchen haben möchten hab ich hier noch Rosinenbrötchen.“ Bot sie mir weiter hilfsbereit an.

„Nein, das möchte ich auch nicht. Geben sie mir einfach ein Kaiserbrötchen.“ Sagte ich dann, als ich die flachen Brötchen mit den fünf leicht geschwungenen Linien entdeckte, die das Brötchen in fünf Teile unterteilte.

„Kaiserbrötchen?“ sie sah immer noch etwas hilflos aus.

„Na, die da hinten.“ Ich zeigte auf den Korb voller Brötchen.

„Ach, die Schnittbrötchen meinen Sie.“ Sagte sie erleichtert, packte mir ein Brötchen davon in eine kleine Papiertüte und reichte sie mir über den Tresen.

„Darf es sonst noch etwas sein?“ fragte sie mich freundlich.

„Nein danke, das war alles.“ Sagte ich dann und bezahlte.

Sowas, keine Kieler. Dachte ich bei mir, als ich aus dem Laden ging und an meinem trockenen Brötchen kaute.

Als ich schließlich auf der anderen Seite des Dorfes ankam, war ich nicht mehr weit von MiniMal entfernt. Es war inzwischen 20 vor 8. Bei uns machen die Läden um Acht Uhr auf, ich hoffte, das würde in Kirberg auch so sein.

Ich ging zur Eingangstür uns las das Schild mit den Öffnungszeiten.

Mo.-Fr. 8:00 bis 18:00 Uhr.

Gut, heute war Montag, also sollte der Laden in knapp zwanzig Minuten aufmachen.

Ich machte mir eine Zigarette an, warf die jetzt nutzlose Papiertüte vom Bäcker in den Mülleimer und ging um das Gebäude herum um zu sehen, ob es auf der anderen Seite noch etwas zu entdecken gab.

Aber da war nichts außer Feld. Daneben noch ein Feld. Und daneben wieder ein Feld… Keine Knicks, keine überflüssigen Büsche oder Bäume. Wäre das nicht der Taunus, dann hätte man wahrscheinlich meilenweit nur Felder gesehen, unterbrochen von ein paar Bundesstraßen und dem sogenannten Bauernhighway. Das sind befestigte Straßen zwischen den Feldern, die nur von landwirtschaftlichen Fahrzeugen genutzt werden durften.

Allerdings schienen das alle zu wissen, außer den Bauern. Denn in der Hochsaison fuhren die Bauern mit ihren Maschinen auf den Bundesstraßen und bremsten den normalen Verkehrsfluss gründlich aus.

Dafür gab es hier allem Anschein nach keine Fahrrad- oder Fußwege. Auch die meisten Bushaltestellen waren weit von den Ortschaften entfernt an der großen Bundesstraße. Ohne Auto war man hier auf dem Land sicher aufgeschmissen.

Zu Hause, also, in meinem alten zu Hause, da hatten wir viele Bushaltestellen und auch viele Buslinien. Viele kleinere Nebenstraßen und so ziemlich an jeder kleinen Straße stand mindestens eine Milchkanne mit eigener Bushaltestelle. Man kam gut in die Stadt rein und auch wieder heraus, teilweise bis fast vor die Haustür. Auch die Verbindungen waren besser als hier unten.

Ulrich hatte mich ja in der Akademie in Idstein für den PTA-Lehrgang angemeldet. Allerdings hatte er sich noch keine Gedanken darüber gemacht, wie ich da hin und wieder nach Hause kommen sollte.

Vor ein paar Tagen waren wir in Idstein um uns über die Busverbindung zu informieren. Wenn man danach ging, müsste ich eigentlich ein eigenes Auto haben...
 

Ein Blick auf meine Armbanduhr verriet mir jetzt, daß es inzwischen fünf nach Acht war. Dann sollte der Laden geöffnet haben.

Ich ging hinein und sah mich ein wenig um. Ganz hinten im Geschäft war der Schlachter. Hier sagte man Metzger. Das hatte ich schon gelernt.

Gut gelaunt ging ich zu dem Tresen. Der junge Mann dahinter sah mich freundlich an und erkundigte sich nach meinem Anliegen.

„Ich hätte bitte gerne 100 Gramm Thüringer Mett.“ Sagte ich ebenso gut gelaunt.

„Thüringer was?“ fragte er.

„Thüringer Mett.“ Wiederholte ich meinen Wunsch.

„Ich habe Thüringer Bratwurst.“ Bot er mir dann an.

„Nein, ich möchte bitte Thüringer Mett.“ Wiederholte ich beharrlich.

„Was soll das sein?“ fragte er immer noch freundschaftlich lächelnd.

„Naja, dieses Hackfleisch.“ Versuchte ich zu erklären.

„Ja, das hab ich. Gemischt? Vom Rind oder vom Schwein?“ er zeigte auf die Schalen mit dem Hackfleisch.

„Nein, ich meine Thüringer Mett, was man sich auf die Brote macht.“ Beharrte ich weiter.

„Ach, Sie meinem Würzhack.“ Sagte er jetzt und zeigte auf eine andere Schale.

„Ja, das meine ich.“ Lache ich erleichtert. Es hieß hier zwar anders, aber wenigstens hatten sie es da.

Der junge Mann wog mir die gewünschte Menge ab und fragte dann, ob es noch etwas mehr sein darf.

Ich sah mich in dem Angebot um.

„Welches Schweinefleisch haben Sie im Angebot?“ fragte ich dann. Ich sollte ja nachher noch Mittagessen machen, wenn mein Mann nach Hause kommen würde.

Wie seltsam das immer noch klang, mein Mann…

„Wir haben hier den Schweinenacken ohne Knochen.“ Er zeigte mir ein Stück mit Schnittfläche. Es war gut durchwachsen aber nicht fettig.

„Was kostet es?“ erkundigte ich mich.

„2,59 das Kilo.“ Antwortete er.

„Ja, dann nehme ich ein Kilo von dem Stück, daß Sie jetzt in der Hand haben.“ Stimmte ich zu.

„Gerne.“ Sagte er und schnitt ein Stück ab.

„Kann ich Ihnen sonst noch etwas Gutes tun?“ fragte er mich dann wieder.

„Nein danke, ich denke das reicht.“ Sagte ich dann.

Er wickelte das Fleisch in eine Folie, dann in eine Tüte. Zusammen mit dem Mett packte er es dann in eine etwas größere Tüte, verknotete diese und klebte den Bon von der Waage darauf.

„Einen schönen Tag wünsche ich noch.“ Sagte er dann Freundlich.

„Danke, Ihnen auch.“ Verabschiedete ich mich.

In der kleinen Gemüseabteilung nahm ich dann noch eine große Zwiebel, eine gelbe Paprika und drei Tomaten mit. Ich würde Geschnetzeltes machen mit Nudeln, oder Reis, da war ich mir noch nicht ganz sicher. Geschnetzeltes konnte ich. Allerdings sollte ich den Reis im Kochbeutel nehmen, sonst brennt mir wieder alles an…

An der Kasse suchte ich mir dann noch eine Schachtel meiner Zigaretten heraus und eine Tüte.

Noch hatte ich etwas von meinem eigenen Geld. Mein letztes Gehalt hatte auch das Urlaubsgeld beinhaltet. Dadurch war ich jetzt nicht ganz ohne eigenes Geld unterwegs.

Das würde sich sicher ändern, wenn ich dann auf die Akademie ginge, ewig würde mein Geld schließlich nicht reichen.

Der Weg zurück nach Hause war anstrengend. Die Sonne war inzwischen ziemlich hoch am Himmel und brannte mit voller Macht auf die Straßen. Es war Anfang Juli und der Himmel sah nicht danach aus, als würde es heute etwas Abkühlung geben. Noch dazu ging der gesamte Heimweg bergauf. Ich konnte mir alle Zeit der Welt lassen, aber lästig war es dennoch.

Auf dem Weg nach Hause kam ich an einem Grundstück mit einem Kirschbaum vorbei. Der Baum hing voller dicker dunkler Kirschen und er neigte seine Zweige tief über die Straße. Ich ging direkt unter dem Baum hindurch und griff nebenbei in die Zweige, um ein zwei Kirschen zu pflücken. Sie waren wirklich groß und schmeckten unvergleichlich. Viele der Kirschen waren schon heruntergefallen. Schade um das schöne Obst, dachte ich bei mir.

Schließlich war ich beinahe zu Hause angekommen, als mir ein weiterer Fremder über den Weg lief. Allerdings war dieser Fremde weit weniger abgeneigt, meine Bekanntschaft zu machen als manch anderer, der mir auf meinem heutigen Weg begegnet war.

„Na du? Wo kommst du denn her?“ fragte ich schmeichelnd und ging in die Hocke.

Mit hoch erhobenem Schwanz kam die Katze freudig auf mich zu gelaufen, als würden wir uns schon lange kennen und sie freute sich, mich zu sehen. Mit beiden Vorderpfoten stellte sie sich auf meinen Oberschenkel und gab mir einen Stubser mit ihrer Nase. Die Katze schnurrte laut und ließ sich von mir streicheln und kraulen.

„Na, du bist ja eine Süße.“ Schnackte ich mit ihr.

„Und so weich. Wo gehörst du denn hin?“ Ich stand wieder auf und die Katze stellte sich an meine Seite.

„Ich muss wieder nach Hause, bevor es zu heiß wird hier draußen.“ Schwatzte ich dann und setzte meinen Weg fort.

Das Tier kam mit mir.

„Willst du wissen wo ich wohne?“ sprach ich weiter mit der Katze. Sie erhob wieder ihren Schwanz und kam zielstrebig weiter mit mir mit.

„Na gut, mal sehen, wie weit du dich mit traust.“ Sagte ich dann zu ihr und zusammen gingen wir dann bis zu mir nach Hause.

Die Vermieter von Ulrich waren noch immer in Taschkent, ich hatte das Haus also im Grunde für mich alleine.

Ich schloss die Haustür auf und öffnete sie. Kaum war der Spalt groß genug, war die Katze auch schon durchgewitscht und die Treppe hoch gelaufen.

„Sag, warst du schon mal hier?“ wunderte ich mich.

Sie drehte oben auf der Treppe um, kam ein paar Stufen zurück nach unten und maunzte, als wollte sie sagen: „Mach hin, was trödelst du so lange?“

Ich öffnete die Wohnungstür und die Katze kam mit mir rein als wäre es das Normalste auf der Welt.

Ich ließ sie eine Weile gewähren, gab ihr etwas von dem Cornedbeef, daß sie gierig verschlang und beobachtete weiter, wie sie die Wohnung in Augenschein nahm.

„Ich denke mal, du hast sicher ein zu Hause, oder?“

Die Katze war nicht sehr groß, hatte aber durchaus ein erwachsenes Aussehen. Außerdem sah sie gepflegt und wohlgenährt aus, was eindeutig auf ein gutes zu Hause hinwies.

Nach einer halben Stunde, in der sie die Wohnung inspizierte, beschloss ich wieder mit ihr nach Draußen zu gehen.

Dieses Mal führte die Katze mich. Ich folgte ihr um das Grundstück herum auf eine Art Feldweg. Immer wieder blieb sie stehen und sah sich nach mir um, als wollte sie sicher gehen, daß ich ihr noch folgte. An einem Eckgrundstück mit Jägerzaun drum herum hielt sie kurz, guckte mich an und schlüpfte dann durch den Zaun.

Sie lief zu dem Haus, das auf dem Grundstück stand. Ich konnte eine Terasse erkennen und ein gewaltiges Fenster, daß einen Einblick in das gesamte Wohnzimmer gestattete und in die Küche dahinter.

Ein älterer Mann mit freundlichem Gesicht bemerkte die Katze, die inzwischen auf der Fensterbank saß.

Er kam heraus, bemerkte mich und grüßte.

Ich grüßte zurück.

„Naaah, hast du Besuch mitgebracht, Tigerchen?“ plauderte er mit der Katze und kam etwas weiter zu mir herüber.

„Moin.“ Grüßte ich ein weiteres Mal freundlich, froh einem Menschen zu begegnen, der scheinbar nicht davon ausging, daß ich nicht nur fremd sondern auch mit Vorsicht zu genießen wäre.

„Moin?“ lachte der Mann und sah auf seine Uhr.

„Es ist beinahe Mittag, ist es nicht etwas Spät um guten Morgen zu sagen?“

Er hatte inzwischen den gut gepflegten dichten Rasen überquert und stand mir nun gegenüber, den Zaun dazwischen. Er hatte graue Haare und ein faltiges Gesicht. Aber seine Falten zeugten von Freude und Lachen. Er war mir sympathisch.

„Nein nein,“ klärte ich ihn auf.

„Ich sagte ‚Moin‘, nicht guten Morgen.“

„Hach, so. Das sagt man doch im Norden Deutschlands.“ Freute er sich, etwas mehr zu wissen als manch anderer.

„Richtig.“ Freute ich mich mit ihm.

„Wo kommen Sie denn her?“ erkundigte er sich jetzt freundlich.

„Aus Schleswig-Holstein, in der Nähe von Flensburg.“ Erzählte ich.

„Na, da wo man die Punkte bekommt.“ Lachte er.

„Ja, auch das.“ Bestätigte ich.

Das begegnete mir in der letzten Zeit sehr häufig. Arbeitskollegen von Ulrich, die ich bisher kennen gelernt hatte, sprachen bei dem Namen ‚Flensburg‘ immer von den Punkten, die man als Autofahrer im Kraftfahrzeug Bundes Amt bei Verkehrsvergehen sammeln konnte.

Kaum einer kannte das Flensburger Pils, ein Bier, das nur in Flensburg gebraut wird.

„Haben Sie da auch Ihren Führerschein gemacht?“ fragte er weiter.

„Sicher.“ Antwortete ich.

„Fährt man dann irgendwie anders? Ich meine, mit dem KBA in der Nähe?“ wollte er jetzt wissen und grinste spitzbübisch.

„Nein, wieso? Sie essen doch sicher Ihre Wiener Wurst auch nicht anders, nur weil Sie sich gerade in Wien aufhalten, oder?“ fragte ich zurück.

Er lachte herzlich.

„Richtig. Da haben Sie einen alten Mann erwischt. Koch mein Name.“ Stellte er sich dann vor.

„Hansen.“ Stellte ich mich meinerseits vor und nahm die mir angebotene Hand zur Begrüßung.

„Unseren Tiger haben Sie ja schon kennen gelernt.“ Stellte er dann weiter fest.

„Äh“, begann ich vorsichtig, „Sie wissen aber schon, daß ‚er‘ eine ‚sie‘ ist, oder?“

„Sicher.“ Lachte Herr Koch.

„Allerdings hatte sie den Namen Tiger gleich bekommen. Ihr ist es eh egal, wie sie genannt wird, solange wir ihre Futterschüssel voll machen.“

„Das glaube ich.“ Stimmte ich zu.

„Sie war übrigens gerade bei mir zu Besuch bis mit in die Wohnung.“ Erzählte ich.

„Ach? Das hat sie noch bei keinem gemacht. Sie müssen ein Katzenmensch sein, so Jemand, auf den Katzen sehr positiv reagieren. Haben Sie eine Katze?“ plauderte Herr Koch weiter.

„Ich hatte eine, bei meinen Eltern.“ Bestätigte ich seine Vermutung.

„Und jetzt nicht mehr?“ fragte er weiter.

„Nein, sie war eine kleine Tyrannin, hat die Katze meiner Mutter von der Futterschüssel verjagt, sie aus der Katzentoilette gehauen und wurde immer aggressiver. Kara, die Katze meiner Mum, wurde richtig krank, hatte verklebtes Fell und dramatisch abgenommen. Da musste meine Sissy weg.“ Erzählte ich weiter.

„Das ist Traurig.“ Sagte er dann nachdenklich.

Wir plauderten noch eine Weile über Belanglosigkeiten.

„Es wird langsam zu warm für einen alten Mann wie mich, ich muss mich wieder ins kühle Haus zurückziehen.“ Verabschiedete sich Herr Koch dann schließlich.

„Wir werden uns ja sicher wiedersehen, wenn Sie schon hier ums Eck wohnen.“ Lachte er noch. Dann verabschiedeten wir uns und jeder ging seiner Wege, Herr Koch zurück in sein Haus und ich zurück in die Wohnung von Ulrich.

Es war wirklich sehr warm geworden. Ich war froh wieder in der kühlen Wohnung zu sein.

Ich sah auf die Uhr an der Wohnzimmerwand über der Tür.

Halb zwei durch. Bis um vier würde Ulrich wieder zu Hause sein. Dann hatte ich noch etwas Zeit fern zu sehen bevor ich dann das Essen machen würde.

Ich dachte an meine Sissy. Sie war eine schwarze Katze, eine schöne, aber sie war sehr egozentrisch. Wenn ich, meine Mum oder mein Bruder in der Nähe waren, dann war sie die liebste Katze der Welt. Aber man konnte an Kara sehen, daß es ihr immer schlechter ging. Sie verkroch sich ständig, wenn Sissy in der Nähe war. Irgendwann kam sie dann mal bei mir angekrochen, ihr Fell war verklebt und verkrustet und sie stank erbärmlich. Als ich sie hochnahm fühlte ich nur noch Fell und Knochen, sie wog fast nichts mehr.

Ich allarmierte meine Mum und brachte ihr ihre Katze. Meine Mutter war sehr erschrocken. Wir beratschlagten lange, was zu tun sei. Schlussendlich fiel die Entscheidung, daß Sissy weg musste.

Wie meine Mum das Problem gelöst hat, weiß ich nicht genau. Sie ging mit Sissy raus und kam ohne sie wieder.

Ich fühlte mich grauenhaft. Als hätte ich ein Todesurteil gefällt.
 

Ich war jetzt schon seit fast drei Wochen in meinem neuen Leben. Die Zeit, die ich alleine zu Hause war, war sehr einsam für mich. Ich hätte gerne telephoniert, mit meinen Freunden gesprochen, aber das wären jedes Mal Ferngespräche gewesen. Und die kosten. Und Ulrich duldete kein unsinniges Geldausgeben.

Der Wunsch nach einem Haustier wurde immer größer. Aber nicht irgendein Haustier, ich wollte eine Katze.

Ich wusste von Ulrichs Elternhaus, daß Katzen durchaus willkommen waren in seiner Familie. Vielleicht würde er mir den Wunsch erfüllen.

Ich versuchte auch ihn immer wieder vorsichtig darauf hin zu weisen, was ich mir wünschte.

Zum Beispiel beim Einkaufen bei Aldi.

„Guck mal.“ Stieß ich ihn das eine Mal an und deutete auf eine Frau, die jede Menge Katzenfutter in ihrem Wagen hatte.

„So etwas hätte ich jetzt auch gerne in meinem Einkaufswagen.“ Schwärmte ich wehmütig.

Ulrich sagte nichts dazu.

Bei der Bank hing ein riesiges Poster mit zwei Katzenbabys drauf „Denken Sie nicht nur an Ihre eigene Zukunft.“ Stand darunter.

Auch dazu sagte Ulrich nichts.

Schließlich unterhielten wir uns dann mal ernsthaft über das Thema Katze.

„Wo soll ich denn das Katzenklo hinstellen?“ fragte er ernst.

„Ins Badezimmer, neben die Toilette.“ Schlug ich vor.

„Und wer macht das sauber?“

„Na, ich? Es wäre doch auch meine Katze?“

Ein paar Tage dauerte es allerdings noch bis Ulrich dann konkret zustimmte, die erforderlichen Utensilien wie Katzenklo, Futterschüsseln, Katzenstreu besorgte und nach einem Tierheimen suchte, in denen man junge Katzen bekommen könnte.

In Limburg war ein Tierheim. Ulrich rief dort an. Dort waren auch tatsächlich junge Katzen, aber die konnten noch nicht abgegeben werden, sie wären noch nicht geimpft und entwurmt.

Ein anderes Tierheim erwies sich ebenfalls als unwillig, mir zu einem Gesellschafter zu verhelfen.

„In Hattersheim ist noch ein Tierheim.“ Sagte Ulrich dann.

Die ersten zwei Jahre, wo er bei Lufthansa angefangen hatte, wohnte er in Hattersheim in einem – wie er es ausdrückte – „Einzimmerwohnklo“. Er kannte die Gegend ein bisschen und wusste daher auch, daß dort ein Tierheim war.

Es war schon später Nachmittag, als er dort anrief.

„Ja, guten Tag Hansen mein Name.“ Stellte er sich dann am Telephon vor. Er hatte auf Lautsprecher gestellt und so konnte ich das ganze Gespräch mit verfolgen.

„Ja, guten Tag. Wie kann ich ihnen helfen?“ antwortete eine Frauenstimme am anderen Ende der Leitung.

„Ich hab eine Frage: Haben Sie Junge Katzen, die sie abgeben würden?“ kam Ulrich gleich auf den Punkt.

„Ja, das haben wir. Die Kätzchen sind etwa vier Monate alt.“ Antwortete die Frau.

„Können wir uns die Kätzchen mal ansehen?“ fragte Ulrich weiter.

„Sicher. Wir machen in einer halben Stunde zu, so lange können sie noch kommen.“ Antwortete die Dame freundlich.

„Das wird ein bisschen knapp, fürchte ich.“ Sagte Ulrich.

„Wo kommen sie denn her?“ erkundigte sich die Frau.

„Aus der Nähe von Limburg.“ Erklärte Ulrich.

„Oh, das ist ja tatsächlich ein bisschen weiter weg. Wie schnell können sie denn hier sein?“ offensichtlich wollte die Dame uns wirklich ein Kätzchen vermitteln.

„In einer dreiviertel Stunde könnte ich das schaffen.“ Sagte Ulrich.

„Gut, ich werde dann noch hier sein.“ Sagte die Frau erfreut.

Ulrich bestätigte die Verabredung, verabschiedete sich und legte dann auf.

Ohne ein Wort sagen zu müssen hüpfte ich beinahe vor Freude zum Auto runter. Ulrich beeilte sich wirklich sehr und holte aus Jogy (so nannte ich das Auto inzwischen) heraus, was der Wagen zu bieten hatte. Leider ließ der Verkehr nicht viel mehr als 210kmh zu. Dennoch schafften wir es in weniger als einer dreiviertel Stunde in Hattersheim beim Tierheim zu sein.

Wie versprochen wartete die Frau vor dem Gebäude.

„Ah, Sie müssen Herr Hansen sein.“ Begrüßte sie zuerst Ulrich.

„Ich muss noch schnell die Hunde versorgen, dann komme ich zu Ihnen. Die Katzen haben etwas Durchfall, daher habe ich sie bei mir zu Hause untergebracht.“ Erklärte sie weiter und wir folgten ihr durch die Räume im Tierheim.

Es wirkte etwas schmutzig, roch nach Kot und Urin. Kein Wunder, wenn die Kleinen da Durchfall bekommen.

Schließlich war sie mit der Versorgung der Hunde fertig und forderte uns auf ihr im Auto zu folgen bis zu ihrer Wohnung.

Ein bisschen seltsam war sie ja schon, dachte ich und Ulrich dachte sicher das Gleiche. Gesagt hat er allerdings nichts.

Am Bestimmungsort angekommen folgten wir der Frau vom Tierheim weiter in ein Mehrparteien Wohnhaus. Sie hatte eine kleine Wohnung im dritten Stock. Wir mussten im Flur unsere Schuhe ausziehen und dann unsere Hände mit Sagrotan waschen und desinfizieren, vorher dürften wir die Katzen nicht anfassen.

In ihrem Wohnzimmer auf den grauen Velourmöbeln räkelten sich zwei große graue Kartäuserkater. Alles wirkte steril, sogar die Katzen.

„Ich habe die kleinen Katzen in einem Extrazimmer, das mit PVC-Boden ausgelegt ist, wegen der Hygiene.“ Erklärte sie und führte uns zu einer Tür im Flur.

Der Raum dahinter war definitiv steril! Die Kätzchen waren ein Wurf bestehend aus fünf Katzen. Zwei schwarze Weibchen und drei getigerte Kater. Sie waren in einem zweistöckigen Käfig eingesperrt, der etwa einen Meter hoch, zwei Meter lang und 60cm tief war. Zwischen den wuselnden und maunzenden Kätzchen saß eine bunte Katze, die schon etwas älter war.

„Das ist Hannah, unser Sorgenkätzchen.“ Erklärte die Frau.

„Sie ist so extrem scheu, daß wir sie nicht vermittelt bekommen. Sie ist auch schon sterilisiert und geimpft.“ Erklärte sie weiter. Es war klar zu erkennen, daß sie uns am liebsten die Hannah vermitteln wollte.

Wir wollten aber eine junge Katze, eine, die man noch erziehen konnte.

Die Frau öffnete jetzt den kleinen Käfig und die Kätzchen kamen sofort heraus und wuselten um uns herum.

Ich wollte keine schwarze Katze wieder haben. Sie hätte mich sicher immer an meine Sissy erinnert…

Ich saß auf dem Boden und hatte eines der Katerchen auf dem Schoß.

Ulrich liebäugelte mit den schwarzen Weibchen.

Einige der Kätzchen hatten einen Knick in der Schwanzspitze. Ich fragte, ob sie sich mal etwas geklemmt hätten.

„Nein.“ Antwortete die Frau. „Das ist vererbt. Wir haben sie schon so bekommen. Sie müssen wissen, jemand hatte den ganzen Fünferwurf in einem Waschmittelkarton mit Klebeband zugeklebt über den Zaun von unserem Tierheim geworfen. Am Wochenende. Erst am Montag haben wir das Packet gefunden.“ Erzählte sie weiter.

Ach die Armen, dachte ich. Wer tut den so etwas Grausames.

„Die Kätzchen haben alle samt Durchfall. Ich gebe ihnen Hüttenkäse, der stopft.“ Hörte ich sie jetzt sagen.

Du meine Güte, wer gibt den Hüttenkäse bei Durchfall? Jeder weiß doch, daß Käse eher das Gegenteil bewirkt, wegen der Laktosebakterien schon.

Ulrich hatte sich ganz offensichtlich schon für eine Katze entschieden. Es war ein schwarzes Weibchen ohne Knick im Schwanz. Dafür konnte sie den Schwanz quer über den Rücken legen und an der Seite einen Kringel machen. Sie war in einem früheren Leben sicher mal ein Eichhörnchen.

Ich fand eigentlich das eine Katerchen furchtbar süß. Er hatte ebenfalls einen geraden Schwanz, legte den aber nicht über den Rücken. Er war etwas heller als seine Brüder und hatte Flecken am Bauch.

Da ich aber unbedingt möglichst Zeitnah eine Katze haben wollte, stimmte ich dann Ulrichs Entschluss für die schwarze Katze zu.

Wir wollten sie gleich mit nehmen.

„Nein, das machen wir grundsätzlich nicht. Wir gucken uns gerne an, wo wir die Tiere unterbringen und behalten uns auch vor, einen Besuch abzustatten um uns davon zu überzeugen, daß es den Tieren wirklich gut geht.“ Erklärte die Frau jetzt.

Nun gut, wir stimmten zu. Was sollten wir da auch anderes sagen.

Wir legten unser Wahl also fest und die Dame vom Tierheim versprach uns, daß am kommenden Morgen jemand kommt und uns die Katze nach Hause bringen würde.

Mit leeren Händen aber dafür mit der Aussicht auf einen Hausgenossen für mich fuhren wir dann nach Hause.

Wir redeten nicht. Jeder war mit seinen Gedanken beschäftig. Außerdem redete Ulrich beim Autofahren sowieso nicht. Das musste ich auf der Autobahn schmerzlich feststellen. Ich redete und erzählte und Ulrich hatte nicht mal ein Brummeln für mich übrig.

Irgendwann mitten auf der Autobahn sprach er dann aber doch.

„Die Katze darf aber mit im Bett schlafen.“ Stellte er fest.

„Gottseindank.“ Rief ich erleichtert.

„Ich hatte schon Angst zu fragen.“

Wir aßen zu Abend und gingen dann bald ins Bett, der Bote mit unserer Katze wollte um neun Uhr in der Frühe bei uns sein.

Am nächsten Morgen saßen wir dann schon sehr früh am Frühstückstisch.

„Du, ich hab mir Gedanken gemacht, letzte Nacht.“ Begann Ulrich dann unerwartet.

„Ich auch.“ Sagte ich.

„Ich bin ja ständig lange auf Arbeit. Noch hast du zwar Ferien, aber ab Ende Oktober bist du auch den ganzen Tag in der Ausbildung.“ Erklärte Ulrich mir nichts Neues.

„Ja, darüber hab ich mir auch Gedanken gemacht.“ Erwiderte ich.

„Es wäre für die Katze sicher besser, wenn sie einen Gefährten hätte.“ Fügte Ulrich dann seiner Erklärung hinzu.

Ich hüpfte innerlich vor Freude.

„Auch das hab ich mir gedacht.“ Sagte ich äußerlich ruhig. Er mochte es nicht, wenn ich mich „kindisch“ benahm.

„Da gibt es nur ein Problem.“ Sagte er dann und sah mich an.

„Welches?“ fragte ich ihn.

„Ich hab mir nur die schwarze Katze angesehen.“ Sagte er.

„Es wäre allerdings passend, wenn wir ein Pärchen nehmen würden, also eine Katze und einen Kater.“ Führte er seine Gedanken weiter aus.

„Auch das hab ich mir so gedacht.“ Sagte ich innerlich grinsend wie die Katze von 'Alice im Wunderland'.

„Allerdings hab ich mir alle Katzen angesehen und ich weiß auch, welchen Kater wir dazu nehmen.“ Erklärte ich ihm.

„Das hast du?“ staunte Ulrich.

„Ja, das hab ich.“ Ich war ganz stolz darauf, daß ich etwas mehr im Auge behalten hatte, als mein unfehlbarer Ulrich.

Wir riefen dann sofort bei der Dame vom Tierheim an und erklärten ihr die Sachlage.

„Den kleinen Kater mit dem geraden Schwanz, er ist heller als seine Brüder und hat dunkle Flecken auf dem Bauch.“ Beschrieb ich der Frau meinen Wunschkater.

„Na, da haben Sie aber gut aufgepasst.“ Staunte diese.

Als alles geklärt war kehrten wir zu unserem Frühstück zurück.

„Wie sollen sie denn heißen?“ fragte Ulrich mich jetzt.

„Hmm, es sollten Namen sein, die zusammen passen. So wie Dick und Doof.“ Antwortete ich.

„Du willst sie aber nicht wirklich Dick und Doof nennen, oder?“ Ulrich sah mich vorwurfsvoll an.

„Nein, nicht wirklich.“ Lachte ich.

Wir versuchten weitere Pärchen-Namen.

Charles und Diana. „Neee, zu menschlich.“ Wehrte Ulrich ab.

Susie und Strolch. „Das sind doch Hunde.“

Pat und Pattachon. „Das kling genauso blöde wie Dick und Doof.“

Cup und Cupper.

Timon und Pumba.

Links und Rechts.

Oben und Unten. „Es sollten schon vernünftige Namen sein!“ wehrte Ulrich alles ab.

„Wie hießen denn die Katzen von Aristocats?“ fragte er dann.

„Duchesse, Marie…“ zählte ich langsam auf.

„Und der Kater?“ fragte Ulrich.

„Ich glaube Thomas O´Melly.“ Versuchte ich mich zu erinnern.

„Nee, auch doof.“ Meinte Ulrich darauf.

„Der König der Löwen hieß Mufassa.“ Schlug ich weiter vor.

„Und sein Sohn Simba.“

Ich musste unwillkürlich daran denken, wie ich mit Marco im Kino war, im König der Löwen. Wie ich geweint hab, fast den halben Film lang, weil mir das so nahe ging. Marco war so hilflos und doch so lieb…

„Wie wäre es mit Bernhard und Bianca.“ Schlug Ulrich dann vor und zerstreute meine Erinnerung.

„Bianca ist ok, aber Bernhard für eine Katze? Ich bitte dich. So würde ich nicht mal mein Kind nennen.“ Wehrte ich jetzt ab.

Wir haben noch lange überlegt.

Der Gedanke mit „Susie und Strolch“ klang immer besser und schließlich waren wir uns dann einig, die Katze würde Susie, der Kater Strolch heißen.

Wie auf Kommando klingelte es dann an der Tür, der Katzenbote war endlich da.

Freudig ließen wir ihn in die Wohnung. Er hatte einen Katzenkorb mit zwei offensichtlich sehr aufgeregten kleinen Tieren dabei. Der Bote stellte den Korb auf den Boden und öffnete ihn.

„Lassen wir die Zwei mal von sich aus herauskommen.“ Sagte er dann und nahm die Einladung sich zu setzen gerne an.

Die beiden Katzen waren jetzt offensichtlich etwas überfordert mit der offenen Tür in die neue Welt. Jedenfalls traute sich keiner von beiden heraus.

„Die werden schon rauskommen. In der Zwischenzeit können wir das Schriftliche erledigen." sagte der Bote.

Er holte eine Mappe mit Papieren hervor zu dem auch zwei Katzenpässe gehörten.

„Sie sind noch nicht geimpft, weil sie noch Durchfall haben.“ Erklärte er dann.

Ich nahm die zwei Pässe und las die Namen, die vorne drauf standen.

Luna und Mars. So kann man doch seine Katzen nicht nennen!

„Sie können sie natürlich umbenennen.“ Sagte er dann, als hätte er meine Gedanken gelesen.

„Das werden wir auch, wir haben uns gerade für zwei Namen entschieden.“ Erwiderte ich freudig.

„Wie sollen sie denn heißen?“ erkundigte sich der junge Mann mit ehrlichem Interesse.

„Susie und Strolch.“ Sagten Ulrich und ich wie aus einem Mund.

„Das ist mal was Neues.“ Sagte der Mann.

„Es wird noch eine Schutzgebühr erhoben, auch als Spende an das Tierheim. Das wären dann vierzig Mark pro Katze, zusammen also achzig Mark.“ Führte er dann noch an.

Ulrich verzog das Gesicht, hohlte dann aber sein Protemonnaie.

„Wer soll unterschreiben?“ fragte der Bote schließlich.

„Sie.“ Wies Ulrich ihn knapp an, mir die Urkunden zu geben, damit ich meinen Namen darunter setzen konnte.

„Die Katzen müssen auf jeden Fall kastriert und sterilisiert werden, damit nicht mit ihnen gezüchtet wird. Wir behalten uns vor das zu überprüfen.“ Ergänzte der junge Mann die Formalitäten.

Wir nickten nur.

„Gut, dann wünsche ich ihnen viel Freude mit den beiden. Wo sind sie denn inzwischen?“ er guckte sich im Wohnzimmer um.

„Dort.“ Sagte ich und zeigte auf den Katzenkorb, den er mitgebracht hatte.

„Was denn, die sind immer noch da drin?“ rief er erstaunt.

„Na, das nützt ja nichts. Ich muss weiter. Also müssen wir die zwei wohl doch herausnehmen.“

Ulrich und ich griffen nacheinander in den Korb und holten vorsichtig je eine der beiden Katzen raus.

Der Bote verabschiedete sich kurz und machte sich gleich wieder auf den Weg.

Die Katzenbabys waren scheu und aufgeregt zugleich und wollten auf keinen Fall in unseren Armen bleiben. Wir setzten sie auf den Teppich von wo aus sie sich sofort hinter das Sofa machten.

Sie waren wirklich sehr ängstlich. Der Kater mehr als die Katze.

Wir sprachen ruhig und freundlich mit ihnen, riefen sie immer wieder bei ihren neuen Namen, daß sie sich daran gewöhnen konnten. Susie duckte sich aber immer hinter den Möbeln und Strolch hing an ihr wie ein Schatten um sich hinter seiner Schwester zu verstecken.

Die zwei waren wirklich klein. Und irgendwie sahen sie strubbelig aus. Die Nickhäute, so eine Art zusätzliches Paar Augenlieder bei einer Katze, waren deutlich zu erkennen, ein Zeichen dafür, daß sie wirklich krank waren.

Wir ließen sie dann ganz in Ruhe und widmeten uns der Dinge, die wir sonst den Tag über machten.

Wenn es nach Ulrich ging musste immer irgendetwas gewaschen, aufgeräumt, gewischt oder geordnet werden. Ich konnte ihn allerdings leicht davon überzeugen, daß heute nicht gestaubsaugt werden müsste. Das hätte die Zwei total erschreckt und am Ende hätten wir dann noch ein hübsches Muster in der total modischen Farbe „Katzenkot“ auf dem Teppich.

Wir beschlossen dann gemeinsam, daß wir keine großartigen vielleicht auch noch geräuschvollen Tätigkeiten ausüben wollten und schalteten den Fernseher ein. Wir überließen die Katzen sich selbst und beobachteten aus dem Hintergrund, was die beiden machten.

Nach etwa einer Stunden hörten wir dann eifriges Scharren aus dem Bad, einer der Beiden hatte offensichtlich das Katzenklo gefunden.

„Wir sollten bald zum Tierarzt mit ihnen, wegen dem Durchfall.“ Sagte Ulrich dann.

„Ja, das sollten wir. Wir müssen dann auch eine Transprotbox besorgen.“ Fügte ich hinzu.

„Richtig. Ich weiß auch schon, was für eine Box es sein soll.“ erklärte Ulrich

Spät am Abend hörten wir dann ein einvernehmliches Schmatzen aus der Küche. Wir hatten allem Anschein nach auch das richtige Futter ausgesucht.

Die beiden waren jetzt zu Hause.

Und ich nicht mehr ganz allein.

Kapitel XVIII
 

Die nächsten Tage hatte Ulrich Spätschicht. Das bedeutete, daß er gegen 13 Uhr das Haus verließ um dann zwischen 23 und 24 Uhr in der Nacht wieder nach Hause kommen würde. Das war gleichbedeutend damit, daß vorher am Vormittag nichts Größeres unternommen wurde, was eventuell Zeit in Anspruch nahm, die Ulrich nicht hatte.

Also verschoben wir die Sache mit dem Tierarzt auf die freien Tage, die er bald haben würde.

Der Vorteil an der Schichtarbeit auf einem Flughafen war der, daß freie Tage mitten in die Woche fallen konnten. Gleichzeitig war der Nachteil aber, daß Arbeitstage auf das Wochenende und die Feiertage fielen.

Nun, für mich kein Problem. Mein Vater ist Seefahrer und demnach noch sehr viel seltener zu Hause als mein Mann.

In sofern war ich also noch gut dran, besser als meine Mum mit ihrem Mann.

Ulrich wollte mir meine Einstellung zu seiner Arbeitszeit nicht so recht glauben. Genauso wenig wie er mir glaubte, daß ich seine Haare auf dem Rücken nicht abstoßend fand. Oder daß er schon eine sehr große Platte auf dem Kopf hatte. Außerdem schielte er mit einem Auge nach außen. Das verstärkte sich noch wenn er aufgebracht war. Er hatte als Kind stark nach innen geschielt, mit eben jenem Auge, daß jetzt nach Außen schielte. Er ließ das vor einigen Jahren in Gießen an der Augenklinik operieren. Da hat man ihm aber lediglich den Muskel durchtrennt und nach einiger Zeit schielte er dann nach außen.

Aber auch damit könnte ich leben, da war ich mir sicher. Nur Ulrich hatte große Probleme damit. Regelrechte Komplexe die er auf mich abwälzte in dem er mir immer wieder vorwarf, ich würde mich ja doch vor ihm ekeln.

Von seinen Potenzproblemen mal ganz abgesehen.

Es kam noch mal vor, daß ich keine Lust auf Sex hatte und ich erdreistete mich auch noch, ihm das zu sagen.

Wieder ließ er mich fallen.

Drehte sich von mir weg.

Tagelang.

Als er dann die nächsten Male ankam, ließ ich ihn gewähren. Allerdings bin ich keine gute Schauspielerin.

Ich kann nicht mit jemandem Schlafen, wenn ich nicht darauf eingestellt bin. Wenn ich dem Partner gegenüber in dieser sehr intimen Angelegenheit kein Vertrauen entgegen bringen konnte.

Wenn ich eigentlich nur in die Arme genommen werden wollte.

Die Tatsache daß ich wusste, er würde mich wieder fallen lassen, wenn ich ablehnte, machte das nicht besser.

Eher im Gegenteil.

Ich ließ ihn dann wie gesagt gewähren, lag still da und hoffte, daß er nicht zu lange brauchen würde.

Als er fertig war, konnte ich die schlechte Laune geradezu schmecken.

„Du liegst da wie ein Brett!“ motzte er mich an.

„Du machst überhaupt nicht mit!“ klagte er weiter.

„Du willst ja bloß wieder zu deinem Exfreund zurück!“ warf er mir weiter vor.

„Das stimmt doch gar nicht!“ weinte ich hilflos.

„Sonst hätte ich doch nicht DICH geheiratet, oder?“

„Wer weiß?“ keifte er jetzt laut.

„Du benutzt mich nur als Sprungbrett! Deine Mutter hatte mich gewarnt, daß ich aufpassen sollte, daß du dir hier nicht gleich einen neuen Stecher suchst!“

Ich war zu tiefst verletzt und weinte.

Meine Mum hatte mit Sicherheit nicht so etwas gesagt oder auch nur angedeutet. Da war ich mir sicher.

Was sollte ich dazu sagen? Ich konnte nichts dazu sagen, er würde es doch nicht glauben und alles verdrehen.

Ich durfte ja währenddessen nicht mal bemerken, wenn etwas für mich unangenehm war, was er mit mir machte. Dann kritisierte ich ihn nur, meinte er.

Also ließ ich auch das mit mir geschehen und biß die Zähne zusammen.
 

Die Anwesenheit der Katzen tröstete mich etwas. Sie waren noch immer sehr scheu und huschten vom Sofa, wenn ich mich darauf setzen wollte.

Aber sie lenkten mich von meinen dunklen Gedanken ab. Ich musste mich um sie kümmern und für sie da sein. Ihnen begreiflich machen, daß sie bei mir nichts zu befürchten hatten.

Inzwischen waren wir auch mit den Beiden beim Tierarzt. Der hatte sie untersucht und eine Darminfektion festgestellt, die bei Tierbabys nichts Seltenes war. Der Tierarzt war ehrlich erschrocken als ich ihm auf die Frage, wie die Katzen bisher behandelt worden waren antwortete, daß die Dame sie mit Hüttenkäse gefüttert hätte. Er gab mir dann einen Beutel mit einem braunen Pulver mit, wovon ich ihnen immer einen Teelöffel voll in das Nassfutter mischen sollte.

Nun bekamen die Katzen in Ulrichs Familie und dementsprechend auch bei ihm aber kein Nassfutter. Das sei nicht gut für die Kater und davon wären schon einige der Katzen in seiner Familie krank geworden.

Der Arzt verzog die Augenbrauen, beließ es aber dabei.

„Dann müssen sie das Pulver mit etwas Katzenmilch anrühren und den Beiden irgendwie einflößen.“ Riet er mir dann.

Das tat ich auch und die Beiden nahmen die Medizin brav vom Teelöffel. Es dauerte nicht lange und sie waren wieder gesund, die Nickhaut war nicht mehr zu sehen.
 

Ich war noch nie eine gute Hausfrau. Eigentlich sogar eher das totale Gegenteil.

In meinem neuen zu Hause wollte ich das ändern.

Wäsche waschen durfte ich nicht, weil die Waschmaschine zu kompliziert sei. Aber ich durfte sie aufhängen und zusammen legen, wenn sie trocken war.

Das machte ich auch einige Male.

Stolz präsentierte ich dann die Wäsche wenn mein Mann von der Arbeit nach Hause kam.

Dieser sah sich das Ergebnis missmutig an und hatte an Allem etwas auszusetzen.

Er rupfte die gerade aufgehängte Wäsche wieder vom Wäscheständer und hängte alles neu auf.

"Weißt du denn nicht mal wie man Wäsche richtig aufhängt?" motzte er mich an.

Er zog dabei diese Fratze, Hass, Missgunst und Abneigung waren darin geschrieben...

Dann war der Wäschekorb mit den zusammengelegten Sachen dran.

„Das hier sind Arbeits-T-Shirts!“ erklärte er mir schroff.

„Das erkennst du an dem V-Ausschnitt. Die müssen zuerst gebügelt werden. Das hier“, er nahm ein weiteres zusammengelegtes T-Shirt wieder auseinander „ ist ein Freizeit-T-Shirt. Das erkennst du an dem runden Ausschnitt. Das muss ebenfalls gebügelt werden aber anders zusammengelegt, weil es sonst nicht in den Schrank passt, wie ich es einsortiert habe. Diese hier,“ er hielt jetzt eine seiner Unterhosen hoch „ darf auf keinen Fall auf links gedreht sein, muss gebügelt sein und wird so zusammen gelegt.“ Er legte die Unterhose auf die Rücklehne des Sofas und schlug zuerst die linke, dann die rechte Seite zusammen und schließlich den Schritt nach oben.

„Die Socken werden nicht zusammen gerollt.“ Er nahm jetzt eines von den Sockenpaaren auseinander, daß ich zu einem Ball zusammengerollt hatte.

„Außerdem musst du darauf achten, daß sie ebenfalls nicht auf Links gedreht sind.“ Er dreht die eine Socke auf Rechts, legte beide Socken aufeinander, faltete sie einmal in der Mitte um und zog sie dann zu einer Wurst zusammen.

„Die Hemden werden alle Gebügelt und kommen dann auf einen Kleiderbügel, der oberste Knopf zugeknöpft.“ Erklärte er weiter und legte jetzt die von mir sorgfältig zusammen gelegten Hemden wieder auseinander und stapelte sie auf der Sofalehne.

„Die Geschirrtücher musst du so zusammen legen.“ Er nahm eines der Geschirrtücher, legte es über die Hemden auf der Sofalehne und schlug erst das eine Drittel, dann das andere Drittel zusammen, ähnlich wie man einen Brief faltet, der in einen Umschlag mit Sichtfenster kommt. Dann legte er das Handtuch in der anderen Richtung genauso zusammen, so daß ein kleines sehr ordentliches Rechteck entstand.

„Das mit den Badehandtüchern ist ähnlich.“ Erklärte er weiter und nahm jetzt eines der Frottierhandtücher.

„Nur daß du sie wenn du so gefaltet hast“ er schlug die eine, dann die andere Seite im drittel zusammen, wie zuvor bei dem Küchenhandtuch, „danach in der Mitte zusammen legst."

Auf diese Weise nahm er sämtliche Wäsche, die ich zusammen gelegt hatte wieder heraus und legte alles neu zusammen.

Er war ziemlich aggressiv dabei...

Als er damit fertig war holte er mit seinem Miese-Laune-Gesicht das Bügelbrett und das Bügeleisen hervor und machte sich daran die Hemden, die T-Shirts und die Unterhosen zu bügeln, auf die Kleiderbügel zu hängen und zusammen zu legen. Auch die T-Shirts hatten auf eine ganz bestimmte Art zusammen gelegt zu werden.

Als er damit fertig war musste ich ihm ins Schlafzimmer folgen und er erklärte mir genau, wo und wie ich die Sachen einzuräumen hatte.

Ich war komplett entmutigt und deprimiert. Stadt sich zu freuen, daß ich mich überhaupt im Haushalten versuche, erntete ich nur Schelte und Zurechtweisungen.
 

Ein anderes Mal hatte ich die Küche sauber gemacht. Nicht einfach nur aufgeräumt. Ich hatte auch gefegt, nass gewischt, trocken gewischt, die Griffe und Fronten der Schränke geputzt, die Lichtschalter und Steckdosen, die Fensterbank, das Spülbecken, ja, ich hatte sogar die Speisekammer und den Schrank unter der Spüle mit den Reinigunssachen aufgeräumt und geordnet. Die Küche blitzte wie neu.

Dann hatte ich Durst auf einen Schluck kalte Milch. Das war kein Problem, wir hatten ja immer welche da. Also nahm ich eine neue Packung aus dem Kühlschrank, die letzte war bereits leer, schnitt die Ecke der Packung ab, nahm mir ein Glas (ich durfte ja nicht mehr aus der Tüte trinken) und stellte die Milch wieder in den Kühlschrank.

Als Ulrich dann am Nachmittag nach Hause kam hatte ich das Essen noch nicht angefangen, weil ich ihm zeigen wollte, daß ich die Küche durchaus aufräumen konnte.

Er ging hinein und rastete beinahe aus.

„Was ist denn das hier?“ schrie er aus der Küche und sein Ton ließ keinen Zweifel daran, daß ich auf der Stelle zu erscheinen hatte.

„Was denn?“ fragte ich eingeschüchtert und verständnislos.

„Das hier! Warst du nicht in der Lage, das wegzuräumen?“ aufgebracht hielt er mir den Grund für seinen Zorn entgegen – die Ecke von der Milchtüte, die ich abgeschnitten, aber nicht gleich weggeworfen hatte.

„Ich…“ fing ich hilflos eine Erklärung an, ließ es dann aber sein. Ich hatte keine Chance.

Dann zog er zornig mit den Fingern über das Ceranfeld des Herdes.

„Wie man einen Herd anständig sauber macht, muss ich dir wohl auch noch beibringen!“ fauchte er, nachdem er einige Streifen hinterlassen hatte.

„Das ist ja alles Fettig!“ schnautzte er mich an.

„Aber, ich hab doch mit Seifenwasser gewischt und mit dem Ceranreiniger nach gearbeitet, da ist bestimmt kein Fett mehr drauf.“ Versuchte ich mich zu verteidigen.

„Dann erkläre mir, was das für Streifen sind.“ Motzte er.

Ich ließ es bleiben.

Vermutlich hatte ich die Seife nicht richtig abgeputzt, daher die Streifen.

Für ihn war es Fett.

Für ihn war die Küche damit ein einziger Saustall.

Für ihn war ich absolut unfähig.
 

Der Sommer war fast vorüber, die Tage waren nicht mehr so heiß. Wir hatten Anfang Oktober, bald würde meine Schule beginnen.

Ich freute mich darauf, endlich würde ich mal rauskommen und andere Leute sehen.

Meine Katzen hatten sich inzwischen auch an uns gewöhnt, sie lagen jetzt immerhin mit mir zusammen auf einer Decke. Susie nuckelte mit wachsender Begeisterung am Ohr von Strolch und dieser lag bei seiner Schwester am Bauch und nuckelte an ihrem Fell. Sie waren auch ein gutes Stück gewachsen. Als wir sie bekamen wogen sie gerade mal 1,1 Kilo, jeder. Jetzt hatten sie schon stolze zweieinhalb Kilo. Sie schliefen jetzt auch bei uns im Bett, was sie sich anfangs nicht getraut hatten. Es stellte sich bald heraus, daß Susie auf Ulrich, Strolch auf mich fixiert war.

Sie waren sehr lieb und machten überhaupt keinen Ärger. Ich brachte ihnen von Anfang an bei, daß das Essen von Herrchen und Frauchen absolut nichts für Katzen war. Das war ganz einfach. Ich hab sie alles probieren lassen, was sie wollten. Allerdings hatte ich es zuvor gründlich versalzen. So roch es noch gut, aber schmeckte wie Knüppel auf´n Kopp.

Bäh! Das könnt ihr alleine essen! Schienen sie zu denken.

Beide hatten sie inzwischen Wackelzähne. Ja, auch Katzen haben ein Milchgebiss und auch Katzen ersetzen dessen Verlust durch ein zweites, dauerhaftes Gebiss.

Ich wollte die Eckzähne unbedingt haben.

Jeden Morgen mussten meine Beiden sich erstmal den Schnabel aufreißen lassen und ich begutachtete die wackelnden Zähne. War einer ausgefallen, suchte ich den Fußboden ab.

Ich hatte Glück.

Insgesamt fand ich auf diese Weise vier der Eckzähne.

Außerdem waren sie jetzt alt genug für die Kastration.

Also machten wir einen Termin.

Ulrich hatte eine Transportbox aus Kunststoff gekauft wo man den Deckel aufmachte. Sie wurden von oben reingesetzt und konnten auch oben wieder heraus.

Beim Tierarzt im Wartezimmer machten wir den Deckel immer auf, damit sie sich nicht eingesperrt fühlten.

Neugierig und zitternd lugten sie dann beide über den Rand der Box und beobachteten, was im Wartezimmer vorging. Sie machten aber nicht die Anstalt, aus dem Korb zu springen. Wir konnten uns sogar von dem Korb entfernen, die zwei blieben brav sitzen. Dir übrigen Herrchen und Frauchen, die das sahen, wahren immer ganz erstaunt.

Und ich stolz wie Oskar auf meine gut erzogenen Miezen.

Sie hatten auch beide keine Angst vor dem Tierarzt oder den Sprechstundenhilfen.

Das sollte sich mit dem Termin für die Kastration ändern.

Sie bekamen die Narkose noch in unserem Beisein, dann wurden sie in den OP gebracht.

Nach zwei Stunden durften wir die Zwei wieder abholen.

Sie waren verschreckt und überglücklich, als sie uns sahen. Bei beiden waren die OPs ohne Zwischenfall oder Komplikation verlaufen.

Von da an hatten sie aber Angst vor weißen Kitteln.

Susie hatte eine Bauchbinde. Diese sollte mindestens Zwei Wochen drum bleiben, damit ihr Bauch nicht ausleiert.

Sie behielt den Verband auch drum.

Aber sie gab sich alle Mühe so erbärmlich wie möglich mit dem Verband zu wirken. Sie konnte ihre Hinterbeine nicht mehr benutzen.

Wir wussten, daß alles in Ordnung war. Immerhin stand und lief sie ja auch mit allen vier Pfoten gleich gut.

Allerdings kam sie nicht mehr auf das Sofa gesprungen. Sie versuchte sich mit den Vorderpfoten hoch zu ziehen und dabei so hilflos und gequält wie möglich auszusehen.

Wurde ihr dann auf das Sofa geholfen, wollte sie nicht lange oben bleiben. Sie rutschte dann mit den Vorderpfoten soweit runter, bis sie auf dem Teppich ankam und ließ ihr Hinterteil einfach fallen. Dann zog sie ihre Beine ein paar Schritte hinter sich her, setzte sich dann hin und sah Herrchen flehentlich an.

Dieser hatte bald Mitleid und nahm ihr den Verband ab. Sofort war diese Katze nahezu geheilt.

Der Kater hatte allerdings ganz andere Probleme.

Er hatte zwar keinen Verband, aber den Verlust seiner Männlichkeit zu beklagen. Sobald er sich genug von den Nachwirkungen der Narkose erholt hatte, stellte er seiner Schwester nach. Er wollte sie bespringen und beweisen, daß er auch ohne seine Nüsse noch ein Vollwertiger Kater war.

Das war für die Susie mit dem Bauchschnitt natürlich nicht machbar.

Wir mussten sie die nächsten zwei Tage trennen. Damit keiner alleine eingesperrt war schlief ich mit meinem Kater im Wohnzimmer.

Ehrlich gesagt war mir das sogar sehr Recht und ich bedauerte ehrlich, als die beiden Katzen sich wieder eingekriegt hatten.

Die Sache mit gewissen ehelichen Pflichten wurde für mich immer schwieriger. Ich hatte sogar schon Angst, wenn es auf die abendliche Bettzeit zu ging. Ich hatte Angst, er würde sein Recht wieder einfordern wollen.

Auch mit dem Haushalt kam ich auf keinen grünen Zweig.

Ich saugte falsch, ich hängte die nasse Wäsche falsch auf. Er nahm dann immer alles wieder ab und hängte es neu auf. Immer diese hässliche Fratze im Gesicht.

Ich fegte falsch, ich wischte falsch, ich machte einfach alles falsch.

Oft lag ich zusammengekauert neben dem Bett auf dem Boden, wenn er sich wieder an mir verging und mich danach anmotzte, ich würde nicht mitmachen und ich würde ja nur zu meinem Exfreund zurück wollen.

Ich fühlte mich wertlos. So wertlos, daß ich nicht mal mehr ein Anrecht darauf hatte, im gleichen Bett wie Ulrich schlafen zu dürfen.

Ich weiß nicht, ob er es mitbekommen hatte.

Es war mir auch egal.

Aber er ließ mich ganz deutlich wissen, daß ich ihn wieder verletzt hatte.

Er schluckte dann immer so, als würde er gleich losheulen.

Was er natürlich nicht tat.

Weinend lag ich auf dem Boden neben dem Bett und rollte mich so klein zusammen, wie ich konnte...
 

Etwa eine Woche vor Semesterbegin sollte eine Willkommensfeier für die Neuzugänge an der Fresenius Akademie stattfinden.

Dabei traf ich das erste Mal mit meinen zukünftigen Kommilitonen zusammen. Ab jetzt hieß es nicht mehr „Klassenkameraden“ oder „Wir schreiben eine Arbeit“. Ich war jetzt auf einer Akademie und dort waren wir alle „Kommilitonen“ und schrieben „Klausuren“.

In meinem Semester hatten wir genau zwei Jungs.

Der eine war Christoph. Er war einige Jahre jünger als ich, ein schlacksiges dünnes Kerlchen mit blonden Haaren, die wie Stroh von seinem Kopf abstanden. Dazu trug er eine Brille, gelinde gesagt mit Flaschenböden als Gläser. Auch sonst machte er eher einen tumpigen Eindruck. Sicher nicht unintelligent, aber sehr unbeholfen.

Er wohnte in Mensfelden. Das lag zwischen Kirberg und Limburg. Er bot mir an mich mit zur Akademie und auch wieder mit nach Hause zu nehmen. Er hatte ein eigenes Auto und er würde keine Leistung dafür erwarten.

Aufgrund der Tatsache, daß Christoph mich kostenlos mitnehmen würde und auch, weil er der einzige war, der in meiner Nähe wohnte und mich mitnehmen konnte, willigte Ulrich in die Abmachung ein, wenn auch widerwillig.

So ergab es sich dann, daß ich jeden Morgen mit Christoph nach Idstein fuhr und auch mittags oder nachmittags, je nachdem, wie unser Stundenplan war, wieder nach Hause.

Er war nett, aber alles andere als attraktiv. Weit entfernt von den Jungs oder Männern, an denen ich Interesse haben könnte. Außerdem war ich jetzt verheiratet und würde treu sein bis auf den Tod! Ich könnte mir sicher nicht mehr im Spiegel in die Augen gucken, wenn ich ernsthaft auch nur den Gedanken daran verschwenden würde, fremd zu gehen.

Christoph fuhr einen kleinen blauen Ford. Ein älteres Modell mit einigen Mängeln. Allerdings war der größte Mangel, daß sein Auto nach Schweinestall stank! Er wohnte auf einem Bauernhof, einem, der noch intakt und aktiv war. Außerdem hatte er einen grauenhaften Fahrstil. Er fuhr immer so weit rechts, daß ich so manches Mal innerlich den Seitenspiegel einzog, sonst hätte er die Barke erwischt.

Dennoch schaffte er es immer heil von A nach B zu kommen.

Ulrich war ernsthaft eifersüchtig auf Christoph und ließ mich das immer wieder spüren.

„Aber der ist überhaupt nicht mein Typ!“ versuchte ich Ulrich zu beschwichtigen.

„Christoph ist total schlacksig und viel zu tumpig.“ Führte ich weiter aus.

„Dumm bumst gut!“ war Ulrichs schroffer Kommentar dazu.

Einmal wollte Ulrich mich überraschen und mich ohne vorherige Verabredung von der Akademie abholen.

Ich saß wie immer in der kleinen Mensa und wartete auf Christoph, der im Labor immer länger brauchte als ich. Er machte alles übersorgfältig.

Ich saß am Stammtisch mit einigen Jungs aus der Physik und Chemie zusammen und rauchte. Wir amüsierten uns gerade königlich über eine Erzählung von einem der Jungs als mich ein anderer darauf hinwies, daß da wohl jemand für mich da währe. Ich saß mit dem Rücken zum Eingang und hatte nicht gesehen, daß Ulrich da stand.

Ich drehte mich um und freute mich ehrlich ihn unerwartet hier zu sehen und begrüßte ihn.

Ulrich blieb steif stehen.

Er zog wieder sein hässlichstes Gesicht.

Offensichtlich hatte ich ihn schon wieder verletzt.

„Was ist?“ fragte ich schuldbewusst, obwohl ich mir keines Vergehens bewusst war.

„Weißt du eigentlich, wie lange ich hier schon stehe?“ motzte er mich wütend an.

„Nein, ich habe doch hinten keine Augen im Kopf.“ Versuchte ich mich zu verteidigen.

„Du hättest mich ruhig begrüßen können!“ schnautze er noch lauter.

„Aber ich hab doch gar nicht bemerkt, daß du gekommen warst.“ Jammerte ich kleinlaut.

„Natürlich nicht!“ fuhr er mich wütend an.

„Du musstest ja auch mit den fremden Männern herumscharwenzeln!“ schalt er mich aus, laut und deutlich für alle vernehmbar.

Ich weinte.

Er nahm mich am Arm und zog mich aus der Mensa heraus.

„Ich muss noch Christoph Bescheid sagen.“ Flüsterte ich weinend.

„Der weiß schon bescheid.“ Schnautzte Ulrich weiter.

„Was glaubst du von wem ich weiß, daß du in der Mensa bei den Männern sitzt und dich amüsierst, statt in der Klasse auf mich zu warten!“ fuhr er mich weiter streng an.

„Aber ich wusste doch nicht, daß du kommst.“ Jammerte ich hilflos.

„Und da hast du es für eine gute Idee gehalten dich mit den Männern zusammen zu tun! Soviel zu deiner Treue!“

Ich war am Boden zerstört. Getreten wie ein Hund. Ich hatte doch nichts angestellt? Ich hatte nicht mal geflirtet? Warum wirft er mir jetzt Untreue vor?

„Deine Mutter hatte Recht!“ pflaumte er jetzt weiter.

„Ich muss besser darauf aufpassen, daß du keine Dummheiten machst!“

Ich durfte weiterhin mit Christoph zur Akademie fahren und auch wieder nach Hause. Immerhin wollte Christoph kein Geld dafür. Allerdings traute ich mich lange, sehr lange nicht mehr in die Mensa zu gehen. Zum Rauchen ging ich dann raus und stellte mich so abseits wie ich konnte. Wenn ich nicht rauchte, dann hielt ich mich im Klassenraum auf. Ich wusste jetzt, daß Ulrich jeder Zeit auftauchen könnte, um mein Verhalten zu kontrollieren.

Kapitel XIX
 

Der Sommer war schon lange vorbei und auch das gewaltige Farbenspiel des Herbstes ging langsam aber sicher in ein einheitliches schmutzig Braun und Grau über. Die Bäume verloren fast alle gleichzeitig ihre Blätter und es war ein phaszinierendes Schauspiel, wenn man durch die Zahlreichen Wälder im Taunus fuhr. Es sah wunderschön und märchenhaft aus, wie die Blätter in großen Mengen herab schneiten. Leider dauerte diese Zeit nur kurz an, kaum eine Woche und die Wälder waren allesamt nackt. Der November war kalt und verregnet und verwandelte die am Boden liegenden Blätter in eine gefährliche Rutschbahn. Nebel zog auf und verfing sich in den Wäldern und blieb dort hartnäckig über den Tag hängen. Die Tage waren deutlich kürzer geworden und die ganze Welt wirkte grau, schmuddelig und trostlos.
 

Ulrich hatte zwei Woche Urlaub genommen. Das heißt, eigentlich waren es sechs Arbeitstage. Diese lagen aber so günstig im Schichtplan verteilte, daß er insgesamt 13 Tage frei hatte. Dazu kam noch, daß es Nachtschicht und Spätschicht war. Man sollte meinen, daß das für gute Laune sorgen würde.

Bei Ulrich weit gefehlt.

Das Leben ist eine ernste Angelegenheit und man muss immer und überall einen nüchternen Verstand bewahren.

Es gab keine Themen, über die ich mich mit ihm unterhalten konnte. Wenn ich etwas erzählte, dann hatte ich immer den Eindruck, er hörte mir nicht zu. Oft kam zwischendurch ein Kommentar oder eine Frage, die absolut nichts mit meiner Erzählung zu tun hatten.

Über seine Arbeit erzählte er so gut wie nichts. Wenn doch mal, dann warf er mit den Fachbegriffen nur so um sich.

Schnell hatte ich mir abgewöhnt nachzufragen, wenn ich etwas nicht verstanden hatte.

Er merkte es nicht.

Mir war das nur Recht.
 

Wir waren mal wieder zum Einkaufen gefahren, nach Limburg. Zuerst erledigten wir die Einkäufe für Küche uns Speisekammer. Ich begann neue Sachen auszuprobieren, was unseren Speiseplan betraf. Es gab so viel interessantes Gemüse. Im Besonderen kamen wir auf den Geschmack was den Kürbis betraf. Er schmeckte nicht schlecht und man konnte viel damit machen. Sehr zu meinem eigenen Erstaunen gelangen mir die meisten Rezepte. Auch Ulrich schien dieser Meinung zu sein. Jedenfalls scheute er sich nicht immer wieder neues Gemüse auf blauen Dunst zu kaufen damit ich mich daran versuchen konnte.

Ich probierten Auberginen, Fenchelknollen, den klassischen Halloween-Kürbis, Mangold und vieles Mehr. Auch mit dem Obst experimentierte ich.

Nach dem Einkaufen wollte Ulrich dann unbedingt in den Media-Markt. Wir guckten nach günstigen Filmen auf DVD und Musik auf CD. Beim Herumstöbern im Geschäft fand ich dann auch die Playstation. Es gab ein Spiel, Rayman, das ich noch von meinem Bruder seinem Amiga kannte. Es Demoversion, aber das Spiel gefiel mir sehr gut.

Ulrich zeigte sich sehr gönnerhaft und kaufte die Playstation und das Spiel. Ich freute mich riesig.

Außerdem nahm er noch eine weitere Spiele-CD mit für die Station. Rainbow Island und Bubble-Bobble waren darauf, beide Spiele kannte ich ebenfalls. Und er kaufte sogar noch einen zweiten Kontroller, das wir mal zusammen spielen könnten.

Zu Hause angekommen wurde natürlich zuerst der Einkauf weggepackt.

Als das erledigt war konnte ich es kaum abwarten, bis wir endlich die Konsole aufgestellt hatten. Um Ulrich auf den Geschmack zu bringen ließ ich ihn zuerst die CD mit Bubble Bobble einlegen. Er begriff schnell, wie das Spiel funktionierte und daß man mit echtem Teamwork vorgehen musste.

Allerdings bedeutete Begreifen und Geschick bei Ulrich keineswegs das Gleiche. Schon nach wenigen Level gab er auf und verzog sich frustriert in die Küche um irgendetwas auf zu räumen.

Es gelang mir das aufkeimende Unbehagen in meinem Magen mit der Freude über diese wunderbare Ablenkung zu übertünchen. Ich legte Rayman ein und legte los.

Ulrich klapperte in der Küche mit Geschirr. Ich war mir sicher, daß eben noch alles aufgeräumt war. Keine Ahnung wie er es dann fertig brachte in der Küche zu stehen und abzuwaschen. Eine Mischung aus Neugier und der Angst, eine Hausarbeit offensichtlich übersehen zu haben, ging ich in die Küche um nachzusehen. Er zog wieder das Gesicht, daß mir mitteilte: Eigentlich ist das hier ja wohl ganz klar deine Aufgabe! Aber du bist ja mal wieder zu faul dazu und ich armer schwer arbeitender Mann, der dich gerade so großzügig beschenkt hat, muss das wieder selber machen!

„Was wäscht du da denn ab? Ich dachte, das war alles schon erledig?“ fragte ich vorsichtig aber schuldbewusst.

„Die Übertöpfe von den Pflanzen sind fettig!“ brummelte er motzend in seinen nicht vorhandenen Bart.

Ich fiel beinahe vom Glauben ab. Das durfte doch jetzt wirklich nicht wahr sein.

Als er mit den Übertöpfen fertig war begann er die Zeitungen oben auf den Schränken ab zu sammeln und machte sich daran die Schränke oben auf mit Seifenwasser gründlich zu schrubben.

„Alles fettig!“ motzte er immer wieder vor sich hin.

Ich fühlte mich hilflos. Schuldig. Und ich hatte keinen Plan was ich tun könnte, um mich besser zu fühlen.

Auf jeden Fall machte ich die Konsole aus und räumte alles weg.

Als Ulrich das mit bekam verzog er seine Fratze noch mehr.

„Ich dachte du freust dich über mein Geschenk!“ maulte er jetzt und legte so viel Enttäuschung und Verletztheit in den Satz wie er konnte.

Jetzt fühlte ich mich noch elender. Was machte ich denn nur falsch, um Himmels Willen? Ich wusste es nicht. Irgendwie war alles falsch.

Ulrich ging zurück in die Küche und nahm jetzt die Speisekammer auseinander.

Ich saß wie gelähmt auf dem Boden. Vor mir lag der Kontroller, den ich noch nicht weggeräumt hatte. In meinem Kopf kreisten die Fragen und gerieten immer wieder aneinander.

Sollte ich jetzt fertig wegpacken? Oder fühlt er sich dann bestätigt in seinem Vorwurf an mich? Sollte ich alles wieder rausholen und weiterspielen? Oder fühlt er sich dann in dem Vorwurf, ich sei eine faule Sau bestätigt? Packe ich jetzt alles fertig weg? Was mache ich dann? Was sollte ich denn jetzt machen, damit er denkt, ich wäre nicht faul?

Fieberhaft überlegte ich, was ich jetzt tun sollte.

Zum spielen hatte ich jetzt eh keine Lust mehr, also packte ich den Kontroller zur Konsole in den Schrank unter dem Fernseher. Strolch kam zu mir und schmuste um mich herum.

Ich könnte mal nach dem Katzenklo sehen, dachte ich dann zerstreut.

Ich ging ins Bad und suchte mit der Schaufel nach den Brocken. Die Katzen hatten ein Klumpstreu bekommen. Das war leicht sauber zu machen und man musste nicht jedes Mal den kompletten Inhalt wegwerfen.

Ich fand zwei kleine Klumpen Pisch und einen Haufen, wickelte alles in die dafür bereitliegende Zeitung und legte dann das ordentliche Packet im Hausflur auf den Schuhschrank, um es später mit runter in den Biomüll zu nehmen.

Ich hatte im Bad beim Saubermachen der Toilette ein wenig mit dem Katzenstreu gestreut. Ich holte mir dann Handfeger und Schaufel und fegte alles zusammen. Ich nahm sogar die Toilette beiseite um darunter und drum herum auch alles zu erwischen. Ansonsten war kein Streu weiter verteilt.

Danach wusste ich nicht mehr, was ich hätte sonst noch machen können.

Ulrich hatte mitbekommen, daß ich das Katzenklo gemacht hatte. Vielleicht war er jetzt etwas besänftigt.

Ich saß auf dem Sofa im Wohnzimmer, als er aus der Küche kam. Er zog immer noch die hässliche Fratze. Er hatte die Stirn so sehr nach oben gezogen, daß er fünf deutliche Falten über den Augenbrauen hatte. Die Mundwinkel waren so sehr nach unten gezogen, daß sie sich unter dem Kinn beinahe berührten. Außerdem hatte er den Mund unbeschreiblich zusammengepresst. Er sah aus wie der Hass selbst.

Ulrich würdigte mich keines Blickes. Dafür hatte er den Staubsauger in der Hand und verschwand auf den Flur. Offenbar war er mit der Speisekammer fertig und im Gegensatz zu mir wusste er genau, was er noch im Haushalt machen konnte. Ein kurzer Blick über meine Schulter in die Küche zeigte mir aber, daß er doch nicht fertig war, denn es stapelten sich diverse Dosen, Soßenpackungen und andere Dinge aus der Kammer auf dem Küchentisch. Was aber hatte er dann mit dem Staubsauger vor?

Die Antwort sollte ich gleich bekommen. Er saugte das Bad aus. Er hatte das Katzenklo, die Badematte und die Waage auf den Flur gestellt und saugte jetzt im Badezimmer. Danach stellte er alles wieder an seinen Platz, der Staubsauger lief aber noch. Dann ging er ins Gästezimmer. Danach im Schlafzimmer. Der Raum, den wir inzwischen in ein Esszimmer verwandelt hatten. Flur, Hausflur, Wohnzimmer und Küche.

Alles wurde komplett durch gesaugt.

Als er damit fertig war holte er den Putzeimer und den Wischmopp. Sein Gesicht verzog sich immer heftiger und er schnaufte laut und deutlich vernehmbar. Vielleicht bildete ich mir das auch nur ein. Auf jeden Fall fühlte ich mich wie der allerletzte wertloseste Dreck!

Er wischte nun das Badezimmer gründlich aus, nachdem er das Katzenklo, die Matte und die Waage wieder auf den Flur gestellt hatte. Als er mit dem Badezimmer fertig war räumte er die Schuhe und Einkaufsboxen sowie alles andere, was auf dem Hausflur stand in den Wohnungsflur. Er holte einen Besen, Handfeger und Schaufel und fegte den Hausflur und die Treppen bis in den Keller runter. Nebenbei nahm er auch das Päckchen vom Katzenklo, das ich gerade gemacht hatte, mit raus in den Biomüll. Als er damit fertig war wischte er den Hausflur und die Treppen gründlich aus.

Als dann alles wieder an seinen Platz geräumt war, war er noch lange nicht fertig. Nun wurde die Küche und die Speisekammer gefegt und gewischt. Dann kippte er das Putzwasser ins Klo, wrang den Mopp gründlich aus welcher danach gleich in die Wäsche wanderte.

Ich wurde immer kleiner. Am liebsten hätte ich mich aufgelöst. Ich konnte nichts mehr tun, um diese Situation irgendwie zu verändern. Mein Körper war wie gelähmt und mir war schlecht. In meinem Kopf wirbelten undeutliche Sätze, angefangene Sätze, zerbrochene Sätze, Gefühle, die nicht in Worte gekleidet waren.

Ulrich räumte jetzt die Speiskammer zu Ende. Danach stellte er die inzwischen trockenen Übertöpfe wieder an ihre Plätze, stellte die Pflanzen hinein und goss auch gleich alle Blumen.

Als er damit fertig war holte er einen Staublappen und begann im Wohnzimmer damit, Staub zu wischen.

Ich war inzwischen fertig mit sämtlichen Nerven!

Ich schlich ins Schlafzimmer und verkroch mich unter meine Decke.

Leise vor mich hin weinend schlief ich irgendwann ein.
 

Der November war zu Ende und die Adventzeit in vollem Gang. Überall waren Lichterketten, Sterne aus Licht und bunte Girlanden aus Tannengrün und Weihnachtskugeln aufgehängt. Limbrug erstrahlte im Weihnachtsglanz. Es roch nach gebrannten Mandeln, nach Glühwein, Pfefferkuchen und Zimt.

Es fror schon seit Ende November und inzwischen hatte es auch angefangen zu schneien.

In Limbrug war auf dem Neumarkt ein wunderbarer Weihnachtsmarkt aufgebaut und überall klangen Weihnachtslieder. Es war märchenhaft. Wir gingen durch die Einkaufsstraße und blieben an fast jedem Stand stehen und ich bestaunte die Spielzeuge aus Holz, wundervoll gefertigte Kerzen, Weihnachtsschmuck und Glaskunst.

Wir kauften Schneesterne aus Glas, die wir in den Tannenbaum hängen wollten.

Ulrich lebte zwar schon lange hier unten, hatte aber keinen Weihnachtsschmuck. Nur die Tonfiguren, die seine Schwester bemalt hatte.

Bei Karstadt stöberten wir in der Weihnachtsabteilung und Ulrich kaufte bereitwillig alles, was ich schön und passend fand. Ich beschloss, daß unser erster Weihnachtsbaum eine Farbe als Thema haben sollte.

Der Baum von meiner Mum war in jedem Jahr bunt. Alle Farben waren vertreten. Das war schön und ich mochte es auch leiden. Allerdings wollte ich mich in meinem neuen Leben von meiner Familie unterscheiden.

So beschloss ich, daß unser Weihnachtsbaum in diesem Jahr blau sein sollte.

Ulrich kaufte mir Weihnachtskugeln in zwei Blautönen, matt und glänzend. Außerdem Silberne Kugeln. Dann noch silberne Zapfen aus Glas, kleine weiße Schneesterne aus Kunststoff, die wunderbar glitzerten. Ich suchte auch eine dicke silberne Girlande aus Lametta aus und natürlich durfte das Lametta selbst auch nicht fehlen.

Als Krönung entschied ich mich für einen traumhaft schönen Engel, der auf der Spitze des Baumes stehen sollte.

Ulrich stimmte allem zu und bezahlte alles, was ich mir für unser erstes Weihnachtsfest wünschte.

Ich hatte ein gewisses Talent für Dekoration und Farben. Das hatte ich schon mit dem Adventsgesteck bewiesen. Ich hab einfach einige Tannenzweige in einer großen Deko-Schüssel arrangiert und mit winzigen Engeln, Sternen und Glaskugeln geschmückt.

Das schien Ulrich gefallen zu haben denn er scheute sich nicht mir jeden Wunsch, den ich für ein schönes Fest hatte, zu erfüllen.

Zum Schluss gingen wir noch einen Baum aussuchen.

Der Winter war immer noch eisig kalt. Schon seit Wochen waren die Temperaturen nicht mehr über Null gegangen. Sogar die Lahn war zugefroren, nur die Wehre waren noch nicht ganz zu gefroren.

Ich hatte noch meine Schlittschuhe, mit denen ich schon in Langballig immer unterwegs war. Ich war eine gute Läuferin. Ich konnte sogar auf festgefahrenem Schnee laufen. Auch Eisregen eignete sich hervorragend zum Schlittschuhlaufen.

Als ich sah, daß die Lahn nicht nur zugefroren war, sonder auch Menschen auf dem Eis waren, wollte ich am liebsten gleich mit hin auf das Eis und Schlittschuh laufen.

Ulrich ließ sich erweichen und wir fuhren nach Hause, um das Gewünschte zu holen. Wir packten die Tüten in die Küche, ich schnappte mir meine Schlittschuhe und wir fuhren wieder nach Limburg.

Etwas unsicher war ich mir schon. Immerhin war mir klar, daß es sich um ein fließendes Gewässer handelte. Nicht nur, daß das Eis eventuell nicht wirklich halten könnte. Wenn man tatsächlich einbrach dann würde einen die Strömung des Flusses sofort unter das Eis ziehen.

Es waren jedoch viele Leute auf dem Eis. Schlittschuhläufer, Erwachsene Menschen die ihre Kinder an der Hand hielten, auch einige Kinder mit Schlitten und sogar zwei Polizisten. Das machte das Betreten der Eisfläche für mich offiziell genug.

Ich zog meine Schlittschuhe an und wagte mich vorsichtig auf das Eis. Ulrich war ebenfalls auf dem Eis, allerdings mit normalen Straßenschuhen.

Er sagte, er konnte das noch nie und würde es auch nicht können wollen. Außerdem hatte er gar keine Schlittschuhe.

Aber er sah mir zu, wie ich über das Eis glitt.

Es war herrlich.

Entgegen meiner Erwartung war das Eis ganz glatt. Ich hätte mit kleinen Wellen und Unebenheiten gerechnet, immerhin war das Wasser an der Oberfläche eines Flusses selten wirklich glatt. Und es war fest und ganz offensichtlich dick genug, daß man darauf seinen Winterspaß genießen konnte.

Leider wurde es schon bald dunkel.

Aber das war auf jeden Fall mal ein wirklich schöner Tag gewesen. Vielleicht würde ja doch noch alles gut, auch zwischen Ulrich und mir.
 

Ich lag in meinem Bett und war gerade aufgewacht. Heute war der 31. Dezember und Ulrich war zur Frühschicht. Ich blieb liegen und sinnierte über das vergangen Jahr. Es hatte sich so viel ereignet und verändert. Ich hatte geheiratet, meine Lehre zur PKA abgeschlossen. Ich bin weit weg von zu Hause gezogen, hab eine neue Ausbildung angefangen. Ich hab viele neue Menschen getroffen. Und ich hatte viel Leid erfahren.

Der Mann, den ich geheiratet hatte, liebte mich offenbar nicht. Jedenfalls zeigte er es nicht, wenn er es doch tat.

Ich gab mir alle Mühe, ihn zu lieben, ihm zumindest zu zeigen, daß ich mich nicht vor im ekelte...

Aber er erwartete von mir, daß ich ihm meine Liebe anders zeigte. Und er nahm alles, was ich hatte. Ich hab normalerweise viel Liebe zu geben. Jedoch kam bisher immer etwas zurück. Nur bei Ulrich nicht. Mein Vorrat an Liebe war längst aufgebraucht und die Reserven neigten sich ebenfalls dramatisch dem Ende entgegen. Ich wusste nicht, woher ich noch Liebe nehmen sollte, wenn von ihm keine zurück kam. Jeden Tag wieder kämpfte ich um seine Gunst. Jedoch schien ich immer alles falsch zu machen.

Ich hatte auch den Eindruck, daß er meine Liebe damit maß, was ich für ihn im Haushalt leistete. Und im Ehebett. Das war mein schwerstes Problem. Er forderte nur. Nie fragte er mich, ob ich es wirklich wollte.

Er hat mal gesagt, er würde nicht nur meinen Körper wollen, sondern auch meine Seele. Ich wusste damals nicht, wie wörtlich er das meinte. Er versuchte mich in eine Form zu pressen, die nicht zu mir passte. Und das musste am liebsten auf der Stelle funktionieren. Alles was ich anfing, war falsch. Die Ergebnisse, die ich erzielte, waren die falschen. Er war ein 100%-Mensch. Entweder 100% falsch, oder 100% richtig. Leider erreichte ich „Richtig“ so gut wie nie. Es genügte nicht ihm zu zeigen, daß ich gewillt war mich zu ändern und mich ihm anzupassen.

Ich war nicht perfekt genug.

Noch immer nötigte er mich abends zum Beischlaf, weshalb ich abends schon immer Angst hatte, daß wir gleich wieder schlafen gehen würden. Noch immer beschwerte er sich darüber, daß ich nicht mit machte, nur da lag wie ein Brett. Noch immer warf er mir jedes Mal vor, ich würde mich vor ihm ekeln. Er würde es mir nicht recht machen im Sex. Ich wolle nur zurück zu meinem Exfreund.

Welchen Exfreund er jetzt spezifisch meinte, konnte ich nicht sagen.

Aber allmählich begann ich tatsächlich eine Sehnsucht zu empfinden. Vor allem nach meiner bisher heftigstenLiebe, Jörn. Und nach meinem besten und liebsten Freund, Marco.

Dennoch bemühte ich mich auch in meinen Gedanken treu zu bleiben.

Ich fühlte mich schmutzig. Und sooft ich auch duschte, mich wusch, badete, ich bekam den Schmutz nicht ab.

Ich war schwermütig und ich konnte mich kaum konzentrieren. Das Spiel, Rayman, half mir oft, meine Gedanken wieder zu ordnen. Ich musste mich da auf etwas ganz anderes konzentrieren als mir sonst den Tag über durch den Kopf ging. Aber es war keine lang anhaltende Wirkung.

Auf der Akademie lief es auch nicht gut.

So vieles war neu. Der Ablauf der theoretischen Chemie. Ich dachte, in der grundlegenden Organischen Chemie sei ich ganz gut. Jedenfalls kannte ich mich mit Methan, Ethan, Propan und den Isomeren ganz gut aus. Auch alkoholische Verbindungen waren für mich eigentlich kein Problem. Dennoch schrieb ich in der ersten Klausur, die ich in der Aufgabenstellung schon nicht verstand, eine fünf. Fast alles war nicht genügend ausgeführt, was ich beantwortet hatte. Jede Menge Konzentrationsfehler, Rechenfehler, Flüchtigkeitsfehler.

Meine Zuversicht sank auf unter Null.

Ähnlich ging es mir in den anderen Fächern. Arzneimittelspezialitätenkunde, ich kam nicht mit. So viele Formeln, Begriffe, Fremdwörter. Die Praxis war ganz gut. Ich konnte mit meinen Händen arbeiten und es machte Spaß. Aber die Protokolle waren schwer. Besonders ebenfalls in Chemie. Die ersten drei Monate hatte ich keine Ahnung, was ich da aufschrieb, ich guckte nur, wie die anderen es aufbauten und setzte meine Zahlen ein. Sehr zu meinem eigenen Erstaunen kam ich zu 90% damit durch. Die anderen 10% würden mit der Zeit vielleicht auch noch werden.

Dennoch sah es für mich nicht sehr gut aus.

Mein Kopf war wie betäubt und in meinen Ohren sang es. Das Geräusch, wenn man lange auf der Autobahn gefahren war, auf einem Rummel oder in der lauten Disco war. Normalerweise ging dieses Geräusch in der Nacht wieder weg und am Morgen konnte ich dann die Stille um mich wieder wahrnehmen. Aber allmählich setzte sich das Kreischen in meinen Ohren fest und blieb.

Ich hatte immer öfter schwere Migräneanfälle. Ulrich nahm mich nicht besonders ernst, wenn ich im Bett lag und mich quälte. Er wollte sogar, daß ich trotzdem das Essen machte.

Erst wenn ich dann vor lauter Kotzerei nicht mehr aus dem Bad kam, machte er sich Gedanken.

Als er mich dann schließlich einmal vollkommen ausgeknockt aus dem Badezimmer sammeln musste, fuhr er mit mir nach Limburg in die Notaufnahme.

Dort wurde ihm ganz deutlich gemacht, daß mit Migräneanfällen diesen Ausmaßes, wie es sich bei mir zeigte, nicht zu spaßen war. Es wurde ihm dringend nahe gelegt, dafür zu sorgen, daß ich gründlich untersucht würde.

Ich musste über Nacht zur Beobachtung da bleiben, durfte aber am nächsten Nachmittag wieder nach Hause.

Ich hoffte, daß Ulrich ab jetzt ein bisschen milder mit mir umgehen würde, aber weit gefehlt. Im Gegenteil. Er sagte es zwar nicht, aber an seinem Gesicht, dieser Fratze, die er immer zog, wenn er wütend war, seiner Haltung und der ganzen Ausstrahlung spürte ich, daß ich es seiner Meinung nach mal wieder viel zu weit getrieben hatte. Zudem musste er auch noch in diesen knapp zwanzig Stunden für sich selbst sorgen! Nur gut, daß er Frühschicht hatte. Dann konnte er wenigstens in der Kantine essen. Allerdings hatte er zu wenig geschlafen, vorher, weil er ja noch mit mir ins Krankenhaus musste.

Das Maß war mal wieder voll und ich war schuld daran.

Dennoch sorgte er dafür, daß ich ärztlich untersucht wurde. Er hatte einen offiziellen Auftrag bekommen den er nun pflichtbewusst erfüllte. Nach Außen war er der gute und sorgenvolle Ehemann, der sich um seine Frau kümmerte.

Ich musste zum Hausarzt, von da zum Neurologen, Kardiologen, Orthopäden und Psychiater. Ich wurde durchgemessen, bekam Strombehandlungen und Massagen. Ich wurde geröntgt, abgetastet, vermessen und bekam Ultraschall. MRT, EEG und noch einige Abkürzungen mehr.

Am Ende stellte sich heraus, daß ich einen verschobenen Wirbel hatte. Der Dreher war aus dem Atlas gesprungen, daher die Kopfschmerzen. Das wurde wieder eingerenkt. Ich hatte noch mal 14 Tage lang schlimme Kopfschmerzen, dann wurde es weniger. Aber die Anfälle blieben.

Da Ulrich aber seine Pflicht erfüllt hatte, hatte ich jetzt keine Kopfschmerzen mehr zu haben. Und wenn doch, dann nahm ich halt Tabletten, bekam vom Hausarzt Novalgin und MPC-Tropfen verschrieben und wenn es ganz schlimm wurde, fuhren wir halt in den Notdienst. Dort leierte er seine Geschichte mit den Ärzten herunter, ich bekam eine Spritze links und eine rechts in den Arm und durfte wieder nach Hause.

All das war geschehen im vergangenen Jahr. Nichts hatte sich verbessert.

Immer wieder erzählte ich brav die Geschichte, wie wir uns kennengelernt und schließlich geheiratet hatten. Die negativen Details ließ ich natürlich weg.

Ganz langsam gewöhnte ich mich an diese Version der Dinge und begann sie für richtig zu halten. Es war ein romantisches kleines Wunder, wie man es sich wünschen konnte.

Das Jahr 1996 sollte also jetzt zu Ende gehen.

Mal sehen, was das Jahr 1997 für mich bereit hielt.

Kapitel XX
 

„Ist nicht dein Ernst.“ Nicole sieht mich durchbohrend an.

„Warum hast du dich nicht gewehrt? Du hättest ihm klar machen sollen, daß er nicht so mit dir umgehen kann.“ Sie drückt ihre Zigarette im Aschenbecher aus, als würde sie jemandem die Augen in den Schädel bohren.

„Ich hab auch einen Kippenkiller im Ascher.“ Sage ich zu ihr.

„Nein, die musste ich jetzt selbst töten. Stellvertretend für diesen Saftsack!“ ereifert sie sich.

„Und lenk nicht vom Thema ab.“ Weist sie mich zurecht.

„Lass uns mal ins Wohnzimmer zurück gehen, ich würde mich gerne wieder hinsetzen.“ Schlage ich vor.

Nicole antwortet nichts darauf, geht aber vor ins Wohnzimmer und lässt sich wieder in ihren Sessel fallen.

„Wieso hast du dich nicht richtig gewehrt?“ fragt sie mich erneut, als ich auf dem Sofa Platz nehme.

„Das war nicht so einfach.“ Sagte ich leise.

"Egal was ich sagte, er verdrehte alles so, daß es wie ein Angriff auf ihn persönlich klang. Ich kam nicht an ihn ran.“ Versuche ich zu erklären.

Nicole starrt vor sich ins Leere, als suchte sie da nach einer Antwort.

„Am Besten erzähle ich einfach weiter.“ Schlage ich dann vor.

Meine Freundin nickt nur ohne etwas zu sagen.
 

*
 

So mild wie das neue Jahr angefangen hatte, so frostig war es dann wieder im Februar. Ich hatte Semesterferien, vier lange Wochen. Es war wirklich erstaunlich, wie viel Ferien man hatte, wenn man auf eine Akademie ging. Natürlich hatte ich nichts dagegen und genoss die freie Zeit.

In der Ausbildung stand ich noch immer schlecht. Ich hatte zwar inzwischen einige Grundlagen begriffen, z.B. den Aufbau und die Funktion der Protokolle in der praktischen Chemie. Es fiel mir leichter die Protokolle zu schreiben und zu verstehen, was ich da schrieb.

Auch in anderen Fächern hatte es bei mir geklickt, aber eben zu spät und nicht genug.

Noch immer litt ich sehr unter den Zuständen im Zusammenleben mit Ulrich. Ich redete mit niemandem darüber, nicht mal mit meiner Mum. Was sollte ich ihr auch sagen? Daß er mich schlecht behandelte? Sicher würde sie mir raten mal zu überlegen, ob es nicht eventuell doch an mir lag, so wie sie es immer tat. Pauschal. Ich hatte oft das Gefühl gehabt, sie würde mir gar nicht zuhören. Sie hörte nur „Ich hab ein Problem.“ und ihre Standartantwort darauf war: „Such den Fehler bei dir.“

Das hat mir nie wirklich geholfen.

Das würde mir jetzt sicher auch nicht helfen.

Außerdem wollte ich nicht jammern. Sicher hatte meine Mum genug eigene Probleme.

Einmal hatte ich mir ein fünf Markstück geschnappt und bin zu einer Telephonzelle in Kirberg gegangen. Von zu Hause aus hätte ich nicht telephonieren können, weil Ulrich eine detaillierte Abrechnung bekam, wo jeder Anruf auftauchen würde.

Ich hatte aber nicht vor, irgendjemanden anzurufen.

Ich wollte Marco anrufen.

Seine Stimme hören.

Mit zitternden Fingern warf ich das Geldstück in den Münzautomaten und wählte seine Nummer.

Nach einigem Tuten ging er dann ans Telephon und meldete sich.

Gottseidank, er war da.

„Hi, hier bin ich.“ Meldete ich mich und spürte einen Kloß in meinem Hals, den ich mühsam herunter würgte.

„Hi, Carmen. Wie geht es dir?“ antwortet Marco erfreut.

„Gut.“ Sagte ich kurz.

„Was ist denn los?“ fragte er und klang besorgt.

„Nichts“, log ich, „Ich wollte nur hören wie es dir geht.“

„Mir geht es gut.“ Antwortete Marco.

„Ich bin jetzt mit Birte zusammengezogen.“ Fügte er noch hinzu.

Seine Worte versetzten mir einen Stich ins Herz. Obwohl ich kein Recht dazu hatte. Schon gar nicht, wo ich doch verheiratet jetzt war. Er war frei und konnte tun und lassen, was er für richtig hielt. Dennoch verspürte ich ein wenig Eifersucht.

„Sag mal, weinst du?“ fragte mich Marco und klang wieder besorgt.

„Nein.“ Log ich erneut. Die Tränen schnürten mir allerdings den Hals zu, so, daß ich nichts weiter sagen konnte, was ihn vielleicht davon überzeugt hätte, daß es mir tatsächlich gut ging.

„Ich höre doch, daß du weinst!“ sagte Marco jetzt etwas strenger, aber wirklich besorgt.

„Du weißt, wenn du Kummer hast dann k…“

Die Verbindung wurde unterbrochen. Es war ein Ferngespräch und für mehr reichten die fünf Mark nicht aus.

Ich hatte nicht mal „Tschüss“ sagen können…

Ich ließ meinen Tränen freien Lauf, kramte ein Taschentuch aus meiner Jacke und schlich nach Hause.
 

Im Februar war die Hochsaison des Karnevals. Köln war nicht weit von Limburg entfernt und in Hessen, Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen stand alles Kopf. Im Radio wurden nur noch Lieder gespielt, die zur Fassenacht passten.

Ich liebte es schon immer mich zu verkleiden. Im Norden taten wir das allerdings nur einmal im Jahr am Rosenmontag und am Jahresende, zum Rummelpott an Sylvester. Durch den Beruf und die Connection meiner Mum mit dem Tanzkreis aus Glücksburg konnte ich noch öfter im Kostüm herumlaufen, ganz offiziell in aller Öffentlichkeit.

Ich freute mich auf die Fastnachtszeit und wollte so oft es ging teilnehmen. Aus ein paar Stoffen und etwas Material, daß Ulrich mir bereitwillig kaufte, bastelte ich ein Elfenkostüm mit Flügeln für mich und ein Kostüm für Ulrich, mit dem er aussah wie das „Phantom der Oper“.

Zu dem ersten Termin den ich geplant hatte für einen Maskenball, sollte es aber nicht kommen.

Wieder einmal hatten wir ein Streitgespräch. Es ging wieder einmal darum, daß ich ihm angeblich nicht treu sei.

Ich wehrte mich heftig und versuchte ihm klar zu machen, was Untreue war.

Ebenfalls zählte ich so viele Beispiele für meine Treue auf, wie ich konnte. Ich erklärte ihm, was ich alles aufgegeben hatte. Das Billardspiel, Darten, ich saß nicht mehr in der Mensa mit den Jungs zusammen. Ich ging nicht aus und blieb daheim.

Er schwieg.

Ich erklärte ihm dann, daß es kein Fremdgehen oder keine Untreue war, wenn ich vielleicht auf dem Maskenball mit einem anderen Mann tanzen würde. Ulrich konnte nicht tanzen, aber ich tat das gerne. Und ich wollte auch. Aber in Ulrichs Augen war das schon Untreue.

Schlussendlich war die Stimmung verdorben und wir blieben daheim.

Natürlich ließ er mich den Rest des Abends deutlich spüren, daß ich ihm den Abend versaut hatte. Daß ich ihn um ein Vergnügen gebracht hatte, an dem er eigentlich nicht vorhatte, Teil zu nehmen.
 

Eine Woche später dann aber war es doch endlich soweit, ich machte mich fertig für meinen ersten Maskenball. Auch Ulrich warf sich in sein Kostüm und fühlte sich anscheinend auch einigermaßen wohl darin.

Der Kostümball sollte in der Sporthalle in Ohren stattfinden und der Eintritt war kostenlos.

Es waren viele Leute da, alle im Kostüm, und die Stimmung war super.

Wir setzten uns an den Tresen und Ulrich bestellte zwei Cola.

Nach einer Weile forderte ein alter zahnloser Opa mich zum Tanzen auf. Ulrich grinste und ermutigte mich, doch anzunehmen, was ich dann auch tat.

Allerdings war mir der Alte dann doch recht unsympathisch. Immer wieder begrabbelte er mich unverhohlen und kam mir viel zu nahe. Als der erste Tanz zu Ende war, ließ er mich nicht wieder an den Tresen zurück. Ich sah hilfesuchend zu Ulrich. Dieser saß aber am Tresen, sah mir zu und grinste vergnügt.

Nachdem auch dieser Tanz zu Ende war machte die Band eine Pause. Ich war froh, endlich wieder an meinen Platz zurück zu können. Allerdings bedrängte der zahnlose Opa mich weiter. Er stand hinter mir am Tresen und versuchte immer wieder mich in die Arme zu nehmen, mir auf den Busen zu grapschen und mich mit sich zu ziehen. Flehentlich sah ich Ulrich an, aber er grinste nur und machte keine Anstalten mich aus dieser misslichen Lage zu befreien. Ganz im Gegenteil, er schien es sichtlich zu genießen, daß ich von diesem Alten so gegen meinen Willen angegrabbelt wurde. Als der Alte dann plötzlich damit anfing und versuchte mich zu küssen, stand ich auf und floh so schnell ich konnte.

Ich war zornig und enttäuscht. Ulrich hätte mir helfen müssen. Er war doch mein Mann? Mein Beschützer? Oder nicht?

Als ich erkennen konnte, daß der Alte inzwischen auf der Suche nach einem neuen Opfer war, ging ich zurück zu Ulrich.

„Und? Hat es dir Spaß gemacht?“ fragte er mich überheblich grinsend.

„Warum hast du mir nicht geholfen? Du hast doch sicher gemerkt, daß ich das nicht wollte?“ fuhr ich ihn zornig an.

„Wieso? Du wolltest doch mehr Freiheiten, oder nicht?“

Ulrich lehnte sich auf seinem Barhocker zurück und war sichtlich zufrieden mit sich und seiner Welt.

Ich explodierte regelrecht.

Wenn es nicht so eisig kalt gewesen wäre, wäre ich auf der Stelle nach Hause gegangen! Der Umstand, daß ich keine Handtasche und demnach auch keinen eigenen Schlüssel mit hatte, erschwerte die Ausführung dieses Gedankens noch mehr.

So blieb ich sitzen und rührte mich nicht mehr, weinte still vor mich hin und wartete darauf, bis Ulrich sich dazu herabließ, nach Hause zu fahren.
 

*
 

„Das darf ja wohl nicht wahr sein!“ schreit Nicole jetzt beinahe und reißt mich aus der Erzählung heraus.

„Diesem Sackgesicht gehören doch die Eier poschiert!!! Und das hast du dir bieten lassen?“ Nicole ist außer sich vor Zorn. Ich kann eigentlich nur da sitzen und ihr bei ihrem Wutausbruch zusehen.

„Komm, darauf brauche ich jetzt erstmal mindestens eine Zigarette!“

Sie schnappt nach mir, bekommt meinen Ärmel zu fassen und zieht mich hinter sich her in die Küche.

Ich folge ihr willig. Wir hatten zwar gerade erst geraucht, aber trotzdem ist eine Zigarette jetzt wirklich eine gute Idee.

„Der Typ schafft mich! Ich werde noch zum Kettenraucher.“ Schimpf sie auf dem Weg zur Küche.

„An deiner Stelle hätte ich längst meine Koffer gepackt und hätte möglichst viele Kilometer zwischen mich und ihn gebracht. Wieso bist du nicht einfach gegangen?“ Nicole kocht vor Wut und kann sich auch nicht beruhigen.

„Da gab es noch ein kleines Problem.“ Antworte ich dann.

„Was kann denn das für ein Problem gewesen sein?“ fragt sie mich immer noch aufgebracht.

Sie macht eine Zigarette an und reicht sie mir, dann zündet sie eine weitere an, für sich selbst.

„Hast du etwas kaltes zu Trinken da?“ fragt sie dann, ohne meine Antwort auf ihre vorige Frage abzuwarten.

„Klar, ich hab immer eine kalte Cola im Kühlschrank.“ Sage ich und bedeute ihr, sich selbst zu bedienen.

„Also, was für ein Problem kann es sein, daß du dich nicht trennen konntest?“ hakt sie erneut nach.

„Ein Ehevertrag.“ Antworte ich kurz.

„Ein Ehe- WAS?“ fragte sie ungläubig.

„Ein Ehevertrag.“ Wiederhole ich sachlich.

„Wie kommt man denn zu so etwas?“ Nicole war sichtlich verblüfft.

„Das musst du mir genauer erklären.“ Drang sie.
 

*
 

Es gab tatsächlich einen Ehevertrag. Die Idee dazu kam von meiner Mutter. Jedenfalls hatte Ulrich das behauptet. Auch den Anwalt dafür hatte meine Mum empfohlen.

Er beinhaltete, daß ich zum Beispiel mit nichts in die Ehe ging. Sollte die Ehe also geschieden werden, würde ich auch mit nichts wieder rausgehen. Desweiteren war er ja bereit mir die Ausbildung zur PTA zu finanzieren. Sollte ich die Ehe allerdings innerhalb von fünf Jahren scheiden lassen wollen, verpflichtete ich mich ihm alles auf Heller und Pfennig zurück zu zahlen. Und last, but not least bestand er darauf daß ich im Falle einer Scheidung keinen Anspruch auf Nachehelichen Unterhalt hätte.

Ich würde buchstäblich mit leeren Händen auf der Straße stehen.

Da ich nicht vorhatte die Ehe zu kündigen, mich scheiden zu lassen oder sonst etwas in dieser Richtung unternehmen wollte, sah ich keinen Grund darin, nicht zu unterschreiben.

Als mir dann klar wurde, daß meine Ehe mehr eine Farce war, als eine Ehe, war es zu spät.

Gerne wäre ich geflohen. Gerne hätte ich alles beendet was mich belastete. Aber ich hatte bei diesen Gedanken schiere Existenzängste.

Wo sollte ich hin? Wovon sollte ich leben? Wie sollte ich das anstellen, ohne einen einzigen Pfennig in der Tasche?

Ich hatte nicht einmal mehr ein eigenes Konto.

Damals, als ich mit Donald zusammen war, hatte dieser sich Geldsorgen eingehandelt. Er lieh sich bei mir 500 DM mit der Bitte, es nicht meiner Mum zu erzählen.

Ich lieh ihm das Geld. Als wir uns trennten, bekam ich keinen Heller zurück. Donald verschwand und damit auch die Hoffnung darauf, das Geld wieder zu bekommen.

Da ich selbst nicht mit meinem Geld umgehen konnte, erholte ich mich nicht mehr davon. Mein Konto blieb bei 500 DM Miese.

Als ich nun heiratete und mein Konto aufgelöst werden sollte, musste ich Ulrich davon erzählen. Großzügig löste er mein Konto aus.

Auch dieses Geld würde er sicher wieder haben wollen, wenn ich mich trennte.

Ich stünde dann nicht nur mit nichts auf der Straße, ich wäre auch noch hoch bei ihm verschuldet.

Also blieb ich, wo ich war.
 

Ich hatte inzwischen die ersten beiden Semester hinter mir und war seit Ende Juli in den Sommer-Semesterferien. Mit Mühe und Not kam ich weiter in das dritte Semester, obwohl mir dringend nahe gelegt wurde, die ersten beiden Semester zu wiederholen.

Jetzt waren aber erstmal Ferien. Drei Monate Sommerferien.

Ich genoss die sorglose Zeit so gut es ging. Beschäftigte mich mit meinen Katzen, die inzwischen erwachsen geworden waren.

Sie blieben im Haus. Nicht, weil wir es so wollten. Die zwei wollten von sich aus nicht vor die Tür. Sie lagen lieber am offenen Fenster und genossen die Sonne.

Ich hatte sie gut und erfolgreich erzogen. Das Experiment ihnen beizubringen, daß das Essen von Herrchen und Frauchen nicht genießbar war, war mir gelungen. Sie fraßen nicht einmal etwas, wenn es herunter fiel oder man es ihnen direkt anbot.

Einmal war nachmittags der Versicherungsvertreter von Ulrich, der Herr Neumann gekommen. Es war ein Termin ausgemacht, aber er war mit dem vorigen Termin schneller fertig geworden als erwartet und dachte, er könne mal gucken, ob er bei uns schon eher anfangen konnte.

Ulrich hatte allerdings Frühschicht und würde erst ab 16 Uhr da sein, daher war der Termin auch auf 16 Uhr gelegt worden.

Ich freute mich, Besuch zu haben, bot ihm an rein zu kommen und einen Kaffee zu trinken, bis Ulrich nach Hause kommen würde.

Sofort waren auch Susi und Strolch da um den Besuch zu begrüßen und sorgfältig in Augen- und Nasenschein zu nehmen.

„Das sind aber zwei Hübsche.“ Sagte der Vertreter ehrlich begeistert.

„Wie heißen sie denn?“ erkundigte er sich weiter.

„Susi und Strolch.“ Antwortete ich nicht ohne Stolz.

„Das sind sehr schöne Namen. War das nicht ein Disney-Film?“ plauderte Herr Neumann weiter.

„Ja das stimmt.“ Bestätige ich und erzähle ausführlich, wie es zu den Namen gekommen war. Ich erzählte auch, wie ich die zwei Katzen bekam.

Herr Neumann hörte gespannt zu.

Noch immer waren die zwei Katzen mit dem Beschnuppern des Fremdlings beschäftig.

„Ihr seid aber zwei Liebe.“ Schmeichelte der Mann mit den Katzen.

„Und so gut erzogen.“

„Ja, da hab ich viel Liebe investiert.“ Erzählte ich mit neuerlich vor Stolz geschwellter Brust.

„Sie nehmen nichts vom Tisch.“ Nannte ich ein Beispiel für ihre gute Erziehung.

„Wirklich gar nichts?“ staunte Herr Neumann.

„Nicht einmal, wenn ich es ihnen anbiete.“ Bestätigte ich.

„Das hab ich auch noch nicht gehört.“ Sagte er verblüfft.

„Warten Sie, ich kann es Ihnen zeigen.“ Sagte ich eifrig und war schon in der Küche. Ich holte eine Scheibe Cornedbeef aus dem Kühlschrank, legte sie auf einen kleinen Teller und stellte diesen im Wohnzimmer auf den Boden.

Ich rief die Katzen ran die auch sofort da waren in der Hoffnung, es gäbe etwas Feines für sie.

Susie und Strolch beschnupperten erwartungsvoll an dem Aufschnitt und drehten sich dann enttäuscht zu mir um.

„Was soll das denn jetzt?“ schienen sie mich zu fragen.

„Das sollen wir doch jetzt nicht ernsthaft essen! Sag mal, hast du einen Knall?“

Herr Neumann war angemessen erstaunt.

Um meine Katzen wieder zu versöhnen holte ich etwas von den wirklichen Katzenleckerlies, die sie gierig verschlangen. Die Scheibe Cornedbeef brachte ich zurück in die Küche.

„Das ist wirklich ganz außergewöhnlich!“ brachte Herr Neumann hervor, nachdem er sich davon überzeugt hatte, das er glauben konnte, was er da gerade gesehen hatte.

Ich platzte vor Stolz.

Wir unterhielten uns noch weiter über seine Katzen, über die Katzen, die ich früher hatte und die Katzen von Bekannten oder Klienten.

Bald kam Ulrich nach Hause. Er zog sich schnell um und begrüßte seinen Versicherungsvertreter.

Von da an war ich abgemeldet, ausgeklinkt.

Ulrich hatte mich noch nicht mal begrüßt.

Zuerst blieb ich noch sitzen und versuchte still dem Gespräch zu folgen, entschied dann aber doch mich ins Schlafzimmer zu verziehen, wo ich mich auf das Bett legte und mein Buch, daß ich von einem Arbeitskollegen von Ulrich geliehen hatte, zu lesen. Es war „Das Parfüm“ von Patrick Süßkind.

Der Arbeitskollege von Ulrich hieß Martin und war in derselben Schicht. Ich mochte ihn. Er war nett und kam gelegentlich bei uns zu Besuch. Meistens dann, wenn ich panierte Austernpilze machte.

Inzwischen konnte ich schon ganz gut kochen und dieses war das ausgesuchte Lieblingsgericht von Martin.

Ich bekam nicht viel Besuch und ich hatte auch keine Freunde, zu denen ich hätte gehen können. Da war ich dankbar um jeden Menschen, der sich mit mir unterhalten mochte. Außerdem lobte Martin mich immer ausgiebig und überschwänglich für meine Kochkünste.

Das tat gut. Von Ulrich hörte ich nie ein Lob. Auch keinen Tadel, was meine Kochkünste betraf. Immerhin war das eine Tätigkeit, in der er mir nicht ständig erklärte, daß ich das nicht könnte.

Die einzige Tätigkeit in der ich mich frei entfalten konnte.
 

Der Sommer war durchwachsen, aber warm. Die einzige Möglichkeit sich abzukühlen war das Freibad in Kirberg. Leider kostete es Eintritt und das Freibad hatte natürlich auch Öffnungszeiten. Darüber hinaus kamen fast alle gleichzeitig in das Bad und es war fast immer viel zu überfüllt.

Ich fing an die Ostsee und mein altes zu Hause zu vermissen. Der Strand war immer geöffnet, wenn es an einer Stelle zu voll wurde, dann ging man woanders hin, die Küste war lang. Ich vermisste die vertraute Umgebung und die Leute. In Schleswig-Holstein herrschte eine ganz andere Mentalität. Alles war freundlicher und aufgeschlossener.

Hier musste man aufpassen, was man zu wem sagte. Gerüchte, Klatsch und Tratsch machten hier wirklich die Runde wie das sprichwörtliche Lauffeuer.

Ein Mal ging Ulrich mit mir in das Freibad in Kirberg. Es war gelinde gesagt langweilig. Gerne hätte ich im Wasser gespielt, wie ich es sonst immer tat. Aber Ulrich nicht. Außerdem konnte er nicht schwimmen und hatte Angst vor tiefem Wasser.

Ich gab mir alle Mühe ihm beizubringen, daß Wasser der pure Spaß war, aber er blockte ab.

Also gingen wir nicht mehr ins Freibad.

Wir gingen sowieso selten irgendwo hin, wo man einfach nur gucken konnte.

Im Vorjahr hab ich ihn einmal dazu gebracht, mit mir in die Gegend zu fahren. Einfach mal zu sehen, wo ich hier eigentlich wohnte.

Widerwillig fuhr er dann endlich mit mir los.

Wir fuhren an der Lahn entlang und entdeckten dann irgendwann eine alte Burgruine. Auf meinen Vorschlag hin parkte Ulrich das Auto und wir gingen die Straße hoch, die auf den Berg zu der Burg führte. Die Burg war geschlossen, wir konnten nicht einmal auf den Hof. Das war schade, aber es wurde auch schon dunkel. Also gingen wir den Weg wieder hinunter zum Auto. Während wir zum Auto gingen fielen mir kleine fliegende Lichter auf.

„Guck mal, das sind Glühwürmchen.“ Sagte ich abwesend.

Moment mal! Glühwürmchen?

Wow, ich hatte noch nie wirkliche Glühwürmchen gesehen. Und jetzt tauchten sie überall auf.

Ich war verzaubert. Ich freute mich wie ein Kind und versuchte sie zu fangen.

Ulrich ging anteilnahmslos neben mir her und schüttelte nur den Kopf über mein kindisches Gehabe.

Er schwieg.

Er redete schon nicht mehr, seit ich ihn überredet hatte, einfach mal auf blauen Dunst loszufahren, die Welt um uns zu entdecken.

Für ihn war das Zeitverschwendung. Unnützes Benzinverfahren.

In der Zeit in der wir den Sprit sinnlos in die Luft bliesen und Glühwürmchen jagten, hätte man sicher die Küche putzen oder die Wohnung saugen können. Wäsche waschen, aufhängen, zusammen legen, bügeln…

Meine Stimmung sank wieder auf einen Nullpunkt.

Es war anstrengend in Gesellschaft einer Spaßbremse die Freude am Leben zu erhalten.

Und es wurde immer anstrengender.

Die Reserven gingen mir aus und ich hatte keine Möglichkeit mehr, sie aufzufüllen.

Nach und nach gab ich es auf und versuchen, ihn zu unterhalten.

Als wir an dem Abend, wo ich die Glühwürmchen entdeckt hatte, schlafen gingen, forderte er sein Eherecht wieder ein. Als Belohnung dafür, daß er etwas mit mir unternommen hatte.

Als Bezahlung.

Und ich zahlte, wieder mal.

Anteilnahmslos.
 

*

Kapitel XXI
 

Am Anfang des Jahres, in dem ich nach dem Sommer in das dritte Semester kommen sollte, beschloss Ulrich, daß wir mal nach einem Baugrundstück Ausschau halten könnten, um dann ein eigenes Haus zu haben. Der Zufall wollte, daß in Kirberg in der Nähe der Kirche ein neues Baugebiet erschlossen wurde. Wir schickten eine Bewerbung ein. Natürlich wussten wir, daß zuerst die Einheimischen berücksichtigt würden und rechneten nicht all zu bald mit einer Antwort.

Nach nur sechs Wochen allerdings erhielten wir vom Bauamt in Kirberg die Nachricht, daß wir uns doch bitte an dem und dem Termin im Amtsgebäude Raum sowieso einfinden sollten um mitzuteilen, für welches Baugrundstück wir uns entschieden hatten. Der entsprechende Plan lag dem Brief bei.

Wir war überrascht und freuten uns riesig.

Zu dem angegebenen Termin waren wir dann auch an Ort und Stelle und bekamen auch noch das Grundstück zugesprochen, das wir uns wünschten.

Nun hatten wir etwa 12 Wochen Zeit die Finanzierung abzuklären. Sollten wir uns innerhalb von 3 Wochen entschließen, das Grundstück nicht zu behalten würde eine Bearbeitungsgebühr von 100 DM fällig. Sollten wir länger brauchen würde das entsprechend teurer.

Wir rannten von einer Bank zur nächsten. Von Pontius zu Pilatus und bekamen überall das gleiche zu hören, manches mal richtige Ungeheuerlichkeiten, die ich hier nicht näher ausführen möchte.

Wir besuchten Musterhäuser und Hausbaufirmen, holten Angebote, machten Pläne, Ulrich zeichnete Grundrisse und plante den Aufbau des Hauses. Wir strichen immer mehr in unserem Traumhaus zusammen bis auf ein maximales Minimum und verzichteten auf alles, was extra kostete. Wir arbeiteten wirklich mal zusammen, diskutierten wie zwei gleichwertige Menschen und stimmten alles ohne größere Streitereien zusammen ab.

Alles in Allem war die Finanzierung so extrem knapp bemessen, daß in der gesamten Zeit, wo die Kredite abbezahlt werden müssten, keine Glühbirne kaputt gehen durfte, ohne uns in eine finanzielle Kriese zu werfen.

Wir zahlten die 100 DM und gaben das Grundstück wieder ab.

Damit war der Traum vom Eigenheim genauso schnell geplatzt, wie er uns überfallen hatte.
 

*
 

Mein Leben war eine Katastrophe!

Die Sommerferien gingen überwiegend Ereignislos zu Ende und mein drittes Semester hatte angefangen.

Von Anfang an war es wieder schwer. Ich konnte dem Unterricht nicht konzentriert folgen. So sehr ich mich auch bemühte zuzuhören und alles mitzuschreiben, hatte ich in der nächsten Minute schon wieder vergessen, was in der Minute davor gesagt wurde. Viele Sätze, die ich anfing zu schreiben, hab ich nicht zu Ende bekommen. Das bemerkte ich aber meistens erst dann, wenn ich versuchte nach zu lesen, was eben gesagt wurde. Manchmal konnte ich die Sätze aus der Logik heraus vervollständigen, meistens aber nicht und meine Berichte waren astreiner Kauderwelsch!

Zu meinen bisherigen Problemen, ob in der Akademie oder privat, gesellten sich jetzt neu hinzu.

Ich hatte einen wahnsinnig juckenden Ausschlag unter der Armbanduhr. Ich wurde beinahe irre!

Ulrich diktierte mich zu einem Hautarzt. Ich suchte im Telephonbuch nach einem, der in Idstein wäre und machte einen Termin.

Dort bekam ich dann den ganz großen Allergie-Test. Mir wurden verschiedenste Allergene auf den Rücken geklebt und nach drei Tagen sollte ich wieder kommen.

Das Pflaster juckte und ich durfte nicht kratzen. An Baden oder Duschen war auch nicht zu denken. Jetzt juckte nicht nur mein Handgelenk, nun war auch mein Rücken kurz davor sich vor Verzweiflung aufzulösen.

Nach Ablauf der Frist wurde endlich das Klebeband entfernt.

Sehr zu meinem Erstaunen hatte ich wohl auf Nickel am stärksten reagiert.

Ich hatte nie irgendwelche Allergien. Aus Büroklammern bastelte ich mir mal meine ersten selbstgemachten Ohrringe und konnte diese auch Tragen. Ohne gleich einen Blumenkohl am Ohr auszubilden.

Des Weiteren hatte ich auch auf ein paar Salbengrundlagen reagiert.

Am meisten allerdings hab ich schlicht auf den Kleber des Pflasters reagiert. Jeder Streifen, der auf meiner Haut klebte, hinterließ eine rote leicht geschwollene Hautstelle und juckte wie die Pest!

Der Arzt verschrieb mir eine Salbe und die Auflage, eine andere Uhr zu tragen, zum Beispiel aus Titan. Die Sprechstundenhilfe stellte mir einen Allergie-Pass aus und ich durfte gehen.

Noch am gleichen Nachmittag fuhr Ulrich mit mir in die Stadt und kaufte eine Uhr mit Titangehäuse und Lederarmband für mich. Ohne zu murren legte er gönnerhaft 95 DM auf den Tresen.

Die Salbe, die ich aufgeschrieben bekam und in der Apotheke besorgte, half ganz gut. Nach nur zwei Tagen war der Ausschlag unter der jetzt neuen Titan-Uhr und auf meinem Rücken nahezu verschwunden.

Als nächstes bekam ich plötzlich Warzen an den Händen.

Ich hatte nicht den geringsten Plan, wo ich mir die hätte zugezogen haben können. Ich ging also wieder zum Hautarzt und ließ mich untersuchen. Die Diagnose: Eindeutig Flachwarzen.

Ich wurde in Punkto Hygiene aufgeklärt und zurechtgewiesen, meine Warzen wurden vereist und verschwanden.

Vorläufig.

Danach bekam ich ständig irgendwo Herpes-Bläschen. Im Mundwinkel, im Mund an den Lippen, in der Mundschleimhaut, am Gaumen (der Arzt war über die Maßen erstaunt. So etwas hatte er noch nicht gesehen), in der Nase und an Stellen, wo man sie wirklich überhaupt nicht haben wollte.

Ich bekam Medikamente gegen den Virus und nach einigen Tagen verschwanden die Bläschen und kamen auch nicht wieder.

Vorerst.

Alle möglichen Hautkrankheiten bekam ich.

Ich hatte ständig irgendwo einen Pilz.

Fungizid sei Dank, auch das bekam ich in den Griff.

Mein Gesicht begann zu blühen wie in der Pubertät.

Die herrlich stinkende Teersalbe, die ich verschrieben bekam, hatte eine ähnliche Wirkung gegen die Pickel, als hätte ich Butter draufgeschmiert.

Ich wusch mich mit speziellen Seifen. Zumindest wurden die Pickel dann nicht noch mehr.

Das alles machte mir das Leben natürlich nicht im Mindesten leichter. Auch bei Ulrich kam das nur als lästiges und unnötiges Generve an.

Der Kampf zu Hause änderte sich nicht im Geringsten.

Es war vor allem immer das alte leidige Lied mit dem Haushalt.

Ständig blieb inzwischen der Abwasch stehen. Die Wäsche im Keller blieb hängen. Die Wäsche aus dem Keller blieb im Wäschekorb liegen. Ich hatte einfach keine Lust mehr mich damit zu beschäftigen, am Ende war es doch alles falsch. Entweder machte ich es dann irgendwann lustlos oder Ulrich machte es. Er zog dann die hässlichste Fratze auf, die er machen konnte, klapperte laut und zornig mit dem Geschirr, polterte mit den Schranktüren, trampelte durch die Wohnung. Er ließ mich ganz klar und deutlich spüren: Er machte die Arbeit, die eigentlich meine Aufgabe gewesen wäre.

Ich hatte auch jedes Mal ein schlechtes Gewissen. Anfangs versuchte ich noch ihn davon abzubringen und es doch selbst zu machen. Aber ich gewöhnte mich mit der Zeit an diesen Zustand. Lieber ein schlechtes Gewissen, weil er wieder mit tonlosem Gemotze das machte, was eigentlich ich machen sollte, als sich die Mühe machen, es selbst zu erledigen und am Ende eh nur wieder Schelte und das gleiche tonlose Gemotze und die Fratze zu ernten, die er jetzt auch zog.

Meine Gefühle verkümmerten.

Ich hatte Heimweh nach meinem alten vertrauten zu Hause.

Ich hatte Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit.

Nach Jörn.

Nach Marco.

Meine Liebe fokussierte ich auf andere Bereiche, in denen ich auch etwas zurück bekam.

Zum Beispiel meine Katzen. Sie gaben mir liebe zurück. Ich beneidete sie, weil Ulrich die Katzen liebte, um ihrer selbst willen. Und er erwartete nicht, daß sie ein besonderes Verhalten annahmen, um ihm zu zeigen, daß sie ihn auch liebten.

Meine Liebe wurde mit den Leistungen gemessen, die ich im Haushalt und der Ehe brachte.

Er hatte gelegentlich mal Schichtfeste, an denen er Teilnahm.

Beim ersten Mal war es Grillen bei einem seiner Schichtkollegen.

Damit er etwas Trinken und sich richtig amüsieren konnte, trotzdem aber nicht über Nacht da bleiben musste, nahm er mich mit. Als seinen Chauffeur. Ich hatte kein Problem damit. Im Gegenteil. Auf diese Weise kam ich mal raus. Seine Kollegen waren alle samt hin und weg von mir. Sie lobten mich bei Ulrich, das ich so eine Vereinbarung mit machte. Keine der Frauen oder Lebensgefährten der Kollegen von Ulrich würde das tun.

Auch zu den nächsten Schichtfesten durfte ich wieder mit. Es waren nicht viele, aber so alle halbe Jahre konnte man damit rechnen.

Und während Ulrich ein Bier nach dem anderen zechte, hielt ich mich an meiner Cola fest. Dennoch hatte ich durchaus auch meinen Spaß daran.

War die Feier zu Ende, saß Ulrich auf dem Beifahrersitz und schnarchte friedlich während ich uns von wer weiß wo sicher wieder nach Hause brachte.

Was ich erntete?

Nichts.

Nicht einmal ein Danke.

Dann sollte Ulrich mal ganz unerwartet mit einem der Flugzeuge mitfliegen, ins Ausland, weil da irgendetwas überprüft und gewartet werden musste, wofür eben fachlich erfahrenes Personal gebraucht wurde. Er würde über Nacht wegbleiben.

Er rief mich an um mir das mit zu teilen, wies mich an, bestimmte Kleidung bereit zu legen und Papiere herauszusuchen.

Eine Stunde später war er zu Hause, musste nur alles greifen und war auch gleich wieder weg.

Ich machte keinen Aufstand.

Warum auch?

Das war sein Job und warum sollte ich ihm da im Weg stehen?

Vielleicht noch maulen, daß er die Nacht wer weiß wo war und vielleicht fremd ging?

Wie zickig!

Ich vertraute Ulrich, daß er nicht fremd ging.

Und ich sah keinen Grund ihm Probleme damit zu bereiten, weil er mal eine Nacht weg blieb.

Auch hier wurde das genommen, was ich gab und es kam nichts zurück.

Nicht einmal ein Danke.

Andere Male kam es vor, daß Ulrich einfach beschloss, einen Arbeitskollegen mit nach Hause zu bringen. Ich hatte keine Ahnung davon. Er rief nur kurz an um mir mitzuteilen, daß er in einer halben Stunde da wäre und noch jemanden mit brächte, er würde zum Essen bleiben.

Ich brach nicht etwa in Panik aus.

Die Wohnung war nicht so steril wie sie gewesen währe, hätte Ulrich hier noch mal aufgeräumt, aber man konnte immer noch denken, das wäre nur eine Ausstellungswohnung für einen Möbelkatalog. Man konnte jeder Zeit Besuch empfangen, auch wenn Ulrich mit großer Sorgfalt ausführte, was ich wieder alles nicht gemacht hatte. Er erklärte es nicht mir.

Mitnichten.

Er erklärte es seinem Arbeitskollegen.

Laut und deutlich, damit ich alles mit bekam. Natürlich konnten die Besucher meist nicht ganz verstehen, was Ulrich eigentlich meinte.

Carmen hatte nicht Staub gewischt? Wieso? Es sah doch alles sauber aus?

Ach so, die Fußleisten und Lichtschalter… Aha…

Carmen hatte den Boden in Küche, Bad und auf dem Hausflur nicht gewischt? Äh, woran erkennt er das? Ah, da, ja, jetzt wo du auf die Sandkörner zeigst…

Carmen macht die Wäsche nicht ordentlich? Äh, es liegt doch keine herum? Ach, man kann Wäsche falsch zusammen legen? Ok…

Die Küche ist ein Saustall? Aber, sie ist doch gerade dabei etwas zu kochen? Man kann sich im Waschbecken nicht spiegeln? Ok… Muss man das?

Daß ich aber innerhalb einer halben Stunde den Essensplan auf drei (oder vier, je nachdem wer kam) umorganisiert hatte, etwas größeres kochte, als eigentlich geplant war, um seinem Besuch zu zeigen, was Ulrich für eine flexible Ehefrau hatte, das bemerkte er nicht.

Der Besucher bemerkte es allerdings durchaus und war angemessen begeistert.

Alleine dafür hatte sich mein Aufwand dann auch gelohnt.

So war es jedes Mal.

Der Gast war im höchsten Maße zufrieden mit sich und seinem vollgestopften Bauch, der Chef war in Gedanken schon dabei, die Kündigung für die Putzfrau und Köchin zu formulieren.

Der geneigte Leser mag jetzt denken: Nun ja, wenigstens musste sie sich die Maulerei nicht noch anhören.

Weit gefehlt.

War der Besuch gegangen, pflanzte Ulrich sich ins Wohnzimmer auf das Sofa und zog seine Grimasse.

Da ich leider immer noch ein aufmerksamer Partner war entging es mir nicht. Und da ich mit bloßen Vermutungen, was ich jetzt wieder alles falsch gemacht und versaut hatte, nicht leben konnte, fragte ich natürlich nach.

Beim ersten Mal ignorierte er mich geflissentlich.

Beim zweiten Nachfragen gab er dann Antwort.

„Die Wohnung sieht aus wie ein Saustall! Das Badezimmer ist voller Katzenstreu! Nirgendwo ist Staub gewischt worden! Die Küche ist eine Katastrophe! Der Hausflur ist ein einziges Dreckloch!“

„Aber du hast doch selbst gesehen, daß Martin gar nicht verstanden hat, was du meintest, als du mal wieder alle meine Verfehlungen aufgezählt hast.“ Weinte ich.

„Was weiß denn der schon!“

Wenigstens war er zu wütend um abends seine ehelichen Rechte einzufordern.
 

Das dritte Semester war zu Ende. Mein Zeugnis war gelinde gesagt unter aller Diskussion. Die einzige gute Note die ich hatte war eine drei in Drogenkunde.

Das ist jetzt nicht, was man ga als Ottonormalverbraucher darunter verstehen würden.

Wenn der Pharmazeut von „Drogen“ sprach, dann beinhaltete das alles, was irgendeine Wirkung am oder im Körper eines Menschen oder Tieres hatte.

So gehörten auch alle arzneilich verwendeten Pflanzen und Tiere dazu. Brennnessel, Brombeere, Spanische Käfer, Kamille und alles andere, was sich in Tees, Arzneien oder Bonbons finden ließ.

Also, wie gesagt, in Drogenkunde hatte ich eine drei.

In allen anderen Fächern stand ich schwer auf dem Notsignal, ich würde das vierte Semester mit keinem Wunder der Welt schaffen.

Zu den Semesterferien zwischen dem dritten und vierten Semester wurde dann beschlossen, daß ich das zweite Jahr wiederholen sollte.

Nun gut, dann war das halt so.
 

Ulrich photographierte gerne und oft. Um die Bilder dann ansehen zu können, musste man mit dem belichteten Film noch zu einem Photogeschäft in die Stadt fahren und ihn entwickeln lassen.

Wir waren immer in demselben Photogeschäft um die Filme entwickeln zu lassen. Der Chef war freundlich und Ulrich unterhielt sich gerne mit ihm.

In demselben Geschäft war auch eine junge Angestellte, mit der wir uns über die Zeit etwas anfreundeten.

Sie sprach allerdings ganz anders von ihrem Chef, als er sich gegenüber seinen Kunden zeigte.

Die junge Frau hieß Natascha und war nur wenige Jahre jünger als ich. Ich mochte sie sehr und wir verstanden uns gut.

Die Tatsachen, daß Natascha ein Mädchen war, und kein junger Mann, und daß Ulrich sie offenbar auch mochte, ließ das Anfreunden in eine richtige Freundschaft wachsen.

Ich durfte sie sogar besuchen.

Beim zweiten oder dritten Besuch, als ich auch alleine zu Natascha fahren durfte, kam es dann dazu, daß wir uns gegenseitig die Herzen ausschütteten.

Ihr war längst aufgefallen, daß ich nicht glücklich war. Daß Ulrich alles andere als ein netter Gesellschafter war.

Ich konnte Natascha alles erzählen.

Sie verstand mich und fühlte mit mir.

Auch sie war nicht glücklich mit ihrem Leben und schüttete ihrerseits das Herz bei mir aus.

Zusammen saßen wir dann bei ihr im Wohnzimmer, den inzwischen kalt gewordenen Tee auf dem Tisch und weinten, lachten und litten zusammen.

Auch überlegten wir, wie wir unsere Situationen ändern könnten.

Wobei bei mir so gut wie keine Option zu finden war.

Alle Pläne endeten damit, daß ich mittellos auf der Straße sitzen würde.

Ich hatte keine Freunde mehr, da ich die Kontakte abbrechen musste. Meine Mutter hatte schon lange den Kontakt zwischen mir und meinen Freundinnen aus der Waldorfschule abgebrochen.

Alle, die ich sonst kannte, waren keine echten Freundschaften oder eben Jungs.

Bei meiner Mutter selbst anzufragen traute ich mich nicht. Sicher würde sie mir Tag ein Tag aus immer wieder predigen, daß ich alles selbst zerstört hatte.

Das konnte ich beim besten Willen nicht gebrauchen.

Das war auch der Grund, warum ich sie in Unkenntnis ließ und wenn wir telephonierten immer versuchte, alles schön zu reden.

Natascha wollte mir Geld leihen, was ich entschieden ablehnte. Ich wollte mich nicht bei einer Freundin verschulden.

Sie hatte selbst Probleme mit ihrer Beziehung.

Sie war nicht verheiratet, aber sie liebte ihren Freund. Er war ein Taugenichts der nur Unsinn anstellte. Klauen, massives Fremdgehen und Drogen waren nur kleine Beispiele. Oft nötigte er sie in Sachen Sex zu Dingen, die sie nicht wollte. Wenn sie das dann äußerte, dann behauptete er, sie würde ihn nicht lieben.

Leider war sie seelisch abhängig von ihm.

So hatten wir beide unseren Kummer, den wir aber von nun an teilen und mitteilen konnten.
 

Inzwischen war mein zweites Ehejahr vergangen. Wie gesagt stand für mich fest, daß ich das dritte und vierte Semester wiederholen würde.

In den Semesterferien im Frühjahr, vier Wochen von Februar bis März, beschäftigte ich mich wieder mit meiner Nähmaschine. Es war Fastnachtszeit und ich wollte einen weiteren Versuch starten, daran Teil zu nehmen.

Ich wollte versuchen das Kleid von der Medici, was ich damals zum Geburtstag des Norder Tores in Flensburg trug, nach nähen, mit anderen Stoffen.

Eine ganze Woche saß ich daran. Und es klappte. Das Kleid passte, saß gut auf dem Reifrock, den ich von unserer Friseuse geliehen bekam und sah auch noch gut aus. Es war aus weißem Glanzstoff mit eingewobenem Muster, daß man kaum sah. Ich verwendete außerdem einen Pannesamt in pastelllila und eine feine Gardinenspitze. Alles passte zusammen und sah wirklich toll aus.

Ich hatte inzwischen 15 Kilogramm zugenommen und das konnte auch der Schnitt des Kleides nicht mehr kaschieren.

Dennoch fühlte ich mich wohl in dem Kleid.

Meine Freundin Natascha wollte mitkommen.

Auch für sie musste ein Kostüm her.

Sie war sehr schlank, fast dürr. Ich dachte dann an ein Sailor Kostüm.

Ich hatte vor einem halben Jahr meine Liebe für Sailor Moon entdeckt, etwa zu dem Zeitpunkt, als Nickeloden nicht mehr sendete und ich auf andere Programme ausweichen musste.

Sailor Moon war klasse. Ich zeichnete wieder, entwarf sogar ein Kartenspiel mit Sailor Moon Motiven.

Da ich nicht die richtigen Stoffe da hatte und mich auch nicht traute, Ulrich danach zu fragen, nahm ich was ich hatte und erfand „Sailor Wega“.

Das Kostüm passte und saß wie auf den Leib modeliert. Natascha fühlte sich wirklich wohl in dem Kostüm und freute sich auf den bevorstehenden ersten Maskenball.

Er fand in Mensfelden statt und war ein Preismaskenball, das schönste selbst gemachte Kostüm sollte prämiert werden.

Voller Zuversicht machten wir uns fertig, Ulrich ging wieder als das Phantom der Oper. Er passte ganz gut zu meinem Kostüm. Dennoch hatte ich den Eindruck daß Ulrich sich nicht wohl fühlte. Dabei hat er selbst darauf bestanden, daß er als das Phantom gehen wollte.

Aber ich kannte das ja, er war immer maulig. Da Natascha mitkommen würde hoffte ich, daß er sich noch etwas zusammenreißen würde.

Die Halle in Mensfelden war bereits brechend voll, als wir ankamen. Dennoch bekamen wir schnell ein paar freie Plätze an einem der zahlreichen Tische.

Auf der Bühne spielte eine Live-Band die klassischen Reißer der Fastnachtszeit.

Natascha und ich waren voller Vorfreude auf den lustigen Abend und setzten uns erstmal an den Tisch um die Plätze für uns in Anspruch zu nehmen.

Es war laut, verraucht und voller Leute. Aber so muss es sein, wenn man auf einen Maskenball geht.

Ulrich setzte sich ebenfalls hin, allerdings machte er schon wieder sein spezielles Gesicht. Im Grunde hätte er die Maske gar nicht gebraucht. Allerdings sah er weit weniger erschreckend aus, wenn er die Maske aufhatte.

So saßen wir da, Natascha und ich rauchten und Ulrich ebenfalls, allerdings keine Zigarette. Er war Nichtraucher. Ich durfte zu Hause auch nur in der Küche rauchen. Was ich durchaus einsah.

Ulrich war wie gesagt schlecht gelaunt. Er sprach nicht viel und das wenige muffelte er vor sich hin.

Langsam vergingen auch uns die Lust und die Laune am Fasching.

Nach eineinhalb Stunden dann schlussendlich hatte Natascha nicht die geringste Lust mehr, sich mit diesem Mufflon abzugeben und wollte verständlicher Weise nach Hause.

Ich war enttäuscht und traurig.

Zu gerne hätte ich erfahren, ob mein Kostüm auch anderen gefallen hätte.

Von da an hatte ich nicht mehr den Wunsch mich zu verkleiden oder auf einen Maskenball zu gehen.
 

Einige Monate später, wir hatten Sommer und für mich hatte das dritte Semester zum zweiten Mal begonnen, wurde in Kirberg eine alte Gaststätte neu eröffnet. Laut der Werbung im „Kaffblättchen“, wie Ulrich den Amtsboten nannte, sollte dort auch eine Gruppe für Dartturniere aufgestellt werden. Das Training würde dann immer dienstags und donnerstags stattfinden.

Ich bekam Ulrich dazu, mit mir da hin zugehen.

Dort lernten wir dann Sabiene und Dieter kennen, die ebenfalls in Kirberg wohnten. Sabiene war ein halbes Jahr jünger als ich und hatte – wie Marco – im August Geburtstag. Dieter war etwa sieben Jahre älter als seine Partnerin und wirklich sehr lieb. Die beiden waren nicht verheiratet, lebten aber zusammen.

Biene war bereits im 6. Oder 7. Monat schwanger. Trotzdem rauchte sie. Ich fand das nicht wirklich in Ordnung, aber ich wollte auch nicht gleich unangenehm auffallen.

Ulrich und ich wurden in die Liste der Teilnehmer aufgenommen und hatten nun offiziell jeden Dienstag und Donnerstag mit Biene und Dieter zusammen Training.

Wir freundeten uns mit den Beiden an und trafen uns immer gerne.

Allerdings spielten wir mehr wegen des Spaßes Dart. Das war dem Chef aber nicht genug. Er versuchte immer uns mehr anzuspornen und wurde richtig lästig.

Ulrich kam schon nicht regelmäßig, weil er zwischendurch immer wieder Spätschicht oder Nachtschicht hatte, wo er nicht da sein konnte.

Bald kamen auch Biene und Dieter seltener, bis es dann schließlich ganz einschlief.

Die Kneipe hielt sich noch etwa zwei Monate, dann musste er schließen. Offensichtlich war er ein schlechter Geschäftsmann und es hieß, er war selbst sein bester Kunde.

Der inzwischen entstandenen Freundschaft zwischen Biene, Dieter, Ulrich und mir tat das allerdings kein Abbruch.

Wir besuchten uns oft gegenseitig. Später dann allerdings lieber, wenn Ulrich nicht da war.

Auch die beiden merkten schnell, daß er kein angenehmer Gesellschafter war.

Mit mir mochten sie allerdings gerne zusammen sein. Und da Ulrich die beiden kannte, war es wie mit Natascha, ich durfte auch alleine zu Besuch gehen.
 

In meinem neuen Semester hatte ich wieder das Glück, eine Mitfahrgelegenheit zu bekommen. Ein Mädchen, Samira, wohnte wie ich in Kirberg, hatte ein eigenes Auto und nahm mich mit zur Akademie und nach Hause. Dafür bekam sie dann die Hälfte der Spritkosten von Ulrich.

Das schien ihm wesentlich mehr zu zusagen als das Arrangement, daß ich mit Christoph hatte. Der fuhr mich zwar kostenlos, war aber männlichen Geschlechts.

Ulrich zahlte lieber, als daß er ständig vermuten musste, daß ich irgendwo mit Christoph in einem Wald parkte um wilde Sexorgien zu feiern.

Außerdem freundete ich mich mit noch zwei anderen Mädchen an, Antonia und Annette. Annette war immer extra sorgfältig, ordentlich und fleißig.

Antonia war einfach nur gut in ihrem Fach.

Auch sonst waren die Kommilitonen in diesem Semester sehr viel angenehmer, als in meinem letzten.

Auch Ulrich hatte die zwei kennen gelernt, wenn er mich mal von der Akademie abholte.

Als Ulrich dann im Oktober Geburtstag hatte, wollte ich eine Überraschungspartie für ihn herrichten.

Ich lud die Leute ein. Biene und Dieter, Samira, Martin und Hotbox aus Ulrichs Schicht. Eine weitere Freundin, die wir im Massamarkt kennen gelernt hatten, sie hieß wie ich Carmen, und Natascha, Antonia und Annette lud ich ebenfalls ein.

Alle sagten zu.

Also legte ich mir zurecht, wie ich eine Torte, ein kaltes und warmes Buffet und die Veranstaltung an sich einrichten konnte, ohne das Ulrich etwas davon mitbekam.

Er hatte Frühschicht am Tag seines Geburtstags, was mir sehr gelegen kam. Ich meldete mich an dem Tag in der Akademie krank und konnte jetzt in aller Ruhe alles vorbereiten.

Ich kochte Kartoffeln für Kartoffelsalat, machte eine Kirschtorte mit Schokoladencreme und stellte sie im Keller so hin, daß Ulrich sie nicht finden würde, sollte er in den Keller gehen nach der Arbeit.

Bei ihm war das Undenkbare möglich.

Ich machte einen Kartoffelsalat mit Majonaise, einen mit Speck, Zwiebeln und Salatdressing. Ich machte kleine Hackbällchen, kleine gefüllte Champignons und Paprikaschiffchen. Ich machte Hackröllchen mit Aubergine und Zucchini. Käsespieße mit Cocktail-Tomate und Weintraube, Wurstspieße mit Cocktail-Tomate und Weintraube. Ich füllte Cocktail-Tomaten mit einer Frischkäsecreme. Und ich machte einen Obstsalat und einen bunten Salat. Dazu hatte ich auch unauffällig für Getränke sorgen können, Cola, Fanta Sprite (ich bettelte um diese Getränke, ungeachtet dessen, daß er mich für diese Verschwendung wieder anmaulen würde). Ich hatte ja kein eigenes Geld, nur die 30 bis 40 DM Taschengeld, die er mir gab, damit ich in der Akademie etwas essen konnte.

Biene und Dieter brachten Bier mit. Selter hatten wir eh immer im Haus und für andere geistige Getränke sorgten dann auch die Gäste.

Ich ackerte den ganzen Vormittag in der Küche und schaffte alles, was ich mir vornahm. Ich war sogar eher fertig, als ich geplant hatte.

Den Raum würde ich nicht schmücken, immerhin sollte Ulrich ja nichts davon ahnen wenn er nach Hause kam.

Das Buffet baute ich im Esszimmer auf und verschloss die Tür. Nicht wegen der Katzen, um die musste ich mir keine Sorgen machen.

Als ich endlich fertig war hatte ich noch etwa zwei Stunden, bevor Ulrich nach Hause kommen würde.

Ich ließ mich auf das Sofa fallen, zufrieden mit meiner Leistung und voller Vorfreude auf eine hoffentlich gelungene Überraschung.

Als ich so vor dem Fernseher saß, hingelümmelt in meine Decke mit meinem Strolch auf den Beinen, juckte mein Bauchnabel.

Er juckte sehr.

Ich kratzte und hatte auf einmal das Gefühl, einen feuchten Finger zu haben.

Verdutzt holte ich meine Hand unter der Decke hervor und sah, daß mein Zeigefinger voller Blut war.

Blut!

Wieso?

Entsetzt sprang ich auf, zog mein T-Shirt hoch und starrte auf meinen Bauchnabel.

Dieser war heil.

Soweit jedenfalls.

Das Blut stammte aus einer Zecke, die ich kaputtgekratzt hatte!

Sofort bekam ich Panik!

Eine Zecke!

In meinem Körper!

Ekel würgte in meinem Magen und die Angst vor Borreliose oder gar Gehirnhautentzündung raubte mir den Verstand.

Ich wusste, daß mein Hausarzt in Kirberg im Moment Pause hatte, dennoch rief ich an. Immerhin war das ein ernst zu nehmender Notfall.

Er beruhigte mich und sagte mir, ich solle ganz normal in die Sprechstunde kommen.

Bis dahin war es noch über eine halbe Stunde!

Ich lief ins Badezimmer und kippte so viel Ethanol in meinen Bauchnabel wie ich konnte.

Dennoch gelang es mir nicht mich zu beruhigen.

Also machte ich das Beste daraus und ging zu Fuß zum Arzt. Seine Praxis lag bei MiniMal, am anderen Ende des Dorfes.

Natürlich war das für mich kein entspannter Spaziergang.

Ich hyperventlilierte und konnte mich nur schwer auf den Weg konzentrieren.

Als ich an der Praxis ankam war ich natürlich immer noch zu früh. Ich rauchte eine Zigarette nach der anderen um mich zu beruhigen. Endlich schloss mein Doktor die Praxis auf und ließ mich rein. Da ich die einzige war, die zu dem Zeitpunkt da war, nahm er mich gleich mit ins Behandlungszimmer und sah sich meinen Bauchnabel an.

„Na, das haben Sie aber schön hinbekommen.“ Sagte er schmunzelnd.

Ich wimmerte nur leise vor mich hin.

„Wo haben Sie die denn her?“ fragte er und versuchte das Insekt mit einer Pinzette zu entfernen.

„Ich schätze, das war vor drei Tagen. Da war ich im Wald Pilze suchen.“ Erklärte ich.

„Sie sammeln Pilze? Kennen sie sich denn damit aus?“ fragte er interessiert ohne von seiner Arbeit mit der Pinzette aufzublicken.

„Ja, allerdings nur die Röhrlinge. Ich habe einige Bücher über Pilze mit vielen Abbildungen. Bei den Steinpilzen kann man sich kaum vertun.“ Erzählte ich.

„Und? Haben Sie schon mal etwas gefunden?“ fragte er weiter.

„Ja, sogar richtig viele Steinpilze. Und die sind super lecker.“ Antwortete ich.

„So wird das nichts.“ Gab der Arzt seinen Versuch auf, die Reste der Zecke mit der Pinzette zu fassen zu bekommen.

„Das muss ich mit dem Skalpell machen.“ Murmelte er und holte eine Spritze aus einer Schublade und das Betäubungsmittel.

„Ich werde Ihren Bauchnabel jetzt örtlich betäuben. Wenn die Betäubung wirkt, schneide ich die Zecke heraus.“ Informierte er mich und setzte bereits die Spritze an.

Ich biss die Zähne zusammen. Wenn ich nur diesen ekelhaften Parasiten aus meiner Haut bekomme mache ich wirklich alles.

Als das Ungeziefer dann endlich vollständig entfernt war bekam ich den Bauchnabel voller Jodsalbe und eine dicke Kompresse draufgeklebt. Ich durfte wieder aufstehen.

Ich war heilfroh das Vieh endlich los zu sein.

„Was ist jetzt mit Borreliose und FSME?“ erkundigte ich mich.

„Sind Sie gegen die Meningitis geimpft?“ fragte mich der Doktor.

„Ja, letztes Jahr erst.“ Erwiderte ich.

„Dann sollten Sie nichts zu befürchten haben. Wegen der Borrelien kommen Sie einfach in sechs Wochen nochmal zu einer Blutprobe. Jetzt können wir da noch gar nichts feststellen. Keine Sorge, so verbreitet ist die Krankheit hier nicht.“ Versuchte er mich zu beruhigen, wünschte mir noch einen schönen Tag und entließ mich wieder aus der Praxis.

Ich beruhigte mich langsam auf dem Weg nach Hause. Ich war das Viech los. Hoffentlich würde der Bauchnabel nicht anfangen mich zu piesacken, wenn die Betäubung nachlassen würde.
 

Ulrich kam etwas später nach Hause, was für mich kein Problem war. Die Aufregung mit meinem Bauchnabel war weitestgehend überwunden und ich freute mich schon wieder auf den Abend.

Ulrich kam gegen halb sechs am Abend nach Hause und die Party war für 19 Uhr angesetzt.

Er schöpfte keinen Verdacht. Er hatte sowieso schlechte Laune, aber das war ja nichts Ungewöhnliches.

„Hast du gelüftet?“ brummelte er als er seine Arbeitstasche auf den Flur stellte und die Wohnungstür hinter sich schloss.

Er kam nie nach Hause und fragte: „Wie war dein Tag?“

„Ja, hab ich.“ Antwortete ich monoton.

„Hast du das Katzenklo sauber gemacht?“

„Ja, hab ich auch.“

„Hast du an die Wäsche gedacht?“

„Ja, aber die ist noch nicht trocken.“

Er ging durch jeden Raum und kontrollierte die Heizungen. Dann drehte er sie aus und riss ein Fenster nach dem anderen auf.

Als er ins Esszimmer wollte rannte er fast gegen die Tür, die sich nicht öffnen ließ.

„Warum ist hier abgeschlossen?“ pflaumte er mich schroff an.

„Abgeschlossen?“ ich stellte mich so unschuldig und doof wie ich konnte.

„JA, abgeschlossen!“ Schrie er mich an.

Es fiel mir schwer nicht herauszuplatzen, was ich geplant hatte. Nicht, weil ich es vor lauter Aufregung nicht mehr aushielt.

„Und der Schlüssel steckt auch nicht im Schloss! Was soll das?“ spuckte er beinahe.

Ich beschloss das zu tun, was ich immer tat, wenn ich dermaßen von ihm angepöbelt wurde.

Ich hielt den Mund, bewegte mich so wenig wie möglich und weinte still vor mich hin.

Krampfhaft hielt ich an meinem Vorhaben fest.

Krampfhaft klammerte ich mich an den Moment, wo ich alles auflösen konnte und hoffte, daß er dann wenigstens besänftig wäre.

Gottseidank würde es nicht mehr lange dauern, bis die ersten Gäste kommen würden.

„Was treibst du hier eigentlich den ganzen Tag!“ brüllte er jetzt und durchwühlte die Schubladen nach einem Schlüssel, der vielleicht passen könnte.

„Hockst auf deiner faulen Haut und daddelst mit der Playstation!“ motzte er weiter, ohne mich anzusehen.

In dem Moment klingelte es.

Ulrich ging wütend zur Tür und öffnete.

„Hallo Ulrich, alles Gute zum Geburtstag.“ Hörte ich Natascha flöten und ein Papierrascheln ließ vermuten, daß sie Blumen mitgebracht hatte.

Ulrich war etwas verdutzt und ließe sie vorbei in die Wohnung.

Als er die Tür zumachen wollte kam schon der nächste.

Ich holte den vermissten Schlüssel aus meiner Hosentasche und schloss das Esszimmer auf.

Einer nach dem Anderen kamen jetzt die Gäste und füllten ganz langsam das Wohnzimmer.

Ulrich war einigermaßen sprachlos und überrascht.

Soweit immerhin hatte mein Plan funktioniert.

Ich ging dann wortlos an ihm vorbei, „Darf ich mal?“ und in den Keller runter, um mit der Geburtstagstorte wieder rauf zu kommen.

Eigentlich wollte ich noch Kerzen drauf machen, hatte aber nur Teelichter und die machten sich auf einer Torte nicht so gut.

Schließlich waren alle geladenen Gäste, die zugesagt hatten, da und saßen im Wohnzimmer.

Ulrich schloss die Tür und stand jetzt mitten im Wohnzimmer und wusste nicht, was er dazu sagen sollte.

Antonia stimmte dann ein Geburtstagslied an und alle fielen sofort mit ein.

„Ja… Aber… Danke.“ Murmelte Ulrich verlegen.

„Und was jetzt?“ fragte er dann planlos.

„Jetzt plündern wir das Buffet.“ Verkündete ich und drückte ihm den Schlüssel in die Hand, den er eben gesucht hatte.

„Wenn die Herrschaften mir dann bitte folgen möchten?“ forderte ich auf und ging ins Esszimmer. Ulrich war neuerlich geplättet.

Es wurde ein sehr lustiger Abend, auch wenn Ulrich sich nicht sehr beteiligte. Die Tatsache, daß er die Hauptperson war, ließ ihm allerdings keine andere Wahl.

Während der ganzen Zeit managte ich den Abwasch, räumte Teller, Gläser und Besteck ein und hielt alles so ordentlich es ging, damit Ulrich nicht auch darüber noch eine Predigt halten konnte. Natascha und Antonia halfen mir dabei.

Als dann am Ende der letzte Gast gegangen war, gab es keine Arbeit, die zurückgeblieben wäre.

Ich räumte die Reste vom Buffet in den Kühlschrank und war zufrieden mit mir und der gelungenen Party.

Ulrich saß im Wohnzimmer und guckte Fernsehen.

„Und? Hat es dir gefallen?“ fragte ich ihn und ließ mich ins Sofa fallen.

„Hmhm“ machte er nur.

Ich gab es auf.

Soll er doch brummeln.

Ich fand den Abend toll.

Kapitel XXII
 

Inzwischen war ich jetzt seit drei Jahren verheiratet.

Ich schaffte das dritte Semester gut und war jetzt im vierten. Meine Zensuren hatten sich verbessert. Nicht gerade überragend, aber die Wahrscheinlichkeit, daß ich dieses Mal an den Prüfungen teilnehmen könnte, stand gut.

Gleichzeitig musste ich damit beginnen, einen Ausbildungsplatz in einer Apotheke zu bekommen, um mein sechsmonatiges Praktikum vor der praktischen Prüfung machen zu können.

In einem PTA-Heft fand ich dann eine Anzeige in der zu lesen war, daß in Idstein eine neue Apotheke aufmachen würde und Personal gesucht wurde. Auszubildende eingeschlossen.

Ich rief bei der angegebenen Nummer an und bekam sofort einen Termin für ein Bewerbungsgespräch.

Ulrich fuhr mit mir zu der angegebenen Adresse. Er blieb im Wagen sitzen und wollte draußen auf mich warten. Ich ging allein zur Tür und ich klingelte.

Eine Frau mit Brille und spitzbübischen Gesichtsausdruck begrüßte mich und zog mich beinahe in die Wohnung.

„Kommen Sie doch rein.“ Sagte sie fast freundschaftlich.

„Stalla mein Name.“ Stellte sie sich dann vor.

Ich wurde in das Wohnzimmer geführt wo mein potentiell zukünftiger Chef am Esszimmertisch saß. Er blickte von seiner Beschäftigung auf und begrüßte mich genauso freundlich wie seine Frau es vorher getan hatte. Er war mir auf Anhieb sympathisch.

Zuerst fragte er mich nach meiner Ausbildung. Ich erzählte, daß ich die PKA bereits in der Tasche hatte und nun auf dem Weg sei, die PTA abzuschließen.

Er sah sich die Unterlagen an, die ich dabei hatte.

Dann sah er mich an, als überlegte er, was als nächstes zu tun sei.

Er erzählte mir dann ausführlich und mit bunten Ausführungen, daß in Idstein eine Apotheke gebaut und eigerichtet wurde, seine Apotheke. Er strahlte über das ganze Gesicht und war aufgeregt wie ein kleiner Junge. Er berichtete von den Schwierigkeiten und den Umständen, wie es zu der Apotheke kam. Ließ einige Schwenke aus seiner Jugend mit einfließen und kleidete seine Erzählungen mit Witz aus.

Dann kamen wir dazu, wie er seine jetzige Frau kennen gelernt hatte. Er ließ mich von meiner Kindheit erzählen, der Seefahrt meines Vaters, dem Beruf meiner Mutter, den Kostümen und sogar über Katzen unterhielten wir uns ausführlich.

Nach zwei Stunden etwa kam seine Frau zu uns an den Tisch und fragte mich:

„Da draußen läuft ein junger Mann mit Brille und hoher Stirn auf und ab, könnte er zu Ihnen gehören?“

„Ja, das könnte mein Mann sein.“ Sagte ich.

„Na, dann hol ihn mal rein.“ Freute sich Herr Stalla, mein bis jetzt noch immer potentiell zukünftiger Chef.

Zu der eigentlichen Bewerbung hatte er noch nichts geäußert.

Seine Frau rief Ulrich rein und dann saßen wir alle am Esszimmertisch und wir mussten ausgiebig darüber berichten, wie wir uns kennengelernt hatten und wie wir zu der Heirat gekommen waren.

Gegen halb ein Uhr in der Nacht musste ich dann aber die Kaffeetafel aufheben.

„Ich muss morgen eine Klausur schreiben.“ Begründete ich den Aufbruch.

„Oh, ja, natürlich. Gute Güte ist das spät geworden.“ Stellte Herr Stalla fest und stand vom Tisch auf.

„Also, ich rechne dann fest mit Ihnen am 1. August in meiner neuen Apotheke.“ Sagte er dann überschwänglich und gab mir zum Abschied die Hand.

Das war das seltsamste und längste, aber auf jeden Fall lustigste Bewerbungsgespräch in meinem Leben.
 

Es war Juni und die Theoretischen Prüfungen standen bevor. Antonia kam oft um mit mir zusammen den Stoff durchzugehen. Sie war eine Einser-Kandidatin, aber keine Streberin. Sie half mir so gut sie konnte. Brachte ihre Unterlagen mit. Natürlich hatte sie längst mitbekommen, daß ich Probleme mit meinen Unterlagen hatte und genauso natürlich war es ihr nicht entgangen, woran das lag.

Sie mochte Ulrich nicht.

Keiner mochte Ulrich.

Daher trafen wir uns nur, wenn Ulrich auf Schicht war.

Unser Dozent, der Herr Neuhaus, erklärte uns, wie die Prüfung ablaufen würde.

Es wäre eine ganze Woche lang kein Unterricht und es würden immer zwei Fächer schriftlich geprüft, zwischendrin noch die mündlichen Prüfungen zum Beispiel in Physik.

Unser Herr Neuhaus war ein klasse Dozent.

Sehr kompetent aber ungeheuer Menschenfreundlich. Er war witzig ohne albern zu sein, so wie die meisten Dozenten, die versuchten sich mit ihren Schülern kumpelhaft zu stellen.

Er erzählte in schillernden Farben und mit vielen Lachern aus seiner Zeit in der Apotheke und beim Bund.

Er benutzte lustige Namen für fiktive Kunden – die aber allesamt von realen Personen stammten.

Das waren dann „Oma Flusengrün“ und „Opa Dosenbier“.

Er war gewitzt und gelinde gesagt ausgebufft.

Wir liebten ihn.

Wenn er zum Beispiel jemanden zu sich rief, dann klang das in etwa so:

„Frau Hansen? Herkommen und einen Halbkreis um mich bilden.“

Wenn man ihn in der praktischen Chemie während einer Analyse bei einer Plauderei versuchte beiläufig nach dem Stoff zu fragen, der zu analysieren galt, dann gab er immer eine Antwort. Allerdings war es dann entweder „Schlappofix“ oder „Schikanylschikanat“.

Wenn er seinen Namen buchstabieren oder erklären sollte, dann sagte er immer: „Neuhaus, wie Rohbau.“

Leider half mir das in meinen Problemfächern nur wenig.

Die Prüfungen kamen und ich hab einige auch bestanden.

Leider fiel ich aber in zwei Hauptfächern und einem mündlichen Fach durch. Damit konnte ich mein Praktikum nicht beginnen.

Ich hatte allerdings die Möglichkeit die Prüfungsfächer nachzuholen ohne die Semester voll zu belegen.

Ich sprach mit Herren Stalla darüber und wir einigten uns darauf, daß ich erstmal auf 400 DM Basis bei ihm arbeiten würde. Nebenbei konnte ich am Unterricht Teil nehmen und in der Apotheke lernen.

Die Fächer, in denen ich durchgefallen war, waren Chemie, Arzneimittelspezialitätenkunde und das mündlich geprüfte Fach Physik.

Ich stand schon immer mit dem letzteren auf Kriegsfuß.

Wenn ich in meinem Auto auf das rechte Pedal trete, werde ich schneller. Wozu muss ich berechnen können, um wie viel ich im Quadrat schneller werde? Wenn es kracht, hab ich mich über- und mein Auto unterschätzt.

Wenn ich tot bin nützt mir auch die Beschleunigungsformel nichts mehr.

Wenn ich den Hahn aufdrehe, kommt Wasser raus. Wenn es mir zu schnell herauskommt, drehe ich den Hahn wieder zu ohne vorher auszurechnen, wie weit ich den Hahn zu drehen müsste um auf einen bestimmten Druck oder eine bestimmte Menge zu kommen.

Mache ich einen Eimer voll Wasser, ist er voll. Kippe ich den Eimer um, ist er leer.

Ich musste das noch nie nachrechnen um das zu begreifen.
 

Als die Prüfungen dann vorbei waren begannen für uns gleichzeitig die Semesterferien. Ulrich plante in diesem Sommer mitten in der Hochsaison nach Schleswig-Holstein zu fahren.

Nach Hause.

Wir waren im letzten Jahr auch schon oben, 14 Tage lang. Die eine Woche wohnten wir bei meinen Eltern, die zweite Woche bei seinen Eltern.

Überwiegend waren wir Einkaufen. Sonst haben wir nichts unternommen. In der Woche, die wir bei meiner Mum waren, schenkte sie mir unerwartet ihre alte Nähmaschine und die Overlock. Ich war von den Socken und schwer erstaunt. So teure Geräte. Ich wusste nicht wie ich das verdient hatte.

Später dann sagte mir Ulrich, daß meine Mum ihm erklärt hätte, das wäre als kleine Wiedergutmachung weil wir uns das Haus nicht hatten leisten können.

Ich war doch etwas erschrocken. Ich wusste zwar, daß Ulrich bei der Verwandtschaft nach Unterstützung gefragt hatte. Aber daß meine Mum sich gleich verpflichtet fühlte, das wieder gut zu machen, versetzte mich in Erstaunen.

Wie damals würden wir auch dieses Mal unsere Katzen mit in den Urlaub nehmen. Sie waren zu personenbezogen um sie in eine Pension zu geben. Und es klappte sehr gut mit den Beiden.

Ich hab den Beiden im letzten Jahr beigebracht, daß man sich durchaus nach draußen trauen kann. Zuerst mit Leine und Katzengeschirr. Das war eine gute Idee denn beim ersten Schrecken versuchten die beiden in alle Himmelsrichtungen gleichzeitig zu flüchten. Sehr bald begann Susi dann auch damit zu flüchten, sobald sie auch nur vermutete, ich könnte mit den Katzen raus wollen. Sie versteckte sich in der Wohnung und ward bis zum Abend nicht mehr gesehen.

Strolch war anfangs auch sehr ängstlich und unsicher. Aber er war auch neugierig und fand einen gewissen Spaß an der Sache. Er bemühte sich wirklich zu lernen, wie Katze sich in der freien Wildbahn verhalten sollte.

Nach vier Wochen ließ ich die Leine dann schon mal weg. Er ging brav bei Fuß und nur auf dem Fußweg.

Als ich sicher sein konnte, daß er sich sicher fühlte und keine Dummheiten machen würde, sollte etwas Unvorhergesehenes passieren, ließ ich ihn auch alleine raus.

Ich habe keine rechte Idee wie ich es hinbekommen habe, daß der Kater spätestens um 22 Uhr, im Winter um 21 Uhr zu Hause zu sein hatte.

Aber so lief es.

Beide hatten keine Angst vor dem Autofahren.

Wir haben gelegentlich mal kleine Ausflüge gemacht mit den Beiden. Sie liefen frei herum und wir konnten uns darauf verlassen, daß sie nicht wegliefen um die Welt auf eigene Faust zu erkunden. So fuhren wir so manches Mal mit den Beiden Katzen in den Wald. Die Kiste hatten wir immer mit, sperrten die zwei aber nicht darin ein. Sie durften frei im Wagen liegen. Sie hatten schnell gelernt, daß sie vorne nichts zu suchen hatten.

Unsere kleine Prinzessin beschränkte sich voll und ganz auf den Fußweg während Strolch doch mal zwischen die Bäume ging um zu gucken, was da wäre.

Laut miauend scharrte er dann ein Loch in den mit Blättern dick bedeckten Boden. Nahm genauso laut miauend Maß, ging an eine andere Stelle, grub ein neues Loch und nahm wieder Maß. Das machte er so lange, bis er mit einem der Löcher zufrieden war und markierte diesen Platz als den seinen.

Wenn er alleine draußen war fing er sogar gelegentlich mal eine Maus. War diese dann Tot war sie total uninteressant geworden.

Einmal war ich mit ihm zusammen draußen und er erwischte wieder eine Maus.

Diese biss ihm in die Schnauze, worauf er sie fallen ließ. Flink wie ein Wiesel haute er mit der Pfote auf die Maus, die ihn erneut biss. Er zog die Pfote weg und schlug mit der anderen auf die Maus, die wieder zubiss.

Dann drehten sich beide ein paar mal sehr schnell im Kreis um die Achse des Katers und am Ende setzte sich der Kater hastig hin.

Da saß er nun.

Von der Maus war nichts zu sehen.

Dann hob er die eine Pfote, um nachzusehen, ob er die Maus erwischt hatte.

Keine Maus.

Er hob die andere Pfote, ohne die erste abzustellen, keine Maus.

Er stellte die Pfoten wieder auf den Boden und sah aus, als wolle er sagen: „Nagut, hat das Viech halt gewonnen!“

Er stand auf und wollte weitergehen.

Unter seinem Hintern kam jetzt die Maus zum Vorschein, die auf dem Rücken lag, noch ein paar Mal japste und dann ihr Leben aushauchte.

Der Kater sah die Maus, überprüfte ob sie sich noch bewegte, erklärte das Spielzeug für kaputt und ich durfte die Reste entfernen.

Ich brauchte eine Weile, bis ich das tun konnte, ich hatte Tränen vor Lachen in den Augen.

Wie also schon gesagt wollten wir in dem Sommer nach Schleswig-Holstein fahren. Dieses Mal allerdings sollten wir im Haus meiner Mum, die nicht da war, wohnen mit meinem Bruder zusammen und als Gegenleistung sollte Ulrich eine Wand einreißen, das riesige Fenster entfernen und zwei Fenster dafür einsetzen.

So jedenfalls hatte ich das verstanden.

Für dieses Vorhaben ließ meine Mum einen Umschlag mit Geld da. Sie selbst war auf einer Seereise mit meinem Vater.

Als wir ankamen wollte Ulrich sich zuerst ein Bild davon machen, was auf ihn zukäme.

Mein Bruder erklärte uns dann, daß er nicht dazu gekommen war, den Raum aufzuräumen. Als wir in den Raum kamen, der bisher das Schlafzimmer meiner Mutter war, platzte er beinahe vor Zorn.

„Was ist denn das für ein Saustall? Deine Mutter hatte mir versprochen, daß ich praktisch sofort anfangen könnte!“ brüllte Ulrich ungehemmt.

Mein Bruder versuchte sich zu rechtfertigen, was ihm nicht gelang.

Ich hielt mich zunächst noch zurück.

Dann, etwas später, erklärte mein Bruder, daß wir uns ausschließlich in dem Raum aufhalten durften, was früher mal mein Zimmer war und die Küche nicht benutzen noch in die übrigen Zimmer gehen dürften.

Das fand ich jetzt wiederum etwas seltsam.

Ulrich fragte mich dann, ob das angehen kann und ich antwortete, daß ich selbst etwas verwirrt sei.

Dann redete er auf mich ein, ich sei doch schließlich die Tochter und mir würde rein Erbrechtlich die Hälfte des Hauses und somit auch die Hälfte des Zusagenhabens zustehen. Das könne nur von meinem Bruder kommen, sich so etwas einfallen zu lassen.

Längst schon hatte ich aufgehört selbständig zu denken. Ich empfand es sogar als völlig korrekt, was Ulrich mir da erzählte.

So würde er jedenfalls keine Fenster einsetzen, schnauzte er weiter.

Er befahl meinem Bruder dann im Bundeswehrton den Raum, in dem die Fenster gemacht werden sollten, binnen zwei Tagen soweit freigeräumt zu haben, daß er da anfangen könne, sonst würde er sich weigern.

Weiter ließ er sich dann den Umschlag mit dem Geld für den Baumarkt aushändigen.

Außen auf dem Umschlag stand die Summe Geld, die meine Mum hineingetan hatte.

Ich saß bereits im Auto, als Ulrich zurückkam.

Er zog wieder seine schlimmste Grimasse und mir schwante Böses.

„Dein Bruder hat mich gerade bei Seite genommen und mir gesagt, er hätte schon 100 DM rausgenommen, weil er etwas Schwierigkeiten hatte mit irgendetwas. Ich solle dir aber nichts davon erzählen!“

Sehr zu meiner Erleichterung war ich tatsächlich mal nicht der Grund für seinen Zorn. Im Gegenteil, es gab etwas, daß ihn dazu brachte, mich wie einen halbwegs gleichwertigen Menschen zu betrachten.

Er schimpfte über die Niedertracht meines Bruders und fuhr los. Auf dem ganzen Weg nach Flensburg hörte er nicht auf zu motzen und kam auf die abenteuerlichsten Ideen, warum mein Bruder das Geld tatsächlich aus dem Umschlag genommen hätte.

Und warum Ulrich mir nichts davon sagen sollte.

Ich hatte gar keine Chance irgendetwas dazu zu sagen. Mir blieb nichts anderes, als ihn wettern zu lassen.

Leider allerdings muss ich zu geben, daß ich das Gefühl hatte, Ulrich sei im Recht und mein Bruder wäre tatsächlich so niederträchtig. Meine Mutter würde mich auch nur verarschen, weil ich ja angeblich nur in Gegenwart und unter der Beaufsichtigung meines Bruders die Küche benutzen durfte. In mir keimte ein Gefühl, daß ich mit Ulrich zusammengehörte und ihm auch beistehen sollte. Immerhin war er doch mein Mann und warum sollte mein Mann mich belügen?

„Der hat das Geld da rausgenommen und wollte uns das klammheimlich anhängen!“ schnauzte Ulrich jetzt.

„Wie meinst du das denn?“ fragte ich. Ich konnte seinem Gedankengang nicht ganz folgen.

„Er wollte eigentlich gar nichts sagen. Aber als ich den Umschlag aufgemacht hatte um nachzusehen, ob alles da wäre, da ist er dann kleinlaut damit rausgerückt!“ wetterte Ulrich fleißig weiter.

„Man gut, daß ich nicht so blöd bin, wie er meint und nachgesehen hab. Wenn ich das jetzt erst im Baumarkt bemerkt hätte, dann hätte er einfach sagen können, er hätte mir das ganze Geld ausgehändigt und wir hätten dann einfach mal 100 DM verschwinden lassen!“ erklärte er aufgebracht.

Das klang logisch.

Ich begann mich seiner Wut anzuschließen. Nicht weniger wegen dem Grund, daß wir irgendwie etwas gemeinsam hatten. Und sei es nur die Tatsache, daß wir so hinterhältig hintergangen werden sollten.

Abends dann wollte Ulrich meinen Bruder zur Rede stellen. Der verteidigte sich nur und stritt alle Anschuldigungen ab.

Ich rastete aus und schrie ihn an und warf ihm alles vor, was Ulrich mir so ausführlich beigebracht hatte, daß ich schließlich die Ältere war, daß ich schließlich in dem Haus aufgewachsen sei, daß ich schließlich als seine große Schwester mindestens genauso viel zu sagen hatte, wie er und viele, viele Gemeinheiten mehr.

Ulrich war sichtlich stolz auf mich und ich fühlte mich bestärkt.
 

Als die zwei Tage abgelaufen waren, in denen mein Bruder das Schlafzimmer hatte aufräumen sollen, war natürlich nichts dergleichen passiert.

Alles was sich geändert hatte war, daß alle Räume außer der Küche, dem Badezimmer oben und dem Zimmer, in dem wir schliefen, abgeschlossen waren und mein Bruder nicht anzutreffen war.

Am Nachmittag dann, als Ulrich und ich das Haus verließen um etwas essen zu gehen (die Küche nutzten wir aus purem Trotz nicht), hatte mein Bruder dann das Pech just in dem Moment aufzukreuzen. Er war gerade mit zwei Nachbarn dabei den maroden Schornstein auf dem Dach vom Haus meiner Mutter zu inspizieren.

Ulrich war das vollkommen egal! Er baute sich vor meinem Bruder auf und schrie ihn zusammen, deutlich vernehmbar für alle, die in Hörweite waren.

„Du fauler Sack solltest das Zimmer fertig machen! Jetzt ist auch noch alles abgeschlossen! Du behandelst uns wie Verbrecher, dabei wolltest DU uns doch hintergehen!

Sieh zu, daß du das endlich geregelt kriegst innerhalb kürzester Zeit oder ich nagel die die Eier auf Der Straße fest!!!“

Ulrich steigerte sich immer weiter rein und seine Stimme überschlug sich.

Ich bekam Angst und hielt lieber meinen Mund. Das mit den Eiern war zu viel, fand ich. Aber die Angst, auch noch etwas davon abzubekommen schnürte meine Gedanken und meinen Verstand ab.
 

Mein Bruder schrieb daraufhin ein Fax an meine Mum. Faxe haben nun die Angewohnheit, wenn sie an Bord eines Schiffes eingehen, von der ganzen Mannschaft eingesehen werden zu können. Zumindest von den Offizieren, die auf der Brücke waren.

Dementsprechend war es natürlich mehr als peinlich und unangenehm für meinen Vater, nicht weniger für meine Mutter.

Sie schrieb ein sehr deutliches Fax zurück, das direkt an mich gerichtet war.

Ich wäre Gast in ihrem Haus und mein Bruder so lange sie nicht da war der Hausherr. Ich habe mich wie ein Gast zu benehmen und wenn ich das nicht könnte, dann solle ich sehen, daß ich ihr Haus umgehend verlasse!

So, oder so ähnlich lautete der Inhalt.

Natürlich fing Ulrich sofort wieder an zu wettern. Er schimpfte auf mein Mutter und die Ungerechtigkeit mir gegenüber.

Und ich glaubte ihm.

Am folgenden Wochenende würde meine Mutter aussteigen und nach Hause kommen.

Ulrich hatte nicht vor sich länger als notwendig mit ihr und meinem Bruder unter einem Dach aufzuhalten. Ich wäre gerne noch geblieben. Es war Sommer und wir waren noch nicht mal am Strand.

Er redete jedoch so lange auf mich ein, bis ich dann nachgab und ihm Recht gab.

Am Tag der erwarteten Ankunft meiner Mum standen Ulrich und ich früh auf und begannen unsere Sachen zu packen. Anfangs war ich traurig. Ich wollte echt noch bleiben. Aber Ulrich ließ mir nicht viel Gelegenheit dazu mich auf die Traurigkeit einlassen zu können.

Er wetterte vom ersten Moment an, wo er aufgewacht war, über diese Zustände in dem Haus, in der Küche, der Familie.

Bald schon war ich wieder voll seiner Meinung und sicher, daß er Recht hatte.

Das Auto war schließlich fertig gepackt. Nur die Katzenbox und die Katzen waren noch oben im Zimmer.

Am Nachmittag dann kam meine Mutter nach Hause. Mein Bruder hatte sie in Hamburg vom Flughafen abgeholt.

Zusammen kamen sie jetzt mit Koffern, Tüten und Taschen bepackt ins Haus. Meine Mum grüßte, als wäre nichts vorgefallen.

„Guck dir an, wie scheinheilig sie jetzt ist!“ raunte Ulrich mir zu.

„Von weit weg kann sie zetern. Jetzt hat sie es wohl mit der Angst bekommen!“

Ich war mir nicht sicher, was Ulrich damit meinte, hielt aber meinen Mund.

Wir saßen dann alle im Wohnzimmer, ich auf der Lehne von dem Sessel, in dem Ulrich saß. Meine Mum war freundlich und erzählte von der Reise, öffnete Koffer und holte Mitbringsel hervor. Ich wollte mir die Sachen ehrlich ansehen und war auch an ihren Erzählungen interessiert. Aber immer wenn Ulrich das mitbekam, piekte er mir in den Oberschenkel um mich daran zu erinnern, daß ich ja rasend vor Zorn war.

Ulrich flüsterte mir in unbeobachteten Momenten auch immer wieder zu, wie falsch meine Mum doch wäre. Tut so, als wäre alles in Ordnung.

Irgendwann brach er dann hervor und wurde unfreundlich. Er beschimpfte meine Mutter unverhohlen. Er beleidigte sie schamlos und ermutigte mich ebenfalls meinen Frust abzulassen. Immer wieder gab er mir Themen vor die ich sofort aufgriff und weiterführte.

Meine Mum war ehrlich entsetzt und das blieb mir nicht verborgen. Dennoch hatte ich mich ebenfalls dermaßen in Rage geredet, daß ich nicht mehr bremsen konnte.

Das Ende dieses unschönen Liedes war dann, daß meine Mutter uns rauswarf. Ulrich stand auf und schrie sie an, daß er sowieso nicht vorhatte zu bleiben.

Wir holten die Katzen, brachten sie ins Auto und fuhren los.

Ich war mir sicher, daß das der letzte Tag war, an dem ich etwas von meiner Familie gesehen hatte.

Pech!

Sie wollten mich ja sowieso nicht haben.

Ulrich hatte mir die Augen geöffnet und ich hatte das ehrliche Gefühl, daß das der einzige Weg war damit abzuschließen!
 

*
 

„Das ist nicht dein Ernst!!!“ Nicole starrt mich mit offenem Mund und großen Augen an.

„Doch.“ Sage ich kleinlaut.

„So hat es sich abgespielt.“

„Ich weiß absolut nicht, was ich dazu sagen soll!“ Meine Freundin ist mehr als nur entsetzt.

„Da gibt es nicht viel dazu zu sagen.“ Flüstere ich immer noch kleinlaut.

„Ich bin nicht stolz darauf, was ich damals angerichtet hab.“ Mir kommen die Tränen.

„Hey, Süße…“ Nicole hüpft neben mich auf das Sofa, legt mir ihren Arm um die Schulter und mit der freien Hand kramt sie in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch.

„Ich meine,“ sagt sie dann ruhig zu mir, „Der Alte hat sich ja wirklich mächtig in´s Zeug gelegt, dich zu manipulieren!“

„Schon,“ weine ich jetzt, „Aber ich hätte doch wissen müssen, daß er im Unrecht war. Daß ICH im Unrecht war. Ich meine, ich war vorher schon eine unausstehliche Zicke. Trotzig und selbstgefällig. Ich wusste ja immer alles besser. Aber da bin ich zu weit gegangen. Ich hab mich selbst nicht verstanden. Wie konnte ich meiner Mum das antun? Ich hatte sie doch lieb?“ ich weine hemmungslos in mein Taschentuch.

Nicole streichelt mir tröstend über den Rücken.

„Na, so wie er auf dich eingeredet hat. Es klang ja wirklich irgendwie plausibel.“ Versucht sie einzuräumen.

„Nein, ich hätte es selbst sehen müssen.“ Widerspreche ich ihr.

„Aber er hat dir das selbständige Denken doch schon abgewöhnt. Schon, ganz Schuldlos bist du nicht.“ Gibt sie jetzt zu.

„Siehst du!“ schluchze ich erneut.

„Nun mach dich nicht schlechter als du bist.“ Sagt Nicole und puhlt ein neues Taschentuch aus der Packung.

„Du hast leicht reden…“ flüstere ich, während sie mir die Tränen aus dem Gesicht wischt.

„Du hast doch alles wieder eingerenkt.“ Meint sie dann.

„Ja, aber erst nach vier Jahren totaler Funkstille.“ Weine ich.

Nicole schweigt und streichelt mir weiter den Rücken.

„Du hast es am Ende ja noch alles hinbekommen.“ Sagt sie dann leise zu mir.

In dem Moment klingelt mein Telephon.

„Reich mir doch mal das Tefflon.“ Sage ich zu Nicole.

Sie gibt mir das klingelnde Gerät.

„Na, mein Engelchen? Wie geht es dir?“

„Gut.“ Sage ich kurz.

„Ich wollte dir nur Bescheid sagen, daß meine Mama angerufen hat. Sie hatte noch was für die Jungs und ich sollte das abholen.“

„Und jetzt bist du noch bei deiner Mum?“ frage ich.

„Jap. Meine Mama hat noch Kuchen und die Jungs wollen natürlich mitessen.“

„Ist doch in Ordnung.“ Sage ich leise.

„Und dann wollen die Kinder noch Abendbrot bei Oma essen, es gibt selbst gebackenes Brot.“

„Also kommst du später?“ frage ich.

„Nur wenn du einverstanden bist. Dann hast du noch ein bisschen Ruhe für dich und Zeit mit deiner Freundin. Ist Nicole noch da?“

„Ja, sie ist noch da.“ Antworte ich.

„Du weinst!“

„Nein, ich weine nicht.“

„Doch, ich höre das du weinst.“

„Ok, ich weine.“

„Ist alles in Ordnung?“

„Ja, ich erzähle Nicole meine Lebensgeschichte.“

„Ach so. Dann mach es dir mal nicht so schwer.“

„Nein, vielleicht hilft es ein bisschen, wenn ich das noch mal aufarbeite.“

„Tu das. Und lass dir Zeit. Ich liebe dich.“

„Ich liebe dich auch.“ Antworte ich von Herzen.

„Dann bis nachher. Ich ruf wieder an, wenn ich losfahre.“

„Ok.“

„Ich liebe dich.“

„Ich dich auch.“

„Bis dann.“

„Tschüss.“

Ich lege auf.

„Dein Schatzie?“ fragt Nicole und lächelt mich versonnen an.

„Ja.“ Lächle ich selig.

„Was sagt er?“ erkundigt sich Nicole.

„Er kommt später, die Jungs wollen noch Kuchen und später selbstgebackenes Brot.“ Erkläre ich ihr.

„Super. Ich hab auch Zeit. Komm, wir gehen erstmal eine Schmöken und dann erzählst du weiter, wenn du magst.“ Sie steht auf und zieht mich sanft hinter sich her in die Küche.

Kapitel XXIII
 

„Lief es denn von da an besser mit euch?“ will Nicole jetzt wissen.

Ich fussele eine Zigarette aus der Schachtel und reiche sie Nicole, dann zünde ich mir selbst eine an.

„Naja, irgendwie… Nicht wirklich, eigentlich. Es war nur irgendwie anders.“ Antworte ich.

„Wie anders?“ fragt sie.

„Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll. Vielleicht fühlte es sich auch nur für mich anders an. Zumindest schien Ulrich höchst zufrieden mit den Ereignissen zu sein. Jetzt hatte er mich ganz und gar von allem abgenabelt, was in irgendeiner Weise mit meinem Zu Hause zu tun hatte. Ich weiß nicht mehr, ob es mir bewusst war. Allerdings fühlte ich mich schon irgendwie einzelner, isolierter. Im Grunde war Ulrich jetzt mein einziger Bezugspunkt.“

„Also, wenn ich das so von mir aus betrachte,“ sagt Nicole, „dann hat er wirklich ganze Arbeit geleistet. Er hat dich im Grunde nur an noch eine weitere Kette gelegt.“

„So rückblendend betrachtet stimmt das, aber das war mir damals nicht bewusst.“ Erwidere ich.
 

*
 

In dem Sommer schaffte ich es endlich, mir das Rauchen abzugewöhnen. Ich hatte viele Anläufe gemacht, alles Mögliche versucht, aber nichts hatte geholfen. Erst als ich das Buch bekam: „Endlich Nichtraucher“ von Allen Carr. Ich hab es durchgelesen und mich an die Empfehlungen gehalten, die darin standen. Dann rauchte ich die Schachtel leer, die ich noch hatte und sagte dann beim Ausmachen der letzten Fluppe: „Ab jetzt brauche ich keine Zigaretten mehr.“

Und es klappte.

Ich war wirklich mit jeder Faser meines Körpers sicher, daß ich nicht mehr Rauchen wollte und es ging leichter, als ich vermutete.

Ich weiß nicht, ob Ulrich stolz auf mich war oder sich freute, daß ich es endlich geschafft hatte. Er gab keinen Kommentar dazu.

Bald kam dann auch der 1. August und ich sollte in der Bären-Apotheke in Idstein anfangen zu arbeiten. Da ich auf 400 DM Basis beschäftigt wurde, waren es nur wenige Stunden in der Woche. In dieser Zeit machte ich einige Botenfahrten, arbeitete beim Waren ein- und –Ausgang und gelegentlich auch in der Rezeptur. Hauptsächlich aber sollte ich mich mit den Fächern beschäftigen, in denen ich nachgeprüft werden sollte.

Ich durfte mir aussuchen, ob ich die Nachprüfung schon im März machen wollte oder doch erst zum Ende des vierten Semesters. Ich entschied mich für letzteres. Erstens hatte ich so mehr Zeit mich vorzubereiten, zweitens gab es dann noch einen weiteren nicht unerheblichen Grund.

Unser Herr Neuhaus hatte uns erklärt, wie die Prüfungsaufgaben für die schriftliche Prüfung zustande kamen. Dafür musste der entsprechende Dozent drei fertige Prüfungen entwerfen und zur Apothekenkammer schicken. Jede Prüfung enthielt zwei Aufsatzthemen, zwischen denen der Prüfling aussuchen konnte, was ihm eher lag. Dann gab es noch eine Reihe direkte Fragen zu dem Fach, die dann beantwortet werden sollten.

Die Apothekerkammer wählt dann einen Vorschlag aus den dreien aus. Unser Dozent hat uns bekannt gegeben, welche Aufsatzthemen er nicht gewählt hatte. So konnten wir die möglichen Aufsatzthemen auf sechs zusammenstreichen und uns dann so vorbereiten. Bei der 1. Nachprüfung im März würde die Kammer dann einfach einen der verbliebenen Vorschläge auswählen, was die Aufsatzthemen noch mal auf vier mögliche zusammen schrumpfen ließ, da wir ja schon wussten, welche Themen in der ersten Prüfung vorkamen.

Bei der zweiten Nachprüfung, also die, an der ich teilnehmen wollte, würde dann die Kammer entweder einfach den dritten Umschlag nehmen, oder der Dozent würde gebeten werden, drei neue Vorschläge zu entwerfen, aus denen die Apothekenkammer dann wählen würde.

Natürlich hoffte ich inständig, daß die Kammer sich einfach für den letzten verbleibenden Prüfungsbogen entscheiden würde.
 

Die Arbeit in der Apotheke machte mir viel Spaß. Oft blieb ich länger, als meine Stunden es vorgesehen hätten. Mein Chef war wirklich der beste Chef, den man sich wünschen konnte. Er hatte einen ausgefallenen Humor der mir sehr gefiel.

Einmal hatte er bei einer Pharma-Firma einen besonders großen Auftrag abgeschlossen, weil es als Prämie eine Espresso-Maschine dazu gab. Als diese Lieferung dann eintraf freute er sich wie ein kleiner Junge, der sein erstes Taschenmesser bekommen sollte. Sofort wurden die endlosen Kartons nach dem einen wirklich wichtigen Karton abgesucht. Als alle Kartons offen waren und wir endlich die Espresso-Maschine gefunden hatten, die natürlich im letzten Karton war, gab er bekannt, daß wir uns nun um die Lieferung kümmern konnten während er sich mit der Bedienung des Gerätes vertraut machte. Wir schmunzelten alle und freuten uns mit ihm mit. Es war wirklich eine sehr entspannte Atmosphäre.

In dieser Zeit wurde ich auch genauer auf meine Migräne untersucht, die ich trotz des wieder eingerenkten Wirbels immer noch hatte. Vor allem die ständigen Kopfschmerzen, die mir das alltägliche Leben sehr schwer machten. Ich wurde wieder Mal durchgecheckt, Blut, Nerven, Gehirn. Ich sollte ein Schmerztagebuch führen wo ich aufschrieb wie stark die Schmerzen auf einer Skala von 1 bis 10 waren, wann sie begannen, was ich dagegen gemacht habe, wie es geholfen oder nicht geholfen hatte, was ich gegessen hatte, Arbeit, Schule, Wetter, Allgemeinbefinden, Periode, Krankheit, Stimmung, einfach alles, was in irgendeiner Weise weiterhelfen konnte.

Es wurde dann bei mir eine Gefäßbedingte Migräne diagnostiziert. Ich bekam also einen Beta-Blocker, der verhindern sollte, daß meine Gefäße, meine Adern, sich nicht zu stark ausdehnten. Gleichzeitig wurde damit auch mein Blutdruck etwas gesenkt, der aber inzwischen auch schon recht hoch war. Ich wog inzwischen fast 80kg und war bei meiner Körpergröße damit schon adipös.

Damit reduzierten sich meine Anfälle dann auf ein bis zwei Migräneattacken im Jahr. Auch die täglichen Kopfschmerzen wurden besser, gingen aber nie ganz weg.
 

Bei der Prüfung half mir meine Freundin Antonia. Sie hatte die schriftliche Prüfung natürlich mit besten Zensuren bestanden. Alles Einser, bis auf ein Fach, da hatte sie eine Zwei, was sie sehr ärgerte. Sie versorgte mich mit Material, ging mit mir die Themen und Aufgaben durch und machte mich halb Wahnsinnig mit ihrer Angst um die praktische Prüfung. Auf die konnte man sich nur schwer vorbereiten. Dennoch war ich froh sie um mich zu haben, es lenkte mich davon ab, daß sich mit Ulrich und seiner Umgehensweise mit mir nichts geändert hatte. Natürlich kam sie nur dann zu mir nach Hause, wenn Ulrich auf Schicht war. Sonst trafen wir uns lieber in der Akademie.

„Weißt du eigentlich schon, was du dieses Jahr an Sylvester machst?“ fragte mich Toni dann irgendwann mal, als wir gerade bei mir zusammen saßen und uns mit ASK, also Arzneimittel Spezialitäten Kunde, beschäftigten.

„Bis jetzt nichts.“ Gestand ich.

„Gar nichts?“ fragte sie mich ungläubig.

„Nö. Ulrich hat Spätschicht, da können wir nicht viel machen.“ Erklärte ich ihr.

„Hättest du Lust zu mir zu kommen?“ forschte sie weiter.

„Ich weiß nicht, ob ich darf.“ Gab ich kleinlaut zur Antwort.

„Wir wollen in unserem Garten feiern, im Gartenhaus meiner Eltern. Wir verkleiden uns alle. Frag doch einfach mal. Immerhin ist es die Jahrtausendwende.“ Sprudelte Toni begeistert.

„Das kann ich ja mal machen. Ich wüsste auch schon, als was ich kommen würde.“ Sinnierte ich.

„Als was denn?“ fragte Toni begeistert.

„Ich denke, ich würde als Königin Amidala gehen, von Star Wars. Dann sieht man meine Rettungsreifen nicht so sehr.“ Sagte ich.

„Ach, so fett bist du auch nicht!“ schimpfte Toni.

„Du hast gut Reden, du bist ja kaum dicker als ein Hering zwischen den Augen.“ Neckte ich sie.

„Frag mal, ob du kommen darfst.“ Sagte Toni dann und wir wendeten uns wieder der ASK zu.

Ich fragte Ulrich, ob ich an Sylvester zu Toni dürfte und wider Erwarten gab er seine Erlaubnis. Er würde mich dann am Mittag da hinfahren und in der Nacht so früh es ging nachkommen.

Ich freute mich und begann gleich damit etwas zu nähen, daß dem Umhang ähnlich war, den Amidala bei der Schlussszene trug. Die Haare bekam ich natürlich nicht so hin aber das Makeup sah ganz gut aus.

Es war ganz lustig. Um Mitternacht gingen wir dann alle auf die Straße und ließen es richtig krachen. Zwischen den hohen Häusern in Frankfurt war es allerdings irrsinnig laut, wie in einem Canyon in dem der Schall vielfach an den Wänden zurückgeworfen wurde. Und vor lauter Pulverdampf konnte man von dem schönen Licht gar nichts sehen.

Ulrich kam erst sehr spät, die Uhr wahr schon zwei und ich mehrfach erledigt, als er mich endlich abholte.
 

*
 

Der März kam und damit auch die erste Nachprüfung. Aus meinem Semester war noch ein Mädchen, daß in Chemie nachgeprüft werden musste und sie hatte den März gewählt, da sie bald anfangen wollte zu arbeiten. Sie verriet mir die Aufsatzthemen der Prüfung, wodurch ich jetzt wusste, welche Themen in der letzten Prüfung dran kommen würden Sofern die Kammer sich einfach für den letzten Entwurf der Chemieprüfungen entscheiden würde.

Ich hatte Glück, die Kammer beschloss einfach den letzten Umschlag zu nehmen. Damit waren es nur noch zwei Themen, die zur Auswahl standen und da ich nur ein Thema brauchte, konnte ich den Stoff auf ein Minimum reduzieren.

Ein unfassbarer Zufall, den ich hier nicht näher schildern möchte, brachte es jedoch mit sich, daß ich tatsächlich erfuhr, welche Fragen in der dritten schriftlichen Prüfung abgefragt wurden. Ich hatte jetzt also nicht nur das Aufsatzthema, auf das ich mich konzentrieren konnte, sondern sogar die einzelnen Aufgaben, die abgefragt wurden. Ich musste nur noch auswendig lernen, was zu antworten war.

Das war alleine schon für ASK eine gewaltige Erleichterung, da ich mich auch hier voll auf nur ein mögliches Aufsatzthema vorbereiten konnte.

Für Physik lernte ich dann stur die Formeln auswendig.

Als ich dann im Sommer schriftlich nachgeprüft wurde hatte Toni gleichzeitig ihre praktische Prüfung in Chemie, Botanik und Galenik. Bei der praktischen Prüfung wahr immer der Dozent, ein Prüfer von der Kammer und ein unparteiischer Apotheker anwesend. Für den unparteiischen Apotheker wollte Herr Neuhaus meinen Chef anwerben, die zwei kannten sich noch aus der Studienzeit, was einiges erklärte, zumindest wo mein Chef den Humor her hatte. Herr Stalla war begeistert und sagte natürlich zu. Ich sollte derweil wie gesagt Chemie nachschreiben. Als ich den Umschlag bekam und ihn öffnete, erkannte ich sofort, daß es sich tatsächlich um genau die Klausur handelte, an die ich auf mysteriösem Weg gelangt war. Ich freute mich innerlich wie ein Kleinkind und schrieb den Aufsatz, den ich auswendig gelernt hatte und beantwortete alle Fragen nach bestem Wissen und Gewissen. Gut genug um die 5 auszugleichen, schlecht genug um nicht des Mogelns überführt zu werden.

Die Arbeiten wurden direkt ausgewertet und wir sollten das Ergebnis auch gleich erfahren. In der Zeit ging ich ins Chemielabor und guckte, wie Toni sich schlug und wie die praktische Prüfung ablaufen würde. Mein Chef war auch dort und ging sehr aufmerksam und mit wichtiger Miene durch die Reihen.

Nach einiger Zeit kam dann Herr Neuhaus in das Labor und schnappte sich meinen Chef.

„Sag mal, Steffan“ hörte ich Herrn Neuhaus zu meinem Chef sagen, „Was hast denn du mit der Frau Hansen angestellt?“

Herr Stalla sah etwas erschrocken aus und wirkte, als wenn er alle Schuld von sich weisen wollte.

„Was denn?“

„Sie hat in Chemie eine 2- geschrieben!“ berichtete Herr Neuhaus geheimnisvoll.

Ich spürte, wie ich sofort dunkelrot anlief. Hatten sie bemerkt, daß ich die Fragen schon kannte?

„Damit hat sie bestanden.“ Verkündete mein Dozent jetzt und schlug meinem Chef anerkennend auf die Schulter.

Dieser strahlte über das ganze Gesicht und warf sich stolz in die Brust.

„Da kannst du mal sehen. MEIN guter Einfluss!“ sagte Herr Stalla jetzt voller Überzeugung.

Ich war erleichtert. Und natürlich erzählte ich nicht, woher der gute Einfluss eigentlich kam.

Ich schaffte auch die Prüfung in ASK, an der ich natürlich härter gearbeitet hatte, da ich ja nicht genau wusste, was auf mich zukommen würde.

Physik war auch interessant…

„Frau Hansen, nennen Sie mir doch bitte mal die Formel zur Berechnung des Druckes.“ Wollte mein Dozent wissen. Ich saß an einem Tisch, vor mir noch zwei Prüfer von der Apothekerkammer, die mich mit wichtiger und ernster Miene ansahen.

Ich holperte die Formel herunter.

„Gut, mit welcher Formel berechnen sie die Beschleunigung?“ fragte mein Dozent weiter.

Auch diese Formel stotterte ich hervor.

„Wie berechnen sie die Geschwindigkeit von Schallwellen?“

Ich gab die Antwort.

Nach einer viertel Stunde und gefühlten 100 für mich sinnfreien Formeln sagte mein Dozent:

„Gut, Frau Hansen. Man merkt ja deutlich, daß Sie was getan haben. Nun wenden Sie die Formeln doch mal an!“

Ich verzog mein Gesicht zu einer hilf- und ratlosen Grimasse, verlegen grinsend.

„Na gut, Frau Hansen, dann wollen wir es mal damit belassen. Sie haben bestanden!“

Überglücklich und mehr flüchtend als gehend verließ ich den Raum um meinem Chef die gute Nachricht mitzuteilen.

Bis zum August war ich noch auf 400 DM Basis beschäftigt, ab dem 1. Juli dann endlich als PTA-Praktikantin mit vollem Gehalt und voller Arbeitszeit.
 

Natürlich konnte ich es in der Apotheke nicht verbergen, welche Zustände bei mir zu Hause herrschten. Beziehungsweise, WER bei mir zu Hause herrschte.

Es kam gelegentlich mal vor, daß Ulrich mich auf der Arbeit besuchte oder mich abholte. Und dabei blieb auch sein Charakter nicht verborgen. Oft zog ich mich nach solchen Treffen weinend zurück.

„Na, Frau Hansen, Ihr Mann scheint ja nicht gerade einer von der lustigen Truppe zu sein.“ Stellte mein Chef einmal fest.

„Nein, nicht wirklich.“ Bestätigte ich.

„Haben Sie schon mal daran gedacht, das zu ändern?“ fragte er.

„Ich weiß nicht wie, wohin…“ gestand ich, neuerlich unter Tränen.

„Haben Sie schon mal mit ihm darüber gesprochen?“ fragte er mitfühlend weiter.

„Sicher.“ Antwortete ich.

„Aber es ist nichts dabei herausgekommen.“ Stellte er mehr fest, als daß er fragte.

„Nein.“ Sagte ich leise.

„Er hört immer nur das, was er hören will, daß ich ihn anklage, daß ich ihn scheiße finde, mich vor ihm ekle…“ ich schüttete mein Herz aus.

Herr Stalla nahm ehrlich Anteil

„Tun sie das denn?“ fragte er.

„Nein, eigentlich nicht. Es ist mehr… Ach ich weiß nicht.“ Zu viel wollte ich auch nicht sagen. Wie sollte ich meinem Chef denn klar machen, was er mit mir anstellte? Daß er sich nahm, was er wollte, ohne Rücksicht auf mich? Was würde dann weiter passieren? Am Ende würde mein Chef ihn noch anzeigen, wegen Vergewaltigung und seelischer Grausamkeit. Das wollte ich nicht. Den Stress konnte ich nicht auch noch ertragen.
 

Die Zeit, die ich in der Apotheke war, nutzte ich immer wie einen kleinen Urlaub von zu Hause. Natürlich erledigte ich meine Aufgaben, legte das Protokollheft für meine Prüfung mit viel Liebe und Fleiß an, ich durfte marmoriertes Papier benutzen, obwohl es weit teurer war als normales Papier und ich durfte es sogar im Copy-Shop binden lassen. Es war ein wirklich schönes und ansehnliches Protokollheft.

Um zur Arbeit und nach Hause zu kommen brauchte ich außerdem ein Auto. Die Busverbindungen waren unter aller Diskussion und eine Fahrgemeinschaft war nun auch nicht mehr möglich, da ich jetzt nicht mehr in der Akademie sein würde. Ulrich hatte also rechtzeitig damit begonnen, sich ein zweites Auto zu zulegen. Ich würde dann „Jogy“ erben. Natürlich lief das Fahrzeug noch immer auf seinen Namen, dennoch hatte ich jetzt zumindest das Gefühl, ein eigenes Auto zu haben.

Ich durfte sogar ein Dekor auf das Auto haben, eines, das ich selbst entworfen hatte. Es war Sailor Moon aus der Verwandlungsszene mit dem Füller - einigen Sailor Moon Kundigen dürfte das ein Begriff sein - die sich unter der C-Säule der Karosserie befinden würde. Vom CDX-Zeichen an den Seiten des Autos, sollte dann scheinbar ein langes Band kommen, das sich nach hinten etwas schlängelt und sie in dem „tanzenden Mädchen“ verfing um dann am Heck auszulaufen. Der Entwurf, den ich gemacht hatte, wurde an "Trimline" nach Montabauer geschickt. Der dortige Mitarbeiter hat das dann in seinen Computer gescannt, mit einem Plotter aus der Klebefolie ausgeschnitten und dann auf beiden Seiten meines Autos geklebt. Das ganze hatte 500 DM gekostet und ich bekam es von Ulrich quasi zu Weihnachten.

Anfangs war Ulrich noch skeptisch, aber er musste bald zugeben, daß „Jogy“ mit dem Dekor wirklich schnittig aussah. Es sollte auch Geschwindigkeit und Grazie ausdrücken.

Dennoch war mein Auto nicht wirklich mein Auto. Über jeden Kilometer musste ich Rechenschaft ablegen. Und wenn er das Gefühl hatte, ich hätte mehr Kilometer und Sprit verfahren, als seiner Rechnung nach für die Arbeit gereicht hätten, dann wurde ich einem regelrechten Verhör unterzogen. Nur schwer konnte ich ihn dann von meiner Unschuld überzeugen und der Tatsache, daß ich nicht fremd ginge.
 

Schließlich waren dann im Dezember die praktischen Prüfungen der PTA auch für mich. Ich bestand mit Leichtigkeit. Die Praxis hatte mir schon immer mehr gelegen als die Theorie. Leider aber konnte ich nicht in der Apotheke, in der ich bisher gearbeitet hatte, bleiben. Die Apotheke war noch sehr jung und die Kundschaft noch nicht so reichlich, daß Herr Stalla sich eine weitere Vollzeit-PTA leisten konnte.

Ich war sehr traurig und niedergeschlagen.

Ich fand dann bald eine Anzeige in der Akademie am Reisbrett über eine Vollzeitstelle in einer Apotheke auf der Wiesbadener Eikaufsstraße. Ich bewarb mich dort und wurde auch sofort genommen. Am 2. Januar würde meine Arbeitszeit dann dort beginnen.

Ich konnte mit dem Bus fahren, der morgens zeitig in Kirberg war und dann auch pünktlich in Wiesbaden eintraf. Ebenso war die Verbindung zurück ganz in Ordnung.

In dieser Apotheke war Stress an der Tagesordnung. Am Tag hatten wir eine geschätzte Kundenfrequenz von 1000 Leuten. Ich war ausschließlich im Verkauf tätig. Das Kassenprogramm hatte ich schnell begriffen. Zusätzlich hatte ich sogar eine alte Bekannte als Kollegin, ein Mädchen aus meinem Semester. Allerdings hatte sie sich sehr verändert, von ihrer Art her.

Alle in der Apotheke waren irgendwie aufgesetzt. Sie waren wichtig, mindestens so wichtig wie ein Arzt und führten sich auch wie Halbgötter auf. Dazu kam, daß ich drei ständige Apothekerinnen als Kollegium hatte und meine ehemalige Kommilitonin nicht mit mir zusammen Schicht hatte. Teilweise wurde ich für Dinge, die ich anders gelernt hatte, als sie in dieser Apotheke gehandhabt wurden, vor der Kundschaft zur Rechenschaft gezogen wurde.

Ich war am verzweifeln.

Den ganzen Tag ging es nur:

„Was kann ich für Sie tun?“

„Darf es noch etwas sein?“

„Möchten Sie ein Tütchen dazu?“

"Brauchen sie einen Kassenbon?"

Beratung war kaum möglich, ich wurde immer zur Eile angetrieben, schließlich wollten noch mehr Kunden bedient werden.

Einmal hatte ich eine Kundin die mit einer dieser typischen ganzseitigen Anzeigen für ein neues Diät-Mittel zum Abnehmen kam. Aus meiner bisherigen Ausbildung wusste ich, daß das nur Scharlatanerie ist um Geld zu machen. Wirklich helfen würde eine Diät nur, wenn man die Ernährung umstellt. Einige Mittel, die zum Abnehmen angepriesen werden, konnte man allenfalls zur Unterstützung einsetzen, nicht jedoch als alleiniges Abnahmemittel.

In dieser Apotheke, in der ich damals arbeitete, war aber die Devise: Gib dem Kunden was er will und halte dich nicht lange in Gesprächen auf.

Das war mir neu. Und ich wurde vor der Kundin heruntergeputzt ich solle keine Märchen erzählen.

Ich war getroffen und verwirrt.

Ein anderes Mal hatte ich eine alte Dame als Kundin, die nur ein Vitaminpräparat kaufte. Sie war offensichtlich einsam und versuchte mich in ein Gespräch zu verwickeln, auf das ich mich gerne eingelassen hätte, aber ich durfte nicht. Mit großem Bedauern musste ich sie dann wegschicken.

Häufig hatte ich Kunden, denen man ansah, daß sie Drogen verkonsumierten. Sie waren blass, dünn und sahen krank aus. Und wenn dann eine kleine Spritze und eine Dose Vitamin C verlangt wurde, gab es keinen Zweifel mehr.

Ich hatte Mitleid mit den Menschen, durfte mich aber nicht damit aufhalten.

Nachts, im Schlaf, ging es weiter.

„Was kann ich für Sie tun?“

„Darf es sonst noch etwas sein?“

„Möchten Sie ein Tütchen, oder geht das so?“

Schon im Februar war klar, daß ich dort nicht bleiben würde. Ich war zu gestresst. Ich war so gestresst daß ich Herpesbläschen im Mund hatte. Kleine fiese Aften die wahnsinnig weh taten. Kein Mittel dagegen half.

Ulrich hatte mir gesagt, daß ich kündigen sollte, ich wollte jedoch die Probezeit zu Ende machen. Ich hatte noch Anspruch auf eine Woche Urlaub, die ich dann Ende März nehmen würde.

Zur Belohnung für meine echte Bemühung durfte ich sogar in dieser Woche ganz alleine nach Flensburg fliegen. Ich würde dann bei einer Freundin in Flensburg wohnen.

Bevor ich jedoch in den Urlaub gehen würde, musste ein Loch in meinem Backenzahn gemacht werden.

Dafür hatte ich genug Zeit. Im März schon hatte ich mich laufend krank schreiben lassen und bin gar nicht erst in die Apotheke gefahren. In dieser Zeit kümmerte ich mich auch um eine neue Arbeitsstelle und fand bald eine Apotheke in der Nähe von Limburg, in der ich am 1. April als Halbzeit-PTA anfangen sollte. Leider litt ich immer noch unter den Aften, die eine Betäubung beim Zahnarzt unmöglich machten. Erst ein Besuch beim Kieferchirurgen, der mir die gesamte rechte Kopfhälfte lahm legte, brachte die gewünschte Betäubung. Da der gute Mann aber nur Kieferchirurg und kein Zahnarzt war, bohrte er zwar die Karies heraus, füllte das entstandene Loch jedoch nur provisorisch aus. Mein Zahnarzt hatte seine Praxis allerdings ziemlich in der Nähe vom Chirurgen und ich beschloss auf blauen Dunst dorthin zu fahren um den Zahn, so lange die Betäubung noch wirkte, richtig verfüllen zu lassen. Mein Zahnarzt war so begeistert von meinem Engagement, daß er mich sofort zwischenschob, alles neu aufbohrte, versäuberte und schließlich mit einer richtigen Füllung verschloss.

Nun konnte ich in den Urlaub fliegen und auch richtig essen.
 

So wurde es also endlich März und man konnte schon leichte Anflüge des ersten Frühlings wahrnehmen. Die Luft war lau und einige Krokusse blühten schon. Die Vögel sangen Frühlingslieder und alles wirkte insgesamt etwas freier. Auch wenn mir von Petrus an meinem Geburtstag ganz deutlich klar gemacht wurde, daß ich wenn auch im meteorologischem Frühling, so doch im kalendarischen Winter Geburtstag hatte. An meinem Geburtstag fielen insgesamt 50cm Neuschnee und behinderten den Verkehr empfindlich.

In der Apotheke wurde ich an meinem Geburtstag in die Rezeptur verbannt um dort aufzuräumen, was am Vortag von den Apothekerinnen liegengelassen wurde, Vorratsgefäße aufzufüllen und sauber zu machen. Mir war das nur Recht, ich liebte die Rezeptur. Irgendwann am Ende meines Arbeitstages fiel der Chefin auf, daß ja mein Geburtstag war. Sie entschuldigte sich, ich sagte ihr dann aber, daß ich vollauf zufrieden mit meinem Tag war.

Die ganze Zeit über sparte ich jeden Pfennig für meine Reise, wo ich konnte.

Noch immer, oder eigentlich muss ich sagen, immer mehr und stärker, vermisste ich Marco. Ich vermisste auch Jörn, aber lange nicht mehr so stark wie noch am Anfang. Die Gefühle für ihn verblassten im Laufe der Jahre. Die Gefühle für Marco nicht.

Wir hatten zwischendurch noch mal Kontakt. Ich hatte ihm einen Brief geschrieben, ohne Absender, falls der Brief nicht zugestellt werden konnte. In diesem Brief teilte ich ihm meine Handynummer mit. Er hatte auch angerufen, aber das Gespräch wurde unterbrochen. Der Versuch ihn zurückzurufen gab mir nur die Auskunft, daß der Teilnehmer vorrübergehend nicht zu erreichen wäre.

Das war inzwischen zwei Jahre her.

Ich wusste nur noch, daß Marco eine feste Freundin hätte, daß er umgezogen war und daß er nicht im Telephonbuch stand. Auch ein Anruf bei seinen Eltern gab keinen Aufschluss. Am anderen Ende der Leitung meldete sich jemand anderes.

In diesem Urlaub also, in dem ich alleine nach Flensburg durfte, wollte ich ihn suchen. Er hatte mir gesagt, daß er nach irgendwohin nach Fruerlund gezogen sei. Ob jetzt der Ortsteil Fruerlund, die Fruerlunder Straße oder der Fruerlunder Weg, das wusste ich nicht. Ich wusste nur, daß er nicht mehr in der Ostlandstraße wohnte. Für den Anfang hatte ich mir die Fruerlunder Straße vorgenommen, danach würde ich weiter sehen.

Am Tag des Abfluges brachte mich Ulrich dann auch wie versprochen zum Flughafen. Ich sollte als Angehöriger vom Lufthansapersonal auf „Stand by“ fliegen, das bedeutete, wenn ein Platz frei wäre, könnte ich mit an Bord gehen. Ich bekam auch gleich einen freien Platz. In der Holzklasse, was nicht das Problem war. Das Problem war viel mehr, daß ich am Rand im Mittelgang saß. Links von mir war jemand, der eine große Zeitung las, ich konnte dort nicht aus dem Fenster sehen. Rechts von mir saß der große Bruder von Rainer Callmund und ich konnte auch dort nicht aus dem Fenster sehen. Noch dazu hatten wir schlechtes Wetter. Meine Mutter sagte dann immer, das Flugzeug würde über Kopfsteinpflaster fliegen. Ich hatte bei diesem Flug allerdings das Gefühl, daß es mehr Schlaglöcher waren, in denen kleine Kinder ihren Freischwimmer hätten machen können.

Der Flug von Frankfurt am Main nach Hamburg dauerte etwa eine Stunde.

Mir war schlecht!

Ich wollte nur noch aussteigen!

Nach gefühlten zwei Stunden gab der Pilot bekannt, daß wir die Höhe von 10.000m und etwas tiefer ausprobiert hätten und auf Grund der schlechten Wetterbedingungen der Bordservice ausfallen würde, in einer halben Stunde würden wir dann in Hamburg landen.

Oh Elend!

Nach weiteren gefühlten zwei Stunden gab der Pilot dann endlich bekannt, daß wir uns im Landeanflug auf Hamburg befanden.

Ich war noch nie so froh, aus einem Flugzeug aussteigen zu dürfen.

In Hamburg angekommen musste ich dann gleich zum Bus, der mich zum Bahnhof bringen würde. Von da aus würde ich dann mit dem Zug nach Flensburg fahren. Dort würde Silvia, die Freundin, bei der ich die Woche wohnen würde, mich abholen.

In den vergangenen Monaten hatte ich oft von Marco geträumt. Ich war in Flensburg und wollte zu ihm. Meistens kam ich nur an unserer Schule an, wo ich ihn nicht fand. Oder ich stand vor seiner Wohnung, aber er war nicht da. Nun war ich wirklich in Flensburg und würde wirklich versuchen, ihn zu finden. Natürlich hatte ich Ulrich nichts davon erzählt. Er hätte mich niemals fahren lassen. Ich wusste auch nicht, was ich mir davon versprach, Marco zu suchen. Aber ich wollte die Chance nutzen.

Ich nahm mir also einen ganzen Tag, wo ich früh morgens aufbrach um mit dem Bus nach Mürwik zu fahren, wo die Fruerlunder Straße zu finden war. Ich begann bei Eins und klapperte alle Haustüren ab, durchsuchte die Namensschilder an den Briefkästen und Klingelknöpfen.

Nichts.

Sicher, viele Schilder waren nicht mit Namen versehen, die Chance, daß unter einer dieser nicht benannten Adressen Marco wäre, wahr möglich. Aber hätte ich denn überall klingeln sollen? Beinahe 100 Hausnummern waren abzuklappern und ich brauchte einen ganzen Tag dafür. Mir taten die Füße weh und meine Zuversicht geriet auf ein stetig sinkendes Niveau, mit jeder Hausnummer bei der ich seinen Namen nicht fand.

Und ich fand ihn nicht.

Niedergeschlagen und Ergebnislos fuhr ich mit dem Bus zurück zu Silvia.

Leider war die Woche viel zu kurz um noch einen weiteren Tag für eine Suche einzuplanen.
 

An einem Tag waren Silvia und ich mit ihrer kleinen Tochter in der Stadt. Die Lütte war erst ein paar Monate alt und wurde noch in der Kinderkarre gefahren. In der Holmpassage guckten wir dann bei Brigitte Bijou rein, als wir feststellten, daß wir beide mal zur Toilette mussten. Die einzigen Toiletten allerdings, die wir für einen entsprechenden Besuch als geeignet befanden, waren die Toiletten von Belle Etage eine Etage über uns. Da wir die Karre nicht so gut mitnehmen konnten, beschlossen wir abwechselnd zu gehen. Silvia ging zuerst und ich passte auf die Kleine auf. Gottseidank schlief sie, normalerweise fangen Babys immer an zu schreien, wenn man mich für ein paar Sekunden mit ihnen allein ließ. Dabei guckte ich die Dinger nicht mal scharf an.

Dieses Baby allerdings schlief friedlich und bemerkte die Abwesenheit seiner Mutter nicht.

Nach einigen Minuten kam Silvia zurück und ich hastete zur Toilette. Ich hatte Durchfall und konnte gerade noch so in die Schüssel zielen.

Als ich zu meiner Freundin zurückkam hockte sie über einem der tieferen Regale um sich die Haarspangen genauer anzusehen.

Ich ging zu ihr und flüsterte ihr zu „Oh man, jetzt hab ich das Klo da oben aber vollgeschissen!“

Meine Freundin drehte sich zu mir um und – war gar nicht meine Freundin!

Sondern eine mir völlig fremde Frau!

Das war mir so unendlich peinlich und die Fremde guckte mich ebenso entsetzt an, wie ich mich jetzt fühlte.

„Oh! Entschuldigung!“ murmelte ich hastig und ging jetzt zu meiner wirklichen Freundin. Zumindest überzeugte ich mich vorher von ihrer Identität, bevor ich erzählte, was gerade passiert war.

Wir konnten nicht mehr vor Lachen.

Das war wirklich das peinlichste was mir je im Leben passiert war.

Wir lachen heute noch darüber.
 

Ein anderes Mal wollten wir ins Kino gehen.

Schon seit einigen Wochen liebäugelte ich mit einem Nasenpearcing. Allerdings war ich mir bisher noch nicht ganz schlüssig. Zur Probe hab ich mir mal einen Straßstein an den Nasenflügel geklebt und geguckt, was Ulrich dazu sagen würde. Würde er etwas negatives sagen, ok, dann hätte ich es gelassen. Würde er etwas positives sagen, würde es vielleicht wirklich so gut aussehen. Hätte er nichts gesagt, dann war es zumindest nicht so hässlich, daß es auffallen würde.

Ulrich sagte nichts dazu, hatte es nicht bemerkt.

Nun waren Silvia und ich also in Flensburg auf dem Weg zum Kino. Unterwegs kamen wir an einem Tatoo-Shop vorbei. Ich ging rein und fragte einfach mal, was ein Nasenpearcing kosten würde. Als der gute Mann mir dann verriet, daß er 120 DM dafür haben wollte, lehnte ich dankend ab. Das war definitiv zu teuer.

Ein Stückweit die Straße weiter runter war ein weiterer Tatoo-Shop in dem ich ebenfalls nachfragte.

Hier sollte es nur die Hälfte kosten. Also informierte ich mich weiter, wie das gemacht würde, welche Stecker dafür benutzt würden und wie die Pflege des frischen Pearcings aussehen würde.

Nach etwa einer viertel Stunde wusste ich dann auch, daß es tatsächlich genauso weh tat, wie ich mir das vorgestellt hatte.

Ich hatte das Pearcing machen lassen.

Von meiner eigenen Courage etwas geschockt saß ich dann den gesamten Film über im Kino und konnte nicht glauben, was ich da gemacht hatte. Dazu kam noch, daß das Ganze an einem Samstagnachmittag passiert war und die Apotheken längst zu hatten. Ich konnte mir also auch kein Antiseptium mehr kaufen, wie die Fachfrau vom Pearcen mir geraten hatte. Als wir dann bei Silvia zu Hause ankamen machte ich einen starken Kamillentell und behandelte damit mein frisch gestochenes Pearcing, was mich allerdings nur Mäßig beruhigte.

Mitten in der Nacht schreckte ich hoch und saß senkrecht in der Koje: „Ohgott! Was ist wenn mir jetzt die Nase aus dem Gesicht fault???“

Und das, wo ich gerade eine neue Stelle in einer Apotheke antreten wollte.

Schließlich war die Woche in Flensburg vorbei und ich musste wieder abreisen. Silvia brachte mich zum Zug und schweren Herzens nahm ich Abschied.

Der Flug von Hamburg nach Frankfurt entschädigte mich für den Flug nach Flensburg hin. Ich durfte im Cockpit auf dem Notsitz hinter dem Piloten mit fliegen. Neben mir auf einem weiteren Notsitz saß eine junges Mädchen, daß als zukünftige Stewardesse nach Frankfurt flog.

Sie war hell auf begeistert und machte auch keinen Hel daraus, daß sie sich mit Flugzeugen überhaupt nicht auskannte.

Der Pilot nutzte das für einen Schabernack. Als wir zur Startbahn rollten war die zukünftige Stewardesse über die Maßen erstaunt, daß das Flugzeug scheinbar ganz von alleine fuhr. Jedenfalls hatte weder der Pilot, noch der Copilot das Ruder in der Hand um in irgendeiner Weise Gas zu geben oder zu lenken. Der Pilot erklärte dem Mädchen dann, daß das Flugzeug tatsächlich von alleine fuhr, immer der gelben Linie folgend.

Ich wusste aber, daß das vollkommener Unsinn war. Links neben dem Piloten befindet sich nämlich ein kleiner Joystick, mit dem sich das Flugzeug lenken und auch beschleunigen ließ. Ich ließ dem Piloten aber seinen Spaß, der mir verschwörerisch zuzwinkerte.

Es war phantastisch. Ich war schon oft im Cockpit, wenn meine Mum mit mir und meinem Bruder ins Ausland geflogen war. Da wir Kinder waren hatten wir immer einen gewissen Freibrief.

Aber ich war noch nie zuvor in einem Cockpit gestartet. Das Wetter war toll und man konnte alles wunderbar sehen. Ich konnte die Instrumente erkennen und auf dem Radar auch das Wetter bewerten. So konnte ich sehen, daß wir beim Anflug auf Frankfurt am Main eine Gewitterwolke umfliegen mussten. Und dann der Landeanflug auf den Flughafen, einfach gigantisch.

Als wir gelandet waren und am "Finger" angedockt hatten, musste ich zuerst alle zahlenden Passagiere aussteigen lassen. Alle, sogar die Stewardessen, dachten, ich sei selbst eine Stewardess und so stand ich dann mit im Spalier und verabschiedete die Passagiere.

Als Ulrich mich dann am Gate empfing sah er sofort das Pearcing.

„Ist das echt?“ fragte er etwas missgelaunt und streng.

„Ja.“ Gab ich kleinlaut grinsend zu.

„Richtig durch?“ hakte er weiter nach.

„Ja.“ Wiederholte ich meine Antwort.

„Hat es sehr weh getan?“ fragte er weiter.

„Ja.“ Antwortete ich wieder.

„Dann ist ja gut.“ Sagte er etwas milder.

Kapitel XXIV
 

Ich lief durch eine alte, dunkle Straße, die mit Kopfsteinen gepflastert war. Schmutziges Wasser und Schneematsch sammelten sich zwischen den Steinen und machten das Laufen zu einer schlüpfrigen Angelegenheiten. Es viel immer noch Schneematsch vom Himmel und es war unangenehm feucht, grau und kalt. Um mich herum waren alte Häuser, kleine, grau und farblos wie im Mittelalter. Die Häuser, die die Kopfsteinpflasterstraßen säumten lagen an einem Hang. Ich konnte leicht in die Senke gucken und erkannte, daß es die Flensburger Förde war. Ich war in Flensburg. Ich erkannte zwar die Straßen nicht, geschweige denn die Häuser, aber ich war mir sicher, ich befand mich in Flensburg. In Anbetracht, daß der Hafen da unten liegt, musste ich in die andere Richtung, um nach Engelsby zu kommen. Nach nur drei Schritten war ich auch da. Auch hier erkannte ich weder die Straßen noch die Häuser wieder. Es war alles etwas moderner, keinesfalls Altstadtgebiet mehr. Da war die Apotheke, in der ich gelernt hatte, dort die Nordstraße und gleich neben mir war eine Telephonzelle. Es war mir neu, daß direkt an der Nordstraße beinahe auf der Bushaltestelle eine Telephonzelle war, aber egal, dort gibt es sicher ein Telephonbuch und ich konnte Marco anrufen.

Ich war im nächsten Moment in der Telephonzelle und hielt eines von zwei Telephonbüchern in der Hand. Die meisten Seiten fehlten, die Seiten, die noch drin waren, konnte ich nicht lesen. Verdammt! Das andere Telephonbuch war auch keine Hilfe. Hier fehlten zwar scheinbar keine Seiten, dafür waren die Seiten leer, die Leere nur durch übermäßig viel Werbung unterbrochen. Werbung, die keinen Sinn machte wie „Grabsteine, das ideale Geschenk zur Geburt“ oder „Armbanduhren aus Lebkuchen, leben ein Leben lang“ Und alles in vielen verschiedenen Sprachen.

Ich versuchte mich ohne Telephonbuch an Marcos Telephonnummer zu erinnern, aber es fiel mir unfassbar schwer. Jedes Mal, wenn ich dachte, jetzt hatte ich die Nummer, dann entglitt sie mir sofort wieder.

Frag ich halt die Auskunft…

Ich drehte alle meine Taschen auf links. Ich hatte unglaublich viele Taschen. Aber nirgends ein Pfennig zum Telephonieren. Eine Telephonkarte hatte ich auch nicht…

Enttäuscht verließ ich die Telephonzelle und stand nun ratlos an der Nordstraße. Vielleicht sollte ich einfach dahin gehen, wo Marco wohnt. Vielleicht ist er ja da.

Im nächsten Moment fand ich mich in einer Siedlung wieder, in der viele Mehrparteien-Häuser zwischen großzügigen Grünflächen standen. Alles war hell, grün und blühte. Die meisten Bewohner mussten ihre Wäsche draußen auf den Leinen aufgehängt haben, denn man konnte nicht weit sehen vor lauter Wäsche die sich leuchtend im Wind bewegte. Sogar über die Wege und die Straßen hat man die Leinen gespannt und mit Wäsche behängt. Die Bäume waren groß, ausladend und hingen voller reifem Obst. Kirschen, so groß wie Zieräpfel, Birnen, die wie grüne und rote Ballons aussahen, rote, weiße und schwarze Johannisbeeren so groß wie Kirschen, riesige Büsche mit Erdbeeren, die bis in Augenhöhe wuchsen und mit Früchten so groß waren wie meine Faust. Die Äpfel sahen süß, knackig und saftig aus, so lecker, daß ich mir zu gerne einen gegönnt hätte, aber sie hingen viel zu hoch. Ich erinnerte mich wieder daran, warum ich hier war. Aber wo anfangen? Ein Haus sah aus wie das andere und es waren pro Haus sicher 10 Wohnungen, die ich hätte abklappern müssen. Wo sollte ich nur anfangen? Ich ging weiter und war in unserer Schule, die Schule in Fruerlund, wo wir für ein dreiviertel Jahr gemeinsam Unterricht hatten. Aber die Schule hatte sich verändert. Der gesamte Innenhof war überdacht, die Fassaden der Schulgebäude waren in Innenwände verwandelt und mit verschieden farbigen Türen versehen. Mitten im überdachten Innenhof war eine große offene Treppe, die offensichtlich in den ersten Stock führte. Über die Geländer, die eine riesige Galerie einfassten, konnte man in das Erdgeschoss sehen. An den Wänden reihten sich Tür an Tür und ich hatte keinen Plan, wo ich war oder wo ich anfangen sollte. Ich kam aus dem Gebäude raus und befand mich auf einem großen Schulhof. Das sah jetzt allerdings eher aus wie die KGS, auch erinnerte mich die Gegend eher an den Stadtteil Adelby.

Auf der Rückseite des Gebäudes fand ich dann endlich Marco. Er saß unter einem der zu einer Kugel getrimmten Ahornbäume an einem viereckigen künstlich angelegten See. Ich setzte mich zu ihm. Er sagte nichts.

„Hi, ich hab dich gesucht.“ Sprach ich ihn an.

„Ich bin doch da.“ Antwortete er, ohne mich anzusehen.

„Ja.“ Sage ich.

Dann liege ich in seinen Armen, unsere Gesichter sind sich so nah, daß ich seinen warmen Atem auf meiner Haut spüre. Er sieht mich an, ich sehe in seine Augen und habe nur einen Gedanken: Küss mich. Küss mich doch endlich.

Dann verschwimmt sein Bild, das Bild hinter ihm, die Farben zerfließen wie das Wasser vom Tuschkasten, in dem man den Pinsel immer wieder ausgewaschen hat, daß es inzwischen eine schmutzig braune Farbe angenommen hat. Das Licht verschwindet und es wird dunkel. Marco wird mir aus den Armen gezogen, als würde er sich in Pulver auflösen.

„Nein!“ schreie ich heiser.

„MARCO!“

Ich wache auf, von meinem eigenen Ruf geweckt.

Um mich ist es stockfinster, ich höre meine Bettdecke knistern. Neben mir höre ich das gleichmäßige Atmen von Ulrich.

‚Hoffentlich hat er mich nicht gehört.‘ denke ich schuldbewusst.

Ich guckte, ob das Kissen noch richtig zwischen uns lag. Ich konnte es nicht ertragen, wenn er mit dem Gesicht zu mir lag und ich seinen Atem spüren konnte. Ich korrigierte die Lage des Kissens etwas und drehte mich dann von ihm weg auf die Seite.

Ich fühlte mich leer, als würde ein riesiges Loch in meiner Brust klaffen.

„Marco.“ Flüsterte ich kaum hörbar in die Dunkelheit.

„Marco Lotz, ich liebe dich.“ Formte ich mit den Lippen, ohne einen Ton oder einen Laut hören zu lassen.

Als ich die Augen schloss, stahl sich aus jedem Auge eine Träne.

„Marco, ich vermisse dich so…“
 

*
 

Die Apotheke, in der ich mich vor dem Urlaub in Flensburg beworben hatte, war groß, aber nicht so hoch frequentiert wie die in Wiesbaden. Die Belegschaft bestand aus der Chefin, ihre Schwester als PKA, ihre Studienfreundin als zweite Apothekerin und ihrer Mutter, ebenfalls Apothekerin. Sie war nicht mehr fest in den Apothekenplan eingebunden, da sie schon im Rentenalter war. Aber sie war doch öfter da. Wahrscheinlich vermisste sie ihren Beruf doch und nahm jede Möglichkeit wahr, doch noch mal ein bisschen Apothekenluft zu schnuppern. Für die Botenfahrten war der Vater der Chefin zuständig. Und die Putzfrau, wen wunderts, eine langjährige Freundin mit dem Ziel bald ihre PTA-Ausbildung in Idstein anfangen zu können.

Und ich sollte jetzt also die Stelle der PTA besetzen.

Ich gab wirklich mein Bestes. Ich war freundlich zu den Kunden. Ich beriet so gut ich konnte, hatte für jeden ein offenes Ohr. Ich kümmerte mich um die Rezepte, die Rezepturen. Räumte die Ware mit der PKA weg und ordnete die Fächer im Alphabeth, das sind die langen Schrankwände mit den tiefen Schubladen, in denen die Arzneimittel alphabethisch eingeordnet sind. Ich kümmerte mich um die Sichtwahl, die Freiwahl, achtete darauf, daß die Zeitschrieften immer ausreichend auslagen, füllte Tees ab und, und, und. Gelegentlich erhielt ich auch mal einen anerkennenden Kommentar der Chefin, zum Beispiel wenn es darum ging einer Kundin im Bereich der Migräne zu helfen und zu raten. Auch bei der Diät bekam ich eine Anerkennung seitens der Chefin, als ich der Kundin das erzählte, was ich ursprünglich gelernt hatte. Es waren also keine Märchen!

Ich bemühte mich auch innerhalb des Kollegiums um ein gutes Verhältnis. Einmal zum Beispiel, als auf dem Hof bei Spar der Hänchen-Wagen stand, dessen überdeutlicher Duft appetitanregend in die Apotheke wehte und die zweite Apothekerin sich nicht mehr halten konnte und sich einen halben Hahn holte, nahm ich ihr alle Kundschaft ab, verschob menie eigene Pause und sagte ihr nur, sie solle in Ruhe ihr Hähnchen genießen. Sie aß es mit den Fingern, wie so ein Hahn halt am besten schmeckt.

Ein anderes Mal kam eine neue Kundin zu uns in die Apotheke. Ihr Kind hatte ADHS und sollte eine bestimmte Rezeptur bekommen. In dieser sollte ein starkes Beruhigungsmittel das unter das Betäubungsmittelgesetz fiel, in einer bestimmten Dosierung in Kapseln gefüllt werden. Die Kapselgröße war auf die kleinste mögliche Größe festgelegt.

Nun hatte meine Chefin aber zum einen keinen Plan, wie man Kapseln machte, da der Apotheker in seinem Studium wenig mit der Praxis der Arzneimittelherstellung, der Galenit, in Berührung kommt, geschweige denn das eine Kapselmaschine nebst geeignetem Equipe in der Apotheke meiner Chefin vorhanden gewesen wären.

Ich bot mich sofort an das Problem zeitnahe zu lösen, bis meine Chefin die geeigneten Mittel bestellen konnte. Ich rief spontan in der Freseniusakademie an und machte mit meiner ehemaligen Dozentin für die Galenik aus, daß ich eine Kapselmaschine und auch die geeigneten Kapseln dafür ausleihen könne. Ich fuhr mit meinem Privatwagen in das 30Km entfernte Idstein, holte das bestellte ab, fuhr so schnell ich konnte zurück und überzog meine Arbeitszeit gewaltig, als ich der zweiten Apothekerin erklärte und vormachte, wie mit den Stoffen und dem Gerät umgegangen werden musste, um eben die gewünschten Kapseln herzustellen.

Als dann die erforderlichen Gerätschaften angekommen waren, brachte ich die Kapselmaschine und die Anzahl Kapseln, die ich bei ihr geliehen hatte, wieder zu Frau Becker zurück, natürlich während meiner Freizeit um meine Arbeitszeit nicht dafür opfern zu müssen.

Alles in allem fühlte ich mich eigentlich recht wohl in der Apotheke. Oft saß ich mit den Medikamenten an den Schubfächern und ergänzte Fächer oder schob überflüssige Fächer zusammen. Genauso oft hatte ich dabei das Gefühl: Wozu machst du dir eigentlich so viel Mühe? Du bleibst doch eh nicht lange hier.

Dabei hatte ich nun wirklich nicht vor gleich wieder zu kündigen. Der Betrieb war ruhig, ich hatte Teilzeit und konnte meine Mittagspausen zu Hause machen. Dennoch ließ mich diese Ahnung nicht los.

Es war natürlich auch nicht alles ganz reibungslos. Zum einen wurden mir Rezepte und Aufgaben, die ich leicht hätte allein bewerkstelligen konnte, öfter von der Zweit-Apothekerin oder sogar von der Schwester der Chefin, die ‚nur‘ PKA war, aus den Händen genommen und sie machte dann alles fertig. Zum Anderen fühlte ich mich manches Mal allein gelassen, wenn ich eine echte Frage und einen echten Rat gebraucht hätte, bei Kundenwünschen, die ich nicht ohne weiteres erfüllen konnte. Oder Fragen zu Rezepten, wo mir die Verschreibung des Arztes unklar war. Zum Beispiel war da eine Kundin, die ein spezielles Hautproblem hatte. Sie hatte vor Jahren mal eine Salbe von ihrem Hautarzt verschrieben bekommen, die kleine Wunder gewirkt hatte. Die Salbe war eine verschreibungspflichtige Rezeptur und die Krucke, mit der die Kundin kam schon einige Jahre alt. Sie hätte lange keine Beschwerden mehr gehabt und war nicht weiter damit beim Arzt gewesen. Nun aber kamen die Symptome zurück, ihr Hautarzt aber hatte längst seine Praxis geschlossen und sie musste auf einen anderen Arzt ausweichen. Dieser hatte ein anderes Mittel aufgeschrieben, als auf dem Etikett der Krucke zu lesen war. Ich beriet mich mit der Zweit-Apothekerin, die sich eher belästigt zu fühlen schien und ich sollte dann den Hautarzt anrufen und die Wirkstoffe klären. Dieser sagte mir, daß ich den Stoff nehmen solle, der auf dem Rezept steht aber dann doch anders dosiert. Ich notierte mir die Instruktionen und beriet mich ein weiteres Mal mit der Apothekerin die dann ihren Segen gab und ich rührte die Salbe an. Als PTA muss ich in solchen Dingen immer mit dem zuständigen Apotheker Rücksprache halten, das war Vorschrift und mir auch nicht unangenehm.

Im Sommer dann starb der Vater meiner Chefin vollkommen überraschend in einem Urlaub, in dem er mit seiner Frau, also der Mutter der Chefin, in die Berge gefahren war.

Später erzählte mir die Mutter, er hätte sich auf das Bett im Hotelzimmer gesetzt und gesagt: „Nanu? Was war das denn jetzt?“

Dann fiel er auf das Bett und atmete nicht mehr.

Das muss entsetzlich für die Frau gewesen sein und ich hatte ehrlich Mitleid mit ihr.

Sie versuchte sich davon abzulenken, indem sie in der Apotheke mit arbeitete. Aber es brauchte manchmal nur ein Wort, eine winzige Geste eines Kunden und die Arme musste sich wieder weinend zurückziehen.

Meine Chefin hatte natürlich denkbar viel damit zu tun die Beerdigung auszurichten. Viele Telephonate waren nötig, Papierkram und was man nicht alles bedenken und überlegen musste.

Ich war die einzige im Team, die am wenigsten von dem Tod unseres Botenfahrers betroffen gewesen war, da ich den Verstorbenen am wenigsten kannte. Also spornte ich meine Bemühungen, das restliche Team zu entlasten, an, so gut ich konnte.

Am Tag der Beerdigung hatte die Apotheke natürlich geschlossen. Für mich hieß das keineswegs, daß ich frei gehabt hätte. Da der Verstorbene im Prinzip zum Apothekenteam gehörte, war es nur selbstverständlich, daß auch das komplette Team zur Beerdigung kam. Auch die Putzfrau.

Wie gesagt, es war Sommer. Ein heißer Sommer! In der Apotheke alleine hatten wir schon über 30°C, die Temperaturen draußen waren nicht gerade viel erfrischender.

Es ging kein Wind, keine Wolke hing am Himmel und die Sonne brannte erbarmungslos auf die Trauergemeinde herunter. Die Messe für den Toten begann um 14 Uhr nachmittags, auch nicht gerade eine kühle Tageszeit. Natürlich war ich ergriffen, erschüttert und ich trauerte mit den anderen mit. Dennoch konnte ich mir so sarkastische Gedanken wie: „Hätte er nicht im Frühling oder im Herbst sterben können?“ und „Warum muss man als Trauerfarbe unbedingt Schwarz trage?“ nicht verkneifen, ließ mir aber nichts anmerken.

Die Messe fand in einer kleinen Kapelle direkt am Friedhof in Linter statt. Selbstredend war die Kapelle klein und nur die engsten Familienmitglieder hatten darin Platz. Das bedeutete nicht, daß die außenstehende Trauergemeinde nicht an der Predigt Teil haben konnte. Über eine Lautsprecheranlage auf dem Gelände vor der Kapelle war die Predigt des Pfarrers gut zu verstehen.

Von meiner Mum kannte ich eine Stelle im Vater Unser, an der sie und ihre Freundin immer lachen mussten.

„Dein Stab und Stecken trösten mich.“

Ich denke, ich brauche nicht zu erläutern, an welchen „Stab und Stecken“ die beiden Weiber dachten.

Auf jeden Fall war diese Stelle für mich nicht mehr schwierig, da sie ja im Grunde abgegriffen war.

Dafür fand ich unvermutet eine neue Stelle, die meine Erheiterung kitzelte.

„Und wir übergeben uns in deine Hände.“

Ich musste mir bildlich vorstellen, wie die im Verhältnis zu ihrem Gott kleinen Menschen vor ihrem Herren standen, die übergroßen Hände Gottes zu einer Schüssel geformt vor seinen Schäfchen und einer nach dem anderen kotzte Gott in die Hände, also, übergab sich in seinen Hände!

Dieses dumme Bild hatte sich in meinem Gehirn festgefressen wie eine Endlosschleife, wie ein Ohrwurm der einen Tage und Nächte nicht mehr losließ und ich konnte mir nur unter großen Mühen das Lachen verbeißen. Die Tränen konnte man noch für Trauer halten, aber das Lachen ging gar nicht. Zumal ich nun zum Apothekenteam gehörte, stand ich mit den anderen in der ersten Reihe der Trauernden!

Als dann allerdings der Sarg aus der Kapelle getragen wurde und wir ihm dann zu dem Platz folgen sollten, wo das ausgehobene Loch auf ihn wartete, verging mir das Lachen schnell. Es wurde noch eine kurze Ansprache gehalten, dann wurde der Sarg abgelassen und ich heulte wie ein Schlosshund. Am schlimmsten war noch, daß jeder der Trauergäste eine Schippe voll Sand auf den Sarg werfen sollte, der da in dem Loch unten stand.

Als ich nach Hause kam war ich nur froh, daß wir Wochenende hatten. Es war zu heiß, um so traurige Sachen zu machen. Und mein Hirn war zu weich von der Hitze, um mit dem Vater Unser angemessen umzugehen. Ich war regelrecht hin und her gerissen zwischen der Traurigkeit des Tages und dieser peinlichen Fehlinterpretation dieser neuen eindeutig zweideutigen Zeile in dem Gebet!
 

Die Probezeit betrug 6 Monate. Innerhalb dieser Zeit war mir gestattet, zwei Wochen Urlaub zu nehmen. Diese nahm ich zum Ende der Probezeit weil das ohnehin die Zeit war, in der wir dann nach Schleswig-Holstein fahren würden.

Ich freute mich sehr, wieder „nach Hause“ zu kommen. Auch wenn ich mit meiner Familie im Streit lag. Ulrich überzeugte mich davon, daß es keinen Anlass gab, den Urlaub nicht in Langballig zu machen. Er hatte im Internett einen Bauernhof gefunden, der in Langballig lag und kleine Ferienwohnungen mit Selbstversorgung zu einem recht günstigen Preis anbot. Ich kannte die Leute dort sogar. Wir durften dahin auch unsere Katzen mitnehmen, was der ausschlaggebende Grund für die Entscheidung war, den Urlaub bei den Brunkerts zu verbringen.

Es war schön, wieder „zu Hause“ zu sein. Die Gegend war wohlig vertraut, ich konnte zum Strand gehen, auch wenn es im September nicht mehr sonderlich warm war, um noch in der Ostsee zu baden.

Es folgte mir aber immer ein leichter Unterton der Bedrückung, ich musste in ein paar Tagen wieder zurück fahren, weg von hier. Mit jedem Urlaub in Schleswig-Holsten fiel es mir schwerer am Ende ins Auto zu steigen und dem Land, in dem meine Wurzeln steckten, den Rücken zu kehren.

Im Kino lief gerade der Film „Artificial Intelligence A.I.“ im Kino, den wir uns in Flensburg in der ersten Urlaubswoche ansahen. Der Film war schwermütig und trug nicht gerade dazu bei, meine persönliche Schwermut zu verscheuchen. Ich hatte irgendwie das Gefühl von einer nahenden globalen Katastrophe.

Natürlich gingen wir wieder fast ausschließlich einkaufen. An einem Tag sind wir extra früh aufgestanden um zum Möbel-Kraft nach Bad Seegeberg zu fahren. Auf dem Weg nach Hause hörten wir dann im Radio, daß eine Linienmaschiene in das WTC in NewYork eingeschlagen wäre. Ich hatte keinen Plan, was mit dem WTC, dem World Trate Center gemeint gewesen wäre, dennoch machte mich das Unglück betroffen. Ulrich erklärte mir dann, daß es die Zwillingstürme von der NewYorker Skyline wären.

Wir fuhren zum Citty-Markt in Flensburg wo wir in den Mediamarkt gingen. Ulrich ging in das obere Stockwerk um sich mit den Computer-Componenten zu befassen, die er noch besorgen wollte. Ich blieb unten und ging zu den riesigen Flachbildschirmen, vor denen sich einige Menschen drängten und gebannt auf den Bildschirm starrten. Es liefen die Nachrichten und ich erkannte sofort, was mit dem WTC gemeint war. Der eine Turm qualmte stark und immer wieder wurden weinende und geschockte Menschen gezeigt, Feuerwehren die aus allen Richtungen kamen. Ein riesiges Loch klaffte in der Fassade, weit oben am Turm und daraus kam unaufhörlich dichter fast schwarzer Qualm. Jetzt weinte ich auch. Ich konnte nicht sagen warum, aber die Leute um mich weinten und mich riss es mit. Dann die nächste Szene, ein zweites Flugzeug steuert direkt auf den zweiten Turm und kracht voll hinein! Wir waren alle geschockt, einige schrieen sogar auf. Nach einigen weiteren Minuten brach der zuerst getroffene Turm in sich zusammen und eine unfassbare Wolke aus dichten Staub, Qualm und Papier walzte durch die Straßen. Wir sahen wie die Menschen schreiend und weinend flüchteten, wie die Feuerwehrautos von der Wolke verschluckt wurden und sicher auch von den Trümmern, die mit dem einstürzendem Turm herunterfielen begraben wurden.

Es war entsetzlich und ich zitterte am ganzen Leib. Mein einziger Gedanke war allerdings: „Marco, wenn du doch jetzt da sein könntest… Bekommst du das auch gerade mit? Bist du genauso betroffen wie ich? Ach Marco…“ Ich war ehrlich gesagt froh darüber, daß Ulrich nicht dabei stand. Irgendwie bremste er meine Emotionen immer aus…

Von da an lief im Radio immer öfter das Lied von Enya, „Only time“ in das Kommentare von Reportern und Feuerwehrmännern eingespielt wurden.

Wir waren alle irgendwie in Endzeitstimmung.

Wenigstens spürte ich meine eigene Endzeitstimmung nicht mehr so sehr, als wir dann nach Hause fuhren.
 

Mein erster Arbeitstag nach dem Urlaub war ein Mittwoch, an dem ich nur nachmittags für vier Stunden in der Apotheke sein sollte. Ich fuhr wie gewöhnlich hin und wollte gleich meine Arbeit anfangen, als die Chefin mich abfing und mir sagte, ich solle im Aufenthaltsraum warten, sie müsse etwas mit mir besprechen.

Mir schwante nichts Gutes, aber ich bemühte mich die Fassung zu bewahren.

Als sie mit ihrem Kunden fertig war kam sie gleich zu mir in den Aufenthaltsraum.

Zuerst fragte sie mich, wie mein Urlaub war. Ich sagte ihr, es war schön, bis auf das furchtbare Ereignis. Sie nickte, ging aber nicht weiter darauf ein.

Sie erklärte mir dann, daß ich noch eine halbe Woche Resturlaub haben würde, den sie mir jetzt geben wollte, da sie nach reiflicher Überlegung davon absah, mich fest zu übernehmen. Meine Arbeitsmoral wäre nicht nach ihren Vorstellungen gewesen, ich hätte mich mit einfachen Sachen zu lange aufgehalten und bei den Dingen, wo ich hätte Rat und Absegnung bei einer diensthabenden Apothekerin hätte einholen müssen, hätte ich einfach Alleingänge gemacht. Sie berichtete mir dann von der Kundin, die den Hautarzt wechseln musste, mit dem ich mich absprechen musste, für die neue Chreme. Die Dame hätte schlimme Ausschläge bekommen für die meine Chefin sich furchtbar entschuldigen musste. Ich hätte mich nicht wie eigentlich vorgeschrieben mit der Apothekerin, in diesem Fall ihrer Studienfreundin, die die Chefin vertrat, wenn diese außer Haus war, abgesprochen.

Ich weinte inzwischen hemmungslos, das war zu viel. Ich war auch nicht mehr in der Lage mich zu verteidigen. Außerdem ahnte ich schon, daß das keinen Zweck haben würde.

Desweiteren warf sie mir vor, ich hätte sie und das Team nicht genügend entlastet, als die Geschichte mit dem Tod ihres Vaters war. Ich hätte ihr gerne gesagt, daß ich mich angestrengt hatte, wo ich konnte. Sogar wenn ich es nicht gebraucht hätte, so wie mit dem Hähnchen ihrer Studienfreundin! Oder die Geschichte mit den Kapseln, die meine Chefin gepflegt unerwähnt ließ.

Ich war sauer, erschüttert und traurig.

Außerdem, aber das fiel mir erst auf dem Nachhauseweg ein, hätte sie mich ruhig früher kommen lassen können und nicht erst bis zum Nachmittag warten, wenn ich nach Dienstplan kommen sollte.

Egal, es war vorbei. Da war nichts mehr zu machen.

Ich hatte meine Papiere in der Tasche und fuhr halb blind vor Tränen nach Hause.

Ulrich hatte Spätschicht und war eine Stunde vor mir losgefahren, ich war jetzt also allein.

Das war einer der seltenen Momente, wo ich gewünscht hätte, er währe da. Immerhin war er meine einzige Bezugsperson. Alle anderen waren ebenfalls auf Arbeit… Immer noch besser, Ulrich wäre da gewesen, als gar keiner.

Als er dann gegen Mitternacht nach Hause kam fand er mich wach im Wohnzimmer an der Playstation spielen.

„Was ist denn hier los? Musst du morgen nicht früh raus?“ fragte er erstaunt.

„Nein.“ Sofort fing ich an zu weinen.

„Ich hab meine Papiere bekommen.“ Schluchzte ich.

Unter Tränen erzählte ich, was passiert war.

Er hörte sich still an, was ich zu sagen hatte.

„Das ist dumm.“ Sagte er dann.

„Ich würde gerne eine kleine Auszeit nehmen.“ Bat ich dann immer noch heulend. „So ein zwei Monate, meinst du, das geht?“

Er gab mir keine Antwort. Stattdessen ging er ins Esszimmer, wo der PC stand, und beschäftigte sich damit.

Ich blieb etwas hilflos im Wohnzimmer zurück. Naja, ich hatte nicht wirklich erwartet, daß er mich trösten würde, Anteil nehmen oder mich sogar in den Arm nehmen würde. Aber eine Antwort hätte ich schon gern gehabt.

Ich wandte mich wieder meinem Tomb Rider zu und beruhigte mich allmählich.

Nach etwa zwei Stunden kam er dann ins Wohnzimmer.

„Ich hab das mal nachgerechnet. Wenn du nicht arbeiten gehst musst du auch keinen Sprit verfahren. Im Endeffekt sind das dann 200 DM die uns fehlen, also ist es nicht schlimm, wenn du eine kleine Auszeit machst, sofern du versprichst, den Haushalt anständig zu machen. Aber Anfang nächsten Jahres musst du dich dann um eine neue Stelle bemühen.“

„Danke.“ Sagte ich nur kurz.

Er hätte auch nicht mehr gesagt. Ich hatte mir seine Art schon irgendwie angewöhnt, keine Emotionen, außer sie sind absolut nicht zu unterdrücken.

Ich fühlte mich ein bisschen erleichtert. Ein bisschen. Vielleicht konnte ich mich jetzt etwas erholen.

Ich ging erst lange nach Ulrich ins Bett. Draußen wurde es bereits hell und die Vögel sangen schon.
 

Wie versprochen bemühte ich mich jetzt doppelt im Haushalt. Ich machte die Wäsche. Er ging dann in den Keller und guckte, mit welchem Programm ich gewaschen hab. Ich hab natürlich das falsche Programm zum Waschen gewählt, das normale Programm ohne Wasser plus hätte ich nehmen müssen, sonst verbrauche ich zu viel Strom und Wasser. Er kontrollierte die Waschpulver-Tonne und schalt mich, zu viel Pulver genommen zu haben.

Dann guckte er nach dem Wäscheständer. Die Wäsche war natürlich falsch aufgehängt. Ich hatte auch nicht genug Wäsche auf der Leine, das hätte mehr sein müssen, wenn ich die Trommel voll gehabt hätte. Auf dem Boden im Wäschekeller lagen zwei oder drei Flusen, ich hatte also auch nicht ausgefegt und gewischt.

Ich hatte die Wohnung gesaugt. Aber ich hatte offensichtlich irgendetwas falsch gemacht, vielleicht war das entstandene Muster vom Staubsaugerfuß auf dem Teppich nicht parallel genug, keine Ahnung. Er saugte jedenfalls noch mal. Die Treppe, die ich gefegt und gewischt hatte war wohl auch nicht perfekt genug, Ulrich machte das noch mal „ordentlich“.

Die Küche war nicht richtig aufgeräumt, die Lichtschalter und Fußleisten nicht gewischt, Staub gewischt hatte ich sowieso nicht – ich kann doch nichts dafür, daß der sich wieder auf den Möbeln niederlässt, sobald man das Staubtuch weggepackt hatte!

Seit zwei Jahren hatten wir auch ein Wasserbett. Mit zwei Matratzen. Das musste immer abgedeckt sein, sonst würde es den Raum mit heizen! Kostet Strom!

Die Standartsprüche die Ulrich draufhatte, wenn er von der Arbeit nach Hause kamen waren nicht etwa: „Hallo Maus, ich bin wieder da.“

Nein!

„Hast du gelüftet?“

„Hast du an die Küche gedacht?“

„Hast du an die Wäsche gedacht?“

„Warum hast du das Wasserbett nicht abgedeckt?“

Ach ja, und: „Warst du mit Yogie (dem Vectra mit dem Dekort) weg? Er steht irgendwie anders.“

Wo hätte ich denn mit dem Auto hinsollen? Ich hatte doch kein Geld. Ich bekam gerade mal 50 DM Taschengeld, da konnte man keine großen Sprünge mit machen.
 

Im Kino hatten wir den Computeranimierten Film „Final Fantasy“ gesehen und waren schwer begeistert. Als wir dann mal im Mediamarkt waren, haben wir ein Spiel für die Playstation gefunden: Final Fantasy XIII Ulrich kaufte mir das Spiel gönnerhaft mit der Auflage, den Haushalt nicht zu vergessen.

Meine Stunden an der Playstation wurden immer mehr. Der Frust, den ich hatte, wenn mein Gatte mir wieder erklärte, was ich alles bei meiner Arbeit falsch gemacht hatte, war unvermeidlich. Die Arbeit, die ich mir machte, obwohl ich dennoch Schelte bekommen würde, war durchaus vermeidbar und so beschloss ich meine Nerven öfter mal zu schonen und nur den Ärger hin zu nehmen, den ich ohnehin bekommen würde.

Das Spiel war wunderbar, wenn auch anfangs sehr undurchsichtig. Ich hatte mit Final Fantasy nie Berührung gehabt, geschweige denn, daß ich hätte sagen können, was ein Action-Adventure oder ein Rollenspiel war. Dennoch gelang es mir nach einigen Stunden das Spiel zu verstehen und ab da machte es einen riesen Spaß. Aus dem Internett, an das wir inzwischen auch angeschlossen waren, zog ich mir Lösungen und sogenannte „Walk through´s“ um in dem Spiel weiter zu kommen und Side-Quests zu lösen. Besonders liebte ich das Kartenspiel.

Die Graphik in dem Spiel war super, die Musik einfach klasse und alles in allem die ganze Aufmachung wirklich suchtverdächtig schön.

Dennoch konnte mich das Spiel mit der Zeit nicht mehr ausfüllen.

Es lenkte mich ab, manchmal sogar für Stunden. Aber diese Leere in meinem Herzen wurde immer größer.

Ich war einsam.

Der Mensch, mit dem ich zusammen leben musste, hatte kein echtes Interesse an meiner Verfassung.

Wenn ich wieder einmal in Depressionen versank und schwermütig durch den Tag humpelte, dann mied er mich. Er wartete einfach ab, bis es sich von alleine geben würde.

Ich war allein.

Wenn ich litt war ich einsam.

Verlassen.

Hilflos den Gefühlen ausgeliefert, die mich überrannten und wie Pech und Teer an mir hafteten.

Ich kannte die Namen von dem Pech und dem Teer.

Das eine war Marco.

Das Andere hieß Heimweh.

Ich hatte es geschafft – wie, weiß ich bis heute nicht genau – daß Ulrich mich nicht mehr unzweideutig anfasste. Ich konnte seit etwa einem Jahr abends ins Bett gehen und sicher sein, daß er mich nicht anfassen würde.

Auch küssten wir uns nicht mehr, schon lange nicht mehr. Nichteimal das kleine flüchtige Küsschen, wenn man sich begrüßt oder verabschiedet.

Ich vermisste das Küssen. Es war mal so wichtig für mich. Beinahe wichtiger als Sex. Zumal Sex für mich zwar früher mal sehr schön war, aber nicht befriedigend. Ich hatte keine Orgasmen. Jedenfalls nicht im Vaginalem Sinne.

Das war an und für sich kein Problem für mich, ich konnte es trotzdem genießen und schön finden.

Jetzt allerdings nicht mehr.

Jedenfalls nicht mit Ulrich.

Inzwischen ekelte ich mich tatsächlich vor ihm...

Ich ekelte mich vor mir selbst!

Auf einem sehr späten Spaziergang durch Kirberg im Sommer, als Ulrich Nachtschicht hatte, traf ich einen jungen Mann, nur wenig älter als ich und ebenfalls alleine auf einem nächtlichen Spaziergang. Wir kamen ins Gespräch, er lud mich zu sich nach Hause ein. Er hatte eine Frau und zwei Kinder, die gerade in einer mehrwöchigen Kur waren.

Er war also allein.

Und er machte mir ein sehr deutliches unmoralisches Angebot.

Er würde seiner Frau nichts erzählen und ich bräuchte auch nichts erzählen.

Ich lehnte allerdings ab.

Ich wollte am nächsten Tag noch in den Spiegel sehen können. Und ich erzählte Ulrich sowieso alles, ob es ihn interessierte oder nicht.

Der junge Mann, dessen Name ich hier nicht nennen möchte, beließ es dann dabei und war ehrlich beeindruckt von meiner Treue.

Ich brauchte keinen Sex.

Ich brauchte echte Liebe, Zuneigung, Geborgenheit.

Das konnte mir ein Seitensprung nicht geben.

Jedenfalls nicht mit diesem jungen Mann.

Hätte mir allerdings Marco ein solches Angebot unterbreitet, wäre ich nicht sicher, ob ich auch dann hätte ablehnen können.

Ich vermisste ihn immer mehr. Die Sehnsucht wuchs immer weiter.

In meinem Brustkorb war ein Loch, daß alles um sich hineinzog und drohte, mir die Rippen zu brechen. Wenn ich wieder in eine solche Schwermuth fiel, dann hatte ich körperliche Schmerzen, so sehr vermisste ich Marco, so sehr fraß das Heimweh an mir.

Oft lag ich in meinem Bett, wach, konnte nicht schlafen, und malte mir aus, wie es wohl wäre, wenn ich mich einfach ins Auto setzte, allein. Und nach Hause fahre. Ich könnte irgendwo zelten. Ich würde Ulrich nichts sagen. Der würde sehen, was ihm fehlt.

Aber wohl eher nicht…

Er würde sich in seinem Stolz verletzt fühlen und mich nicht mal suchen.

Ich würde gar nicht nach Hause zurückkommen brauchen.

Wenn ich dann irgendwo in meinem alten zu Hause zelten würde, könnte ich nach Marco suchen.

Vielleicht könnte ich ihn wiederfinden.

Vielleicht könnten wir einen Moment ganz alleine sein.

Vielleicht würden wir dann…

Dann würde ich da bleiben, mir eine Arbeit und eine Wohnung suchen.

Mein Auto würde ein Kennzeichen mit SL darauf bekommen…

Aber wie sollte ich das machen?

Ich hatte nicht mal Geld für Benzin.

Geschweige denn ein Zelt…

Die Einsamkeit fraß in mir, immer weiter.

Ich war inzwischen 30 Jahre alt und war seit einem Jahr Arbeitslos. Ich hatte mich beworben, wo ich konnte. Alle Apotheken angerufen, sogar bei Mundipharma in Limburg hatte ich mich beworben.

Keiner wollte mich.

Ich war depressiv und einsam.

Auch die Liebe meiner Katzen konnte mich nicht mehr ausreichend füllen.

Der Wunsch nach einem Menschen, der mich so liebte, wie ich war, wurde übergroß.

Und dafür gab es in meiner Situation nur einen einzigen Ausweg:

Ich wollte ein Kind!

Wenn mich niemand liebte, so wie ich war, dann musste ich mir eben einen machen, dem nichts anderes übrig bleibt, als mich zu lieben, weil ich seine Mutter war.

Leider war ich gut aufgeklärt und mir war natürlich bewusst, daß der Klapperstroch nichts mit dem Kinderkriegen zu tun hatte.

Schwanger wurde man nur durch Sex oder künstliche Befruchtung.

Zweites kam selbstverständlich nicht in Frage!

Ersteres war allerdings genauso schwierig für mich, denn ich musste IHN wieder ranlassen.

Sehr lange ging ich mit diesen Gedanken schwanger.

Die Pille nahm ich schon seit einem Jahr nicht mehr.

Die sexuelle Abstinenz war in unserer Ehe unausgesprochen, aber offiziell.

Irgendwann hielt ich die Einsamkeit und die Sehnsucht nach einem Kind nicht mehr aus und eröffnete mich meinem Mann.

Wir waren gerade in Limburg in der Stadt um auf dem Markt nach Spargel zu gucken.

„Ich will ein Kind!“ sagte ich nur kurz, aber entschlossen.

Ulrich sah mich mit einer Mischung aus Erschrockenheit und Unglauben an.

Meinte sie das jetzt ernst, oder will sie mich verarschen? Schien er zu denken.

Ich verzog aber keine Miene.

„Bist du sicher?“ fragte er dann tatsächlich mit Ergriffenheit.

„Ja.“ Antwortete ich kurz.

Ich konnte ihm schlecht erklären, worauf mein Kinderwunsch beruhte, etwas anderes als daß meine Biologische Uhr tickte, konnte ich auch nicht sagen, also erklärte ich mich nicht weiter.

Eine Weile war er sehr nachdenklich und sprachlos.

Schließlich fuhr er mit mir nach Kick und kaufte einen winzigen Strampelanzug und einen winzigen Pullover der gleichen Größe.

„Ich überlege auch schon seit einiger Zeit wegen einem Kind. Hier, damit du weißt, daß ich es mir auch wünsche.“

Von da an informierte ich mich auf das genaueste über den weiblichen Zyklus, die fruchtbare Zeit, wie man sie berechnet, wie man sie ermisst, ermittelt, was zu beachten ist, die Lebensdauer von Spermien. Wir benutzten die Temperatur-Methode, die Rechenmethode, einfach alles, was den Zeitraum der Fruchtbarkeit auf ein maximales Minimum eingrenzte.

Ich wollte so wenig wie möglich mit gewissen Körperteilen meines Gatten zu tun haben. Und ich wollte so wenig wie möglich, von ihm angefasst werden, aber ohne, daß er das bemerkte.

Ich begriff immer mehr, wie viel Diplomatie im Leben wert ist.

Anfangs fiel es mir sehr schwer, ihn ranzulassen. Ich verkrampfte und war kurz gesagt trocken!

Die Wüste Sahara war ein Feuchtbiotop gegen meine Schamgegend.

Also benutzten wir Gleitmittel.

Nach einigen Monaten blieb aber die gewünschte Schwangerschaft immer noch hartnäckig aus.

Ich ging zum Frauenarzt.

Wir verfolgten meinen Zyklus, der 5 statt 4 Wochen dauerte.

Ein Eisprung war wohl erfolgt, er ließ sich aber nur schwer bestimmen, da mein Zyklus um eine Woche zu lang war.

Nach viel gutem Zureden ging Ulrich zum Arzt und sein Sperma wurde untersucht.

Der Arzt sagte nur so etwas wie: „Es ist nicht unmöglich, aber auch nicht sehr wahrscheinlich.“

Die Versuche, schwanger zu werden, wurden immer seltener, bis wir es schließlich ganz aufgaben.

Meine Schwermut blieb, wurde auch immer noch stärker. Oft hielten diese Zustände drei bis vier Wochen an, in denen ich ganz allein damit fertig werden musste.

Ulrich wartete wie üblich ab, bis sich mein unangenehmer Zustand von alleine wieder gab.

Etwa ein Jahr nach diesen Arztbesuchen hatten Ulrich und ich uns wieder mal in der Wolle. Das geschah inzwischen in einer Regelmäßigkeit von sechs bis acht Wochen.

Er warf mir unter anderem vor, daß ich ihn ja sowieso nicht mehr „ran ließ“ und noch einiges mehr.

Etwa zwei Wochen nach diesem Streit war Ostern. Ulrich hatte an dem Ostersonntag Frühschicht und würde erst gegen halb vier am Nachmittag nach Hause kommen.

Ich hatte schon den ganzen Tag Kopfschmerzen und lag im Bett, als er nach Hause kam.

Er setzte sich zu mir auf das Bett.

Ich blieb einfach liegen und reagierte nicht, in der Hoffnung, er würde gleich wieder gehen.

Er schob meine Bettdecke hoch und begann mir die Beine zu massieren.

Ich ließ ihn gewähren. Das war inzwischen so die einzige Berührung, die ich zu ließ, weil ich doch gelegentlich mal etwas körperliche Nähe brauchte. Eine Massage war da noch am unverfänglichsten.

Früher hätte mich das sicher angemacht, vor Ulrichs Zeit, aber ich hatte inzwischen gelernt, den Ekel vor ihm dabei zu überwinden, was allerdings auch keine anderen Gefühle zu ließ.

Ich konzentrierte mich einzig auf die Massage, alles andere schaltete ich erfolgreich ab.

Dann begann er meine Oberschenke zu massieren und kam immer weiter in den Schambereich, der eigentlich als Strafraum galt.

Ich erinnerte mich an den Streit von vor zwei Wochen und hielt still.

Ich verkrampfte mich, aber ich hielt still.

Immer und immer wieder massierte er wie unbeabsichtigt mit seinen Fingern über meine Scheide, griff mir dabei zwischen die Schamlippen.

Ich war inzwischen wie in Beton gegossen, krampfte mich und biss meine Zähne zusammen.

Als es immer offensichtlicher wurde, daß er keineswegs vorhatte, diese für mich entsetzliche Massage sein zu lassen, sagte ich nur knapp zu ihm:

„Wenn du meinst, es machen zu müssen, dann sieh zu und daddle nicht so lange rum!“

Ich legte Hass in diese Worte in der Hoffnung, ihn damit zu verscheuchen.

Weit gefehlt.

Er zog es voll durch.

Er ging ins Bad um sich zu duschen, ich lag im Bett, eines meiner kleinen Kissen in den Armen auf meine Brust gekrampft und weinte.

‚Na toll!‘ dachte ich.

‚Wenn da jetzt ein Baby rauskommen würde, tolle Zeugung!‘

Kapitel XXV
 

Ich unterbreche meine Erzählung, weil ich kaum noch richtig sprechen kann,

greife weinend nach der Packung mit den Taschentüchern und nehme eines heraus.

Ich sitze im Schneidersitz auf meinem Sofa, putze mir die Nase, wische die Tränen von meinem Kinn, die mir während der Erzählung aus den Augen liefen, als hätte jemand einen Wasserhahn geöffnet. Ohne das Taschentuch abzusetzen vergrabe ich mein Gesicht in den Händen und weine.

Nicole ist wie versteinert auf ihrem Sessel. Sie sieht mich an, und doch wieder nicht. Als wenn sie einen Punkt mit den Augen fixiert, den nur sie sehen kann.

„Carmen…“ flüstert sie tonlos.

„Was hast du da nur mit dir machen lassen.“ Stellt sie mehr fest, als daß sie es fragt.

Langsam, fast in Zeitlupe steht sie auf, setzt sich neben mich und schließt mich in ihre Arme.

Ich vergrabe jetzt mein Gesicht in ihrer Schulter und schluchze hemmungslos.

„Lass es raus.“ Sagt sie nur leise und streichelt mir über den Rücken, durch meine Haare.

„Was für ein Arschloch!“ schimpft sie dann leise.

„Der ist wirklich über deine Leiche gegangen.“ Flüstert sie.

So sitzen wir da, eine ganze Weile, ohne ein weiteres Wort zu sagen.

Langsam beruhige ich mich.

„Magst du eine Rauchen?“ fragt Nicole mich leise und muntert mich auf, mich aufzusetzen.

Ich nicke ohne etwas zu sagen und putze mir erneut die Nase.

„Dein Pullover ist nass.“ Sage ich mit immer noch gebrochener Stimme vom Weinen.

„Da könntest du Recht haben.“ Witzelt meine Freundin leise.

„Na komm, gehen wir eine Schmöken, ich brauche jetzt wirklich eine Zigarette.“

In der Küche stehen wir eine Weile ohne Worte und rauchen.

Nach einigen Minuten wagt Nicole eine kleine Nachforschung.

„Und, ist dabei etwas herausgekommen?“

Ich antworte nicht gleich, mache auch keine Geste der Zu- oder Abstimmung.

„Naja“ sage ich dann nach einiger Zeit, in der Nicole geduldig auf eine Antwort wartet.

„Das könnte man so ausdrücken.“ Füge ich hinzu.
 

*
 

Da ich arbeitslos war beschäftigte ich mich mit meiner neuen Leidenschaft, den Pilzen. Ich hatte inzwischen fünf verschiedene Fachbücher über Pilze und mir einiges Wissen angelesen. Ich ging viel Spazieren, vor allem in den nahegelegenen Wäldern. Und ich fand einiges Lernmaterial. Jede Menge Pilze, die ich gut bestimmen konnte und bei deren Identität ich wirklich sicher sein konnte. Von den Egerlingen, oder den Champignon-Arten ließ ich die Finger. Die schlechten waren zwar leicht zu bestimmen, nicht aber die nicht so guten von den guten zu unterscheiden. Auch bei den Täublingen war ich mir nicht sicher. Es gab zwar die Regel, was scharf schmeckt sollst du lassen, aber manchmal war es einfach nicht eindeutig zu sagen, ob der Pilz jetzt scharf war oder nicht.

Am besten ließen sich immer noch die Röhrlinge bestimmen. Ich fand sogar Seitlinge, Austernseitlinge. Es gab Sorten, die wuchsen im Winter. Die waren größer als ein Essteller. Einmal hatte ich das Glück und fand zwei Austernpilze von denen wir zwei Tage essen konnten. Sie waren riesig und keinesfalls zäh. Dann gab es noch den Riesenbowist, der so groß werden konnte wie ein Medizinball. Wenn er innen weiß und fest ist, dann schmeckt er herrlich. Am besten, wenn er paniert war. Und eine Soße aus frischen selbstgesammelten Stockschwämmchen war in keiner Weise mit denen aus dem Glas zu vergleichen. Einmal fand ich eine krause Glucke. Den Büchern nach ein schmackhafter Pilz. Er musste gründlich geputzt werden unter fließendem Wasser. Als ich den Pilz, der wie eine braune Koralle aussah, durchschnitt, war mir sofort klar, warum das in den Büchern so dringlich stand. Ich hatte an dem Abend einige Hunderfüßler, Regenschnecken und Kellerasseln Heimatlos gemacht. Und ich mochte nicht darüber nachdenken, wie viele kleinere Untermieter ich nicht aus dem Pilz herausbekommen hatte. Die krause glucke ist wirklich ein äußerst schmackhafter Pilz mit einer würzigen Note. Allerdings lag mir das Gericht drei Tage schwer im Magen, wer weiß, wen ich alles mitgegessen hatte…

Wie gesagt war ich viel draußen in der Natur unterwegs.

Leider taten mir meine Brüste schon seit einigen Monaten weh. Teilweise so schlimm, daß ich meine Katzen nicht in die Arme nehmen konnte. Die körperliche Bewegung machte das nicht gerade angenehmer.

Ich nähte mir also aus einem Stoff, der nicht elastisch war, einen BH. Er sollte meine Brüste so fest halten wie möglich, also schnitt ich ihn auch so zu, daß er wie angegossen sitzen sollte. Meine Brust sollte keinen Raum mehr haben, sich irgendwie bewegen zu können.

Ich war heilfroh, daß ich endlich damit angefangen hatte, das Ding zu nähen. Seit zwei drei Wochen tat mir meine Brust so weh, daß ich nicht mal mehr richtig schlafen konnte.

Als ich mit dem Nähen fertig war, machte ich gleich eine Anprobe. Ich hatte den Schnitt schon vor einer Woche entworfen, war aber jetzt erst zum Nähen gekommen. Wir hatten Mai und ich wollte raus, jetzt gab es viele frühe Pilze die sehr lecker sein sollten.

Bei der Anprobe allerdings bekam ich den BH, den ich extra so gemacht hatte, daß ich ihn vorne mit einigen Häkchen zu machen konnte, nicht richtig zu. Es spannte und ich hatte den Eindruck, als hätte ich den BH eine Nummer zu klein gemacht.

Naja, ich bekam ihn aber zu und er hatte auch den gewünschten Effekt: Meine Brust hatte keine Chance mehr sich auch nur um einen Millimeter Raum sich zu heben oder zu senken, nicht einmal wenn ich lief. Sie quoll nur an beiden Seiten etwas raus. Und von oben betrachtet hatte ich so richtig Holz vor der Hütt´n.

Ansonsten hatte mein selbstgenähter BH einen wirklich guten Sitz. Ich beschloss diesen jetzt erstmal anzubehalten, da ich gleich in den Wald wollte. Ich könnte dann ja den Schnitt etwas erweitern und einen neuen machen.

Das Ereignis vom Ostersonntag lag inzwischen gut drei Wochen zurück und ich hatte mich einigermaßen von der folgenden Depression erholt. Es ging mir immer noch nicht gerade blendend, aber das war ohnehin ein Zustand, an den ich mich kaum erinnern konnte. Blendend…

Was von Ostern zurückblieb war ein Geschmack im Mund, als hätte ich Klosteine gelutscht. Grauenhaft! Nichts half. Kein Zähneputzen. Kein Mundwasser. Kein Desaquick. Kein Essen und kein Getränk. Im Gegenteil, egal was ich im Mund hatte, es schmeckte grauenhaft! Ich kaute Kaugummi und lutschte Eukalyptusbonbons, das verdrängte wenigstens teilweise diesen widerwärtigen Geschmack.

Wir waren bei Karstadt in der Computerabteilung, als ich einen so extremen Heißhunger auf einen Apfel bekam, daß ich am liebsten Wände eingerannt hätte! Ich MUSSTE jetzt einen Apfel haben! Egal wie und egal in welcher Form. Sogar einen Boskop hätte ich nicht abgelehnt. Vielleicht würde das sogar diesen Geschmack beseitigen. Es war wie eine Erleuchtung, eine Offenbarung, ich brauche nur einen Apfel essen und mein Mund wäre wieder normal.

Ich teilte Ulrich meine Langeweile mit und daß ich ins Restaurant gehen würde. Ich hatte noch zwei Euro in der Tasche. Ja, Euro. Ab dem 01.01.2002 wurde der Euro in Deutschland eingeführt wie in allen anderen EU-Ländern auch. Ein Euro war offiziell zwei D-Mark wert. Ich bekam also nicht mehr 50 DM Taschengeld sondern 25 Euro.

Also, ich hatte noch zwei Euro in meiner Tasche und hoffte inständig, daß ich im Restaurant einen Apfel bekommen würde.

Ich hastete an die Salat-Bar.

Keine Äpfel. Kein Salat mit Apfelstücken. Nicht einmal Apfelsaft! Auch in den großzügigen Obstkörben, die wie ein Füllhorn überlaufend auf einem Tisch drapiert waren, nicht ein einziger Apfel!

Ich war nahezu verzweifelt.

Ich fragte dann eine Kassiererin, ob sie wüsste, was ich tun müsste, um jetzt einen Apfel zu bekommen.

Ich muss sehr panisch ausgesehen haben. Jedenfalls machte die Kassiererin ein betroffen mitleidiges Gesicht und verschwand mit den Worten: „Ich gehe mal hinten fragen.“ hinter dem Tresen mit den warmen Speisen.

Nach einigen Minuten, die ich wie Stunden empfand, kam sie dann zurück mit einem kleinen roten schrumpeligen Apfel. Ich war überglücklich. „Wie soll ich ihn denn abwiegen, als Salat? Oder wie geht das mit den Früchten aus dem Korb?“ fragte ich sabbernd. Mir lief dermaßen das Wasser im Mund zusammen bei der Aussicht, gleich in diesen herrlichen faltigen Apfel zu beißen, daß ich ständig schlucken musste um nicht an mir selbst zu ersaufen.

„Das geht schon so in Ordnung.“ Lächelte die Kassiererin.

„Der sollte eigentlich mit den anderen Äpfeln in die Tonne, weil er nun wirklich nicht mehr ansehnlich ist und den Kunden nicht mehr angeboten werden konnte.“

Ich riss die Augen auf.

„Sie haben noch mehr?“ fragte ich entgeistert.

„Ja, wenn Sie möchten, kann ich Ihnen noch einen besorgen.“ Lächelte die Kassierern mild.

„Wenn es Ihnen keine Umstände macht?“ fragte ich so höflich ich konnte. Ich kam mit dem Schlucken kaum noch hinterher.

„Wenn Sie noch einen Moment warten möchten?“ fragte die Kassiererin zurück.

Ich nickte nur und biss endlich in meinen Apfel.

Er war trocken, die Schale schon sehr ledrig, das Fruchtfleisch wie ein feuchter feinporiger Schwamm und er schmeckte leicht nach Metall, eindeutige Anzeichen dafür, daß er schon sehr lange gelegen haben muss.

Für mich war es der Himmel auf Erden. Wie Wasser für einen Verdursteten und ich verschlang den Apfel mit Kerngehäuse, Stumpf aber ohne Stiel. Den holzigen Stiel ließ ich übrig weil, die Fasern sitzen immer so unangenehm zwischen den Zähnen.

Ich kaute noch an dem letzten Bissen als die Kassiererin mit noch zwei weiteren Äpfeln kam und sie mir lächelnd überreichte.

Ich war begeistert und bedankte mich überschwänglich.

„Wo haben Sie denn den anderen Apfel gelassen, schon aufgegessen?“ fragte die nette Kassiererin belustigt.

Um nicht mit vollem Mund zu antworten zeigte ich ihr nur den Stiel, den ich übrig gelassen hatte.

Sie schmunzelte und wünschte mir weiter einen guten Appetit.

Ich lächelte dankbar und zog mit meinen inzwischen nur noch eineinhalb Äpfeln davon.

Ich hatte den Bereich des Restaurants gerade verlassen, als Ulrich mir schon auf der Rolltreppe entgegen kam.

Er sah nur missbilligend auf meine Äpfel und sagte nichts dazu.

Keine Ahnung, was er hatte, ich ließ mich auch nicht davon stören.

Inzwischen konnte ich es ganz gut missachten, wenn er wieder eine seiner gekünstelten Misslaunen oder mitleidheischenden Touren hatte. Wenn ich fragte, bekam ich eh keine Antwort und fühlte mich nur noch schlechter. Ganz ohne Zweifel wollte er genau das damit erreichen. Also tat ich ihm nicht mal mehr den Gefallen zu fragen: „Was ist?“

Wir fuhren dann nach Massa, eigentlich Real aber alle sagten nur Massa und ich hatte es mir auch so angewöhnt. In der Obst- und Gemüseabteilung gedachte ich mir noch ein paar Äpfel zu organisieren. Allerdings waren auf einmal Tomaten sehr viel interessanter und sicher auch sehr viel schmackhafter. Ich durfte welche abwiegen. Sie waren immer noch unverschämt teuer. Aber nicht mehr so teuer wie im Januar 2002. Im Dezember 2001 kostete ein Kilo Tomaten 4,- DM, im Januar 2002 dann plötzlich 4 Euro! Und wo war es mit fast allen Waren!

Inzwischen kosteten sie „nur“ noch 2 Euro 50.

Ich suchte mir die schönsten Früchte aus, wog sie ab, klebte das Etikett auf die Tüte und nahm gleich die erste Tomate wieder aus der Tüte raus. Von den insgesamt sechs Früchten, die ich mir ausgesucht hatte, schafften es nur vier bis zur Kasse.

Draußen vor dem Laden stand eine Pommesbude. Der Duft von Frittenfett umwehte meine Nase und ich bekam Hunger auf Pommes.

Trotz der Gefahr einen äußerst missbilligenden Blick zu ernten, fragte ich Ulrich, ob wir eine Portion Pommes essen wollten.

Ich erntete den missbilligenden Blick, aber Ulrich willigte ein und ich bekam eine Portion Pommes.

„Ich möchte bitte mit Ketjup.“ Bat ich.

Jetzt erntete ich einen erstaunten Blick.

„Seit wann isst du deine Pommes mit Ketjup?“ fragte Ulrich mich skeptisch musternd.

„Weiß nicht, hab Appetit drauf.“ Antwortete ich und zuckte unschuldig mit den Schultern.

Ich bekam das gewünschte.

Es war dieser rote 0/8/15 Ketjup ohne Gewürz. Eigentlich eine eklige Paste, aber dieses Mal war es einfach nur köstlich. Am liebsten hätte ich nach einer weiteren Portion gefragt, aber ich verkniff es mir lieber.

Zu Hause dann futterte ich noch zwei meiner Tomaten. Ich hatte extra die großen Fleischtomaten ausgewählt. Dann beschloss ich, daß es zum Abendbrot Nudeln mit Napolisoße geben sollte.

Ich hatte längst aufgegeben Ulrich zu fragen, was ich zu Essen machen sollte. Ich bekam ohnehin keine Antwort. Wenn doch, keine vernünftige. Und er sagte mir auch nie, ob es ihm schmeckte. Er machte nicht mal ein anerkennendes „Hmmm.“ Oder so.

Auch nicht, wenn ich ihn dann nachfragte.

Also machte ich, worauf ich Lust hatte und was wir da hatten.

Für uns zwei machte ich immer eine halbe Packung Spaghetti und die Napoli von Knorr, die ich noch mit Gewürzen, einem ganz speziellen geheimen Gewürz und etwas Sahne verfeinerte.

Natürlich war immer mehr Soße da als wir für die Nudeln gebraucht hätten, aber die Soße konnte man nur schlecht halbieren.

An diesem Tag konnten meine Nudeln allerdings nicht tomatig genug sein. Ich aß im Grunde Tomatensoße mit Nudeln.

Sogar den Rest aus dem Topf kratzte ich bedächtig mit einem Teelöffel heraus.

Während Ulrich sich an seinen Computer verzog, saß ich bei meinem Spiel am der Playstation. Ich hatte ein neues Spiel bekommen, Spyro der kleine Drache.

Ulrich saß in den letzten Monaten viel am PC. Er las PC-Zeitschriften, informierte sich über Computer im Netz und eignete sich das ganze Informatikwissen selbst an. Er hatte seinen Rechner inzwischen hochgepuscht, frisiert oder wie man das nennen soll. Er erzählte mir dann immer von CPU, USB, ISDN und was nicht alles. Motherbord, Festplatten, Speicherkarten, Megabite, Gigabite, ich blickte längst nicht mehr durch. Ich hörte auch schon nicht mehr richtig zu. Das hatte den Vorteil für ihn, daß er mir immer wieder etwas Neues erzählte, obwohl er mich täglich damit zutextete.

Wenn ich etwas zu erzählen hatte, dann hörte er auch nicht zu.

Gegen Mitternacht hatte ich dann das dringende Bedürfnis nach einem bunten Salat mit meinem Lieblingsdressing.

Ich ging dann in die Küche, zerkleinerte Eisbergsalat, Gurke, Tomate, Gemüsezwiebel und Wurzeln und mischte mir alles mit dem Dressing an.

Als der Salat fertig war, wollte ich ihn nicht mehr.

Ich hatte schon seit einigen Stunden nichts mehr gegessen, versunken in meinem Spiel. Jetzt machte sich wieder der Klosteingeschmack in meinem Mund breit. Der vergällte mir jetzt den Appetit. Also stellte ich den Salat in den Kühlschrank.
 

Inzwischen hatten wir Mitte Mai. Es war Freitag.

Ich musste feststellen, daß meine Periode, die eigentlich nach dem fünf-Wochen-Zyklus Anfang der Woche fällig gewesen wäre, ausblieb.

Ich machte mir keine große Hoffnung, daß es mit einer Schwangerschaft zu tun haben könnte. Ein Mal in inzwischen eineinhalb Jahren, das konnte nicht sein.

Allerdings wurde ich unruhig.

Der BH, den ich mir genäht hatte, passte schon längst nicht mehr, meine Brust tat immer schlimmer weh und ich wurde den Klostein in meinem Hals nicht mehr los.

Gegen Nachmittag dann bat ich Ulrich um Geld für einen Schwangerschaftstest.

„Bist du Schwanger?“ fragte er mich entgeistert.

„Ich denke nicht, aber ich will sicher gehen.“ Antwortete ich.

Also fuhren wir noch mal in die Apotheke und kauften einen Clrear-Blue-Schwangerschaftstest.

Ich wusste jetzt durch meine Ausbildung, daß die Tests inzwischen so sicher waren, daß es zwar möglich sein konnte, daß man Schwanger war, wenn der Test negativ anzeigte, aber definitiv eine Schwangerschaft besteht, wenn der Test positiv anzeigte. Irrtum ausgeschlossen!

Wieder zu Hause verzog Ulrich sich gleich an seinen Rechner. Ich beschäftigte mich mit dem Test.

Er war so empfindlich, daß man ihn zu jeder Tageszeit machen konnte, also verlor ich keine Zeit.

Ich zielte so gut ich konnte in einen sauberen Becher, hielt den Test wie in der Packungsbeilage beschrieben in den frischen Urin, verschloss den Test mit der dafür vorgesehenen Kappe und legte ihn in der Küche auf die Arbeitsplatte neben dem Herd, stellte die Uhr des Herdes auf die angegebenen fünf Minuten, entsorgte den Inhalt des Bechers und begab mich ins Wohnzimmer an meine Playstation.

An ein konzentriertes Spielen war allerdings kaum zu denken.

Nach gefühlten Stunden piepte dann die Herduhr.

Mit gemischten Gefühlen ging ich in die Küche um das Ergebnis auf dem Test abzulesen.

Scheiße!

Zwei blaue Striche!

Schwanger!

Ich war ehrlich geschockt und ernsthaft einer Ohnmacht nahe.

Ich nahm den Test, ging zum Esszimmer, daß jetzt das PC-Zimmer war, um die Neuigkeit meinem Gatten mitzuteilen.

„Mau?“ Wir riefen uns schon lange so. Ich fand das sehr angenehm, weil ich echten Ekel entwickelt hatte, seinen Vornamen auch nur zu denken.

„Was?“ Ulrich sah nicht von seinem Monitor auf.

„Ich bin Schwanger.“

„Im Ernst?“ jetzt guckte er mich entsetzt an.

„Ja.“ Bestätigte ich fassungslos.

„Scheiße!“ keuchte er.

„Ja!“ bestätigte ich noch immer fassungslos.

Ich zeigte ihm den Test und erklärte warum ein Irrtum ausgeschlossen wäre.

Ulrich hatte nichts mehr dazu zu sagen.

Ich hatte ebenso wenige Worte dafür wie er.

Natürlich haben wir uns gefreut.

Natürlich war der kleine Wurm geplant und gewünscht.

Aber die Tatsachen können einen ehrlich vom Sockel hauen.

Wir haben nicht spontan eine Party gegeben oder uns weinend vor Freude in den Armen gelegen.

Ulrich wandte sich wieder seinem Rechner zu und ich ging ins Wohnzimmer, wo ich wie paralysiert mit dem Gamepad der Playstation in der Hand auf dem Sessel saß und auf den Bildschirm starrte, auf dem Spyro immer wieder bemerkbar machte, daß ich doch jetzt eigentlich weiterspielen könnte.

Der geneigte Leser möge sich vorstellen, er bekommt aus heiterem Himmel einen Anruf in dem ihm mitgeteilt wird, er hätte gerade zwei Millionen Euro und eine Ferienvilla auf den Malediven gewonnen.

Die erste Reaktion: Schock!
 

Ich hatte das Wochenende Zeit mich mit dem Gedanken einer bestehenden Schwangerschaft zu beschäftigen.

Ich fühlte mich nicht schwanger, aber der Zustand erklärte so einiges.

Die Äpfel.

Die Tomaten.

Den Ketjup auf den Pommes.

Die Tomatensoße.

Den Klostein in meinem Mund und den Heißhunger auf Salat und die Appetitlosigkeit, als der Salat dann fertig war.

Die Schmerzen in meiner Brust und die Tatsache, daß der BH nicht mehr passte, als er fertig war.

Und eben die ausbleibende Blutung.

Ich war schwanger.

Ich schnackte mit dem winzigen Punkt in meinem Bauch, hatte aber eher das Gefühl, ich würde mir das nur einbilden.

Am Monat morgen machte ich dann nach einem Jahr Abstinenz einen Termin bei meinem Frauenarzt.

Grund: Verdacht auf Schwangerschaft.

Ich bekam für den folgenden Donnerstag gleich einen Termin.

Ulrich und ich fuhren dann am Donnerstag in die Stadt um pünktlich zu meinem Termin da zu sein.

Zuerst musste ich natürlich etwas Urin abgeben, wofür ich einen Becher bekam. Es war mir nicht im Geringsten peinlich, als ich mit dem Becher plus Inhalt zur Rezeption ging um ihn abzugeben. Dann wurde ich gewogen und mein Blutdruck wurde gemessen.

Nach einer weiteren halben Wartestunde wurde ich dann in den Behandlungsraum gebeten. Ulrich begleitete mich.

Mein Arzt kam herein und begrüßte erst mich, dann meinen Gatten.

„Na, Frau Hansen, wie geht es Ihnen?“ fragte er gut gelaunt.

„Gut.“ Antwortete ich genauso gut gelaunt.

Dann setzte er sich kurz vor den Monitor, auf dem meine Daten aufgerufen standen.

„Aha. Soso. Na, das sind ja mal ganz andere Vorrausetzungen.“ Sagte er freudig und drehte sich strahlend zu mir um.

„Dann machen Sie sich mal frei.“

Die erste wunderbare Nachricht war, daß ich nicht mit den metallenen Winkeln untersucht wurde, die sonst immer benutzt wurden, um den Vaginalbereich einsehen zu können.

Es beschränkte sich auf einen kurzen Abstrich und eine Abtastung. Dann kam der Ultraschall zum Einsatz. Es war der Ultraschall zum einführen, aber auf jeden Fall angenehmer, als die Winkel.

Gespannt wie ein Flitzebogen starrte ich voller Vorfreude auf den Monitor.

Zuerst war meine Blase zu sehen, die bereits wieder gefüllt war. Dann guckte er nach den Eierstöcken. Sie waren ohne Befund und nun bewegte der Arzt den Kopf des Ultraschalls auf meine Gebärmutter, in der ganz deutlich eine kleine Blase zu sehen war. Am Rand der kleinen Blase befand sich ein winziges Beulchen, eine Anhäufung von Zellen. Ein winziges Würmchen, mehr war nicht zu erkennen.

„Ja.“ Sagte mein Arzt.

„Das ist eindeutig eine Fruchtblase mit einem Keim.“ Erklärte er.

„Nach meiner Rechnung müsste es die vierte Woche sein.“ Erläuterte ich. Ich kannte ja nun den genauen Zeitpunkt der Zeugung.

„Das kann durchaus sein.“ Bestätigte der Doktor.

„Es ist noch kein Herzschlag zu erkennen, aber es ist mit ziemlicher Sicherheit eine Schwangerschaft. Das hat ja auch der Urintest ergeben.“ Führte er weiter.

„Kommen Sie in einer Woche noch mal wieder, dann können wir genaueres sagen.“ Strahlte er mich dann an und bedeutete mir, mich wieder anzukleiden. Er druckte mir noch das letzte Bild vom Ultraschall mit der kleinen Blase und dem Würmchen aus und überreichte es mir.

Dann sollte ich mich obenrum noch mal frei machen und sehr vorsichtig tastete er meine Brüste ab.

„Da sind eindeutig vergrößerte Milchgewebe zu fühlen, Frau Heins, ich würde sagen: Sie sind schwanger.“

Nun hatte ich meine offizielle Bestätigung. Ich war überglücklich, wirklich. Ich freute mich. Ich fühlte mich jetzt sogar Schwanger.

Zur Feier der offiziellen Nachricht gingen wir dann in einen asiatischen Imbiss. Danach bekam ich Folsäure aus der Apotheke, Vitamine, Eisen, Magnesium und Calzium, alles, was eben eine schwangere Frau braucht, um ihr ungeborenes Kind gut zu versorgen.
 

Der nächste Termin, den ich hatte war schon am Donnerstag der folgenden Woche.

An dem Tag konnten wir dann auf dem Ultraschall auch schon das kleine Herz schlagen sehen. In nur einer Woche hatten sich die Hände und Füße, auch der Kopf soweit ausgebildet, daß man schon beinahe ein menschliches Wesen erkennen konnte. Und es lebte.

Nun bekam ich auch einen Mutterpass und mir wurde Blut abgenommen. Beim nächsten Termin, den ich erst in einem Monat hatte, bekam ich dann die Ergebnisse in den Mutterpass eingetragen. Und ich erfuhr, daß mein Blut in Ordnung war, ich hatte keine Krankheiten, auch kein Aids. Außerdem wurde in meinem Blut festgestellt, daß ich die berüchtigte Toxoplasmose bereits irgendwann mal gehabt haben musste, denn es wurden Antikörper für diese Krankheit gefunden. Das bedeutete, ich konnte nicht mehr daran erkranken und das Ungeborene war nicht gefährdet, wenn ich weiter mit meinen Katzen verkehrte. Ich sollte nur nicht unbedingt das Katzenklo sauber machen. Auch Thüringer Mett gönnte ich mir eher selten. Man muss das Schicksal ja nicht gerade herausfordern.

Als ich im offiziell dritten Monat war, die zwei Wochen von der Befruchtung bis zum Ausbleiben der Regelblutung wurden nicht mitgezählt, hatten wir dann einen Termin bei unserem Zahnarzt.

Ich hasste Zahnärzte!

Aber Doktor Kilb in Hattersheim war einer der besten, die mich je behandelt haben. Er hatte Humor und sehr viel Geduld. Er wusste von meiner Angst und ließ mir immer etwas Zeit, mich auf die Betäubungsspritze vorzubereiten, bevor er sie dann tatsächlich setzte. Auch durfte ich leise vor mich hinweinen, wenn es unangenehm für mich war.

Heute allerdings freute ich mich richtig auf den Termin.

Ich lag auf dem Behandlungsstuhl und er begutachtete meine Zähne und die Plomben, die er mir bisher schon gesetzt hatte.

Ich habe viele Plomben.

Kaum ein Backenzahn ohne Amalgamverzierung.

Er war einigermaßen zufrieden mit meinen Zähnen.

„Frau Hansen, ich habe festgestellt, daß die letzte Röntgenaufnahme vor vier Jahren war. Ich würde sagen, daß wir gerade mal eine neue Aufnahme machen.“ Sagte er dann.

„Ich denke, daß ich das ablehnen muss.“ Grinste ich ihn an.

Etwas verdutzt sah er mich an.

„Warum das?“ fragte er.

„Weil ich schwanger bin.“ Lächelte ich selig.

Er stieß sich auf seinem Rollhocker ab und rollte einen guten Meter rückwärts von mir weg.

„Nein!“ rief er erstaunt und erfreut aus.

„Ist nicht wahr. Wie weit sind Sie denn?“ fragte er jetzt mit ehrlichem Interesse.

„In der 11. Woche.“ Antwortete Ulrich jetzt.

„Na, dann müssen wir die Aufnahme tatsächlich verschieben.“ Strahlte Herr Kilb.
 

Eigentlich hätte ich weiter nach einer Arbeit suchen müssen. Ulrich beschäftigte sich einige Tage ausgiebig mit dem Thema und eröffnete mir dann, daß es keinen Sinn machen würde, wenn ich jetzt auf Krampf irgendwo anfinge, die Schwangerschaft verheimlichte und dann nach ein paar Monaten dann damit herausrücken musste. Ich durfte also ganz entspannt zu Hause bleiben und schwanger sein.

Ich war ihm ehrlich dankbar, vor allem in dem Sommer.

Der Sommer sollte ein sogenannter Jahrhundertsommer werden. Das war er auch.

Mindestens drei Mal am Tag dankte ich Gott und meinem Gatten dafür, daß ich mich nicht bei 46°C auch noch zur Arbeit quälen musste.

Ich entwickelte einen echten Fimmel für Orangen. Ich fuhr auf alles ab, was irgendwie mit Orangen zu tun hatte.

Orangeneis, Caprieis, Orangen als Frucht, als Bonbon. Ich war auf einmal süchtig nach dem Direktsaft von Orangen, mit Fruchtfleisch. Dabei hasste ich Säfte mit Fruchtfleisch! Sogar ein Spülmittel hab ich mir gekauft, weil es nach Orangen roch. Badeschaum, Haarschampoo und Duschgel sowie einen Handseife mit Orangenduft. Beim Duftbaum Orange hat mein Gatte dann allerdings entschieden abgewehrt.

Ich trank am Tag drei von den Saftflaschen mit Direktsaft von Lidl leer. Wenn ich tatsächlich mal ohne Orangensaft war, dann kam das schon einer mittleren Katastrophe gleich.

Außerdem hatte ich mein Herz für Möhrensalat entdeckt. Fein geraspelt mit der Salatkrönung von Knorr, etwas mit Gewürzen aufgepeppt… Ich aß es zum Frühstück, zum Mittag, abends und zwischendurch. Manchmal machte ich mir etwas Kartoffelpüree dazu, damit gelegentlich auch mal etwas Warmes dabei war.

Ich probierte sogar die geraspelten Möhren mit dem Orangensaft mit Fruchtfleisch, ich war schlichtweg begeistert!!!
 

Anfang des fünften Monats dann beim Ultraschall stellte sich heraus, daß es ein Junge werden sollte. Ich war ehrlich endtäuscht, so sehr, daß ich dem Baby gegenüber ein schlechtes Gewissen hatte. Ich hatte mir so sehr ein Mädchen gewünscht. Es brauchte einige Tage, bevor ich mich damit abfinden konnte. Aber ich hätte eh nichts mehr ändern können.
 

Die Schwangerschaft brachte allerdings auch noch ganz andere Nebenwirkungen mit sich.

Seit vier Jahren herrschte jetzt Funkstille zwischen mir und meiner Familie.

Jetzt, wo ich ein Kind erwartete, machte ich mir so manche Gedanken.

Es war schlimm genug, daß ich mich mit meiner Mutter dermaßen zerstritten hatte. Aber, ich wollte ihr dennoch das Enkelkind nicht vorenthalten. Was hätte ich denn sagen sollen, wenn mein Sohn mich später fragen würde, was mit seinen Großeltern währe.

Nun, mit Ulrichs Familie hatten wir ja guten Kontackt.

Aber meine Eltern, mein Bruder…

Ich fasste dann endlich den Entschluss, daß ich es zumindest versuchen sollte, Frieden zu schließen.

Also rief ich bei meiner Mutter an.

Sie war wütend. Sehr wütend. Das konnte ich ihr auch nicht verdenken. Es kostete mich viel Überwindung nicht ebenfalls zu streiten. Aber ich hatte den festen Vorsatz gefasst, mich mit meiner Familie auszusprechen und vielleicht wieder zu versöhnen.

Wir telephonierten einige Male. Immer wieder besprach sie sich mit meinem Bruder und meinem Vater. Sie war misstrauisch, auch das konnte ich ihr nicht verdenken.

Schließlich machten wir dann aus, daß ich im Urlaub im September, der längst geplant war, alleine kommen sollte um einen Ansatz zu finden.

So fuhren wir dann nach Flensburg.

Ich ging zu meinen Eltern, es waren ja nur ein paar hundert Meter und etwas Bewegung war sicherlich nicht falsch.

Zuerst bekam ich die Auflage, daß ich nichts zu sagen hatte. Mein Bruder war dabei und auch er hatte einiges zu sagen.

Ich fand das nicht ganz fair, fügte mich aber.

Ich hörte mir alle Vorwürfe an und gestand demütig meine Schuld ein.

Ich wollte Frieden, um jeden Preis.

Auch wenn es für mich bedeutete, daß ich mehr eingestehen musste, als mir lieb war. Ich widersprach nicht, versuchte gar nicht erst mich zu verteidigen. Ich wollte jede Art von Streit vermeiden.

Am Schluss war es mir tatsächlich gelungen, eine Art Waffenstillstand bis auf weiteres zu erreichen.

Ich stimmte meiner Mutter zu, daß es durchaus nicht möglich war, dasselbe Vertrauen wie vor dem Streit zu erwarten. Ich fand mich sogar damit ab daß mein Stand in der Familie weit unter den Haustieren meiner Mutter war.

Ich wollte nur Frieden und den Kontakt zwischen meinen Eltern und ihrem Enkelkind ermöglichen. Ich weiß nicht warum, aber es war mir sehr wichtig. Vielleicht war es ein bisschen das Bewusstsein, daß meine Eltern dem Kind das geben konnten, was von der väterlichen Seite nicht zu erwarten war: Echte Liebe.

Ulrich hielt sich gepflegt aus der Angelegenheit heraus. Er war ohnehin nicht sehr begeistert von meiner Absicht, mich mit meiner Familie zu versöhnen.

Er machte es wie immer: Mit der Zeit würde es sich sicher von selbst lösen.

Bei meinem dritten und letzten Besuch für diesen Urlaub bei meinen Eltern war die Stimmung schon beinahe gelöst. Ich wurde nach meinem Befinden gefragt, wie es dem Kind ginge und was jetzt eigentlich ein Mutterpass war.

Mein Bruder fragte mich nach dem Geburtstermin.

Als ich ihm sagte, daß es der 6. Januar sein sollte, meinte er nur:

„Ach du heilige drei Könige!“

Stimmt, das war mir noch gar nicht aufgefallen.

Allerdings lehnte ich Namen wie Baltasar, Melchior oder Caspar strickt ab.

Als wir dann schließlich wieder nach Hause fuhren, tat ich das mit einem echt guten Gefühl.

Kapitel XXVI
 

Die gesamte Planung für die Anschaffung der Dinge, die wir brauchten, um den kleinen Wurm gut zu versorgen, übernahm Ulrich. Er übernahm schon von jeher den finanziellen und versicherungstechnischen Kram. Ich wurde immer da rausgehalten. Es war für ihn wohl ein gutes Gefühl, wenn ich möglichst unkundig und unselbständig blieb.

Mir war es recht, ich hätte mir den Papierkram nicht wirklich zugetraut. Manchmal ärgerte ich mich schon, weil er immer wieder meinte, ich hätte kein Wertgefühl, würde mit Geld nicht umgehen können und ähnliches. Wie hätte ich denn auch darüber urteilen können, ohne die Hintergründe zu kennen?

Er hielt mich klein.

Für mich war das nur bequem.

Und genauso störte es mich nicht, daß Ulrich sich um die Ausstattung unseres Sohnes kümmerte. Die Funktionen meines Gehirnes hatten seit der Schwangerschaft stark nachgelassen und es fiel mir schwer, mich zu konzentrieren.

Wir waren mal zusammen einen Kinderwagen ansehen. Die Verkäuferin zeigte uns einige Modelle und warf mit Fachbegriffen wie „Luftkammerreifen“, „Bremssystem“ und „Umbaumöglichkeiten“ um sich. Ich verstand nur Bahnhof. Der Eindruck, man würde ein Auto kaufen und keinen Kinderwagen, drängte sich mir förmlich auf.

Zuerst guckte die Verkäuferin dann auch etwas kariert, als ich nach dem Verbrauch fragte und wie schnell er denn von Null auf Hundert kam und mich nach der Höchstgeschwindigkeit und den PS erkundigte.

Nach vielen, vielen Besuchen in ebenso vielen verschiedenen Baby-Geschäften und natürlich stundenlanger Information im Internet, entschieden wir uns dann für ein Modell ohne Markennamen. Er war leicht zusammen und auseinander zu falten, passte locker in den Kofferraum. Außerdem konnte man die Softtasche nicht nur rausnehmen, sonder sie war auch als Fußsack einsetzbar, wenn man den Kinderwagen zu einer Spotkarre umgebaut hatte.

Gleichzeitig kaufte Ulrich noch eine Babyschale von MaxiCosi. Die Schale war nicht zu schwer, ließ sich super ins Auto einbauen und hatte ein leicht verständliches Fünf-Punkte-Gurt-System.

Mein Bauch war inzwischen stark gewachsen. Es war kein Zweifel mehr, ich war nicht fett, ich war jetzt Schwanger. Mein Busen war schon so weit angewachsen, daß ich die Bilder auf meinen T-Shirts betrachten konnte, ohne mich dafür vor den Spiegel stellen zu müssen.

Ich war im achten Monat. Noch zwei Monate, dann würde das Baby kommen.

Ulrich hatte Säcke- und Kartonweise Babyklamotten gekauft. Gebraucht natürlich, nur weniges war neu, aber das war ja kein Problem.

Er hatte alles durchgewaschen – Ja, er hat gewaschen, ich konnte das ja nicht, und auf den Leinen reihten sich winzige Strampler an noch winzigere Boddys, Windelhosen, Söckchen, Hemdchen, Mützchen, Lätzchen, winzige Pullis und allem, was ein Baby sonst noch brauchte. Wir legten uns einen großen Vorrat an Gästehandtüchern zu, die ich als Spucktücher benutzen sollte.

Dann kaufte Ulrich ein Babybett, das sich später zu einem Kinderbett umbauen ließ und bis zum siebten Lebensjahr des Kindes verwenden lassen sollte.

Von der Anschaffung eines Stubenwagens sahen wir allerdings ab. Aus dem Bekanntenkreis wussten wir, daß die Babys maximal die ersten drei Monate hineinpassten und nicht gerne von den Kleinen angenommen wurden.

Von Anfang an sollte unser Sohn im eigenen Zimmer schlafen. Im Schlafzimmer währe ohnehin kein Platz gewesen, nicht einmal für einen Stubenwagen.

Der kleine wurde also im Gästezimmer „zwischengelagert“, bis wir dann ein Zimmer ausstatten würden.

Auch meine Mum steuerte Kartonweise Strampler und Pulies bei, Kleidung für den Winter, warme Strampelsäcke aus buntem Fleeze und viele wunderbare Sachen. Alle selbstverfreilich von ihr persönlich angefertigt.
 

Ich hatte mich einige Monate zuvor, als ich im fünften Monat war, mit ihr und meiner Familie ausgesprochen, wir sind sogar extra dafür noch mal nach Langballig gefahren. Es war der berühmte Gang nach Canossa, aber ich war fest davon überzeugt, daß es sein musste. Zumindest wollte ich meinem Kind später, wenn es nach seiner Oma fragte, nicht irgendetwas erfundenes erzählen.

Ich bekam von meiner Familie tatsächlich eine zweite Chance.
 

Auch ich wollte etwas an Kleidung für meinen Sohn beisteuern. Also nähte ich ebenfalls einen Schlafsack. Ich hatte blauen Hello-Kitty-Fleeze und grauen unifarbenen Fleeze bekommen, aus dem ich mir zwei Pullis nähte, die so waren, wie ich sie haben wollte. Als Vorbild orientierte ich mich an dem Schnitt der Schlupfjacke, die Marco damals hatte.

Außerdem kaufte Ulrich mir Fleeze in den Farben Lila, Rosa, Türkis und Weiß. Ich wollte mir diese Jacke in Form eines Pullis nachnähen.

Selbstverständlich sagte ich Ulrich nicht, daß dieser Wunsch mit Marco zu tun hatte.

Oft, viel zu oft wünschte ich mir, das Baby, daß da in meinem Bauch herumwühlte und ständig am Renovieren zu sein schien, wäre von Marco.

Ich entwarf also den Schnitt und machte zuerst die Hallo-Kitty-Pullies, einen in blau mit grau, den anderen in grau mit blau.

Dann zerlegte ich den Schnitt in insgesamt 73 einzelne Schnitteile, aus denen ich dann den gewünschten Pulli in den vier Farben zusammen setzte, der so aussehen sollte wie meine Lieblingsjacke von Marco.

Ich brauchte drei Tage.

Ich hab den Mist mindestens 73 Mal in die Ecke gefeuert!

Aber am Ende hatte ich gewonnen.

Der Pulli war fertig.

Und er passte.

Und er gefiel mir sehr gut.

Leider konnte ich das neue Wunderwerk nicht lange tragen, im neunten Monat konnte ich ihn nicht mehr über meinen riesigen Bauch ziehen.

Aus dem Stoff, den ich von den Pullis nachbehalten hatte, nähte ich dann den Schlafsack für meinen Sohn. Es war der blaue und der graue Fleeze und ich machte den Schlafsack nach dem Vorbild eines meiner Pullis.

Er sah absolut süß aus.
 

Mein Bauch war inzwischen so riesig, daß ich nicht mehr im Wasserbett schlafen konnte. Ständig tat mir alles weh.

Ich zog dann ins Wohnzimmer um.

Das hatte eine Menge Vorteile für mich.

Ich wurde nicht mehr ständig vom Schnarchen meines Gatten geweckt.

Und wenn ich von Marco träumte und wieder mal im Schlaf nach ihm rief, dann lief ich nicht Gefahr, daß der Alte das mitbekommen würde.

Ulrich gab sich damit zufrieden, daß ich aufgrund der Schwangerschaft nicht mehr im Schlafzimmer schlief. Begeistert war er nicht, aber er konnte auch nichts dagegen machen.

Mein Motto zu der Zeit lautete: „Ich bin schwanger, verklag mich!“

Die Schwangerschaft lief ansonsten eigentlich sehr gut. Ich fühlte mich gut, solange ich mich nicht übernahm. Dann wurde mein Bauch hart wie Stein und ich bekam keine Luft mehr.

Ulrich war das oft egal. Im Sommer hatte er mich trotz der mörderischen Temperaturen durch die Stadt geschleift und auch keine Rücksicht auf mein Tempo gegeben. Nicht einmal als ich mit einem ausgewachsenen Hitzeschlag nach Hause kam und er mich kalt abduschen musste, weil ich selbst nicht mehr dazu in der Lage war.

Ständig wurde ich durch sämtliche Geschäfte mit gezerrt, wenn Eingekauft werden musste.

Ich durfte nicht mal jammern.

Jammern war unbequem.

Aber ich bekam alles was ich wollte. Die Schwangerschaft war ein echter Freibrief.

Ich war süchtig nach allem, was mit Orangen zu tun hatte, sogar der Saft mit Fruchtfleisch. Drei Flaschen von Lidl am Tag hab ich verkonsumiert, aber ich bekam alles, was ich wollte. Alles Obst und Gemüse, daß ich mir wünschte. Getränke, besondere maritime Wünsche. Sogar einen ganzen Räucheraal hat er gekauft, obwohl die Preise wirklich astronomisch waren. Außerdem versorgte er mich, oder eher sein Baby, mit Vitaminen, Mineralstoffen und sogar Fluorid-Tabletten für Babys, dich ich schon ab der 10. Schwangerschaftswoche nahm, um die Bildung der kleinen Zähne meines Kindes zu optimieren.

Als die Weihnachtszeit begann eröffnete sich mir ein wahres Schlaraffenland. Ich hatte frische Orangen im Überfluss, auf die ich nach wie vor stand. Dann entdeckte ich die Persimon, die meistens als Kaki bekannt war, für mich.

In kleine Würfel geschnitten zusammen mit Orangen und Bananen gab es einen suchterzeugenden Obstsalat den ich mir so oft es ging zubereitete.

Sonst hatte ich eigentlich keine nennenswerten seltsamen Appetitanfälle.

Einmal, da hatte ich wahnsinnigen Heißhunger auf indisches Curry.

Ich hasste Curry.

Von Curry bekam ich Durchfall.

Aber mein Sohn wollte Curry, also kochte ich mir ein Curry.

Es schmeckte herrlich.

Nur eine halbe Stunde später begann dann mein Nachmittag auf dem Klo.

Ich hatte Durchfall.

Aber mein Sohn fand das gut.

Er hatte mir am Anfang der Schwangerschaft auch die Erdbeersaison gründlich verdorben.

Normalerweis fuhren wir auf ein Feld, wo man selber pflücken konnte. Und man durfte auch essen.

Für mich bedeutete das dann, Erdbeeren, bis ich nicht mehr schlucken konnte.

Ich habe es nie geschafft, mich an Erdbeeren zu überfressen. Es war einfach kein Platz mehr in meinem Magen um noch eine weitere Erdbeere zu verschlingen.

Aber in dem Sommer, wo ich gerade schwanger war, da ging ich auf das Feld, aß zwei Erdbeeren und war fertig!

Und sauer!

Auch ein saftiges englisches Steak mit Zwiebeln und Pilzen hat er mir nicht gegönnt.

Nur wenige Bissen und mir wurde schlecht. Mir wurde so schlecht, daß ich mir das Steak noch mal durch den Kopf gehen ließ.

Aber ich entwickelte keine Abartigen Gelüste auf Nutellabrot mit Gewürzgurke oder Grillhähnchen mit Ananas.
 

Der Dezember brach an und für mich der letzte Monat meiner Schwangerschaft. Mein Bauch war inzwischen so groß, daß ich schwer daran trug. Auf einige Empfehlungen hin von Bekannten und von meinem Gynäkologen hin besorgte Ulrich mir einen sogenannten Babybelt. Das war ein breiter Gummigürtel, ähnlich dem Nierengurt beim Motorradfahren, der den Bauch abstützen sollte. Er war phantastisch. Dieser Babybelt entlastete mich ungemein.

Mein Arzt war sonst zufrieden mit mir, außer, daß ich nicht die geringsten Anzeichen für Wehen hatte, Senkwehen, in denen sich das Kind in das Becken schiebt. Aber das war nicht weiter schlimm.

Meine Blutwerte waren gut, der Ultraschall war gut, mein Blutdruck war in Ordnung und ich hatte auch keine Anzeichen für eine Gestose, eine Schwangerschaftsvergiftung. Keine Wassereinlagerungen, keine nächtlichen Krämpfe oder zu hoher Blutdruck. Auch hatte ich von einem Anfangsgewicht von 80 Kilogramm nur 11 Kilogramm zugelegt, was absolut im Rahmen der Erwartungen lag.

An Weihnachten machte ich alles, wie in den Jahren zuvor. Ich schmückte vormittags den Baum, auch wenn ich kaum richtig an den Baum herankam. Ich machte den Braten und den Rotkohl. Ich hatte mir vorher von Ulrich die Geräte herausstellen lassen, die ich dafür brauchte, weil ich weder unten noch oben an irgendetwas herankam. Mein Bauch war einfach ständig und überall im Weg. Ich konnte mir meine Socken nur mit einem Trick alleine anziehen. Fiel mir etwas herunter, hob ich es mit den Füßen wieder auf. Konnte ich das nicht, dann musste es da liegenbleiben und warten, bis ich Hilfe hatte.

Einmal wollte ich ein Vollbad nehmen, bekam aber nicht genug Wasser in die Wanne, um meinen Bauch ganz im Wasser zu versenken. Dafür musste ich mich auf die Seite drehen.

Als ich aus der Wanne ausstieg war ich entsetzt, wie wenig Wasser übrigblieb, wenn ich ausgestiegen war. Das konnten höchstens vier Tassen Wasser sein, die da in der Wanne waren. Nagut, vielleicht waren es auch acht Tassen Wasser. Jedenfalls hatte ich die Verdrängung eines Pottwals!

Eine Woche vor Weihnachten ist Ulrich mit mir in ein Freizeitbad mit großer Saunaanlage gefahren. Die Leute haben mich alle angeguckt, als würden sie fürchten, daß ich jeden Moment mein Kind bekommen würde.

Aus dem Solebecken wäre ich am liebsten nie mehr ausgestiegen, zu schön war die Gewichtsentlastung.

Wie schon gesagt, ich machte an Weihnachten, was ich an jedem Weihnachten machte.

Ich war am Abend mehrfach fertig, hatte mich eindeutig übernommen aber ich war zufrieden mit mir und meinem Werk. Schließlich war ich nur Schwanger, nicht krank.

Drei Tage später bekam ich dann Oberbauchschmerzen. Nicht sehr schlimm, aber auch nicht angenehm. Wehen waren das sicher nicht, die kommen in Wellen. Dieser Schmerz war dauerhaft. Ich gab meinem Magen die Schuld, vielleicht hatte ich etwas gegessen, was ich nicht vertragen hatte. Ein schön heißes Kirschkernkissen sorgte für Entspannung.

Ab Mitternacht allerdings verstärkte sich der Schmerz. Nach zwei weiteren Stunden konnte ich es kaum noch aushalten. Natürlich hatten wir Samstagnacht, inzwischen Sonntag früh am Morgen. Natürlich passierten Notfälle immer nur am Wochenende, wenn kein Ärzte mehr in der Praxis war.

Ulrich hatte Frühschicht und sollte um vier Uhr aufstehen. Ich wollte ihn nicht wecken, er musste immerhin auf dem Flughafen funktionieren. Und ich wollte ihm nicht zur Last fallen.

Also krümmte ich mich mit dem heißen Kirschkernkissen, daß inzwischen nicht mehr half, auf dem Sofa und wartete, bis sein Wecker losgehen würde.

Er bemerkte nicht, daß es mir schlecht ging.

Ich sagte ihm dann, daß ich große Schmerzen hatte und inzwischen auch leichte Panikattacken, weil mein Herz unregelmäßig raste.

Schließlich entschied Ulrich, daß er mit mir in die Notaufnahme fahren würde.

Dort angekommen wurde ich dann kurz untersucht. Der Arzt sah sich meinen Mutterpass an, guckte mit einer hochgezogenen Augenbraue auf meinen Bauch und sagte dann:

„Sie sind in der 38. Woche schwanger. Was wollen Sie hier? Ab, rauf zum Krankenhaus!“

Allerdings war ich mir sicher, daß es keine Wehen waren, wie gesagt, die kommen in Wellen.

Im Krankenhaus angekommen wandten wir uns gleich an die Geburtstation. Als die Nachtschwester uns die Tür öffnete sagte ich matt lächelnd:

„Erst dachte ich, ich habe Magenschmerzen, aber ich glaube, ich bekomme ein Kind.“

Die Schwester schmunzelte und nahm mich mit in einen der Behandlungsräume. Dort sollte ich mich hinlegen, wurde an das CTG angeschlossen und die Herztöne meines Babys wurden überwacht. Außerdem wurde alle halbe Stunde automatisch mein Blutdruck gemessen, der sich in bedenkenswerten Höhen aufhielt. Mein Puls war fast so schnell wie der meines Kindes und meine Blutwerte gelinde gesagt dramatisch.

Die Hebamme sagte dann zu Ulrich, er solle ruhig nach Hause fahren und die Tasche für mich vorbereiten, im Moment gäbe es nichts für ihn zu tun.

„Wann darf ich dann wieder nach Hause?“ fragte ich. Inzwischen ging es mir besser, die Schmerzen waren fast verschwunden.

„Ohne Kind gehen Sie nirgendwohin.“ Sagte die Schwester dann bestimmt.

Ich war geschockt!

Ich war doch noch gar nicht auf eine Geburt eingestellt.

Außerdem hatte ich nicht die kleinsten Anzeichen für Wehen.

„Sie bleiben jetzt erstmal ganz ruhig liegen und entspannen sich.“ Riet mir dann die Hebamme.

Was blieb mir übrig, als mich zu fügen und das Beste zu hoffen.

Ich hatte mir eine natürliche Geburt gewünscht. Nicht nur deshalb, weil ich mich vor der Peridualanästhesie fürchtete.

Ich wollte mein Kind bewusst selbst zur Welt bringen, ich wollte den Schmerz erleben, der mein Kind auf die Welt brachte. Und ich wollte den ersten Laut meines Babys hören.

Mir wurde inzwischen immer öfter Blut abgenommen. Ich hatte bereits einen Butterfly gesetzt bekommen um diese Prozedur zu erleichtern.

Als die Schwester das vierte Mal hereinkam, sollte ich eines dieser netten OP-Hemdchen anziehen.

„Ich will noch nicht zu viel sagen, aber es sieht so aus, als wenn ein Kaiserschnitt gemacht werden muss.“ Sagte sie mitfühlend zu mir.

Ich brach in Tränen aus.

„Aber ich will mein Kind selbst zur Welt bringen.“ Wimmerte ich.

„Wie gesagt, das ist noch nicht eindeutig beschlossen. Wir müssen auf den Arzt warten.“ Versuchte sie mich zu trösten.

Ich klammerte mich an die Hoffnung, daß sich alles zum Guten wenden würde.

Am Morgen dann kam der Arzt, der für mich zuständig war.

„Na, Frau Hansen, wie ist es?“ erkundigte er sich munter bei mir und zog sich die Gummihandschuhe an.

„Ich höre immer öfter etwas von einem Kaiserschnitt?“ jammerte ich mit brüchiger Stimme.

„Ja, und den wollen wir dann auch gleich einleiten. Der Anästhesist ist bereits auf dem Weg.“ Antwortete der Arzt weiterhin im Plauderton und plötzlich ging alles ganz schnell.

„VOLLNARKOSE??????“ schrie ich beinahe entsetzt.

„Ich wollte aber wenigstens dabei sein???“

Jetzt war es vorbei.

Ich heulte hemmungslos.

Ich zitterte, klapperte mit den Zähnen.

Nicht aus Angst, nicht weil ich fror.

Ich war schlicht und einfach komplett geschockt und aufgelöst.

Der einzige halbwegs klare Gedanke den ich hatte: „Wofür und für wen soll ich mich jetzt noch zusammenreißen!“

Also ließ ich meine Erschütterung ungehemmt heraus. Ich schluchzte, Weinkrämpfe schüttelten mich immer wieder.

Als der Arzt mir offenbart hatte, daß eine Operation schnellstmöglich eingeleitet werden würde, war der Raum plötzlich voller Leute.

Eine Schwester begann damit, mir den Schritt zu rasieren. Ich sollte auch einen Katheter eingesetzt bekommen. Gleichzeitig kümmerten sich zwei Pfleger um die Geräte, an die ich noch angeschlossen war. Die Hebamme, die die ganze Zeit meine Geräte beobachtet hatte, versuchte mich zu trösten.

„Sie brauchen keine Angst vor dem Kaiserschnitt zu haben. Das machen wir öfter und Sie haben den Chefartz persönlich, der die Operation durchführen wird.“ Redete sie auf mich ein.

„Ich habe keine Angst vor der Op!“ rief ich.

„Ich habe Angst vorm wieder Aufwachen!“

Denn dann würde ich zu mir kommen, mein Baby war aus mir herausgeschnitten und ich hätte nichts mitbekommen!

Vorsichtig ausgedrückt eine Katastrophe!

„Wo ist mein Mann?“ rief ich dann.

„Wir fangen nicht an, bevor ich meinen Mann nicht vollgeheulte habe.“

„Der kommt gleich.“ Sagte mir eine weitere Schwester und versicherte mir auch, daß wir nicht vorher anfangen würden.

‚Marco, ach wenn du doch jetzt hier sein könntest‘ wimmerte ich in Gedanken.

Als eine dritte Schwester anfing, mir den Katheter einzuführen, saß der junge Anästhesist neben mir und klärte mich über die Risiken einer Narkose auf. Ich hörte gar nicht zu. Ich hatte ja den Vorteil, daß ich das alles schon gehört hatte, in meiner Ausbildung. Und vor allem bei vollem Verstand.

„Haben Sie irgendwelche Allergien?“ fragte er.

„Nur gegen Insektengift.“ Antwortete ich.

„Haben Sie lockere Zähne?“

„Heute Morgen waren noch alle fest.“

„Haben Sie Zahnprothesen?“

„Nicht das ich wüsste.“

Dann wurde der Anästhesist von einer Schwester abgelöst, die mich über die Risiken eines Kaiserschnittes aufklärte.

Auch hier musste ich mich nicht konzentrieren.

Ich war inzwischen schwer am hyperventilieren, mein Kopf war voller Kreise die sich verzerrt und vielfarbig um mich herum drehten.

„Es kann passieren, daß das Baby beim Schnitt in die Bauchdecke verletzt wird.“ Sagte die Schwester dann.

„Wenn Sie ihm die Nase oder die Ohren abschneiden, dann nähen Sie es ja akkurat wieder an.“ Schimpfte ich.

Die Schwester lächelte mild.

„Ich muss Sie ja nur aufklären. Immerhin handelt es sich um einen richtigen Eingriff.“ Erklärte sie mir dann.

„Hab ich denn eine Wahl?“ jammerte ich.

„Sie müssen keine Angst haben, es ist ein reiner Routineeingriff.“ Beruhigte sie mich.

„Ich habe keine Angst vor der Op, ich habe Angst vorm wieder aufwachen.“ Heulte ich abermals.

„Hallo, ich bin Mira und für heute ihre Hebamme.“ Stellte sich eine weitere Frau vor.

„Hallo Mira, hatten wir uns nicht auf das „Du“ geeinigt?“

„Ach, jetzt erkenne ich dich. Klar hatten wir das.“ Entschuldigte sie sich.

Ich musste furchtbar ausgesehen haben. Ich konnte mir noch nicht mal die Haare zusammenbinden, die mir immerhin bis an die Taille reichten. Sicher sah ich inzwischen aus wie Edward mit den Scherenhänden!

Mira war tatsächlich meine Hebamme für die Nachsorge. Ich hatte schon vor einigen Wochen mit ihr Kontakt aufgenommen, wie die Krankenkassen das empfehlen. Außerdem würden 10 Besuche der Hebamme von der Krankenkasse übernommen. Und bei meinem ersten Kind war das sicher nicht falsch.

Inzwischen war ich fertig vorbereitet für die OP, als Ulrich endlich kam. Er konnte nicht viel machen. Ich heulte und bekam nur „Kaiserschnitt“ und „Vollnarkose“ heraus. Er begleitete mich noch bis zum Fahrstuhl, dann war er schon wieder weg.

Die ganze Zeit dachte ich an Marco. Er gab mir Halt, obwohl er so weit weg war und sicher nicht einmal ahnte, daß ich gerade mein erstes Kind bekommen sollte. Dennoch tröstete er mich.

Ich hatte statt des Butterflys nun eine Kanüle mit vier Anschlüssen.

Ich sah auf meine Hand: „Ok, Gas, Wasser, Scheiße kann ich noch erklären, aber wofür ist der vierte Anschluss?“ fragte ich den Mann zu meiner Rechten.

Der Pfleger lachte nur und blieb mir die Antwort schuldig.

„Können Sie bitte nach dem Kaiserschnitt einen Reisverschluss einnähen? Ich plane noch ein zweites Kind.“ Sagte ich mit zitternder Stimme zu einer Schwester.

Sie lachte.

„Ich möchte bitte einen Reisverschluss in Lila.“ Ergänzte ich meine Bitte.

Dann wurde mir der Schambereich mit Iodlösung eingestrichen. Bis zu den Rippen hoch und bis fast an die Knie.

„Bis wohin wollten Sie mich denn jetzt aufschneiden?“ fragte ich erschrocken.

„Nur den normalen Schnitt. Es dient nur der Sicherheit einen so großen Bereich abzudecken.“ Erklärte mir der Mann in weiß mit dem Pinsel.

„Daß Sie das ja gut wieder abputzen, das Zeug gibt immer so hässliche Flecken!“ sagte ich.

Mir wurden jetzt die Arme auf Schienen geschnallt, die man von der Op-Liege ausklappen konnte.

„Wozu ist das gut?“ fragte ich verwundert.

„Ich werde sicher nicht weglaufen, wenn ich in Narkose bin.“

„Alles nur Vorsichtsmaßnahmen.“ Wurde mir erklärt.

„Machen Sie bitte keine Tatoos, aber ich hab mir schon immer ein Bauchnabelpearcing gewünscht.“ Wandte ich mich dann an eine der Schwestern.

In Wirklichkeit war ich fertig. Alle. Ausgeknockt und mein Verstand komplett abgeschaltet. Ich hatte meinen schwärzesten Sarkasmus ausgegraben um mich der Situation zu fügen, was blieb mir auch übrig? Hatte ich denn eine Wahl? Ich zitterte am ganzen Leib und mir war schwindelig vor Hyperventilation. Ich war hilflos ausgeliefert und lag mit gespreizten Beinen wie beim Gynäkologen auf der Liege, auf einem Silbertablett garniert mit erlesenen Juwelen! Da half nur noch Sarkasmus.

Ich schätze, als ich dann endlich die Narkose bekam, waren die Ärzte heilfroh, daß ich endlich den Mund hielt.
 

Für einen kurzen Moment hatte ich das Gefühl zu träumen.

Ich war auf einem kleinen sauberen Gehweg aus gepflasterten Ziegelsteinen die so sorgfältig gelegt waren, dass fast keine Fugen zu erkennen wahren. Die Straße war asphaltiert und ebenfalls sehr glatt. Sie machte eine kleine Kurve, ganz sanft, bevor sie in einem großzügigen Rondell endete. Der gepflasterte Weg umsäumte die Straße. An den Weg grenzten die Grundstücke. Es gab keine Hecken oder Zäune, der kurzgemähte Rasen stieß direkt an den Weg an. Kleine schmale gepflasterte Pfade führten vom Weg durch den Rasen zu den Haustüren der Häuser, die auf den Grundstücken standen und auf jedem Grundstück stand ein junger Baum mit langem schmalem Stamm und einer kugelig verästelten Krone.

Es war Menschenleer.

Alles wirkte neu, steril.

Der Rasen trat mit keinem Halm auf die Wege oder Pfade über. Kein welkes Blatt lag auf dem Boden. Kein Vogel sang, keine Wolke am Himmel, keine Sonne, keine Farben, kein Wind - ich war allein.

Aber ich hatte keine Angst.

Ich fühlte mich nicht allein.

Dann hatte ich unvermittelt das Empfinden, als würde ich aus dieser stehenden Szene herausgesogen. Es zog mich rückwärts in eine schwarze kugelige Umgebung. Wie durch einen ätherischen dunklen Schleier wurde ich in ein winziges Universum gesogen, das einzig Raum für mein Bewusstsein hatte.

Noch immer hatte ich keine Angst. Es fühlte sich vollkommen natürlich an, dass ich mich jetzt in dieser Enge befand, die mich wie ein warmes Nest umschloss. Meine Existenz beinhaltete keinen Körper, nur meine Gedanken, mein Empfinden. Keine Gefühle.

Dann war mir, als würde ich ein schmerzvolles Schreien wahrnehmen. Ich hörte es nicht, vielmehr empfand ich es. Es zog wie ein lavendelfarbener Rauch durch mein Bewusstsein, das sich nur aus Hell und Dunkel zusammensetzte und mich immer noch eng umschloss. Eine winzige Öffnung entstand. Ich konnte sie nicht erkennen, es war nur wie eine Störung in meinem Universum.

Was war das für ein Schrei?

Dann kamen andere Rauchschleier dazu, hellblaue, grüne.

Ich verstand sie nicht.

"Sieh mal, wenn ich hier habe!"

Dann ein zinoberroter Rauchschleier, stärker gefärbt als die übrigen. Ein weiterer Schrei, hell, klagend, , verwirrt und zornig.

Wonach sollte ich sehen?

Ich konnte doch gar nichts sehen?

Der Riss in meinem Universum wurde größer, die Welt dahinter heller, greller, die Schreie und Stimmen, ein Gewirr aus farbigen Rauchschleiern immer greller und lauter.

Mein Universum bewegte sich, ich bewegte mich - nein, ich wurde bewegt.

Der lavendelfarbene Schrei kam von mir.

"Aaaaah, es tut so weh! Warum tut es so weh? Es ist doch vorbei? Warum tut es immer noch so weh?"

Was tat weh?

Ich fühlte doch gar nichts?

War es mein Körper, der da schrie?

Ich weitete mein Bewusstsein weiter aus, fühlte meinen Kopf, mein Gesicht, Schultern, Arme, Brustkorb, Bauch, Beine, ich fror. Mein Körper wurde von gewaltigem Frost geschüttelt und fast im selben Moment zerriss es meinen Bauch.

Nun bekam ich Angst.

"Es ist doch immer wieder erstaunlich, wie unterschiedlich die Frauen darauf reagieren." Hörte ich eine männliche Stimme hinter mir.

Plötzlich verstand ich den hellblauen Rauchschleier. Es waren Worte, Sätze die eine Aussage bildeten. Ich verstand, wo ich mich befand, was geschehen war. Mein Bewusstsein floss in den schmerzenden, frierenden Körper, immer noch umgeben von dem schützenden, dunklen Universum.

"Ich weiß was passiert ist! Sie haben ihn aus mir heraus geschnitten!" hörte ich mich schreien.

Ich öffnete meine Augen, konnte aber nichts erkennen. Es war zu hell, die Konturen so scharf, dass sie meinen Blick zerschnitten. Die Farben so grell, dass alles ineinander floss.

Die Realität und mein Verstand stürzten auf mich ein wie ein Tsunami, der sich auf das Land wirft um alles zu zermalmen, was sich ihm in den Weg stellen würde.

Ich begriff, dass ich aus einer Narkose erwacht war.

Ich begriff, dass der zinnoberrote Schrei von meinem Baby kam.

Ich begriff, dass die grüne Stimme zu meinem Mann gehörte, der unseren Sohn auf dem Arm hielt und neben mir herging.

Ich begriff, dass ich durch das Krankenhaus geschoben wurde.

Ich begriff, dass ich gerade einen Notkaiserschnitt hinter mir hatte.

Ich begriff, dass ich mein Baby nicht mehr natürlich zu Welt bringen konnte.

Ich begriff, dass ich das Schönste an einer Geburt für immer verloren hatte.

Das schmerzhafte Erleben wie ein neues Leben geboren wird. Ein Leben, das monatelang in mir herangewachsen war.

Ein mir fremdes Leben.

Die natürliche Geburt hätte es zu meinem Kind gemacht.

Mich zu seiner Mutter.

Mit dem Ausstoßen des ersten Schreies, dem hören des ersten Schreies.

Ich begriff!

Sie hatten das Kind aus mir herausgeschnitten.

Mein Baby wurde geboren und ich war nicht dabei.

Der Schmerz in meinem Unterleib war unerträglich.

„Es ist gut, alles wird wieder gut. Guck doch mal, wen ich hier habe.“

Mein Mann versuchte mich zu beruhigen.

Das Baby in seinem Arm schrie mit mir um die Wette.

„Das bringt nichts, Herr Hansen. Ihre Frau bekommt das noch gar nicht mit.“ Sagte der Arzt beinahe genervt.

„Das stimmt nicht! Ich bin wach! Ich bekomme alles mit!“ schrie ich empört.

„Warum tut es so weh? Helft mir doch endlich. Es tut so weh!“ schrie ich weiter.

„Frau Hansen, nun reißen Sie sich mal zusammen.“ Tadelte mich der Arzt.

„Für wen?“ schrie ich.

„Was sollen denn die anderen Patienten denken.“ Raunte mir die Schwester, die mein Bett zusammen mit einem Pfleger schob, zu.

„Die können mich mal, Ihre Patienten!“ schrie ich erbost vor Schmerz.

Ich wurde in den Raum zurückgeschoben, in dem ich schon gelegen hatte, als ich angekommen war.

„Es hilft nichts, wir müssen etwas unternehmen.“ Sagte der Arzt dann ungehalten.

Ich bekam noch mit, daß ich etwas in den Tropf injiziert bekam, dann schlief ich wieder ein.

Als ich wieder aufwachte, waren der Arzt und die Schwester weg. Nur meine Hebamme Mia war noch da.

Sie bemerkte, daß ich zu mir kam.

„Hallo, wie geht es dir?“ fragte sie mit echtem Mitgefühl.

„Ich habe Schmerzen.“ Klagte ich erschöpft.

„Das kommt daher, daß dein Muttermund mechanisch geöffnet wurde, damit das Blut abfließen kann. Du hattest eine sehr seltene Form einer schweren Schwangerschaftsvergiftung. Deine roten Blutkörperchen haben angefangen sich aufzulösen. Du und dein Kind waren Sauerstoffunterversorgt.“ Erklärte sie mir ruhig.

Ich hörte ein Wimmern, das musste mein Baby sein, daß im gleichen Raum mit mir war.

Hoffentlich hatte ich das Würmchen nicht zu sehr erschreckt.

„Ich kann dir keine weiteren Schmerzmittel mehr geben, du hast schon sehr hohe Dosen bekommen und eine KO-Spritze, die dich noch mal hat einschlafen lassen.“ Erklärte Mia weiter.

Ich war zu erschöpft um zu protestieren.

Ich hatte auch immer noch schlimme Schmerzen, aber nicht mehr so schlimm wie bei meinem ersten Erwachen.

„Versuch dich zu entspannen. Wenn du mich brauchst, ich bin gleich im Zimmer neben an.“ Sagte Mia sanft zu mir und verließ den Raum

Die Ereignisse der letzten Stunden zogen an mir vorbei.

Ich fühlte mich kraftlos, ausgeliefert und betrogen.

Betrogen um das Erlebnis einer natürlichen Geburt.

Ich hatte mein Kind nicht selbst zur Welt gebracht.

Die Schwangerschaft hatte ich gemeistert, das war auch kein Kunststück in meinen Augen. Aber vor der Geburt hatte ich mich gedrückt, wenn auch unfreiwillig.

Ich war enttäuscht von mir selbst.

Ich war nicht einmal in der Lage so etwas wie eine Geburt selbst zu Ende zu bringen.

Mein Bauch krampfte sich wieder zusammen und quälte mich erneut mit Schmerzen. Ich griff nach der der Triangel über meinem Bett, hängte mich vor Schmerz hinein und etwas Warmes, Wabbeliges glitt aus mir heraus zwischen meine Beine.

Dann war der Schmerz um einiges erträglicher. Es war wie eine Erlösung.

„Mia! Mia, ich hab etwas zur Welt gebracht.“ Rief ich matt so laut ich konnte.

Mia kam gleich und sah sich an, was mich da so gequält hatte.

„Das ist ein Blutpfropf.“ Erklärte mir Mia.

„So groß wie ein Babykopf, kein Wunder, daß du solche Schmerzen hattest.“ Erläuterte sie weiter.

Sie entfernte den Blutpfropf und wechselte auch die vielen Binden zwischen meinen Beinen.

Ich entspannte mich während Mia wieder in den Nebenraum ging.

Nach einigen Minuten wuchsen die Schmerzen wieder an und ein weiterer Blutpfropf glitt aus mir heraus.

„Mia! Mia, es sind Zwillinge.“

Meine Hebamme lachte, versorgte mich neuerlich voller Geduld und es ging mir deutlich besser.

Dann schlief ich ein.

Als ich wieder wach wurde, ging es mir beinahe gut. Ich hatte immer noch Schmerzen, aber sie hatten ein durchaus verträgliches Niveau.

Dann hörte ich wieder das Kleine wimmern.

„Mia.“ Rief ich nach meiner Hebamme. Sie war gleich zur Stelle.

Wie spät ist es?“ fragte ich matt.

„Gleich fünf Uhr am Nachmittag.“ Antwortete meine Hebamme.

„Die Geburtszeit für das Kind ist 20 Minuten nach 11.“ Ergänzte Mia ihre Information.

„Gib mir mein Kind.“ Sagte ich fast im Befehlston. Ich wusste: Wenn ich mein Baby jetzt nicht annahm, würde es nie mein Baby werden.

Der kleine Wurm war wie ein Fremder für mich. Ich fühlte mich nicht im Mindesten als seine Mutter. Es war nur mein Verstand der mir sagte: Das ist dein Kind. Du bis seine Mutter.

Mia reichte mir das Bündel und ich betrachtete dessen Inhalt.

Es war ein süßes Baby. Faltig, noch etwas zerknittert, aber ein süßes kleines Ding.

„Soll ich deinen Mann anrufen?“ fragte Mia sanft.

„Ja, das kannst du machen. Ich möchte auch einmal telephonieren, geht das?“ fragte ich sie.

„Sicher geht das.“ Lächelte Mia.

„Es wird ein Ferngespräch.“ Fügte ich hinzu.

„Kein Problem.“ Mia reichte mir das Telephon.

Ich wählte die Nummer meiner Mutter. Mein Vater ging ran.

„Ist Mutsch da?“ fragte ich. Es war immer ein bisschen schwierig, mit meinem Dad zu telephonieren, ich wusste nie, was ich sagen sollte.

„Ja, Moment.“ Sagte er nur knapp.

Nach einer kleinen Weile kam meine Mum ans Telephon.

„Hallo Dern, was gibt es?“ fragte sie.

„Ich wollte dir jemanden vorstellen.“ Sagte ich und in dem Moment fing der kleine Wurm in meinem Arm an zu jammern.

Und im selben Moment brach meine Mum in Tränen aus.

Kapitel XXVII
 

Gegen Abend bekam ich dann endlich ein Zimmer. Ich hatte heftige Schmerzen und bekam immer noch ein Medikament dagegen. Ich durfte mein Baby noch nicht anlegen.

„Wird es denn nicht hungrig sein?“ fragte ich besorgt.

„Das ist in Ordnung. Es wird gut versorgt. Wie soll er denn heißen?“

„Marc Oliver, ohne Bindestrich und Oliver ist der Rufname.“ Antwortete ich.

Der Name stand schon lange fest. Schon als ich das erste Mal ernsthaft darüber nach dachte, daß ich ein Kind wollte.

Es versteckt sich ein anderer Vorname darin: Marco.

Ich hätte den Kleinen niemals Marco nennen können, ich war sicher, Ulrich hätte die Parallele erkannt. Außerdem wollte ich meinen Sohn, wenn es denn ein Junge werden sollte, nicht scheinbar nach meinem Bruder benennen.

Marc Oliver war ein schöner Name. Mit viel Diplomatie hab ich es dann geschafft, daß auch Ulrich sich für diesen Namen endschied. Er war sogar fest davon überzeugt, daß er den Namen ausgesucht hätte…

Ich ließ ihn in dem Glauben.

„Das ist ein sehr schöner Name.“ Sagte Mia.

„In diesem Monat sind noch fünf andere Babys geboren worden und von denen haben vier einen Namen, der mit L anfängt.“ Ergänzte sie.

"Ja, die 'L-Generation'. Ich mache keine Trends mit und das mit Absicht. Wenn mein Sohn mal in die Schule kommt und der Lehrer ruft 'Leon' auf, dann melden sich wahrscheinlich mindestens drei Jungs. Heutzutage heben sich die alten Namen ab, fast jeder hat einen exotischen Namen wie 'Chantalle' oder 'Shiva'… Das ist blöd.“ Erklärte ich.

„Da hast du Recht.“ Pflichtete Mira mir bei.

„Dann wollen wir den kleinen Marc mal zum Schlafen in den Säuglingsraum bringen.“ Mia nahm mir das kleine Bündel, in dem mein Sohn gerade friedlich schlief, ab und legte es in das kleine Babybett.

„Oliver.“ Berichtigte ich sie.

„Ach ja, Oliver.“ Lächelte Mia.

„Wann bekomme ich den Katheter entfernt?“ fragte ich meine Hebamme.

„Wenn du auf die Toilette gehen kannst.“ antwortete sie milde.

Ich versucht an die Triangel über meinem Bett zu reichen, bekam aber die Arme gar nicht hoch.

„Versuch es gar nicht erst, du hast eine schwere Schwangerschaftsvergiftung und einen Notkaiserschnitt hinter dir. Außerdem hast du sehr starke Schmerz- und Beruhigungsmittel bekommen. Du wirst vor Dienstag nicht zu Toilette gehen können.“ sagte Mia lächelnd.

„Dienstag? Das ist in zwei Tagen. Du glaubst doch nicht, daß ich auch nur noch 24 Stunden mit diesem Schlauch in meiner Harnröhre existiere?“ empörte ich mich.

„Doch, das glaube ich.“ sagte sie fest und lächelte belustigt.

„Ich glaube das nicht!“ sagte ich überzeugt, beinahe bockig.

„Wir werden sehen. So, meine Schicht ist zu Ende. Ich wünsche dir eine gute Nacht und erhol dich gut.“ Mira schob das kleine Bettchen vor sich her zur Tür hin.

„Dir auch eine gute Nacht. Und ich werde mich bemühen.“ sagte ich.

Ich bewegte mich ein bisschen und in meinem Unterleib zog es. Ich versuchte mich ein bisschen aufzurichten und es fühlte sich an, als wäre mein ganzer Bauch eine offene Wunde.

„Au!“ sagte ich leise.

„Du hattest auch einen Kaiserschnitt?“ hörte ich jetzt aus dem beinahe dunklen Zimmer, in dem ich lag. Nur die kleine Lampe über meinem Bett war noch an.

„Ja, einen Notkaiserschnitt. Und du?“ antwortete ich in die Dunkelheit. Ich hatte noch gar nicht bemerkt, daß ich nicht alleine war, irgendwie war meine Auffassungsgabe leicht vaporisiert. Aber ich begriff schnell, da war noch eine Mama mit mir im Zimmer.

„Einen normalen Kaiserschnitt, vor eineinhalb Wochen. Morgen fahre ich nach Hause.“ kam aus der Dunkelheit.

„Stört es dich, wenn ich das Licht noch mal anmache?“ fragte sie.

„Nein, mach ruhig. Nach diesem Tag kann mich nichts mehr schocken.“ sagte ich trocken.

Ich sah zur Seite und konnte erkennen, daß meine Zimmergenossin sich mühsam an der Triangel hängend aus dem Bett drehte. Sie stöhnte schwer, offensichtlich hatte sie immer noch Schmerzen. Dann stand sie auf ihren Füßen und schlurfte unter Anstrengung zur Toilette.

‚Na, das kann ja noch heiter werden!‘ dachte ich bei mir.

‚Ihre OP ist schon über eine Woche her und sie hat immer noch echte Probleme…‘

Ich hasste mein Leben. Ich hasste diesen Tag. Ich fühlte mich betrogen. Und ich fühlte mich fremd. Als wäre ich heute gestorben und in einem fremden Leben wieder aufgewacht.

Ich dachte an meine Katzen. Ich konnte mich daran erinnern, daß das Weibchen schwarz und ihr Bruder getigert sind, aber ich hatte kein Bild in meinem Kopf. Wenn ich an das Wohnzimmer von meinem Zuhause dachte, dann sah ich nur einen schwarzen Wohnzimmerschrank neben einer Tür.

Das war etwas verwirrend.

‚Das liegt sicher an den Schmerzmitteln.‘ beruhigte ich mich selbst.

Inzwischen kam meine Bettnachbarin wieder aus dem Bad geschlurft. Langsam und gebeugt, wie eine alte kranke Frau.

„Wie heißt du?“ fragte sie unter Stöhnen, als sie sich wieder in ihr Bett kämpfte.

„Carmen. Und du?“ antwortete ich.

„Michaela.“ antwortete sie mit hörbarer Erleichterung, endlich wieder im Bett zu liegen.

„Ist es dein erstes Kind?“ fragte ich weiter.

„Ja, ein kleines Mädchen. Sie heißt Leonora.“ erwiderte Michaela.

‚Leonora, das klingt wie ein Weichspüler.‘ dachte ich bei mir.

„Das ist ein schöner Name.“ Sagte ich dann laut.

Eine Tochter, ich hatte mir auch so sehr eine Tochter gewünscht. Einige Tränen rannen mir aus den Augen.

‚Was tust du da!‘ schalte ich mich selbst.

‚Er ist dein Kind und du solltest froh sein, daß er gesund ist.‘

„Wie heißt dein Baby?“ hörte ich meine Bettnachbarin fragen.

„Marco Oliver, ohne Bindestrich und Oliver ist der Rufname.“ erklärte ich.

„Das ist ein sehr langer Name.“ schmunzelte Michaela.

„Hast du was dagegen, wenn ich den Fernseher anmache?“ fragte sie dann.

„Nein, mach ruhig.“ antwortete ich.

Ich versuchte mich etwas auf die Seite zu drehen, was mir nur unter großen Schmerzen und mit viel Anstrengung für ein paar Zentimeter gelang.

Ich hing immer noch am Tropf. Grauenhaft. Es gab für mich nichts schlimmeres, als eine Nadel im Körper zu haben. Selbst die neuen Braunülen, die im Prinzip aus einer sehr flexiblen Plastikröhre bestand, die die metallene Kanüle ersetzte. Ich hatte etwas in meinem Körper, daß da nicht hingehörte.

Das hasste ich schon immer. Vor allem, wenn es sich um Nadeln handelte. Da meine Mum Schneidermeisterin war, hatte ich viel Erfahrung mit Nadeln gesammelt. Auch mit solchen, die man sich gelegentlich in die Füße, Hände oder Knie rammte.
 

Als ich 12 oder 13 war, hab ich mir mal eine etwas dickere Nähnadel in den Fuß getreten. Natürlich mit dem Öhr zuerst. Wenn schon Mist machen, dann bitte ordentlich. Keine halben Sachen. Beim zweiten Schritt hatte ich dann ein Drittel der Nadel abgebrochen und der Rest der Nadel steckte unsichtbar zwischen meinen Zehenknochen.

Ich war nahe an einer Panik. Meine Mum und mein Dad waren gerade bei der Nachbarin. Und natürlich war es Samstagabend.

Ich rief dann bei der Nachbarin an und fragte nach meiner Mutter. Als sie am Telephon war erklärte ich ihr, was passiert war. Sie kam sofort mit meinem Dady nach Hause und untersuchte meinen Fuß.

„Da ist doch gar nichts zu sehen?“ sagte sie dann.

„Ich weiß aber, daß die Nadel drin ist. Der Faden hing noch raus, aber den hab ich rausgezogen, als ich versucht hab, die Nadel selbst wieder rauszuziehen.

Ratlos sah meine Mum ihren Gatten an. Der zuckte mit den Schultern und sagte nur: „Arzt!“

Also riefen wir unseren Hausarzt an, der extra für mich mitten in der Nacht die Praxis öffnete. Als wir angekommen waren, humpelte ich mit meinen Eltern zum Hintereingang, wo der Arzt schon auf uns wartete.

Ich schilderte ihm was passiert war und er sagte dann nach gründlicher Abtastung, während der ich kaum einen Schmerz spürte, daß das geröntgt werden müsse.

Inzwischen zweifelte ich schon beinahe selbst, daß die Nadel wirklich noch im Fuß war, es tat gar nicht weh.

Das Röntgenbild aber sprach eine ganz andere Sprache.

Deutlich sichtbar konnte man die Nadel in Form eines weißen Striches zwischen meinen Zehenknochen erkennen. Sogar das Nadelöhr war zu sehen.

Ich bekam es mit der Angst.

„Tja, Frau Raap, dann sollten sie am Besten in die Klinik-Ost fahren, die haben heute Nacht Notaufnahme.“ erklärte der Arzt.

Dieses Mal hob mein Vater mich auf und trug mich zum Auto. Ganz offensichtlich simulierte ich ja nicht.

In der Klinik angekommen mussten wir erstmal warten. Wir mussten lange warten.

Endlich kam dann eine Schwester und brachte gleich einen Rollstuhl mit, in den ich mich setzen sollte.

Das Röntgenbild von unserem Hausarzt hatten wir dabei und der diensthabende Arzt konnte sich gleich ein Bild machen.

Außerdem schilderte ich ein weiteres Mal, was sich ereignet hatte und wie diese Nadel da hingekommen war.

„Sehr schade, daß du den Faden herausgezogen hast.“ bedauerte der Arzt.

„Es wäre eine große Hilfe gewesen, die Nadel zu finden.“ erklärte er weiter.

„Ich lasse beim nächsten Mal den Faden drin.“ sagte ich dann.

„Nun, wir wollen nicht hoffen, daß es ein nächstes Mal gibt.“ lachte er dann.

„Dann wollen wir mal.“

Ich wurde in den OP gefahren und meine Eltern sollten auf dem Flur warten.

Ab hier begann das Theater. Ich jammerte und heulte und wollte meine Mutter dabei haben. Nach einiger lautstarker Diskussion schaffte ich es, die Ärzte und Schwestern davon zu überzeugen, daß diese Notwendigkeit unumgänglich war.

„Schaffen Sie das denn? Nicht daß Sie mir Ohnmächtig werden?“ erkundigte sich der Arzt, der sich endlich geschlagen gab.

„Ich schaffe das schon.“ antwortete meine Mum.

„Ich hab schon schlimmeres durchgemacht.“

Also durfte meine Mum mit in den Raum und saß an meinem Kopfende um meine Hand zu halten.

Ich sollte eine Betäubungsspritze bekommen.

In die Fußsohle!

Noch eine Nadel!!!

Es waren ungefähr 4 Helfer notwendig um meinen Fuß so festzuhalten, daß die Spritze gesetzt werden konnte. Der Kampf dauerte bestimmt 10 Minuten in denen ich das ganze Krankenhaus gründlich zusammen schrie.

Keine Ahnung, was meine Mum gemacht hatte, ich bekam nur noch mit, daß der Arzt mir ohne vorherige Betäubung eine Betäubungsspritze in den Fuß stechen wollten! Als wenn die Nadel, die ich bereits im Fuß hatte, nicht schon reichte! Dazu kam, daß ich an den Fußsohlen extrem kitzlig bin, was den Kampf für die Helfer noch erschwerte.

Endlich hatten die Ärzte und Helfer den gewünschten Erfolg, die Betäubung war gesetzt und ich hatte den Eindruck, als würde meine Fußsohle anschwellen.

Ich beruhigte mich etwas.

„Na, na, na, so schlimm war das doch jetzt auch nicht.“ tadelte der offensichtlich erschöpfte und leicht genervte Pfleger, der halb auf meinem Bein gelegen hatte.

„So, wir fangen jetzt mit dem ersten Schnitt an. Du wirst nichts spüren.“ erklärte der Arzt, der nicht minder aus der Puste klang.

Das Skalpell wurde angesetzt und ich spürte, wie jede Faser meiner Haut an der Fußsohle durchtrennt wurde. Es tat nicht weh, aber es war äußerst unangenehm.

„Jetzt gucke ich mal, ob ich die Nadel mit der Pinzette zu fassen bekomme.“ erklärte der Arzt weiter.

Ich fühlte, wie er mit der Pinzette in den Schnitt eindrang und nach der Nadel suchte.

„Da ist sie ja.“ sagte er dann mehr zu sich selbst als zu mir.

Meine Mum saß hinter mir und hielt meine Hand.

Dann hörte ich ein Klicken.

Ein weiteres Klicken.

Der Arzt war mit der Pinzette von der Nadel in meinem Fuß abgerutscht.

„Ich bekomme die Nadel so nicht heraus.“ grummelte der Arzt jetzt.

Dann hatte er den Fremdkörper wieder mit der Pinzette zu fassen und „parkte“ die Nadel wie ein Auto aus. Er führte die Nadel solange vorwärts und rückwärts in meinem Fuß hin und her bis er sie endlich herausnehmen konnte.

„Das war eine schwierige Geburt. So, jetzt können wir den Schnitt zu nähen.“

Das war nicht mehr ganz so schlimm. Ich entspannte mich etwas. Der letzte Stich tat weh, an der Stelle war der betäubte Bereich zu Ende.

Aber ich hatte es endlich hinter mir.

„So, das wars. Wie lange ist die letzte Tetanusspritze her?“ fragte der Doktor an meine Mutter gewandt.

„Keine Ahnung, so zwei drei Jahre?“ überlegte meine Mum.

„Dann wollen wir kein Risiko eingehen.“ antwortet der Arzt und im nächsten Moment spürte ich einen brennenden Stich in meiner Pobacke.

„Aua!!“ schrie ich.

So eine Frechheit.
 

*
 

Ich ignorierte die Hand, in deren Rücken die Braunüle steckte, so gut es ging. Ein bisschen wunderte ich mich sogar, daß ich das so gut wegsteckte, mit dem Fremdkörper in meiner Haut. Während der Schwangerschaft wurde mir auch ständig Blut abgenommen. Ich durfte immer dabei liegen. Sonst wäre ich umgekippt.

Ich bewegte mich etwas und in meinem Bauch zog es wieder schmerzhaft. Außerdem hing ich mit dem Schlauch, der meine Hand mit dem Tropf verband, irgendwo fest. Unter großer Anstrengung befreite ich den Schlauch.

Man, das kann ja noch lustig werden!

Mir war klar, daß ich Silvester wohl nicht zu Hause sein würde.

Ich lag halb auf der Seite, weiter konnte ich mich nicht drehen, und ließ meine Gedanken laufen.

Ich war jetzt eine Mutter.

Ich hatte jetzt ein Kind.

Einen kleinen Jungen.

Was soll ich bloß mit einem Jungen anfangen?

Ich fühlte mich gar nicht mütterlich.

Nur erschöpft.

Ich war traurig.

Irgendwann schlief ich ein.
 

Mitten in der Nacht wurde ich wach, ich hörte ein Baby schreien.

‚Na, was hat mein Baby denn jetzt?‘ dachte ich bei mir. Ich war sicher, daß das mein Baby war, das da schrie. Es klang zornig und unwillig.

Es kam aber keine Schwester zu mir, vielleicht war es gar nicht mein Baby.

Ich schlief fast sofort wieder ein.
 

Am Morgen wurde ich früh von einer Schwester geweckt, sie wollte meinen Blutdruck messen.

„Was hatte mein Baby denn letzte Nacht?“ fragte ich verschlafen.

„Sie haben erkannt, daß es ihr Junge war? Das ist super. Er war ungehalten, weil ihm die Windel gewechselt wurde. Das hat ihm offenbar nicht gefallen.“ klärte mich die Schwester gut gelaunt auf.

„Wie geht es Ihnen?“ erkundigte sie sich dann bei mir.

„Ich bin völlig erledigt.“ antwortete ich.

„Wie sind die Schmerzen?“ fragte sie weiter.

„So lange ich mich nicht bewege ganz gut. Wann kann ich mein Baby anlegen?“ erwiderte ich.

„Wenn Sie möchten, kann ich den Kleinen gleich mal holen. Dann können Sie auch probieren, ob es mit dem Anlegen klappt.“ erläuterte die Schwester.

„Ja, das möchte ich.“ stimmte ich dem Vorschlag zu.

Die Schwester verließ den Raum und kam einige Minuten später mit dem Säuglingsbettchen zurück. Sie nahm den kleinen Wurm, der aus Leibeskräften schrie, heraus und legte ihn mir in die Arme.

Ich hatte mich inzwischen mühsam in eine halbwegs aufrechte Position gewuchtet und nahm meinen Sohn entgegen.

Als ich ihn richtig in meinen Arm drapiert hatte, beruhigte er sich etwas.

„Na, du kleine Portion? Nun haben wir den Salat.“ flüsterte ich sanft zu dem Baby.

Er hörte auf zu schreien und sah mich vorsichtig an. Dann gähnte er herzhaft und verzog das ganze Gesicht zu einer Grimasse.

„Süß bist du ja. Es stimmt wohl wirklich: Hässliche Eltern bekommen hübsche Babys.“ sagte ich leise.

Er war jetzt nicht mehr in eine Decke gewickelt. Er hatte einen Pulli an mit sehr langen Ärmeln, darüber einen Lachsfarbenen Strampler aus weichem Nicki mit einer blassen kleinen Ente als Applikation.

Er roch ungeheuer gut. Sein Kopf hatte nur diesen feinen weichen Babyflaum und noch jede Menge Schüppchen von der Käseschmiere.

Seine Finger waren unbeschreiblich winzig. So klein und zerbrechlich. Die Fingernägel hatten schon eine beachtliche Länge und waren ungeheuer weich. So winzige kleine Finger, daß die mal so groß werden sollten wie meine, konnte ich mir nur schwer Vorstellen. Sein Daumen alleine war halb so dick wie mein kleiner Finger, das Nagelbett hatte eine Fläche von wenigen Quadratmillimetern.

„Du hast also in den letzten Wochen versucht mir von innen die Rippen zu brechen.“ schmunzelte ich.

Der kleine Zwerg sah mich nur an. Eigentlich hatte er keinen besonderen Gesichtsausdruck dabei. Man hört ja immer wieder, daß Babys so weise gucken. Auch die Serie, wo verschiedene Mütter bei der Geburt mit einer Kamera begleitet wurden.

Mein Baby guckte mich einfach nur an. Er schien mich genau zu mustern und zu überlegen, ob man dieses seltsame Gesicht eventuell liebhaben könnte.

„Möchten Sie es mal versuchen, den Kleinen anzulegen?“ fragte mich die Schwester, die die ganze Zeit neben mir stand.

Ich hatte die Schwester total vergessen.

„Ja.“ antwortete ich dann einfach.

Sie half mir, meine Brust richtig frei zu machen und das Baby so anzulegen, daß es bequem lag.

Als der Kleine verstand, worum es jetzt ging, fing er sofort an mit weitgeöffnetem Mund und geschlossenen Augen zu suchen.

„Sie müssen den Hof so zusammendrücken und dem Baby in den Mund schieben.“ erklärte die Schwester, quetschte meine Brust schmerzhaft zusammen und stopfte meinem Kind soviel davon in den weit geöffneten Schnabel, wie sie konnte. Sofort saugte sich der Kleine fest.

„Au!“ jammerte ich.

Als er ein paar Mal kräftig gesaugt hatte, bekam ich ein Brennen in den Brüsten, daß unter den Achseln und am Schulterblatt anfing und sich wie heiße Drähte durch meine Brüste bis in die Brustwarze ausbreitete.

„Uh, das tut aber weh.“ jammerte ich erneut.

„Das ist der Milcheinschuss.“ erklärte die Schwester. „Das gibt sich mit der Zeit.“

Ich versuchte mich zu entspannen und guckte meinem Baby zu. Er hatte die halbe Brust im Mund und meine Brust war in der Schwangerschaft enorm groß geworden. Ich sah aus wie Dolly Buster.

Nach einigen Minuten hörte der Kleine auf zu Saugen und weinte.

„Bekommt er keine Milch von mir?“ fragte ich besorgt.

Die Schwester drückte meine Brust zusammen – was sehr weh tat – und es kam etwas Milch heraus.

„Doch, da ist schon etwas. Das muss erst richtig in Gange kommen. Sie hatten einen Kaiserschnitt und vorher keine Wehen, da muss sich das erst einstellen. Sie dürfen nicht aufgeben.“ erklärte mir die Schwester beruhigend.

„Trinken sie viel, vor allem Fencheltee, der fördert die Milchbildung.“ riet sie mir dann.

Ich legte den Lütten erneut an, er saugte eine Weile und schien dann zufrieden zu sein.

Irgendwann hörte er auf zu trinken. Ich legte ihn bequem in meinen Arm, deckte ihn mit meiner Bettdecke ein bisschen zu und dann schliefen wir beide ein.
 

Gegen Mittag wurde ich wieder wach. Eine Schwester war reingekommen und erkundigte sich nach meinem Befinden.

„Ich möchte den Katheter raus haben und auch die Braunüle.“ erklärte ich dann etwas verschlafen.

„Die Braunüle kann ich Ihnen gleich rausnehmen, Sie sind ja seit heute Morgen schon nicht mehr am Tropf. Aber den Katheter kann ich Ihnen erst entfernen, wenn Sie zur Toilette gehen können.“ erklärte mir die Schwester.

„Gut, dann gehe ich eben zur Toilette.“ sagte ich bestimmt.

„Meinen Sie wirklich, daß Sie das sollten? Sie sind noch sehr schwach.“ die Schwester legte ihre Stirn in skeptische Falten.

„Ich will das Ding da aus mir heraus haben.“ forderte ich.

„Na gut, dann müssen Sie aber noch einen Moment warten.“ willigte die Schwester immer noch zweifelnd ein.

„Tun Sie, was Sie tun müssen.“ sagte ich dann.

Die Schwester verließ den Raum und kam ein paar Minuten später mit einer weiteren Schwester zurück. Während die eine mir die Braunüle und danach den Katheter entfernte, was gelinde gesagt äußerst schmerzhaft war und brannte wie Feuer, nahm die andere mir das Baby ab und legte es in das kleine Bettchen.

„So, dann richten Sie sich mal auf.“ sagte die erste Schwester noch immer sehr skeptisch, ob ich das schaffen konnte.

Ich nahm alle Kraft zusammen, die ich hatte und biss die Zähne zusammen, daß ich fürchten musste, sie in den Kieferknochen zu schieben.

Unter großer Anstrengung schaffte ich es, mich an der Triangel hoch zu ziehen und mich aufrecht hinzusetzen.

„Langsam!“ mahnte mich die andere Schwester.

„Das geht schon. Das muss gehen.“ keuchte zwischen meinen zusammengebissenen Zähnen hervor und begann mit dem zweiten Kraftakt, meine Beine aus dem Bett zu drehen.

In meinem Bauch zerriss es mich, meine Muskeln zitterten heftig und eine kontrollierte Bewegung war kaum möglich. Aber ich wollte um keinen Preis diesen Katheter wieder eingesetzt bekommen.

‚Verdammt!‘ schimpfte ich mit mir selbst.

‚Nun stell dich nicht so an! Du hast nur ein Kind bekommen! Das kann doch nicht so schlimm sein!‘

Ich mobilisierte noch mal alle meine Kräfte und glitt dann aus dem Bett direkt in die Arme der beiden Schwestern, die mich schwer stützen mussten. Meine Beine versagten fast komplett ihre Dienste und meine Arme waren wie Gummi. Die Schwestern mussten mich mehr tragen, als daß ich selbst ging, und schleppten mich auf die Toilette.

Ich sah Sterne und das Licht wirkte vielfach verstärkt, als ich endlich auf der Toilette ankam. Dort durfte ich mich aber nicht gleich setzen, ich sollte mich breitbeinig über einen Messbecher stellen, der ungefähr drei Liter fasste. Mein Urin musste noch überwacht werden. Menge, Farbe, Blutgehalte und sonstige Vorkommnisse, die in meinem Urin nichts zu suchen hatten.

Dann schleppten mich die Schwestern zurück in mein Bett, frischten die Binden in dem hübschen Netzhöschen, daß ich seit nach der OP trug, auf und teilten mir mit, daß es bald Mittagessen geben würde.

Ich war kurz gesagt komplett kaputt!

Ich hatte wirklich nicht gedacht, daß es SO schwer sein würde, auf die Toilette zu gehen.

Aber ich hatte es geschafft, der Katheter durfte draußen bleiben.
 

Natürlich besucht Ulrich mich und unser Kind im Krankenhaus. Es waren aber eher langweilige Besuche. Er erkundigte sich natürlich nach dem Baby, ob es den Trinke, wie es liefe und ach ja, auch nach meinem Befinden.

Ich bat ihn mir beim nächsten Besuch unbedingt eine Haarbürste mit zu bringen. Meine Haare waren dermaßen zerwühlt und verknüllt, daß ich mit den Fingern nicht durchkam. Auch ein Kamm, den eine der Schwestern mir gebrachte hatte, ließ innerhalb kürzester Zeit beinahe sämtliche Zinken.

Ich sah aus wie Edward mit den Scherenhänden, wie ich es schon vermutet hatte.

Nachdem Ulrich mir erzählt hatte, daß in seiner Schicht alle am Feiern sind und er jetzt die zwei Wochen Urlaub hatte, die für die Niederkunft und die Zeit danach längst angemeldet und gewährt waren, hatte er nicht mehr viel zu erzählen.

Ich war zu erschöpft, um viel zu sagen.

Nachdem wir dann eine dreiviertel Stunde so geschwiegen hatte, sagte Ulrich, daß er noch einkaufen müsse und ich war froh, daß er ging. Er organisierte mir vorher noch eine Telephonkarte und ließ mir das Fernsehen freischalten, wofür ich einen einfachen Kopfhörer bekam. Dann verabschiedete er sich.
 

Am frühen Abend kam Mira, meine Hebamme, wieder zur Nachtschicht.

„Na, ich habe gehört, du warst tatsächlich schon zur Toilette!“ sagte sie angemessen erstaunt.

„Jap! Sagte ich doch.“ grinste ich.

„Da hätte ich nicht mit gerechnet.“ sagte sie dann ehrlich stolz auf mich.

„Und du hast inzwischen das Zimmer für dich allein.“ stellte sie weiter fest.

„Ja, ich hab gar nicht mitbekommen, daß Michaela schon weg ist.“ antwortete ich.

„Deine Zimmergenossin hatte einen gewünschten Kaiserschnitt, ganz ohne Nebenbeschwerden. Aber sie ist erst nach drei Tagen aufgestanden.“ erzählte Mira anerkennend.

„Naja, so ganz alleine bin ich auch nicht unterwegs gewesen. Ich brauchte immerhin zwei Schwestern, die mich mehr getragen als gestützt haben.“ sagte ich bescheiden.

„Aber du hast es versucht und geschafft.“ freute Mira sich für mich.

„So kann es nur aufwärts gehen.“ ergänzte sie.
 

Es war toll, das Zimmer allein zu haben. Ich musste mich nicht über das Programm absprechen und konnte gucken, was ich wollte. Ulrich hatte mir sogar eine Fernsehzeitung besorgt und ich musste nicht erst lange herum switchen, bevor ich mich für ein Programm entscheiden konnte.

Leider hatten wir inzwischen den 29. Dezember. In zwei Tagen war Sylvester. Und dementsprechend war auch das Fernsehprogramm gestaltet.

Natürlich guckte ich lustige Sendungen mit Stefan Raab, Michael Mittermeier, Markus Maria Profitlich und Konsorten.

Das war ein Fehler.

Ein sehr schmerzhafter Fehler!

Man versuche doch bitte mal mit einer verhältnismäßig frischen OP-Narbe im Unterleib zu lachen!

„Aaaaaaaaahaaaaaaahaaaaaaahaaaaaa!“ konnte ich nur gaaaanz vorsichtig machen. Ich klang als hätte man mir die Lunge und das Zwergfell betäubt!

Aber es konnte mich ja keiner hören. Dumm war nur, daß ich über meine eigene Lache lachen musste!

Am Mittwochmorgen gab es dann die Ärztevisite. Mein behandelnder Arzt kam und guckte, welche Fortschritte ich inzwischen gemacht hatte.

„Wie geht es mit dem Stillen?“ fragte er mich.

„Es geht. Ich habe das Gefühl, nicht genug Milch zu haben.“ antwortete ich.

„Wie ich sehe, waren Sie schon am Montagmittag zur Toilette?“ fragte er weiter, ohne auf meine Antwort einzugehen.

„Jap! Und seit gestern kann ich schon alleine zur Toilette gehen. Ich habe ein Kind bekommen, ich bin doch nicht krank.“ sagte ich überzeugt.

Der Doktor sah mich streng an.

„Sie hatten das HELLP-Syndrom, eine schwere und seltene Form der Schwangerschaftsvergiftung.“ klärte er mich ernst auf.

„Was bedeutet das?“ fragte ich ehrlich erstaunt.

„Das ist eine Erkrankung in der Schwangerschaft, die sehr ernst ist. Ihre Leber hatte versagt, daß waren die Bauchschmerzen. Außerdem waren Ihre Nieren kurz davor ebenfalls zu versagen. Ihr Körper war vergiftet und Sie und Ihr Kind Sauerstoffunterversorgt. Die erste Maßnahme, die wir dann ja auch ergriffen haben, war das Entfernen der Frucht, in diesem Fall die Geburt ihres Kindes. Hätten wir noch eine Stunde gewartet, wären Sie und Ihr Baby gestorben!“ erklärte der Arzt ausführlich.

Ich war geschockt.

So krank hatte ich mich nicht gefühlt, geschweige denn dem Tode nahe.

Die Neuigkeit hielt mich allerdings nicht davon ab am Nachmittag aufzustehen und zu meinem Baby zu schlurfen, daß nur ein paar Räume weiter in dem Nachtraum für die Babys lag. Hier kamen die Säuglinge hin, wenn Mama etwas Ruhe brauchte. Sie wurden dann von der Nachtschwester umsorgt und die Mütter konnten beruhigt etwas schlafen. Wenn die Kleinen dann weinten wurde die Mutter geholt und konnte das Kind dann gleich dort stillen.

Auf dem Gang kam mein Arzt mir entgegen und fragte sehr entgeistert:

„Frau Hansen! Was machen SIE denn hier?“

„Ich will zu meinem Kind.“ sagte ich resolut.

„ Der Kaiserschnitt war erst vor drei Tagen! Sie gehören ins Bett!“ entrüstete sich der Doktor.

„Aber es geht mir doch gut.“ erwiderte ich und schlurfte weiter. Der Doktor sah ein, daß er dagegen nichts wirklich unternehmen konnte.

Schwere Schwangerschaftsvergiftung hin oder her, ich hatte lediglich ein Kind bekommen, das machte mich keinesfalls zu einem bettlägerigen Pflegefall!

Als ich in dem Zimmer ankam, wo mein Baby zu finden war, war bereits eine Mutter dabei ihren Zwerg zu stillen, eine andere wickelte ihr Baby. Ich fand das Bettchen mit meinem Sohn schnell. Er war wach und quengelte etwas vor sich hin.

„Na, mein Süßer? Ich bin ja da. Ich dachte mir schon, daß du Hunger haben könntest.

Vorsichtig nahm ich ihn heraus und in den Arm. Er wurde sofort ruhiger.

„Wollen Sie ihn erstmal wickeln?“ fragte mich die Schwester freundlich.

„Ich hab das noch nicht gemacht.“ gestand ich.

„Das ist kein Problem. Ich zeige es Ihnen.“ lächelte sie mild und forderte mich auf zu dem langen Wickeltisch zu kommen. Hier fand ich alles, was ich brauchte. Feuchttücher, Windeln für Neugeborene, Creme für den Po, eine Wärmelampe und auch frische Kleidung. In der Klinik wurden die Babys bei fast jedem Wickeln neu angezogen. Mit geschickten Handgriffen zog sie dem Lütten den Strampler und die Windelhose aus, dann wickelte sie ihn aus seinem Pulli, der nur hinten übergeschlagen wurde. Dem Baby schien das nicht sonderlich zu behagen und es weinte wieder. Das störte die Schwester allerdings wenig und sie erklärte mir nebenbei, worauf ich zu achten hatte. Nach wenigen Minuten nahm ich dann mein frisch gewickeltes und neu angezogenes Kind entgegen.

„Ist dein Kind ein Frühchen?“ fragte mich die Mutter, die eben ihr Baby gewickelt hatte.

„Nein, er ist nur acht Tage zu früh gekommen.“ antwortete ich.

„Ach, ich dachte nur, weil er so winzig ist.“ entschuldigte sich die Frau.

„Das stimmt, er ist nur 48cm lang und wiegt gerade 2660g.“ erläuterte ich.

„Hast du in der Schwangerschaft geraucht?“ erkundigte sich die Mutter.

„Nein, bewahre. Ich rauche nicht. Aber meine Mum hatte auch so kleine Babys, vielleicht liegt das ja in der Familie.“ erwiderte ich.

Ich setzte mich auf einen der freien Stühle, wo die andere Mutter gerade mit ihrem Baby fertig war, nahm mir den Hocker, der unter meinem Stuhl bereitstand und das Stillkissen, das auf dem Stuhl lag. Dann drapierte ich das Kissen und mein Baby so, daß der Kleine bequem für mich und für sich liegen und trinken konnte. Das Anlegen war keine große Schwierigkeit. Aber es tat höllisch weh und ich musste mich wirklich zusammenreißen, ihn nicht gleich wieder ab zunehmen.

Eine weitere frisch gebackene Mutter kam herein, holte ihr Baby, versorgte es und setzte sich dann auf den freien Stuhl neben mir.

„Hallo, Frau Hansen, richtig?“ sprach sie mich an.

„Ja.“ antwortete ich etwas erstaunt.

Woher kannte sie mich?

„Ich wohne auch in Kirberg.“ erklärte sie mir jetzt, als wenn sie meine Gedanken gelesen hätte.

„In der Neubausiedlung, wo Sie, oder darf ich Du sagen? Wo du mit deinem Mann mal ein Grundstück hattest. Unser Haus ist direkt neben dem und dem.“ erklärte sie weiter.

Ich nickte weise und lächelte scheinbar verstehend, ich hatte keinen Plan wovon sie redete.

Ich wusste zwar noch, daß Ulrich und ich mal fast ein Grundstück gekauft hätten, aber ich hatte absolut keine Orientierung, wo das gewesen sein sollte.

„Meine Kleine ist nur einen Tag nach deinem Sohn geboren worden.“ erzählte sie jetzt weiter. Ganz nebenbei hatte sie ihr Baby angelegt, daß jetzt zufrieden saugte.

„Ah, na sowas.“ antwortete ich.

Wir unterhielten uns dann angeregt über die vergangene Geburt von meinem und von ihrem Baby, über die Schwangerschaft und die Beschwerden die wir hatten oder nicht hatten.

Erstaunlich, daß man allen Ernstes ein komplettes Gespräch damit füllen konnte und sich auch noch begeistert ereiferte, alles zu erzählen und zu erfahren.

Am Ende würde ich auch noch so eine Mutter, die tagelang von der Farbe, dem Geruch, der Konsistenz und der Menge des Windelinhalts ihres Kindes erzählten konnte, ohne sich ein einziges Mal zu wiederholen!
 

Mein Baby war recht gelb im Gesicht und insgesamt von der Hautfarbe. Das ist für viele Säuglinge normal, daß die Leber erst in Gange kommen muss. Mein Bruder und ich haben auch einige Tage im Brutkasten gelegen, weil wir Gelbsucht hatten und Quittegelb aus sahen. Bei meinem Baby war es nicht so schlimm, dennoch wurde er oft unter die Sonne gelegt mit nichts bekleidet als seiner Windel und dem Mützchen.

Im Grunde machte ich mir keine Sorgen, ich hatte das als Säugling ja auch überlebt und es war völlig normal.

Dennoch packte mich einige Male am Tag der sogenannte Babyblues.

Ich schob es darauf, daß ich die Geburt nicht mitbekommen hatte. Ich fühlte mich irgendwie leer, seit mein Sohn nicht mehr in meinem Bauch war. Ich saß dann an dem Glaskasten, in dem der Kleine unter der Sonne lag und selig schlief und weinte. Oder ich lag in meinem Bett und haderte mit dem Schicksal.

Dann, als würde jemand einen Hebel umlegen, war ich wieder verzückt und ganz verliebt in mein Baby. Es war ein heftiges Hin und Her.

Am Donnerstag, nur fünf Tage nach der Geburt, wollte ich nach Hause.

Die Schwester war ganz erschrocken und mein behandelnder Arzt geradezu entsetzt von dieser Idee.

„Sie hatten eine schwere Schwangerschaftsvergiftung, Frau Hansen. Das erholt sich nicht in ein paar Tagen. Mit zwei Wochen müssen Sie schon rechnen.“ schalt mich der Arzt.

Ich bedrängte ihn aber so lange, daß er dann einwilligte, daß am folgenden Tag eine gynäkologische und eine Blutuntersuchung gemacht werden sollte. Wenn die Befunde in Ordnung wären, was er keines Falls annahm, dann dürfe ich nach Hause.

Damit war ich zu Frieden.

Am Mittag war der Kinderarzt da um die zweite Untersuchung bei den Neugeborenen zu machen. Die erste war direkt nach der Geburt.

Meinem Baby ging es gut, bis auf die gelbe Haut. Die Nächte lag er immer unter der Sonne.

Am folgenden Tag wurde dann gleich morgens bei mir untersucht, ob sich die Gebärmutter gut zurückgebildet hätte, die Werte in meinem Blut in Ordnung waren und ob ich schon Stuhlgang hatte.

Letzteres war immer noch eine schmerzhafte und möglichst zu vermeidende Erfahrung, alle anderen Befunde waren dafür ungewöhnlich gut.

Ich selbst war zufrieden mit mir. Wie gesagt: Ich hatte ein Kind bekommen und war nicht krank.

Mein Arzt war von den positiven Werten allerdings inzwischen auch dermaßen erfreut, daß er mir mitteilte, ich könne nach Hause, wenn es dem Kind gut geht.

Der Kinderarzt hatte empfohlen, daß der Zwerg noch für eine weitere Nacht unter die Sonne sollte, ich durfte dann am Samstag nach Hause.

Irgendwie war das ein herber Rückschlag für mich, ich brach wieder mal in depressives Geheul aus, sah aber ein, daß es nicht an mir lag und daß es das Beste für meinen Sohn war.

Am nächsten Vormittag dann kam Ulrich mit Kleidung für unseren Sohn und der Babyschale.

Beim Umziehen des Babys, das ich inzwischen auch schon alleine Wickeln konnte, verzweifelte ich fast, weil der Pulli, den Ulrich ausgesucht hatte, viel zu groß war und in dem Strampler verschwand der Kleine fast. Wieder heulte ich wie ein Schlosshund.

Die Schwester, die gerade hereinkam, tröstete mich und zeigte mir, daß es kein Problem war, dem Zwerg die Sachen dennoch anzuziehen.

Dann legte ich ihn in die Babyschale und schnallte in an. Er verschwand fast in der Schale.

Als es schon fast Mittag war kam dann auch endlich der Arzt und gab mir meine Papiere, ich durfte nach Hause.

Ich war fast traurig, irgendwie war die Säuglingsstation wie ein zu Hause für mich. Ich wollte aber Heim, ich hatte Angst, ich würde sonst gar nicht mehr nach Hause wollen.

Als wir dann im Auto saßen und durch Limburg nach Hause fuhren, erkannte ich nichts wieder. Ich wusste wo ich war, aber wäre ich alleine nach Hause gefahren, ich hätte mich hoffnungslos verirrt. Ich hatte nicht die geringste Orientierung.

Als wir in Kirberg ankamen, trafen wir Frau Heinrich, eine alte Dame zu der der Kirschbaum gehörte, von dem ich im Sommer immer so gerne naschte.

Natürlich wussten alle aus der Umgebung, daß ich schwanger war, ich konnte es zum Schluss ja nicht mehr verbergen.

Ulrich hielt neben ihr an und machte das Fenster runter.

„Hallo, Frau Heinrich. Ein frohes Neues Jahr.“ Sprach Ulrich die Dame an, die sofort freudig zu uns kam.

„Hallo Herr Hansen, und Frau Hansen. Na? Was macht die Kunst?“ erkundigte sie sich freundlich.

„Die liegt auf dem Rücksitz und schläft.“ gab ich zur Antwort und die Gesichtszüge von Frau Heinrich entglitten sofort.

„Ist nicht wahr!“ keuchte sie überrascht.

„Doch, schauen Sie doch, dahinten ist er.“ lachte ich.

„Ja Donnerlittchen.“ platzte es aus Frau Heinrich heraus.

„Na, da gratuliere ich ihnen aber aufs Herzlichste.“ sprühte sie vor Freude.

Kapitel XXVIII
 

„Ich komme, mein Kleiner, ich bin gleich bei dir.“

Verzweifelt versuchte ich im Dunkeln durch die Tür zu kommen, hinter der ich mein Baby wähnte. Ich hatte die Tür geöffnet, aber dahinter ging es nicht weiter. Ich griff in Textilien und rannte immer gegen eine Kante, an der ich nicht vorbei kam. Dahinter, in der Dunkelheit weinte mein Kind, es hatte wohl Hunger.

„Gleich bin ich da, ich bin ja auf dem Weg.“

Langsam aber sicher kam ich endgültig zu mir. Ich konnte jetzt die Quelle des Babyweinens besser orten und stellte fest, daß ich gerade dabei war und versuchen mich durch den Kleiderschank zu zwängen.

Dabei war ich bis eben felsenfest davon überzeugt, daß mein Baby irgendwo direkt vor mir lag und nach seiner Mama weinte. Jetzt, wo ich etwas wacher und klarer bei Verstand war, konnte ich erkennen, daß es von rechts neben mir kam.

Ich schloss den Kleiderschrank, korrigierte meine Richtung und tastete mich im Dunkeln zur Schlafzimmertür auf den Flur, wo ich dann das Licht anmachen konnte. Ab jetzt war es kein Problem mehr, den richtigen Weg zu meinem Kind zu finden.

Ich war regelrecht erschüttert von mir. Ich hatte zwar wie eine richtige Mutter das Weinen meines Babys im Schlaf registriert und im Schlaf war ich aufgestanden um mich auf den Weg zu machen. Andererseits hatte ich aber absolut keinen Orientierungssinn gehabt, wie sonst vor der Geburt. Da konnte ich auch im Schlaf zur Toilette gehen oder in die Küche.

Ich verlief mich ständig, teilweise sogar im Hellen. Da wollte ich in die Küche und stand im PC-Zimmer.

Ich nahm mein weinendes Söhnchen aus dem Kinderbett und wickelte es. Ulrich hatte mir extra eine kleine Lampe besorgt, die ich anmachen konnte, wenn der Zwerg in der Nacht wach wurde. Er sollte sich ja an Tag und Nacht gewöhnen und in der Nacht wurde es halt nicht richtig hell.

Als er fertig gewickelt war, legte ich ihn auf die Babywaage, die ich aus der Apotheke geliehen hatte. Ich schrieb das Gewicht auf und setzte mich dann mit dem Jungen in den Sessel neben seinem Bett um ihn zu stillen.

Meine Hebamme hatte mir erklärt, daß man mittels des Wiegens vor dem Trinken und nach dem Trinken ermitteln könne, wie viel der Zwerg getrunken hatte.

Dabei musste ich feststellen, daß ich nicht sehr viel Milch gab. Das machte mich fertig.

Mir wurde empfohlen viel Fencheltee zu trinken, es gab auch einen speziellen Milchbildungstee, der schmeckte wie Knüppel auf den Kopf aber was tut man nicht für seinen Winzling. Als es immer noch nicht so recht in die Gänge kommen wollte, erhielt ich den Tipp, es doch mit Malzbier zu probieren.

Das Zeug schmeckte wie Knüppel auf den Kopf, aber wie gesagt: Dem Baby zu Liebe…

Nach drei Nächten, in denen mein Baby herzzerreißend geschrien hatte, statt wie vor dem Malzbier ungefähr drei Stunden zwischen den Mahlzeiten zu schlafen, ließ ich es mit dem Bier und der Kleine erholte sich beinahe schlagartig. Er hatte schlichtweg von dem Bier, daß ja teilweise in die Milch ging, Blähungen hoch drei bekommen.

Ich bekam dann desweiteren die Empfehlung, dem Baby vor den Mahlzeiten etwas gegen die Blähungen zu geben. Auf diese Weise könnte ich auch die berühmt berüchtigten „Drei-Monats-Koliken“ austricksen. Ich besorgte mir in der Apotheke die Carminativum-Tropfen. Davon machte ich immer drei Tropfen mit etwas Wasser auf einen Löffel und flößte es meinem Baby vor dem Stillen ein. Hat großartig funktioniert.

Leider litt ich immer noch unter Depressionen. Schwere Depressionen. Teilweise lag ich in meinem Bett und heulte wie ein Schlosshund, weil ich davon überzeugt war, das es sicher besser für das Baby währe, wenn ich es zur Adoption freigeben würde. Ich könnte mich doch niemals richtig um ein Baby kümmern. Dann plagten mich übelste Gewissensbisse, weil ich auf die entsetzlichsten Ideen kam, wie man den Schreihals zum Schweigen bringen könnte. Ich hatte einfach kein Muttergefühl für das Kind. Ich kümmerte mich fürsorglich, verstand jedes Quengeln und Weinen und konnte mein Baby beruhigen. Ich liebte es, wenn er anlag und trank, auch wenn ich immer noch Schmerzen dabei hatte und der Milcheinschuss jedesmal brannte wie glühende Drähte. Und ich liebte das Baby. Aber er hatte eigentlich den gleichen familiären Stand wie meine Katzen. Und ich konnte ihn einfach nicht beim Namen ansprechen. Auch das quälte mich und trug nicht gerade zu einer Besserung meiner Depressionen bei.

Ich telephonierte irgendwann mal mit meiner Mutter und beichtete ihr meine Gewissensbisse. Sie sagte dann etwas sehr einfaches, dennoch hat es mir unheimlich geholfen.

„Dern, hör auf dein Mutterherz, dann kannst du nichts falsch machen.“

Das half mir zumindest aus den Gewissensbissen heraus.
 

Ich war das, was man eine Vollblutmama nennt. Ich begluckte mein Kind regelrecht. Und ich war der Überzeugung, daß niemand außer mir meinen Sohn so versorgen könnte, wie er es brauchte.

Die Tatsache, daß der Vater sich nur dann kurz mal mit seinem Sohn beschäftigte, wenn es satt, ausgeschlafen und sauber war, machte es natürlich noch extremer. Ich kümmerte mich rund um die Uhr alleine um mein Kind.

Leider besserte sich die Geschichte mit dem Stillen nicht. Es wurde eher noch schlechter.

Mein Gatte war nämlich bereits vier Wochen nach der Geburt, also, ich war gerade mal drei Wochen wieder zu Hause, der Meinung, daß ich mit dem Haushalt und dem Baby scheinbar nicht klar kam. Er maulte herum daß ich beides nicht unter einen Hut bekam.

Das stresste mich zusätzlich zu meinen Depressionen, die nicht verschwinden wollten. Ich war verzweifelt, denn ich erkannte nichts in der Wohnung wieder. In den vergangenen sieben Jahren hatte ich mir das Kochen selbst beigebracht und schüttelte mir sogar so etwas wie Königsberger Klopse mal eben aus dem linken Ärmel. Alles in meiner Küche hatte System und ich hätte im Dunkeln mit verstopfter Nase kochen können.

Als ich mit dem Baby aus der Klinik kam, erinnerte ich mich an nichts. Ich musste erst nachsehen, wo alles stand, musste mir aufschreiben, wie welches Essen gekocht werden musste. Auch das machte meine Situation nicht leichter.

Dann plagte mich ein noch größeres Problem: Mein Kurzzeitgedächtnis war schlicht nicht zu gebrauchen. Zum Beispiel stand ich in der Küche und schnitt eine Zwiebel klein. Dann wollte ich noch etwas in Bezug auf das Gericht machen, das ich gerade versuchte zu kochen, drehte mich dafür um und – Weg! Komplett weg! Ich hatte keine blasse Ahnung mehr, was ich gerade machen wollte. Selbst, als ich mich umdrehte und versuchte, den Ausgangspunkt zu wiederholen: Kein Erfolg!

Und das mehrmals am Tag in den unterschiedlichsten Situationen.

Ulrich wurde immer ungehalten ob meiner scheinbaren Lustlosigkeit, den Haushalt wieder anständig zu führen. Und er machte auch keinen Hehl daraus, mich das deutlich spüren zu lassen, daß er mehr als unzufrieden mit mir und meinen Nichterfolgen war.

Acht Wochen nach der Geburt meines Babys musste ich ihn auf Flaschennahrung umstellen, ich hatte einfach keine Milch mehr.

Ich war todtraurig. Das Stillen ist eine so wunderschöne Sache und ich fühlte mich beraubt.

Zur "Strafe" durfte mein Gatte die gute Milupa-Milch kaufen. Wenn ich meinen Sohn schon nicht selbst stillen konnte, dann sollte er wenigstens das Beste bekommen, was zu bieten war.

Ich erhielt kein Verständnis von meinem Mann, geschweige denn, daß er mal erwähnte, daß ich mich gut um das Baby kümmern würde.

Ich hielt ihn aus der Säuglingspflege raus soviel er wollte. Und er wollte so gut wie gar nichts damit zu tun haben. Immerhin war das eine Sache, in der er mich nicht immer wieder erklärte, was ich alles falsch machte.

Aber er war eifersüchtig. Oft warf er mir vor, ich würde mehr Zeit mit dem Baby verbringen als mit ihm. Am liebsten hätte ich ihm gesagt, daß mein Baby mich auch noch nicht mit Absicht verletzt hatte oder meine Gefühle missbraucht hätte.

Ich begründete es dann einfach damit, daß er in der Lage war, sein Kissen anders hinzulegen, wenn es ihm im Weg wäre, sein Sohn konnte das nicht.

Ulrich fand es auch keinesfalls anstößig sich Anfang März, als Oliver zwei Monate alt war, für ein paar Tage mit einem Arbeitskollegen auf die Cebit nach Hannover zu fahren – über meinen Geburtstag.

Als der Kleine dann 10 Wochen alt war, ging ich mit ihm im Kinderwagen nach draußen. Da er am 28.12. geboren war brachte die Jahreszeit es mit sich, daß es schneidend kalt war und ich wollte das Baby nicht zu früh überfordern und sogar gefährden.

Anfangs kam Ulrich noch mit und schob voller Vaterstolz den Kinderwagen. Allerdings machte er so nette Sachen wie den Kinderwagen durchzuschütteln um damit Kopfsteinpflaster zu simulieren! Dann schob er den Kinderwagen absichtlich über Kopfsteinpflaster, obwohl es durchaus eine weniger holprige Alternative gegeben hätte. Ich hätte ihn pausenlos erwürgen können!

Irgendwann hatte er dann aber sowieso keine Lust mehr mit rauszugehen. Dann ging ich halt allein.

Wenn man jetzt als frischgebackene Mami mit dem Baby spazieren ging, dann kamen die Leute immer gleich um den neuen Erdenbürger zu betrachten. Erstaunlich daran war, daß halb Kierberg mich beim Namen kannte, davon die Hälfte den vollen Namen meines Kindes und wieder davon so einige, die sogar das Geburtsdatum von meinem Sohn kannten. Allerdings kannte ich von all den Leuten nicht einen einzigen!
 

Als es mit meinen Depressionen nicht besser wurde vertraute ich mich meiner Hebamme an. Sie empfahl mir es mit Pulsatilla D6 als Kügelchen zu probieren. Anfangs alle halbe Stunde fünf Kügelchen und nach ein paar Tagen, wenn eine Besserung eingetreten sei, nach Bedarf.

Ich hielt nichts von Homöopathika, dachte aber, daß ein Versuch sicher nicht schaden könnte.

Und es half tatsächlich.

Es wurde besser und ich konnte den täglichen Stress mit meinem Gatten besser wegstecken.

Als mein Baby inzwischen drei Monate alt war, nahmen wir ihn mit zum Einkaufen. Mir fiel auf, daß ich in letzter Zeit ein bisschen viel mit meinem Baby zu tun hatte und sehr wenig mit anderen Erwachsenen. Die Gesichter der Menschen kamen mir ungewöhnlich groß vor. Sogar die Poren in der Haut der Leute waren gigantisch. Ich hatte in den letzten Wochen aber ja auch immer nur das winzige Gesichtchen mit der makellosen Haut von meinem Kind vor Augen.

Darüber hinaus wurde mir dann irgendwann bewusst, daß ich eigentlich nur noch drei Gesprächsthemen kannte: Mein Kind, mein Baby und meinen Sohn!

Ich muss sehr lästig gewesen sein.

Daß Mutter sein brachte allerdings auch lustige Seiten mit sich.

Zum Beispiel die Babysprache.

Ich machte nicht mit meinem Baby „Ei duzie duzie duuu“ oder ähnliches. Sein Schnuller war ein Schnuller und kein Bubbie oder Lullu. Gut, wenn er die Windel voll hatte, dann hatte er ein „Geschenk“ gemacht, aber auch nur weil ich es eklig fand zu sagen, er hätte ein Scheißerchen oder Stinkerchen.

Wenn man mit einem weinenden Baby im Kinderwagen unterwegs ist, wird man von Fremden umringt, die bis fast zur Hüfte im Kinderwagen verschwinden und das arme Baby bedauern, ob es den hungrig sei. Als würde ich das Kind hungern lassen. Im eigenen Dorf hab ich da natürlich nur gelächelt und so getan, als wenn ich das total süß fand.

Einmal aber war ich bei meiner Freundin in Lindenholzhausen.

Oliver – ich konnte ihn langsam beim Namen nennen – war inzwischen fünf Monate alt und hatte etwas Probleme mit den einschießenden Zähnen und schrie und schrie und schrie und hörte nicht auf. Wir gingen mit ihm an die frische Luft und wählten extra eine Route außerhalb des Ortes. Oliver schrie und schrie und schrie... Als wir in das Dorf zurückkamen war da eine Ommie, die extra von der anderen Straßenseite herübergewackelt kam um dann eben bis zur Hüfte in meinem Kinderwagen zu verschwinden: „Ooohch, ist das arme Baby hungrig?“ wimmerte sie mitfühlend.

Mir platzte der Kragen. Nicht nur, daß das ständige Geschrei ehrlich an den Nerven zerrt, nicht nur, daß man diesen dummen Spruch schon hundert Mal milde belächelt und sich zusammen gerissen hat. Nein! Dieses Mal war es zu viel.

„Möchten Sie ihm die Brust geben?“ fauchte ich die Omma an.

Sie riss ihren Oberkörper aus dem Kinderwagen, sah mich entsetzt an, keuchte etwas Unverständliches und suchte wackelnd auf der anderen Straßenseite das Weite.

Meine Freundin starrte mich auch erst an, dann prustete sie lauthals los und lag lachend unter meinem Kinderwagen.

„Ist doch wahr!“ entrüstete ich mich abschließend.
 

Als mein kleiner Junge drei Monate alt war ging ich das erste Mal mit ihm in den Spielkreis. Dort durfte jede Mama mit ihrem Baby von 0 bis 3 Jahre hingehen und es war kostenlos. Einmal die Woche trafen wir uns dann für eine Stunde. Wir sangen und spielten mit den Kindern, ließen sie miteinander spielen und tauschten Neuigkeiten, Tipps und Erfahrungen aus. Das war für mich ganz gut, weil ich mal unter andere Leute kam, für Oliver war das gut, weil er Kontakt mit gleichaltrigen Kleinkindern üben konnte.

Aber auch hier war ich mit meinen Einstellungen manchmal nahe daran, die Mitmütter an den Rand des Entsetzens zu bringen.

Zum Beispiel: Wenn das Wetter schön war gingen wir mit den Kindern auf einen Spielplatz. So ein Spielplatz hat ja jetzt die Angewohnheit nicht gerade einer der keimfreiesten Plätze auf der Welt zu sein.

Wenn mein Sohn jetzt der Meinung war auf diesem Stein oder jenem Stück Rindenmulch zu lutschen, dann achtete ich darauf, daß es nicht gerade ein Stück Müll, Glas, giftiges Kraut oder Exkrement war und guckte zu ob es ihm schmeckte oder nicht. Natürlich erregte das des öfteren die negative Aufmerksamkeit der Mitmütter.

Im Juni begann im Taunus normalerweise die Erdbeersaison. Und da Ulrich Erdbeeren fast genauso gerne aß wie ich, nahmen wir natürlich an dieser Saison nach Kräften Teil.

Im Spielkreis verkündete ich dann voller Stolz daß mein Sprössling am Vortag das erste Mal in seinem Leben eine Erdbeere verputzt hatte.

Der Raum war innerhalb von Bruchteilen einer Sekunde komplett ohne Erwachsenenlärm! 11 vor Entsetzen aufgerissene Augenpaare durchlöcherten mich wie Laser.

Minutenlanges Schweigen.

Bis die Erste Mitmutter wieder Luft bekam:

„Sag mal, du weißt aber schon, daß Erdbeeren schlimme Allergien auslösen können?“

Nun war ich erstaunt.

„Äh“, begann ich die paralysierte Runde aufzuklären, „Erdbeeren LÖSEN keine Allergien aus, allenfalls KÖNNTE man gegen Erdbeeren allergisch reagieren. Dann ist weder in meiner, noch in der Familie des Vaters etwas über etwaige Allergien bekannt und außerdem: Wie soll ich herausfinden, OB mein Sohn allergisch ist, wenn ich alles, was eine allergische Reaktion auslösen könnte, von ihm fern halte? Dann züchte ich mir doch einen Allergiker hoch drei der dann später gegen alles und sich selbst allergisch ist!“

Zuerst waren die Mitmütter perplex, dann fingen die großen Diskussionen an, aus denen ich mich nach einigen erfolglosen Versuchen meine Einstellung zu erklären, raushielt.

Von da an ging ich nur noch wegen Oliver in den Spielkreis, weniger um mich mit den anderen Frauen zu unterhalten.
 

Der Sommer kam mit Macht und Hitze. Es sollte aber gottseidank nicht so heiß werden, wie im Vorjahr. Von den Vermietern hatten wir die Erlaubnis, die Terrasse zu nutzen, wenn sie nicht zu Hause waren. Und sie waren fast nie zu Hause. Von Taschkent aus ist der Mann unserer Vermieterin für fünf Jahre nach Dubai versetzt worden und seine Frau und deren Sohn gingen mit.

Ich war so oft es ging mit Oliver auf der Terrasse. Auch hatte ich einige Monate zuvor auf Animexx einen jungen Mann kennen gelernt. Irgendwann stolperte ich mal über seinen Steckbrief. Er hatte etwas sehr philosophisches in seiner Selbstbeschreibung geschrieben. Ich schrieb ihm einfach mal eine ENS. Frage mich jetzt bitte keiner, was eine ENS genau ist. Das N und das S stand sicher für „Nachrichtensystem“, aber das E konnte ich bisher nicht unterbringen. Könnte sein, daß das E für Elektronisch steht, aber da bin ich mir nicht sicher.

Jedenfalls hatte Uwe, so hieß der junge Mann, gleich geantwortet. Wir schrieben uns jeden Tag lange ENS und philosophierten über das Leben, seinen Sinn und seine Zusammenhänge, der Grund warum wir in diesem Leben waren. Schnell stellte sich heraus, daß wir eine Art Seelenverwanschaft haben mussten, denn wir hatten die gleichen Ansichten und Thesen über diese und ähnliche Themen. Wir hatten jahrelang unabhängig von einander ähnliche, teilweise gleiche Ansichten und Thesen gesammelt. Oft konnte Uwe besser ausdrücken, was ich meinte, als ich selbst.

Natürlich berichtete ich Ulrich davon. Von den Telepnonaten mit Uwe, die Themen über die wir uns unterhielten, verstand Ulrich ohnehin nicht. Ulrich hatte immerhin vor ein paar Jahren zugestimmt, daß ich mich bei Animexx anmelden durfte, es war ja kostenlos, da wollte ich nichts heimlich machen. Er hätte es durch seine Kontrollprogramme eh rausbekommen. Und die Kontakte, die ich knüpfte, wurden gnädig genehmigt, meistens hielten sich die männlichen Kontakte mehr als zweihundert Kilometer entfernt auf und waren auch meist um einiges Jünger. Ebenso Uwe, mein Seelenverwandter. Er war 10 Jahre jünger als ich und lebte und studierte in der Nähe von Bremen. Das war wohl weit genug weg für Ulrich. Wobei er sich des Altersunterschiedes wegen dennoch manchmal etwas irrational verhielt. So wie er meinte, ‚Dumm bumst gut‘ war er auch der Meinung, daß 10 Jahre jünger kein Hinderungsgrund sein konnten. Immerhin war Uwe alt genug um einen Hoch zu bekommen!

Damit hatte er bestimmt nicht ganz unrecht, aber er hätte inzwischen merken müssen, daß ich durchaus treu war, wenn auch mehr aus eigennützigen Hintergründen denn daß ich ihn liebte.

Irgendwann wurden die ENS so lang, daß es beinahe unmöglich war, sie gebührend zu beantworten, bei Uwes ENS genauso wie bei meinen.

Ich durfte meine Telephonnummer oder Adesse nicht weitergeben, Ulrich hatte sogar irgendein Warnprogramm eingebaut, das ihn darüber informierte, wenn doch Nummer oder Adresse eingegeben wurde.

Also ließ ich mir von Uwe die Nummer geben und ich rief ihn an.

Es war wunderbar. Wir haben uns verstanden, als würden wir uns ein Leben lang kennen. Ich konnte mich mit ihm über wissenschaftliche Theologie, Astrologie, Astronomie und viele andere schwierige Themen unterhalten, für die Ulrich nicht mal ein halbes Ohr hatte. Wir philosophierten über die Zusammenhänge der Welt, Synesthetik, Empathie, paranormale Fähigkeiten, unterhielten uns aber auch über prophane Dinge wie Final Fantasy, Filme oder Serien und Autos.

Oft haben wir stundenlang telephoniert. Mir fiel auch die Hausarbeit leichter, wenn wir schnackten. Ich hab das Telephon einfach auf Lautsprecher gestellt, das Mobilteil an meinen Kragen geklippt und dann hatte ich beide Hände frei für Küche, Wäsche und Kind.

Über Telephon erlebte Uwe mit, wie Oliver heranwuchs, welche Ideen der kleine hatte, was er so alles anstellte, wie er krabbelte, sich an den Möbeln hochzog und anfing zu laufen.

Im Gegensatz zum Vater des Kindes, der interessierte sich hauptsächlich für seinen Computer und daß ich den Haushalt nicht nach seinen Vorstellungen führte.

Und Uwe nahm mit ganzen Herzen teil.

Wir redeten auch über unsere Probleme. Ich schüttete ihm mein ganzes Herz aus, erzählte von den Sorgen und Depressionen, unter denen ich litt und die Sehnsucht nach zu Hause und Marco. Ich erzählte ihm viel von Marco und er hörte geduldig zu, nahm Anteil an meinen Erinnerungen an Marco und an den Gefühlen, die ich noch immer für Marco hatte.

Schon bald wusste Uwe mehr über mich als mein eigener Ehemann, letzterer interessierte sich ja nicht dafür. Er war nur der Meinung, daß ich in Sachen Sex „Erfahrungen“ gesammelt hatte, die ich ihm jetzt mitzuteilen hatte.

Uwe war dabei als ich im Sommer das erste Mal mit Oliver draußen war und er durfte nackig laufen, weil ich eine kleine Spiel-Muschel hatte, in die Wasser gefüllt war und er erlebte mit, wie ich nur hilflos zusehen konnte, als Oliver als erstes ein Ei auf die Terrasse legte! Auch als Oliver Geschmack an einer französischen Delikatesse entdeckte: Schnecken! Aber nur die knusprigen, die mit dem Gehäuse.

Da kam der kleine dann an: „Mama, guck mal!“ und öffnete seinen Mund weit um den Blick auf eine bereits zerkaute Gartenschnecke frei zu geben.

Uwe und ich ekelten uns gleichermaßen und lachten herzlich.

Dann hatte es viel geregnet, Oliver fand im Garten der Vermieter ein großes Schlammloch. Das einzige, was ich machen konnte, war Schadensbegrenzung: Ich zog ihm die Socken und die Hose aus und ließ ich spielen. Am Ende griff ich dann den größten Schlammbrocken und hoffte, mein Sohn würde darin stecken.

Uwe und ich machten gemeinsam den Haushalt, bereiteten uns Essen und aßen dann auch zusammen, fütterten den Kurzen, brachten ihn ins Bett, guckten Fernsehen, lachten gemeinsam bei „Oops die Pannenschow“ - alles über Telephon.

Unsere Rekordzeit für ein Telephonat liegt bei 10 Stunden.

Natürlich nur, wenn der Alte, also, mein Gatte nicht da war.

Nicht, weil ich es heimlich tun wollte. Es war einfach wesentlich entspannter.

Wie oft hab ich Uwe mitten in der Nacht angerufen, weil ich wieder von Marco geträumt hatte und beim Aufwachen feststellen musste, daß Marco nicht da war.

Auch als ich einmal einen ganz entsetzlichen Alptraum mit Oliver hatte, ich war in Flensburg in einer Unterkunft für Leute, die kein zu Hause hatten. Dann war mein Kinderwagen mit meinem Baby verschwunden, nach langem Suchen hörte ich ein entsetzliches Babygeschrei, unbeschreiblich. Um den Kinderwagen herum waren drei Männer, die sich gerade an meinem Kind vergangen hatten…

Uwe half mir, diesen Traum zu verwischen, tröstete mich so gut er konnte und das, obwohl es drei Uhr morgens in der Frühe war.

Uwe wurde wirklich zu einem sehr wichtigen Freund für mich. Natürlich hörte ich mir auch seine Probleme an und baute ihn auf, wenn es notwendig war. Er wurde zu meinem besten Freund.

Natürlich bekam ich ständig Ärger mit dem Alten, wegen der langen Telephonate. Ulrich hatte die Telephonanlage inzwischen mit dem Rechner verbunden und mit der richtigen Software konnte er genau sehen wer wann wohin und wie lange telephoniert hatte.

Aber das war mir egal.

Uwe war wichtig für mich, denn er gab mir Halt und Zuversicht.

Wenn meine Sehnsucht nach Marco wieder so stark wurde, daß es mir körperlich weh tat, dann tröstete er mich und machte mir Mut.

„Du wirst ihn sicher eines Tages wiedersehen.“ Sagte er immer wieder. Nur zu gerne hätte ich ihm geglaubt.

Aber die Realität sah anders aus. Das war einfach ein Ding der Unmöglichkeit. Wo hätte ich hin sollen? Jetzt auch noch mit einem Kind? Außerdem war der Kontakt zu Marco inzwischen gänzlich abgebrochen. Ich wusste nur, daß er eine feste Freundin hatte, daß er umgezogen war, daß seine Eltern nicht mehr unter der alten Nummer zu erreichen waren und daß auch sie nicht im Telephonbuch standen. Das Einzige was blieb war die Tatsache, daß Marcos älterer Bruder in Flensburg eine Schreinerei hatte, mit der er sich selbständig gemacht hatte. Mit diesem Geschäft stand er auch im Telephonbuch.

Uwe aber war sich sicher, daß sich eines Tages alles ändern würde.

Das gab mir Zuversicht, Hoffnung auf die Zukunft.

An jedem Abend, an dem ich zu Bett ging dachte ich mir, daß ich wieder einen Tag geschafft habe, der mich meinem Ziel näher bringt: Eines Tages glücklich zu werden. Jeden Abend, wenn ich in meinem Bett lag, weinte ich: "Marco Lots, ich liebe dich." drehte mich auf die Seite und versuchte zu schlafen.
 

Ich schlief inzwischen ausschließlich im Wohnzimmer auf dem Sofa. Anfangs, als Oliver und ich zu Hause waren, schlief ich noch im Schlafzimmer im Ehebett. Aber schon bald zog ich ins Wohnzimmer, einfach, um Ulrich nicht zu stören, wenn ich nachts zu Oliver musste. Auch, weil ich mich ständig im Kleiderschrank verlief, wenn ich zu meinem Baby wollte.

Mir war das mehr als Recht und ich fand mich mit dem nicht wirklich bequemen Sofa ab. Ich schlief etwas entspannter, wenn auch nicht immer sehr lange. Allerdings gewöhnte Oliver es sich ab dem 5. Monat an, die Nacht durch zu schlafen.

Ich blieb im Wohnzimmer.

Ich bekam sogar eine Matratze, die ich auf den Boden legte, wenn ich zu Bett ging und hinter das Sofa schob, wenn ich nicht schlief.

Ich überzeugte Ulrich für diese Einrichtung, in dem ich ihm klar machte, daß wir ohnehin nachts nichts anderes machen, als uns die ganze Nacht in die Rippen zu treten, weil er wieder schnarchte wie ein Holzfäller und ich auch nicht immer geräuscharm schlief.

Wir waren etwas ausgeschlafener.
 

Im November, einen Monat bevor Oliver ein Jahr alt wurde, ergab es sich sehr plötzlich, daß wir ein Baugrundstück im Nachbarort Heringen bekamen. Der Kredit für Grundstück und geplantes Haus wurde genehmigt. Ich hab noch nie so viel Papierkram gesehen und so oft unterschrieben, wie in den Wochen vor Baubeginn! Ich sollte Miteigentümer von Haus und Hof sein und wurde auch im Grundbuch mit eingetragen.

Das Haus sollte ein Fertighaus von Bien Zenker sein, ein sogenanntes BOS Haus. Das war die preisgünstigere Variante die in Zusammenarbeit von Bien Zenker, Obi und der Sparkasse angeboten wurde.

Wir fuhren noch einmal in den Urlaub nach Flensburg, auch um den Großeltern ihr Enkelkind zu präsentieren.

Als wir in unserem Ferienquartier ankamen, die Brunkerts waren natürlich darüber informiert, daß wir eine größere Ferienwohnung mieten wollten, wegen des Zuwachses, erkundigte sich jeder nur nach dem Befinden des Kleinen! Ich wurde nicht mal begrüßt!

Aber das ist halt das Los der Mutter. Die ist nur schmückendes Beiwerk.

Meine Mum war natürlich auch ganz angetan von dem Lütten, Oliver war aber auch wirklich ein süßes Kerlchen.

Wir blieben nur eine Woche, dann mussten wir wieder nach Hause.

Mitte November kam dann der Bagger und hob das Loch für den Keller und die Zisterne aus. Die Zisterne war in den Baubestimmungen vorgeschrieben und ja auch durchaus sinnvoll.

Der Keller war schnell hochgezogen.

Es sollte Dezember werden, bis endlich das Haus in seine Elemente zerlegt, geliefert und aufgebaut wurde.

Drei Tage vor Weihnachten.

Den Innenausbau wollte Ulrich in Eigenleistung machen.

Ich habe es geschafft den Grundriss des Hauses mit Ulrich zusammen so zu planen, daß ich ein eigenes Zimmer haben würde. Ulrich war erst dagegen und sehr schlecht gelaunt, daß ich so sehr darauf beharrte, daß es sinvoller war getrennte Schlafzimmer zu haben. Um ihn endgültig zu überzeugen verbrachte ich mal wieder eine Nacht mit im Ehebett. Das Resultat war eindeutig und Ulrich willigte ein das Haus mit fünf Zimmern zu planen, je eines für die Kinder, denn wir wollten durchaus noch ein Geschwisterchen für Oliver, auch wenn es für mich bedeutete, daß ich ihn wieder ranlassen musste. Aber ein zweites Kind wollte ich noch haben. Vielleicht würde es ja ein Schwesterchen
 

Ulrich verbrachte jede freie Minute im Haus um den Innenausbau zu bewältigen. Die Wände, die ja nur mit Rigips verkleidet waren mussten verfugt werden, die Böden gefliest oder mit Laminat verlegt werden, vorher musste der Estrich rein, was wir von einer Firma machen ließen.

Ich bekam eine Alno-Küche, die gerade im Angebot war. Dennoch waren es immerhin knapp 8000 Euro, die in der Küche standen. Ulrich wusste meine Kochkunst scheinbar doch zu schätzen, daß ich eine so tolle Küche bekommen sollte. Er baute sie ganz alleine auf inklusive der Geräte.

Ich bekam einen Herd mit Pyrolyse-Verfahren, das heißt, der Backofen reinigt sich selbst. Auch für die farbliche Gestaltung im und am Haus verließ Ulrich sich auf mein gestalterisches Geschick, gestalterisch war er nicht gerade der Hellste.

Die Küche war so groß, daß man alleine in ihr eine Fete hätte feiern können. Das Badezimmer oben war auch riesig. Wir bekamen eine Eckbadewanne, die 400 Liter Wasser fasste, man hätte darin zelten können. In alle Drempel oben baute Ulrich eine Tür ein, daß man den Raum dahinter nutzen konnte.

Das ganze Bad machte er allein, er flieste, kachelte, verfugte, baute ein setzte an, alles im Alleingang.

Ich hätte gerne geholfen, hab mich auch immer wieder angeboten. Aber Ulrich kam nicht damit zurecht, daß Oliver eben mit dabei war.

Der Kurze durfte ja nicht durch die Farbe oder den Kleister krabbeln.

Von meiner Freundin bekam ich einen ausgedienten Laufstall. Aber Ulrich bekam Wutanfälle, wenn der Kleine darin stand und aus Leibeskräften heulte. Außerdem traute er mir keine der anstehenden Arbeiten zu.

So musste ich zu Hause bleiben.

Im Februar des Folgejahres verkündete Ulrich, daß er das Haus bis Mitte Juni soweit fertig haben würde, daß wir einziehen konnten.

Ich schlug vor doch mit dem Umzug schon mal anzufangen. Ich könnte zum Beispiel alles, was wir bis zum Umzugstermin garantiert nicht brauchen würden, schon mal in Kartons zu verstauen.

„Ich will aber nicht zwischen Kartons wohnen!“ war sein einziger Kommentar dazu.

Der Stress, den ich mit Ulrich hatte, weil er immer im Haus arbeitete und mich dann anmaulte, obwohl er mir die Arbeiten sowieso nicht zutraute, geschweige denn, daß er mich das ausprobieren lassen würde, wurde immer belastender. Meine Nerven lagen blank und ich hatte keine Idee mehr, wie ich meine Neven beruhigen sollte.

Es blieben nur zwei Alternativen.

Alternative Nr. 1: Ich fange an zu saufen!

Alternative Nr. 2: Ich fange wieder an zu Rauchen!

Ich stand mit meinem kleinen Sohn, der inzwischen laufen konnte, draußen und überlegte. Dann sah ich mein Kind an und sagte zu ihm: „Weißt du was? Mama holt sich jetzt eine Schachtel Zigaretten!“

So würde ich zwar wieder zum Raucher, aber ich wäre bei Bewusstsein um mein Kind adäquat zu versorgen.

Ein paar Wochen konnte ich es verheimlichen, aber dann kam er doch dahinter. Er hatte sogar zuerst Verständnis, nahm mir aber die Zigaretten ab, kürzte mein Taschengeld und teilte mir die Kippen zu. Wenn ich eine haben wollte, musste ich fragen.

Drei Monate vor dem geplanten Umzug bekam ich dann Umzugskartons. Vier große und sechs kleine für die Bücher. Ich hatte inzwischen eine sehr ansehnliche Mangasammlung, für die alleine brauchte ich schon zwei kleine Kartons.

Ich hatte zu wenige Kartons um richtig einpacken zu können. Dann wollte Ulrich seine Sachen selbst verstauen, PC und alles was dazu gehörte, seine Bücher und die Musikanlage nebst zahlloser CD´s und MC´s, die Viedokassetten und DVD´s, das alles wollte er machen. Natürlich schaffte er das nicht, weil er im Haus so viel zu tun hatte. Am Ende gab er mir die Schuld, weil ich einfach alles hatte stehen lassen.

Außerdem beschwerte er sich jeden Tag, daß er da drüben alles alleine machen musste.

„Ich kann dir doch helfen?“ bot ich mich abermals an.

„Dann schreit Oliver wieder rum!“ motzte er ebenfalls abermals.

Nach einiger Zeit waren die Kartons voll, aber ich noch lange nicht fertig mit dem Verpacken der Dinge, die mit umziehen sollten.

Ich bekam noch mal ein paar Kartons – die kosten schließlich Geld – und ich bekam auch Kartons von Carmen, die durch ihre Arbeit bei Photo Dose leicht an stabile Verpackungsmaterialien kam.

Aber es reichte noch immer nicht.

Als dann der Tag des Umzugs da war, hatte ich nicht alles geschafft.

Allerdings war die Küche klar.

Ich hatte mich durchgesetzt, jedes Mal wenn ich zum Haus rüber fuhr, nahm ich Töpfe, Pfannen, Geschirr, Besteck und alles, was ich in den Kofferraum von Yogi bekam mit und räumte es in der neuen inzwischen fertigen Küche gleich ein. Ebenso verfuhr ich mit der Speisekammer.

Zwei Arbeitskollegen von Ulrich und ein Freund kamen um beim Umzug zu helfen. Meine Freundin Carmen kam auch, wir sollten zusammen auf den Kleinen aufpassen. Wir blieben im Haus um zu helfen, wann immer Ulrich mit dem LKW, den wir gemietet hatten, käme um abzuladen.

Am Ende des Tages bekam ich wieder Schelte. Angeblich hatte Ulrich gesagt, daß wir wieder nach Kirberg kommen sollten um weiter mit einzupacken.

Allerdings hatte Ulrich unmissverständlich gesagt, daß Carmen und ich mit dem Kurzen im Haus bleiben sollten, da würde Oliver nicht zwischen den Füßen herumlaufen. Ulrich warf mir vor, ich hätte ihn mit dem Umzug im Stich gelassen.

Aber trotz allem, wir schafften den Umzug an einem Tag und wir sollten von nun an im Haus leben.

Ich fühlte mich schon in der ersten Nach heimisch im Haus.

Allerdings hatte ich das deutliche Gefühl, daß ich nicht lange in dem Haus wohnen würde. Daß WIR in dem Haus nicht lange wohnen würden. Ich hatte Angst, daß wir es verlieren würden, auf welchem Weg auch immer.

Ich beschloss mich von diesem Gefühl nicht beeinflussen zu lassen.
 

Das Haus war also bewohnbar, wir waren eingezogen und es wurde ein ganz wenig entspannter. Natürlich hatte ich weiterhin den Stress mit seiner Laune. Er warf mir vor, daß ich kein Wertgefühl hätte, daß alles verkommt, weil ich den Haushalt nicht nach seinen Vorstellungen machte. Nichts war ihm Recht. Gar nichts.

Sogar beim Frühstückmachen musste ich Regeln beachten. Ulrich mag seine Eier nicht „kalt“. Also durfte ich seine Eier nur ganz kurz unter den Wasserhahn halten. Schon beim Kochen musste ich aufpassen, daß seine Eier direkt über der Heizspirale standen, da er sie nicht so weich mochte wie ich. Auch beim Decken des Frühstückstisches, bei ihm war es wichtig, daß der Eierbecher UNTER dem Brett stand, wenn er sich hinsetzte, nicht darüber oder sogar auf dem Brett.

Wenn wir fertig waren wurde sofort ab- und aufgeräumt, die Küche musste gefegt und am liebsten auch gleich gewischt werden, die Küche sofort in einen Zustand versetzt werden, der keinen Zweifel daran aufkommen ließ, daß hier garantiert niemand wohnte.

Er hatte auch in jedem, ich meine, in JEDEM Raum des Hauses, einschließlich der drei Kellerräume, eine Wetterstation, die mit einem zentralen Gerät auf dem Flur verbunden waren. Diese Geräte konnten die Luftfeuchtigkeit und Raumtemperatur über 12 Stunden speichern und Ulrich kontrollierte auch täglich, ob gelüftet hatte. War die Luft zu feucht, hatte ich angeblich nicht gelüftet. Einmal hab ich an einem Nebeltag gelüftet, ich sollte mich ja täglich daran halten. Im Keller konnte ich dabei zusehen, wie der Nebel in die Räume fiel. Als Ulrich dann nachmittags nach Hause kam und die Station kontrollierte, hatte er prompt behauptet, ich hätte die Fenster nicht auf gehabt.

Ulrich verschwand indessen, wenn er zu Hause war, an seinem Rechner. Der stand jetzt bei ihm in seinem Schlafzimmer.

Wir hatten anfangs keinen Fernsehempfang, erst musste eine Schüssel organisiert werden.

Ich hatte in der Küche nur Radio.

In der Wohnung in Kirberg hatte ich einen Funklautsprecher, den ich mit dem Fernseher verbunden hatte. So konnte ich während ich die Küche aufräumte oder Essen machte, meine Serien und Filme hören.

Im Haus ging das noch nicht, wie gesagt: Kein Fernsehempfang.

Das Radio ging mir bald gehörig auf den Keks! Keine akustischen Pausen, ständig redete der Moderator, spielte ein Song oder liefen Werbung und Nachrichten.

Nach vier Wochen ohne Fernseher bekam ich einen kleinen MP3-Player. Ich ließ mir von meiner Freundin Carmen Hörbücher auf CD brennen, die ich dann am Rechner auf meinen Player lud. Das war zumindest etwas anderes als ständig Radio, Gelaber und die immer gleichen Songs.

Ich hätte auch gerne meine Musik-CDs gehört, aber die waren alle zum Mitsingen. Ich sang gerne, aber Ulrich mochte das nicht. Ich durfte gute Musik auch nicht laut machen, wenn er da war.

Dabei hätte das alleine schon geholfen, meine Aufgaben etwas leichter zu erledigen.

Ulrich musste sich erstmal im Internet, verschiedenen Zeitschriften und mit diversen Werbebroschüren erkundigen, bevor er eine Schlüssel mit Receiver kaufen wollte.

Acht Wochen dauerte es, bis er sich endlich entschlossen hatte.

Dann noch mal eine Woche, bevor er die Schüssel auf dem Dach befestigt hatte.

Endlich hatte ich wieder Fernsehen!

Endlich konnte ich wieder Charmed, Stargate und die Filme gucken, die mich interessierten.

Und ich konnte sie in der Küche hören, wenn ich dort beschäftigt war.
 

Inzwischen hatten wir August. Ich hab für mein Zimmer ein großes Doppelbett bekommen und einen Kleiderschrank. Beides aus dem Angebot für zusammen 400 Euro.

Ich war es zufrieden, mein Bett brauchte nicht teuer sein.

Wir beschlossen dann, daß es an der Zeit war, das zweite Kind anzusetzen.

Ich errechnete, wann mein Eisprung wäre und in den zwei Tagen vor und zwei Tagen nach dem errechneten Termin ließ ich ihn dann ein Mal am Tag ran.

Er ging weiter nach Chema F vor, stumpfes Vorspiel, in dem ich nicht mucken durfte, dann rüber und wenn er fertig war, verschwand er wieder. Ich musste ihn nicht küssen, er fasste meine Brüste nicht an und beschränkte sich auf das Notwendigste, sehr zu meiner Zufriedenheit. Ich wollte nicht mehr mit ihm zu tun haben, als unbedingt notwendig war um noch ein Kind zu bekommen.

Ich dachte dann immer an andere Dinge. Was ich aber strickt vermied war, daß ich mir vorstellte, es wäre Marco.

Erstens hätte ich mir dann die Erinnerungen, die so wunderbar voller Liebe und Vertrauen waren, vielleicht zerstört.

Ich wollte dabei lieber gar nichts fühlen, als daß ich meine Gefühle verwirrte.

Zweitens hätte ich dann vielleicht etwas erwidert, daß dem Alten nicht zustand.

Aber so manches Mal danach, wenn ich eine angemessene Zeit abgewartet hatte bevor ich mich wusch, wenn ich wieder in mein Bett ging, dann legte ich noch mal selbst Hand an und dachte dabei an Marco. Wie es war, wenn ich mit ihm zusammen war, was ich dabei gefühlt hatte, wie es sich mit ihm anfühlte.

Danach fühlte ich mich meistens leer, er war nicht da. Er konnte mich nicht in den Arm nehmen und ich konnte mich nicht bei ihm einkuscheln.
 

Aber das Leben geht halt weiter. Es wurde November, die Weihnachtszeit kam und das neue Jahr begann, ohne daß ich schwanger wurde.

Ich wollte den Januar aussetzen, ich brauchte eine Pause.

Eines Mittags aber, Ende Januar, als Oliver in der Mittagsstunde lag, kam er doch in mein Schlafzimmer.

Er fing an, wie damals, als Oliver gezeugt wurde. Und ich dachte, was ich damals dachte: Du musst ihn ranlassen, sonst wirft er dir wieder vor, daß du ihn nicht ranlässt.

Also hielt ich still und wartete, bis er fertig war.

Danach wusch ich mich und ging wieder ins Bett um an Marco zu denken.

Ich kam dieses Mal besser damit zurecht, als damals bei der Zeugung von Oliver.

Ich ließ einfach keine Gefühle mehr an mich ran.
 

Zwei Wochen später hatte ich deutliche Anzeichen für eine Schwangerschaft. Dieses Mal war ich ja vorbereitet. Ich hatte den Klostein im Mund, meine Brüste spannten und taten weh und ich hatte Gelüste und dann keinen Appetit mehr.

Ich machte nach der dritten Woche, als meine Blutung sich nicht mal angekündigt hatte, einen Test. Er war positiv.

Der Erste, der davon erfuhr war Uwe.

Dieses Mal wollte ich die Schwangerschaft genießen, ohne Rücksicht auf die Maulerei des Samenspenders.

Das war auch gut so, denn so leicht die Schwangerschaft mit Oliver war, so anstrengend war es mit dem zweiten Baby. Ich spürte jeden Wachstumsschub, währenddessen ich regelrecht zusammen brach. Als das Baby größer wurde, stemmte er sich mit seinem Kopf in mein Becken und versuchte mir mit den Füßen die Rippen zu brechen.

Meine Freundin Sabiene kam mit ihren inzwischen zwei Jungs. Wir saßen am Küchentisch und klönten etwas, bis ich dann sagte:

„Ich bin schwanger.“

„Ja, ich auch.“ Antwortete sie.

Ich dachte, sie wollte mich veräppeln, aber sie war tatsächlich schwanger und im gleichen Monat wie ich.

Das war wunderbar.

Wir telephonierten und trafen uns regelmäßig und tauschten die Beschwerden, die wir hatten, mit viel Humor aus.

Mein Baby sollte im Oktober kommen, errechneter Termin war der 19.10.06

Bei Biene waren es ein paar Tage weniger.

Oliver war inzwischen zwei Jahre alt.

In Hessen wurde dann die Regelung für das Mindestalter der Kindergartenkinder von drei Jahre auf zwei ein halb Jahre geändert. Oliver war schon angemeldet, als wir wussten, daß wir definitiv nach Heringen ziehen würden und es gab kein Problem ihn dann nach Ende der Sommerferien in den Kindergarten zu schicken. Auf diese Weise würde er dort hin gehen, lange bevor das Baby kommen würde und er hätte nicht das Gefühl, wir würden ihn als Störfaktor abschieben.

Er brauchte etwa zwei Wochen, bis er sich an den Kindergarten gewöhnt hatte, seine Mama sechs Wochen. Ich brachte ihn immer zu Fuß hin und holte ihn zu Fuß wieder ab. Der Weg war von der Luftlinie her nicht so weit, etwa 500 Meter. Unterwegs war aber ein steiler Berg, der ein Niveau von 10 Meter Höhenunterschied auf einer Länge von 20 Metern überwand. Hin mussten wir bergab, zurück bergauf.

Mit wachsendem Bauch wurde das immer anstrengender für mich, aber ich durfte das Auto nicht benutzen, daß wäre Gift für Yogi.

Also quälte ich mich weiter zu Fuß.

Als bei Biene und mir schon mehr als deutlich zu sehen war, daß wir ein Baby erwarteten, wurde es richtig lustig.

„Benutzt du eigentlich noch die hinteren Herdplatten?“ fragte sie mich.

„Klar, ich weiß zwar nicht immer, was darin ist, aber ich rühre gelegentlich mal um.“ Lachte ich zur Antwort. Beide kamen wir an unsere Füße nicht mehr ran und tauschten uns immer in den Erfahrungen aus, die wir machten, wenn wir unsere Socken anzogen, einen Teller aus dem Schrank über uns brauchten, eine Schüssel oder einen Topf aus den Schränken unter uns. Wie wir es schafften Auto zu fahren, obwohl wir die Bowlingkugel regelrecht unter das Steuer klemmen mussten.

Wir hatten viel Spaß.

Am 11 Oktober hatten Sabiene und ich uns für den Nachmittag verabredet, ich sollte zu Ihr kommen. Sie sagte mir am Telephon schon, daß sie das Gefühl hätte, es ginge bald los, aber so sicher konnte man sich ja nicht sein.

Als ich dann nachmittags bei ihr vor der Tür stand, war keiner mehr da.

„Mami, is Hummel?“ fragte Oliver mich, als wir zum dritten Mal erfolglos geklingelt hatten.

„Biene wird schon im Krankenhaus sein, sie bekommt heute ihr Baby.“ Erklärte ich meinem Sohn.

„Du aber nicht.“ Erklärte der Kurze dann mit ernster Miene.

„Ich noch nicht.“ Bestätigte ich.
 

Nur zwei Tage später, am 13. Oktober – passender Weise ein Freitag – stand ich morgens schon auf und hatte enorme Spannungen in meinem inzwischen gewaltigen Bauch.

Ich übte schon seit fast zwei Monaten mit den Senkwehen. Im 9. Monat hatte das Baby sich soweit ins Becken gesenkt, daß ich den Babybelt nicht mehr brauchte. Alle 10 Minuten wurde mein Bauch hart wie ein Stein und schnitt mir die Luft ab. Wenn ich mit Uwe telephonierte, dann bekam er das immer mit und meinte dann: „Mensch, du kannst wirklich die Uhr danach stellen.“

Er verfolgte meine Schwangerschaft sowieso mit Begeisterung. Das war wunderbar. Er war wirklich ein Vertrauter für mich.

An dem Freitag gingen mein Gatte und ich morgens noch einkaufen. Mein Bauch war nach wie vor ein Stein, seit ich aufgestanden war und entspannte sich auch nicht mehr. Das war wirklich sehr anstrengend. Ulrich wollte keine Rücksicht darauf nehmen, daß ich nicht schneller konnte. Aber davon ließ ich mich nicht mehr beeindrucken. Ich machte mein Ding, so wie es gut für mich war und was der Alte davon meinte, war mir schlichtweg scheißegal!

„Ich glaube, es ist soweit.“ Sagte ich dann.

„Kann nicht mehr lange dauern.“

Zu Hause machte ich dem Kurzen ein Brot und wir gingen in die Mittagsstunde.

Ulrich hatte Spätschicht und fuhr um 13 Uhr los zur Arbeit.

Nach der Mittagsstunde gegen 15 Uhr, ich hatte tatsächlich geschlafen, war mein Bauch noch immer hart und ich hatte leichte Wehen. Ich hatte keine Schmerzen dabei, aber es haute mich schlichtweg jedes Mal vom Hocker. Meine ganze Kraft konzentrierte sich auf meinen Bauch und ich hatte Mühe, mich um Oliver zu kümmern und das Essen zu machen. Als dieser Zustand alle fünf Minuten kamen, rief ich Carmen an. Sie war schon lange darauf eingestellt, als Babysitter bei Oliver zu bleiben, wenn ich mit dem Baby in die Klinik musste. Sie kam so schnell sie konnte.

Zuerst setzten wir uns ins Wohnzimmer und spielten mit Oliver Memory. Der kleine war wirklich gut darin.

Als Carmen eine Karte mit einem Segelboot umdrehte, überlegte sie laut, wo denn die andere Karte sein konnte.

„Ich weiß!“ schrie Oliver, sprang auf und rannte die Treppe hoch.

„Ich weiß. Ich weiß!“ hörte man ihn die ganze Zeit.

Carmen und ich sahen uns perplex an.

Dann kam er wieder runter, jubelnd mit einer Memorykarte in der Hand.

„Hier! Hier ist das Schiff!“ jubelte er und tatsächlich, daß war die richtige Karte zu dem Segelboot, daß Carmen umgedreht hatte.

Memory à la Oliver.

Es war ein warmer Oktobertag, ein Spätsommertag. Also beschlossen wir ein bisschen auf den nahe gelegenen Spielplatz zu gehen. Ich musste immer wieder stehen bleiben und mich an Carmen abstützen, weil wieder so eine Wehe kam. Ich hatte immer noch keine Schmerzen, aber es schaffte mich ehrlich.

„Ich will ja nicht viel sagen, aber wir sind inzwischen bei drei Minuten angekommen.“ Sagte Carmen dann sehr skeptisch.

„Dann sollte ich wohl mal ein „Taxi“ rufen.“ Bestätigte ich ihre Vermutung.

Das Taxie bestand in diesem Fall aus einem Krankenwagen. Das war in jedem Fall sicherer und wurde von der Krankenkasse übernommen.

Ich rief dann beim Notdienst an und schilderte meine Situation. Danach rief ich bei Ulrich auf Arbeit an und gab seinem Vorarbeiter Bescheid.

Meine Tasche war längst gepackt und ich war Abfahrtbereit.

Wie gesagt, es war ein warmer Spätsommertag. Und an so einem Tag sind alle draußen. Die Leute die uns gegenüber wohnten zum Beispiel. Er war draußen und wusch das Auto. Seine Frau stand draußen und klönte mit ihrer Nachbarin. Deren Mann war dabei das Carport aufzubauen. Unser Nachbar unterhalb war draußen und baute die Treppe vor der Eingangstür. Unsere Nachbarin oberhalb war dabei ihre Blumen und den Bambus zu wässern, die sie vor einigen Tagen eingesetzt hatte. Kurz gesagt, fast alle waren vor den Häusern. Und alle, die draußen waren, bekamen mit das bei den Hansens der Krankenwagen vor fuhr.

„In welchen Abständen kommen die Wehen?“ erkundigte sich der Arzt nach einem kurzen Gruß.

„Vorhin etwa alle fünf Minuten und jetzt schon nach drei, aber es sind keine Geburtswehen, ich habe keine Schmerzen, es können also…“

„UND DANN RUFEN SIE UNS ERST JETZT???“ schrie der Notarzt beinahe, ohne mich ausreden zu lassen.

Ich wurde sofort in den Krankenwagen gezerrt und in eine liegende Position gebracht.

„Aber es ist doch noch nicht so weit, ich fange doch erst an?“ jammerte ich fast.

Aber, Widerstand war zwecklos. Ich durfte mich noch nicht mal richtig von meinem Jungen verabschieden, der jetzt natürlich einigermaßen erschrocken war. Carmen schaffte es noch meine Tasche für die Klinik in den Wagen zu werfen, bevor die Tür zu ging und ich mit Blaulicht aus dem Ort gefahren wurde.

Und wie gesagt: Alle waren draußen und alle bekamen mit, daß Frau Hansen am Freitag den 13. Oktober gegen 18 Uhr mit Blaulicht aus dem Ort gefahren wurde.

Ich fühlte mich ehrlich overdressed, als ich allen Ernstes mit beiden Martinshörnern, dem für in der Stadt und den für auf dem Land, Blaulicht und Lichthupe durch Limburg zur Klinik hochgefahren wurde.

Dort angekommen wurde ich sofort von den Schwestern in Empfang genommen, die mich in einem Rollstuhl in die Geburtsstation brachten. Dann wurde ich erstmal wieder angeschlossen: Blutdruck, Herztöne des Kindes, Wehenschreiber und, und, und.

Ich wurde abgetastet, innen und außen.

Der Muttermund war gerade mal einen Zentimeter geöffnet und die Hebamme bestätigte mir, daß ich zwar in der Vorbereitung war, es aber wirklich noch nicht dramatisch wurde.

Ich war soweit entspannt.

Ich freute mich darauf, dieses Mal mein Baby selbst zur Welt zu bringen.

Ich wurde von den Geräten wieder abgemacht und durfte aufstehen. Ich wollte laufen. Ich wusste, daß ich die Geburt damit antreiben konnte. Natürlich legte ich keine Bestzeit im 100m-Lauf hin, aber ich wollte mich bewegen.

Die Wehen kamen dann auch bald öfter und wurden langsam stärker. Ulrich kam am späten Abend von der Arbeit ins Krankenhaus. Er teilte mir mit, daß mit Oliver und Carmen alles Ok sei und die zwei bestens zu recht kamen. Ich hatte auch gar nichts anderes erwartet.

Geduldig ging er mit mir durch das Krankenhaus, auch an die frische Luft, machte Pausen, wenn ich wieder eine Wehe bekam und taperte weiter mit mir herum. Er redete nicht, was mir aber ehrlich gesagt nur recht war.

Als langsam die Schmerzen einsetzten ging ich wieder zurück in die Geburtsstation. Ich sollte mich dann untenrum frei Machen und bekam eines der hübschen Netzhöschen an in die man eine Binde einlegen konnte. Nur für den Fall, daß die Fruchtblase irgendwann auf die Idee käme, zu platzen.

Die Lage des Kindes war gut, aber ich hatte schon sehr wenig Fruchtwasser. Die Wehen wurden Stärker und ich begann sie abzuatmen. Ich hatte eine ganz genaue Vorstellung, wie ich damit umgehen würde und bis jetzt klappte das sehr gut. Immer wieder bekam ich Lob von den Schwestern und Hebammen. Ich machte das mit dem Atmen richtig, bewegte mich während der Wehen richtig und lag nicht jammernd wie die meisten werdenden Mütter auf der Liege und schrie nach Schmerzmitteln.

„Wenn Sie ein Mittel gegen die Schmerzen möchten, dann sagen Sie bescheid.“ Erklärte mir die Schwester immer wieder. Und immer wieder antwortete ich:

„Ich will kein Schmerzmittel, ich will die Schmerzen spüren. Ich bekomme dieses Baby für den ersten mit.“

„Was ist es denn, Junge oder Mädchen?“ fragte die Schwester mich dann.

„Keine Ahnung, es hat sich nicht zwischen die Beine gucken lassen.“ Antwortete ich.

Das war tatsächlich so. Bis zum Schluss hat das Baby für sich behalten, was es werden wollte.

Allerdings hatte ich schon seit einigen Wochen die Überzeugung, daß es ein Junge sein würde.

„Wie soll das Kind denn heißen?“ fragte sie weiter.

„Wenn es ein Mädchen wird, dann soll sie Sabrina Yasmin heißen, bei einem Jungen bin ich noch nicht so sicher. Entweder Jan Michael oder Tim Daniel.“ Erwiderte ich.

Ulrich saß auf dem Stuhl, der im Geburtsraum stand und konnte nichts weiter tun, als zu zusehen. Das zermürbte ihn, aber ich versuchte ihn zu beruhigen, daß schon alles in Ordnung wäre so.

Die Wehen wurden stärker und die Schmerzen auch. Aber immer noch war ich überzeugt, daß es durchaus aushaltbar war. Ich guckte auf die Uhr, es war schon 23 Uhr, ich war also inzwischen seit mind. Vier Stunden dabei. Aber ich dachte nicht darüber nach, wie lange es denn noch dauern würde, daß hätte mich nur unter Druck gesetzt. Vielmehr guckte ich, wie lange ich schon hinter mir hatte. Vier Stunden, dann schaffe ich es auch weiter hin.

Gegen zwei Uhr morgens allerdings hatte ich immer noch keine Presswehen und der Muttermund wollte sich nicht öffnen. Außerdem zeigte das CTG an, daß das Baby sich offensichtlich schlafen gelegt hätte. Damit wurden auch die Wehen etwas weniger.

„Versuchen Sie ein bisschen zu schlafen.“ Sagte mir die Schwester dann. „Wir schauen dann später, wie wir weiter machen. Soll ich Sie in ein Zimmer verlegen lassen, das etwas ruhiger ist?“

„In wie fern ruhiger?“ erkundigte ich mich.

„Naja, hier ist die Klimaanlage so laut.“ Sagte die Schwester.

„Nein, gerade das ist ein Geräusch, daß mich eher beruhigt. Das erinnert mich an die Klimaanlage auf den Schiffen.“ Erklärte ich ihr dann matt lächelnd.

„Na dann ist ja gut.“ Lächelte die Schwester, gab mir noch eine Decke und dann schickte sie Ulrich nach Hause.

Ich war ehrlich gesagt froh, daß ich den alten Griesgram los wurde. Er gab mir die ganze Zeit das Gefühl, ich wäre Schuld daran, daß er sich so nutzlos fühlte.

Ich entspannte mich und versuchte eine Art Halbschlaf zustande zu bringen, immer noch geplagt von Wehen, die allerdings nicht mehr so ganz schlimm waren.

Gegen sieben Uhr in der Frühe beschlossen die Schwestern dann mit mir und dem Arzt zusammen den Wehentropf einzusetzen. Ich bekam wieder einen Butterfly in den Handrücken, dieses Mal hatte er nur drei Anschlüsse, und wurde an den Tropf gehängt.

Sofort setzten die Wehen wieder stärker ein. Sie kamen regelmäßig und waren stark genug, um die Geburt einleiten zu können, mein Muttermund ging aber ums Verrecken nicht auf. Nachdem beinahe vier weitere Stunden vergangen war, ohne bemerkenswerten Erfolg, wurde ich von drei Hebammen und noch mal von dem Arzt abgetastet – was gelinde gesagt genauso schlimm war wie die Wehe an sich – und der Arzt beschloss dann:

„Also gut, so lange Mutter und Kind noch wohl auf sind, leiten wir jetzt einen Kaiserschnitt ein.“

Ich war fertig und brach in Tränen aus. Der Muttermund hatte sich nicht um einen Millimeter weiter geöffnet und die Wehen dauerten schon zu lange. Noch war es möglich das Kind auf die Welt zu holen, ohne daß ich oder das Baby einen bleibenden Schaden davon behalten würden.

Also fügte ich mich in mein Schicksal und heulte hemmungslos.

Als ich auf die Liege gehoben wurde, mit der ich in den OP gefahren werden sollte, wurde es warm zwischen meinen Beinen.

„Was war das denn jetzt?“ fragte ich verwundert unter Tränen. Ich hatte schon eine Vermutung und der Arzt bestätigte diese: „Ihre Fruchtblase ist gerade geplatzt.“

Ulrich kam gerade noch um zu entscheiden, daß er nicht dabei sein wollte. Auch das war mir recht. Ich war lieber alleine im OP und hatte im Herzen meinen Marco dabei. Er gab mir Mut und Kraft, wie schon beim letzten Mal, obwohl er in Wirklichkeit nicht mal ahnte, was mit mir geschah.

Im OP sollte ich mich dann hinsetzen und einen krummen Rücken machen. Ich bekam eine Spinalanästhesie. Das war eine Betäubungsspritze die neben das Rückenmark gesetzt wurde und den ganzen Unterleib betäubte. Anders als bei der Peridualanästhesie würde die Nadel aber nicht an der Stelle verbleiben. Dennoch hatte ich Angst.

„Jetzt machen Sie doch mal einen krummen Rücken.“ Schimpfte der Arzt, der die Spritze setzen sollte.

„Wie soll ich das den machen?“ pflaumte ich zurück. „Zufällig habe ich das Baby noch im Bauch! Versuchen Sie doch mal sich darüber zu biegen und einen krummen Rücken zu machen!“

Der Arzt setzte die Spritze und traf – einen Nerv!

„AAAAHUUUUU!“ schrie ich.

„Nun halten Sie doch mal still!“ motzte der Arzt.

Ich keuchte nur.

Er setzte ein zweites Mal an und – traf ein zweites Mal daneben.

Es zog wie Strom durch meinen ganzen Körper und ich wäre beinahe zusammengeklappt. Die Tatsache, daß mein Baby noch immer in meinem Bauch war, hinderte mich daran zu klappen.

„Lassen Sie mich das mal machen.“ Hörte ich dann den Chefarzt ärgerlich sagen. Er nahm seinem Kollegen die Spritze ab und setzte sie dann dahin, wo sie hingehörte. Es tat nicht ganz so schlimm weh und ich spürte beinahe sofort wie meine Beine warm wurden.

Dann wurde ich hingelegt, mit den Beinen auf das Gestell geschnallt, rasiert, desinfiziert und ein Tuch wurde vor mir gespannt.

Ich hatte Angst. Die Tatsache, daß ich dieses Mal wenigstens dabei war, tröstete mich aber.

„So, wir machen jetzt den ersten Schnitt.“ Hörte ich den Arzt sagen.

„Jetzt durchtrenne ich die Muskelschicht… Die Gebährmutter… Da ist es. So, das kann jetzt etwas ruckeln und sich seltsam anfühlen, wir müssen das Baby etwas drehen… So… Schwester, können Sie mal halten? Genau. Ja, jetzt hab ich es.“

Es fühlte sich an, als würden meine Eingeweide herumgerührt und dann herausgeholt, aber es tat absolut nicht weh.

„Da ist es.“ Sagte der Arzt.

„Ist es gesund? Ist alles dran?“ fragte ich außer Atem.

Dann hörte ich ein Gurgeln, ein Keuchen, ein Pöbeln und endlich ein missbilligendes Jammern, das bald in einen zornigen Schrei überging.

„Er hatte die Nabelschnur drei Mal um den Hals gewickelt. Bei der Geburt hätte er sich erwürgt.“ Erzählte mir die Schwester, die geholfen hatte, das Kind herauszudrehen.

„Außerdem hat er fast keine Käseschmiere mehr und das Fruchtwasser ist ganz grün.“ Berichtete sie weiter.

Das bedeutete, daß er schon in sein Fruchtwasser gekackt hatte. Die fehlende Käseschmiere deutete darauf hin, daß das Baby übertragen war, also weit nach seinem Termin gekommen wäre. Er war also schon früher fertig als wir berechnet hatten.

Moment, ER?

„Es ist ein Junge?“ fragte ich.

„Ja, ganz ohne Zweifel. Ein gesunder kleiner Junge.“ Freute sich die Schwester.

„Hier ist er, Ihr Sohn.“ Sagte dann die Hebamme und hielt mir das lila angelaufene, zerknüllte, zornig schreiende und stinkende Etwas direkt an die Nase.

Ich war schlicht entsetzt! Dieser Gestank! Unbeschreiblich!

Ich wollte gerade sagen: „Nehmt es weg und macht es erstmal sauber!“ als die Hebamme ihn schon wegnahm für die erste Untersuchung und sein erstes Bad.

Inzwischen war der Chefarzt dabei mich wieder zu zunähen.

Als er fast fertig war sagte er: „Wir hätten ja gleich mit sterilisieren können.“

„Ach!“ entrüstete ich mich. „Das hätten Sie eher sagen können. Mit dem zweiten wäre die Familienplanung nämlich abgeschlossen gewesen.“

Nun, dann halt nicht.

Als ich fertig zugenäht war bekam ich mein frisch gebadetes Baby in den Arm und sollte jetzt auf mein Zimmer gebracht werden.

Er war nicht mehr ganz so lila und roch sehr viel besser, als vorhin, wo die Hebamme mir das Bündel unter die Nase hielt. Dennoch brauchte ich sehr lange um diesen Gestank wieder los zu werden.

„Wie soll das Kind denn jetzt heißen?“ fragte mich die Schwester.

„Jan Michael, Michael soll der Rufname sein.“ Entschied ich dann.

Kapitel XXIX
 

Ulrich war noch auf dem Flur und wartete, bis ich aus dem OP kam. Er begrüßte mich und das Baby und erkundete sich, wie es gelaufen sei.

„Es ist alles gut verlaufen.“ Gab der Arzt die Antwort. „Mutter und Kind sind gesund und wohl auf.“

„Ich fahre dann nach Hause und komme nachher mit Oliver zurück.“ Sagte Ulrich und verschwand auch gleich.

Er wirkte, als hätte er schlechte Laune, aber so wirkte er ja immer.

Ich wurde auf mein Zimmer gebracht zusammen mit meinem Baby. Ich durfte ihn gleich behalten. Anders als bei Oliver lag ich nicht in einer Vollnarkose und hatte keine schwere Schwangerschaftsvergiftung die meinen Körper zerriss.

Die Betäubung ließ langsam nach. Ich war bis über die Rippen gefühllos gewesen, jetzt wurde alles warm und kribbelte. Das Kribbeln verwandelte sich bald in ein Gefühl, daß man haben musste, wenn man in einen gewaltigen Ameisenhaufen gefallen war. Meine Haut spannte, war heiß und juckte wie die Pest.

„Das ist eine Nebenwirkung der Spinalanästhesie.“ Erklärte mir die Hebamme lächelnd, als ich ihr sagte, daß ich nicht wüsste, wo ich zuerst kratzen sollte.

„Das gibt sich in einer Stunde wieder.“ Fügte sie noch hinzu.

„In bitte WANN? Das geht ja gar nicht!“ keuchte ich.

„Da müssen Sie aber jetzt durch.“ Die Schwester lachte.

Ich muffelte in meinen nicht vorhandenen Bart.

„Wann bekomme ich den Anschluss und den Katheder entfernt?“ erkundigte ich mich dann bei ihr.

„Sobald Sie auf die Toilette gehen. Den Butterfly kann ich Ihnen gleich raus machen, Sie müssen ja nicht mehr am Tropf hängen.“

Die Schwester verließ den Raum und ich hatte Zeit mich mit meinem Baby zu beschäftigen. Er war immer noch etwas dunkel um die Nase, aber die rosige Farbe war schon langsam zu erkennen. Auch war er nicht mehr so zerknüllt. Aber er war vollkommen Käseschmiere frei, die Fingernägel beeindruckend lang.

„Na, du? Michael? Warum hast du denn so lange gewartet mit deiner Geburt?“

Michael gähnte herzhaft. Dann wagte er mal ein halbes Auge.

„Bist ein Hübscher, genau wie dein Bruder.“

In dem Moment hörte ich ein Babyquaken, allerdings nicht von meinem.

„Hallo.“ Grüßte ich einfach mal in den Raum hinein.

„Hi.“ Bekam ich eine Antwort.

„Hast du dein Baby gerade bekommen?“ fragte die fremde Stimme.

„Ja, vor einer halben Stunde.“ Bestätigte ich.

„Junge oder Mädchen?“ erkundigte sich die andere Mutter.

„Junge, und du?“ gab ich die Frage zurück.

„Auch ein Junge. Er heißt Marvin-Marcelle, Ich heiße Martina. Und du?“

„Er heißt Michael, Jan Michael und ich heiße Carmen.“ Antwortete ich.

Ich versuchte mich so weit zu drehen, daß ich die andere Mutter sehen konnte, aber die Betäubung war noch nicht ganz weg, ich hatte noch keine Gewalt über meinen Körper. Es war beinahe panikauslösend. Ich konnte meine Füße fühlen, aber sie nicht bewegen. Ich entschied die Versuche sein zu lassen und abzuwarten, bis alles wieder funktionierte.

Die Schwester kam zurück und machte sich gleich daran, mir den Butterfly zu entfernen.

„Darf ich ihn schon anlegen, ich meine, wegen der Betäubung?“ fragte ich.

„Das geht schon in Ordnung. Kein Problem. Legen Sie ihn ruhig an.“ Sie lächelte und klebte ein Pflaster über den Einstich vom Butterfly, einen Fremdkörper war ich damit los.

„Wann darf ich versuchen aufzustehen?“ fragte ich weiter.

„Sie sollten erstmal abwarten, bis Sie ihre Beine wieder richtig bewegen können.“ Die Schwester verschwand wieder.

„Hattest du eine Peridualanästhesie?“ erkundigte sich Martina.

„Nein, Spinal. War ein Kaiserschnitt.“ Klärte ich sie auf.

„Oh, das tut mir leid.“ Entschuldigte sie sich.

„Ist schon Ok. Ich war dieses Mal ja dabei. Bei meinem ersten Sohn war ich in Vollnarkose, das war viel schlimmer.“ Erklärte ich Martina.

„Ich lag acht Stunden in den Wehen, bevor Marvin-Marcelle endlich kam.“ Erzählte sie jetzt.

„Ich hab ungefähr 16 Stunden Wehen gehabt und der Muttermund ging nicht auf.“ Erzählte ich meinerseits.

„16 Stunden?“ keuchte Martina. „Das hätte ich nie ausgehalten. Hast du wenigstens Schmerzmittel bekommen?“

„Nein, ich wollte keine.“ Erwiderte ich.

„Echt? Ich konnte die Schmerzen nicht ertragen. Ich hab mir was geben lassen.“ Gab sie jetzt zu.

„Ich hatte schon beim ersten Mal keine richtige Geburt, den hier wollte ich für seinen Bruder mit bekommen. Wir haben es versucht. War aber ganz gut, daß er dann per Kaiserschnitt geholt wurde.“ Erzählte ich.

„Warum?“

„Er hatte die Nabelschnur drei Mal um den Hals gewickelt. Auf natürlichem Wege hätte er sich erhängt.“ Klärte ich sie auf.

„Au weia, da kann man dann wirklich froh sein, daß es noch gut ausgegangen ist.“ Bestätigte Martina.

Während der Unterhaltung versuchte ich den kleinen anzulegen. Es klappte auf Anhieb und Michael lutschte sich so richtig fest.

Sofort hatte ich wieder die heißen Drähte in meiner Brust bis unter die Arme und über die Schultern ins Schulterblatt, wie schon damals bei Oliver. Natürlich in beiden Brüsten. Links war Michael selig am trinken und rechts lief die Milch von alleine.

„Klappt es bei dir?“ fragte Martina.

„Bis jetzt ja.“ Antwortete ich. Es war ganz ohne Zweifel, daß sie sich danach erkundigte, ob der Kleine die Brust annimmt.

„Bei mir kommt die Milch nicht richtig, aber die Hebamme hat mir geraten ihn so oft es geht anzulegen. Auch wenn er jammert, daß da nicht so richtig was bei rauskommt.“ Gestand Martina.

„Ist es dein erstes Kind?“ erkundigte ich mich.

„Ja. Die ganze Schwangerschaft war schon schwierig.“ Sagte sie.

„Wann wurde er denn geboren?“ fragte ich weiter.

„Vor vier Tagen, morgen darf ich nach Hause.“ Sagte sie.

„Gib nicht auf, das kommt sicher noch. Und vor allem: Lass dich nicht stressen. Das hat mir das Stillen bei meinem Ersten versaut.“

Versonnen sah ich meinem Baby beim trinken zu. Er hatte seine kleine Hand auf meine Brust gelegt und „pfötelte“ wie ein Katzenbaby bei seiner Mutter. Man nennt das bei Tieren auch den Milchtritt, wie das beim Menschen heißt, keine Ahnung.

Seine Hand war so warm und winzig, nur die langen Fingernägel kratzten etwas auf meiner Haut.

Dennoch verliebte ich mich gerade so richtig herzlich in mein Baby, wie es da an meiner Brust lag und mit offensichtlichem Erfolg nuckelte. Ich konnte richtig fühlen, wie die Milch aus meiner Brust herauskam.

Man, fühlte sich das gut an.

Ich war ehrlich traurig, als er aufhörte.

Ich drehte ihn um und legte ihn jetzt auch rechts an. Erst war er nicht so ganz schlüssig, ob er weitermachen wollte, dann hatte er aber doch meine halbe Brust im Mund und saugte wieder zufrieden.

Ich hatte ein Hochgefühl, rosa Geigen hingen über meinem Bett, weiße Tauben schnäbelten liebevoll und es schneite Kirschblütenblätter, so verliebt war ich.

Als die Schwester reinkam um zu sehen, wie es mir und meinem Baby inzwischen ging, erkannte sie sofort, daß ich total zugedröhnt war.

„Es klappt mit dem Stillen?“ stellte sie mehr fest, als daß sie fragte. Und sie lächelte versonnen.

„Hmmhmmm.“ Machte ich nur bekifft.

„Ja ja, das sind die Hormone.“ Sagte die Schwester und freute sich für mich, das Baby und meine offensichtliche Verliebtheit.

Es war so wundervoll. Als würde ich von innen heraus leuchten.

Und wieder war ich ehrlich traurig, als der kleine abermals aufhörte zu trinken. Aber ich hatte eine gehörige Portion Hormone gebildet und schwebte in rosaroten Wattewolken im siebten Himmel.

Michale war inzwischen eingeschlafen. Ein Rest Milch, den er wohl beim Einschlafen nicht mehr geschluckt hatte, lief aus seinem Mundwinkel.

„Na, du bist aber ein schlampiger Esser.“ Lächelte ich Babyselig und wischte ihm den kleinen weißen Milchtropfen aus dem Mundwinkel.

Er schlief und sah so zufrieden aus. Und er fühlte sich so gut an, in seinem Strampler, sein Kopf mit dem zarten Babyflaum, die winzigen Finger, die immer noch auf meiner Brust lagen. Er passte perfekt in meinen Arm, wie hineingegossen.

„Ich gehe mal nach unten gucken, was es in der Cefeteria gibt, ich habe Hunger auf etwas Süßes.“ Teilte Martina mir mit und schob das Babybett vor sich her raus auf den Flur.

Ich bekam sie gar nicht richtig mit, so versunken war ich in mein kleines Wunder.

Etwas später kam dann Ulrich mit Oliver rein. Oliver war froh, seine Mama gesund vor zu finden und wollte sich gleich auf mich stürzen.

„Vorsicht, Oliver, noch nicht so hektisch.“ Bremste ich seinen Begeisterungssturm.

„Guck mal, wer da ist. Das ist dein kleiner Bruder Michael.“

Oliver kam an mein Bett heran und beäugte das kleine schlafende etwas misstrauisch.

„Mein Bruder?“ fragte Oliver.

„Ja, und guck mal, er hat dir etwas mitgebracht.“

Ulrich und ich haben einige Wochen vor dem Geburtstermin ein kleines Spielzeugbobbycar mit einer kleinen Puppe darauf gekauft. Oliver sollte ja nicht denken, daß sein Bruder nur gekommen war, um ihm Mama und Papa streitig zu machen.

Der frisch gebackene große Bruder freute sich riesig und gab seinem kleinen Bruder ganz vorsichtig ein Küsschen auf die Nase.

„Wann kommst du wieder nach Hause?“ fragte Oliver.

„Bald, ein bisschen muss ich noch hier bleiben. Aber Papa ist ja bei dir.“ Tröstete ich meinen großen.

Ulrich stand die ganze Zeit etwas abseits im Zimmer und zog seine Fresse. Ich hatte das deutliche Gefühl, daß er sauer war, schlecht gelaunt, worüber auch immer. Aber ich war noch zu bekifft von dem nicht lange zurückliegenden Stillerfolg, daß ich das gut ignorieren konnte.

Nach einigen Minuten, in denen Ulrich geschwiegen und Oliver seinen Bruder begutachtet hatte, gingen Ulrich und Oliver dann wieder um nach Hause zu fahren.
 

Der kleine Michael lag längst in seinem Bettchen, das die Schwester mit in den Säuglingsraum genommen hatte. Er schlief selig wie ein kleiner Engel.

Ich hatte inzwischen ausprobiert, in wie weit meine Beine mir wieder gehorchten und beschlossen jetzt aufzustehen um zur Toilette zu gehen. Es war schon Nachmittag, der Kaiserschnitt lag etwa fünf Stunden zurück. Also hatte ich mir eine Schwester kommen lassen, die mir auch den Katheter entfernte und drehte mich mühsam aus dem Bett. Es war anstrengend und auch schmerzhaft, aber es ging sehr viel besser als damals, wo ich mit Oliver in der Klinik lag. Und damals lagen 36 Stunden zwischen der OP und dem ersten Versuch zur Toilette zu gehen.

Jetzt stand ich auf meinen Füßen und stützte mich an der Schwester ab. Es war noch wackelig, aber es ging ganz gut. Ich brauchte dieses Mal nur eine Schwester.

Ich war zufrieden mit mir.

Noch zufriedener war ich dann, als die Schwester hereinkam um mir das Abendbrot zu bringen und ich ihr verkünden konnte, daß ich inzwischen alleine aufgestanden und zur Toilette gegangen war.

„Das ist ja phantastisch.“ Lobte die Schwester mich.
 

Am nächsten Tag kam Ulrich um die Mittagszeit mit Oliver zu mir. Michael lag in seinem kleinen Bettchen und schlief während ich inzwischen am Tisch saß und gerade nachschaute, was ich unter all den Deckeln zu essen bekommen hatte.

Oliver stürmte gleich zu mir und freute sich, daß ich wieder gesund wäre. Ich erklärte ihm, daß ich noch nicht ganz gesund sei aber mir große Mühe gab ganz schnell gesund zu werden. Dann teilten wir uns mein Mittagessen.

Ulrich stand in dessen wieder wortlos in der Gegend herum und zog seine Fresse, noch heftiger als den Tag zuvor.

Ich fragte ihn, was los wäre.

Er platzte geradezu als er sich darüber beschwerte, daß er nicht wüsste, was er mit Oliver anfangen sollte. Er jammert dauernd, will nicht essen, will nicht nach draußen gehen, heult ständig nach Mama und das auch in der Nacht. Ulrich hätte überhaupt keine Ruhe. Und das Windeln wechseln ist auch eklig. Dann hatte Oliver wohl in der Küche auf den Boden gekotzt, als er Fleischsalat auf seinem Brötchen gegessen hatte. Dann lässt Oliver ihn nicht in Ruhe, ständig will er spielen oder Fernsehen gucken oder Bobbibicar fahren.

Er beschwerte sich allerdings nicht so, daß man ihn milde lächelnd bemitleiden mochte. Nein. Er kotzte es mir geradezu auf mein Mittagessen! Er gab wohl wieder mal mir die Schuld daran, daß er mit seinem zweijährigen Sohn überfordert war.

Das machte mich zwar betroffen, aber es verärgerte mich auch.

Schließlich hab ich von Freitagabend bis Samstagmittag in den Wehen gelegen, dann doch einen Kaiserschnitt, wenn auch mit Spinal und nicht mit Vollnarkose, jetzt die frische OP-Wunde, die immer noch schmerzte. Und dieser Ignorant beschwert sich, daß er sich mit seinem Sohn beschäftigen muss. Ich hatte gehofft, ihm würde mal auffallen, was ich den ganzen Tag um die Ohren habe, aber nein, er macht mir Vorwürfe, weil ich nicht gefälligst gleich nach Hause komme!

Am Montag hatte ich dann das gleiche Theater, nur noch ein bisschen ausgeprägter!

Ich sprach am Abend mit meinem Arzt und fragte, ob ich am folgenden Tag nach Hause gehen könne, mein Gatte sei mit seinem Erstgeborenen überfordert.

„Eigentlich müsste ich Sie noch ein paar Tage hier behalten, Sie müssten dann eine Erklärung unterschreiben, daß Sie auf eigenes Risiko nach Hause fahren.“ Erklärte er dann.

„Dann geben Sie mir diese Erklärung.“ Sagte ich bestimmt.

Am nächsten Morgen erzählte ich der Schwester, daß ich bereits Stuhlgang hatte. Es währe zwar noch etwas schmerzhaft, aber es ginge ganz gut. Natürlich stimmte das nicht. Aber die Schwester konnte das ja schlecht nachprüfen. Ich bekam dann meine Papiere nebst der Erklärung, die ich unterschreiben musste. Dann rief ich Ulrich an er solle Kleidung und die Babyschale mitbringen, ich könne jetzt nach Hause.

Auf der Fahrt nach Hause sang Oliver seinem kleinen Bruder ein Lied über den Herbst vor, das er im Kindergarten gelernt hatte.

Als wir zu Haue ankamen war Ulrichs erste Frage, ob ich kochen könne.
 

Von Anfang an kümmerte ich mich wieder um alles allein. Oliver musste in den Kindergarten, Michael musste versorgt werden, Essen machen, Aufräumen, Wäsche abnehmen und zusammen legen, einfach alles, was ich vorher auch machte. Ulrich hatte ab Geburtstermin zwei Wochen Urlaub. Diese nutzte er sehr ausgiebig an seinem Rechner. Er war inzwischen ein echter Experte auf dem Gebiet.

Wenn Oliver morgens aufstand und Frühstück bekam, schlief Michael meistens noch. Ich brachte den Großen dann in den Kindergarten, natürlich zu Fuß, das Auto musste geschont werden.

War Michael morgens mit wach musste ich ihn stillen, während Oliver alleine in der Küche saß und frühstückte.

War Michael fertig packte ich beide Kinder ein und wir gingen zusammen zum Kindergarten.

Michael brauchte nur zwei Wochen um sich an den Rhythmus seines großen Bruders anzupassen. Natürlich wurde er nachts wach und musste gewickelt und gestillt werden. Aber er wurde kaum richtig wach und schlief auch gleich wieder ein.

Und meistens schlief Michael morgens lange genug, daß ich wieder vom Kindergarten da war, wenn er wach wurde.

Es kam allerdings auch einmal vor, daß ich nach Hause kam und Michael schon draußen von Weitem schreien hören konnte.

Ulrich hatte Spätschicht, das bedeutete, daß er erst gegen 13 Uhr zur Arbeit fuhr.

Er wäre also da gewesen, um nach dem Kleinen zu sehen.

Als ich dann ins Haus kam sah ich, daß das Schlafzimmer von Ulrich auf war, die Rollläden waren hoch und er saß am Computer, während Michael im Zimmer oben aus Leibeskräften schrie.

„Warum guckst du nicht nach Michael?“ schimpfte ich vom Flur aus schon auf dem Weg nach oben.

„Ich hab ihn nicht gehört.“ Argumentierte Ulrich pampig und war mit dem Thema durch.

Michael war dunkelrot angelaufen und vom Schreien ganz verschwitzt. Er hatte also nicht gerade erst angefangen.
 

Dieses Mal hatte ich mir geschworen, mir das Stillen mit Michael nicht verderben zu lassen. Meine Milch floss gut und der Kleine wurde richtig satt. Ich genoss es in vollen Zügen und bekiffte mich regelrecht an meinem Baby. Ich war im Himmel, mit Oliver lief es auch ganz gut, er war nicht sichtlich eifersüchtig. Ich bezog ihn mit ein, wo ich konnte. Er war dabei, wenn sein kleiner Bruder gewickelt wurde und wenn der Kleine auf seiner Babydecke lag. Oliver reichte ihm dann immer Spielzeug, daß Michael natürlich nicht festhalten konnte. Auch steckte er seinem Bruder den nassgelutschten Finger in den Mund und freute sich, wenn sein kleiner Bruder daran nuckelte.

Meistens.

Denn Michael konnte beißen.

Ganz mit ohne Zähne!

Auch beim Stillen biss er mir ständig in die Brust.

„Aua! Wenn du ein Stück Fleisch haben willst, dann sag Bescheid. Im Kühlschrank ist bestimmt ein Stück Wurst, das ich entbehren kann.“ Schimpfte ich dann mein Baby schmunzelnd an.

Ich gewöhnte ihm dann den Schnuller an, offensichtlich hatte er ein ständiges Bedürfnis auf etwas herumzukauen. Damit er nicht mehr auf seiner Mami kauen musste, gab ich ihm eben einen Schnuller. Und es half.

Auch Strolch, mein Kater, war immer dabei, wenn ich Michael bei mir hatte. Oft lag links das Baby zum trinken an und rechts hielt ich die Katze im Arm. Einmal holte ich mir Michael mit in mein Bett zum Stillen. Strolch war so schnell im Bett und unter dem Baby, das Michael jetzt auf der Katze lag, wie auf dem Stillkissen und an meiner Brust trank.

Natürlich hatte ich auch keinen Stubenwagen für Michael. Allerdings hab ich das Problem, wenn Michael wach war und dabei sein wollte, ganz elegant gelöst. Er lag einfach in einem Wäschekorb. Manchmal sogar auf der frisch zusammen gelegten Wäsche, wenn ich mit ihm unten im Wohnzimmer war und die Wäsche machte.

Ich machte nur noch die Wäsche von mir und den Kindern. War was von dem Alten dabei, dann ließ ich es so wie es war und legte ihm die Sachen in sein Schlafzimmer aufs Bett. Ich machte ja eh alles falsch, da konnte er das dann gleich selber machen.

Auch wusch ich die Wäsche so, wie ich es für richtig hielt. Die Maschine wurde an die Zisterne angeschlossen, also kostete das Wasser eigentlich nichts, noch nicht einmal Abwassergebühr. Dennoch maulte er mich an, ich würde zu viel Strom und Waschpulver verbrauchen.

Ich hörte einfach weg. Ich machte meine Sachen und klammerte ihn inzwischen aus.

Ich kochte, worauf ich Lust hatte. Wenn er mit essen wollte gut, wenn nicht, sein Problem.

Wenn er nach Hause kam war seine erste Frage: „Warum hast du das Wasserbett nicht abgedeckt?“

Ich antwortete dann nur noch: „Um dich zu ärgern!“

Alles andere hatte eh keinen Sinn und strapazierte nur meine Nerven.

Was mich allerdings immer wieder ärgerte war die Tatsache, daß Ulrich nur noch an seinem Rechner saß. Gut, ich hatte meine Ruhe vor ihm. Aber er kümmerte sich auch nicht um seinen Sohn. Wenn Oliver kam, dann gab er ihm Papier, Tesafilm und eine Schere, damit war er dann durch.

Wenn ich die Kinder badete, musste ich das auch alleine machen. Da war keiner, der kam und den großen abtrocknete und anzog.

Nein, er saß an seinem Rechner.

Ich musste ihn dazu drängen, daß er wenigstens Oliver gute Nacht wünschte, den Michael hatte er gar nicht auf dem Zettel.

Dennoch kam ich ganz gut zurecht und das Stillen klappte wunderbar.

Leider bekam Michael, als er vier Monate alt war, eine mittelschwere Bronchitis. Es tat ihm sichtlich weh wenn er hustete, keuchte, versuchte zu schreien oder nur zu atmen. Er verweigerte die Brust, wollte auch nichts anderes trinken. Mit einer kleinen Plastikspritze ohne Kanüle musste ich ihm mehrmals am Tag einige Milliliter Wasser einflößen, damit er mir nicht austrocknet. Der Arzt sagte auch, mehr kann man nicht machen. Für Antibiotika war Michael zu winzig.

Ich bekam Milchstau und meine Brüste entzündeten sich.

Ich musste abstillen.

Ich war todtraurig.

Das war ein herber Verlust, aber immerhin konnte ich ihn vier Monate lang voll stillen.

Das war nicht gerade ein großer Trost, mehr so eine Tatsache, an der ich mich festhielt. Das Stillen seines Babys ist wirklich das größte, was man als Mutter erleben kann.
 

Nachdem der kleine dann seine Bronchitis überwunden hatte, klappte es dann auch mit der Flasche. Der Kleine gedieh prächtig.

Dennoch, sein Vater hatte scheinbar kein Interesse an ihm.

Ich hatte Michael ständig dabei, wenn er nicht gerade schlief. Auch beim Essen. So manches Mal hab ich den kleinen einfach seinem Vater in die Arme gedrückt, der hat sich dann ein paar Minuten gefügt, dann aber schnell doch noch etwas zu tun gehabt.

Gewickelt hat er nie. Naja, kann man nicht wirklich verdenken. Ich hatte auch so meine Probleme mit Fäkalien, hab ich noch, aber es gibt Techniken, wie man garantiert nichts riecht.

Allerdings hat er auch nicht gefüttert.

Einmal hatte ich einen Arzttermin am Nachmittag als der Alte zu Hause war. Ich bat ihn darum, die Kinder bei ihm zu lassen, dann könne ich beim Arzt schneller fertig sein.

Widerwillig stimmte er zu.

Als ich nur eine viertel Stunde beim Arzt im Wartezimmer gesessen hatte klingelte mein Handy. Es war mein Gatte. Im Hintergrund konnte ich Oliver maulen hören und Michael schreien.

„Wie lange brauchst du noch?“ maulte er ärgerlich am Telephon.

„Ich bin noch nicht dran, warum?“ gab ich zurück

„Michael schreit und ich weiß nicht, was ich machen soll.“ Pöbelte er entnervt.

„Vielleicht hat er Hunger?“ schlug ich vor. Ich konnte am Schreien hören, daß Michael hungrig war. Väter können das meistens nicht, ihnen fehlt schlicht das Muttergen.

„Ich weiß aber nicht wie man die Milch macht.“ Jammerte er ungehalten.

„Das steht doch genau auf der Packung?“ schlug ich vor. Wer lesen kann ist halt klar im Vorteil.

„Ich weiß aber nicht, wie DU die Milch machst.“ Motzte er weiter.

„So wie es auf der Packung steht!“ motzte ich zurück.

Es half nichts, ich musste meinen Termin verschieben und schnellstmöglich nach Hause zurück.

Ein anderes Mal, da war Michael inzwischen ein halbes Jahr alt und trotz der Unfähigkeit und des Desinteresses seines Erzeugers gesund und munter am Leben, bekam ich eine saftige Grippe mit allem drum und dran was dazu gehört.

Ich hatte Ulrich gebeten doch wenigstens bis zur Mittagsstunde auf die Kleinen zu achten. Er willigte ein, aber ich musste ständig ein Ohr nach unten haben, ob alles läuft. Nach nur zwei Stunden war Ulrich total entnervt, Oliver weinte und Michael versuchte seinen großen Bruder zu übertönen.

Dabei wollte Oliver nur, daß sein Vater vielleicht mit ihm spielt oder rausgeht. Als dieser immer nur sagte: „Gleich, ich muss noch etwas am Rechner fertig machen.“ Hat Oliver sich das Bobycar aus dem Keller geholt und rollte damit über den Flur und durch die Küche und das Wohnzimmer. Michael lag im Zimmer neben dem meinen in seinem Bett und spielte mit dem Mobile über sich, was dann aber irgendwann langweilig wurde. Ich riet Ulrich den kleinen doch mit runter zu nehmen und auf eine Decke zu legen. Oliver könnte dann mit dem Kleinen spielen und Ulrich müsste nur darauf achten, daß kein Unfug gemacht wird. Aber daß war ihm schon zu viel. Ich bekam keine Ruhe oder sogar Entspannung, weil ich die ganze Zeit dabei zuhören musste, daß der Alte überfordert war und die Jungs ihrerseits unterfordert. Also quälte ich mich mit Fieber, starken Schmerzen überall und allem, was eine richtige Grippe eben so im Gepäck hat hoch und kümmerte mich selbst. Spätestens da wurde mir bewusst, daß ich mit den Kindern alleine war. Ich DURFTE den „Vater“ nicht mitrechnen, damit wäre er überlastet gewesen.

Ulrich beschwerte sich dennoch immer öfter, daß er keine richtige Freizeit mehr hatte. Immer musste er den Haushalt machen. Das stimmte nicht, er war nur mit meiner Arbeit nicht zufrieden. Weil ich den Haushalt nicht machte, würden die Autos verkommen. Ich dachte mir, wenn er nicht so viel am Rechner sitzen würde, dann hätte er mehr Zeit für die Autos, sagte aber lieber nichts dazu.

Wir stritten oft.

Wir stritten schon immer oft, aber die Intensität nahm bedenklich zu.

Er titulierte mich mit so hübschen Kosenamen wie „Billige Schlampe“, „Widerliches Stück“, „Faule Sau“ und ähnlichem. Einmal stand er auf der Treppe, als er mich wieder verbal verletzte. Ich sagte nur, er solle nicht ständig von sich selbst auf mich schließen und dann – trat er mir in den Bauch!

„Gut nur, daß ich nicht schwanger bin!“ schrie ich ihn an.

Ich nahm meine Jungs und schloss mich mit ihnen in mein Zimmer ein. In zwei Stunden würde er auf Spätschicht fahren, bis dahin konnten wir das durchhalten.

Es kam immer öfter vor daß ich Selbstmord Gedanken hatte. Ich wusste aber um die Verantwortung, die ich meinen Kindern gegenüber hatte.

Wir stritten inzwischen regelmäßig alle 14 Tage. Er drohte dann zum Anwalt zu gehen und das Haus zu verkaufen.

Ich glaubte ihm schon lange nicht mehr. Es beeindruckte mich nicht im Mindesten.

Inzwischen beherrschte er sich mir gegenüber nicht mal mehr wenn Fremde in der Nähe waren. Nachbarn zum Beispiel. Ich wurde runtergeputzt und die armen Leute, die dabeistanden, wussten nicht wie sie mit der Lage umgehen sollten.

Ich entfernte mich immer mehr von ihm. Jeden Abend, wenn ich ins Bett ging freute ich mich:

Mein Bett!

Mein Zimmer!

Meine Ruhe!

Ich konnte träumen was ich wollte und im Schlaf reden was ich wollte.

Das war meine kleine Freiheit.

Materiell fehlte es mir oder den Kindern weiterhin an nichts. Ich hatte inzwischen sogar einen eigenen Rechner im Zimmer sogar mit Internet-Zugang. Während der Bauphase hatte Ulrich für jedes Zimmer, außer Küche und Bad, einen Internet-Zugang gelegt. Leider hatte er meinen Rechner mit seinem vernetzt so daß ich immer noch nicht frei schreiben konnte. Auf meinem Rechner war sogar ein Programm installiert, womit er jede noch so kleine Eingabe noch Wochenlang nachvollziehen konnte.

Ulrich hatte sogar ein Programm das sofort warnte, wenn ich meine Telephonnummer weitergeben wollte. Selbst, wenn ich es versuchte zu verschlüsseln.

Auch die Telephonanlage war mit seinem Rechner vernetzt und er konnte genau sehen wer wann wohin wie lange telephoniert hatte, ob eingehend oder ausgehend.
 

Im Sommer, als Michael sieben Monate alt war, wollte meine Mutter für eine Woche zu uns runter kommen. Sie bestand von Anfang an auf ein eigenes Quartier das sie sich selbst suchen wollte. Das hatte nichts damit zu tun, daß sie gewusst hätte, wie es bei uns aussah. Ich hielt sie da vollkommen raus, ich hätte eh nicht gewusst, was ich hätte sagen sollen.

Einmal hatte Ulrich es tatsächlich gebracht und hat bei meiner Mutter angerufen, um sich über mich zu beschweren. Darauf musste ich dann mit meiner Mutter telefonieren. Eine komplette Stunde lang musste ich mir ihre Predigt anhören, warum ich meinem Mann das Heim madig mache, daß ich mit der Geburt der Kinder keine Superleistung gebracht hätte, auf der ich mich jetzt hätte ausruhen können und ähnliches.

Ich lies sie reden.

Ich gab nur ab und an einen Laut, dem Weinen nahe, damit sie wusste, daß ich noch am Telefon war.

Sie hatte ja keine Ahnung, wie es wirklich bei uns aussah, wie es mir ging.

Aber mir fehlte die Kraft, es ihr zu erklären und mich zu rechtfertigen.

Ich tat einfach so, als währe ich einsichtig und gewillt, alles zu ändern, an meinen Fehlern zu arbeiten.
 

Meine Mum fand dann auch ein sehr günstiges Quartier in Bad Camberg.

Nur widerwillig sah Ulrich dem Urlaub mit meiner Mum entgegen. Er hatte sich dennoch für die Woche frei genommen.

Schon am ersten Tag, am Samstag, als meine Mum ankam, war es eher eine gespannte Atmosphäre. Meine Mama hatte natürlich Geschenke für die Jungs mitgebracht. Für Michael süße selbstgenähte Strampler und Babyspielzeug, für Oliver ein großes Feuerwehrauto daß sogar mit Wasser spritzen konnte.

Ulrich hatte am Vormittag mit Oliver einen kleinen Disput, der dreieinhalb Jährige wollte sein Zimmer nicht aufräumen. Ulrich hatte ihm dann „versprochen“, daß es keine Geschenke gäbe, wenn er nicht aufräumte.

Als meine Mum dann mit dem Geschenk kam und Oliver es freudig in Empfang genommen hatte, kam Ulrich gleich dazu und teilte seinem Sohn sehr freundlich mit, daß er das Geschenk jetzt nicht haben dürfe und nahm den Feuerwehrwagen weg.

Oliver stand da und wusste nicht, sollte er jetzt heulen oder nicht.

Meine Mum war schlichtweg entsetzt!

Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte, ich wollte keinen Streit mit Ulrich provozieren.

Meine Mum schluckte ihren Ärger runter. Immerhin durfte Oliver dann das kleine Auto, daß seine Oma ihm noch mitgebracht hatte, vorerst behalten.

Am nächsten Tag wollte sie dann zum Frühstück kommen, so gegen 10 Uhr.

Ausnahmsweise schaffte Ulrich es mal vor neun aus dem Bett zu kommen. Es war sogar erst acht Uhr. Er wollte allerdings gleich frühstücken.

Bei diesem Frühstück warf Oliver ein Glas mit Wasser vom Tisch, welches sich natürlich sofort gleichmäßig in der Küche verteilte.

Das war kein großes Desaster, nicht mal für Ulrich. Sofort wurden die Scherben eingesammelt und das Wasser aufgewischt.

„Nach dem Frühstück musst du gleich saugen und wischen, wegen der Splitter.“ Sagte er dann im Befehlston zu mir.

Ich hatte gute Laune, immerhin kam meine Mama nachher, auf die ich mich freute und die wollte ich mir nicht vermiesen lassen.

Ich bejahte also nur.

Als wir mit dem Frühstück fertig waren begann ich gleich den Tisch abzuräumen. Ich wollte dann die Krümel vom Frühstück zusammen mit den feinen Splittern vom Glas wegsaugen. Ich war fast fertig mit dem Abräumen, als meine Mum kam mit einer riesigen Tüte voller Brötchen und einem Kuchen. Ich ließ sie rein und sagte ihr, sie solle in der Küche aufpassen, ich müsse gleich die Splitter wegsaugen.

Bis hier hin kein Problem.

Ulrich kam dann dazu und ohne Gruß baute er sich in der Küchentür auf und schnauzte mich an, warum ich noch nicht gesaugt hätte, ich würde jetzt die Scherben im ganzen Haus verteilen!

Meine Mum stand nur stumm daneben und bekam den Mund nicht zu.

Ich erklärte Ulrich dann mein Vorhaben, das ich für logisch empfand.

Nein, ich hätte sofort saugen müssen!

Alleine die Feindseligkeit meines Gatten ließ meiner Mum den Kragen platzen! Sie schnappte sich ihren Schlüssel, den sie auf dem Küchentisch liegen hatte, schob Ulrich zur Seite und dampfte mit den Worten: „Das muss ich mir nicht bieten lassen!“ aus der Haustür raus.

„Nicht Mami, er ist nun mal so, wenn er am Rechner sitzt.“ Versuchte ich Ulrich weinend zu verteidigen.

„Das ist kein Grund, und das weißt du!“ sagte sie schroff zu mir.

Dann schlug sie die Autotür zu und fuhr vom Hof.

Als ich ins Haus zurück kam, hatte Ulrich inzwischen den Staubsauger geholt und saugte jetzt mit der üblichen Fratze die Küche, den Flur, das Wohnzimmer kurz: Das ganze Haus!!!

Ich heulte und konnte mich nur schwer beruhigen.

Ich hatte meiner Mum meine Handy-Nummer gegeben und am Abend rief sie dann auch an.

Sie entschuldigte sich für ihren unschönen Aufbruch, aber diese Art und Weise, die ihr „Schwiegersohn“ sich da geleistet hatte, war unentschuldbar.

Ich gab ihr Recht, ich wollte nur, daß sie wieder kommen würde.

„Nein!“ sagte sie sehr bestimmt. „In dieses Haus setze ich keinen Fuß mehr! Er weiß wo mein Quartier ist, wenn er was will, dann soll er sich gefälligst herbemühen. Aber ich würde dich und die Kinder gerne sehen. Kannst du Oliver aus dem Kindergart freinehmen?"

Ich bejahte.

"Gut, dann komm doch morgen einfach gegen 10 Uhr zu mir.“

Sie beschrieb mir den Weg und ich war etwas erleichtert.

Und ich fasste einen Entschluss: Ich würde mir das Auto nehmen und hinfahren! Egal, was der Alte dazu sagte. Diese Woche mit meiner Mum würde ich mir und den Kindern nicht nehmen lassen!

Kapitel XXX
 

Am nächsten Morgen rief ich kurz im Kindergarten an und teilte der Gruppentante mit, daß Oliver heute nicht kommen würde. Nein, er wäre nicht krank, seine Oma aus Norddeutschland wäre da.

Der Alte lag noch in seinem Bett. Ich hatte auch nicht vor ihn erst zu wecken. Allerdings stand er doch früher auf, als ich es mir gewünscht hatte. So bekam er mit, daß ich mit den Kindern bereits gefrühstückt hatte und sie jetzt Ausgehfertig machte.

„Wo willst du hin?“ muffelte er mich an.

„Zu meiner Mum!“ sagte ich knapp.

„Und wie willst du da hin kommen?“ fragte er ärgerlich.

„Mit dem Auto, ich hab meine Flügel verlegt!“ antwortete ich sarkastisch, aber ärgerlich. Mein Tonfall ließ keinen Zweifel, daß ich das jetzt so machte, wie ich gesagt hatte. Scheiß egal was er dazu sagen würde.

Anscheinend hatte er das verstanden. Jedenfalls sagte er nichts mehr. Er zog nur wieder seine Fresse, die ich inzwischen wunderbar übersehen konnte und verschwand in seinem Schlafzimmer.

Bei meiner Mum machten wir erstmal ein zweites Frühstück. Sie freute sich, daß die Kinder da waren und hatte noch mehr Geschenke für Oliver. Michael lag in seiner Babyschale und schlief friedlich.

Natürlich sprachen wir über das am Vortag geschehene. Ich versuchte wieder mit der Ausrede, er sei halt so reizbar, wenn er am Rechner arbeitete, etwas zu besänftigen, aber meine Mum ließ sich nicht blenden.

„Du belügst dich doch inzwischen selbst.“ Sagte sie ruhig, aber eindringlich.

„Sei doch mal ehrlich. Sieh dir deine Kinder an.“ Fügte sie hinzu.

Ich schwieg betroffen.

Sie hatte Recht.

„Dern, mach die Augen auf.“ Sagte sie dann fast tröstend.

Mehr wollte sie nicht dazu sagen.
 

Tags darauf kam ich dann mit Michael alleine. Wir spazierten etwas durch Bad Camberg und Mum kaufte leckeren Aufschnitt und Kuchen. Gegen Mittag holte ich Oliver ab, Michael blieb in Bad Camberg bei seiner Oma, und den Nachmittag waren wir dann nur draußen unterwegs, aßen Eis und Kuchen und es war ein wunderbarer Nachmittag.
 

Für den Mittwoch dann wollte meine Mum uns zu Hause abholen, mich und die Jungs. Ulrich hatte noch immer nicht die kleinste Anstalt gemacht, ein Gespräch mit seiner Schwiegermutter zu suchen. Er machte es wie immer: Wenn man nur lange genug wartet, würde alles von selbst verrauchen.

Meine Mutter wollte mit uns in einen Freizeitpark fahren, den ganzen Tag. Es war ein toller Tag. Oliver brauchte lange um ein bisschen aufzutauen. Er traute sich einfach nicht, etwas zu wollen. Er war schüchtern, oder eher: eingeschüchtert. Meiner Mum blieb das natürlich nicht verborgen und sie bedauerte es sehr. Auch konnte Oliver es kaum verstehen, daß man seine Oma mit kaltem Wasser nass machen durfte.

Seine Oma schlug ihm dann vor, doch die Schuhe und Strümpfe auszuziehen und im Wasser zu spielen.

„Aber dann mache ich mich doch schmutzig und dann schimpft Papa mit mir.“ Jammerte der Kleine dann.

Spätestens da wurde mir bewusst, daß ich etwas ändern musste.

Es war toll. Oma machte viel mit Oliver, fuhr in fast jeder Bahn mit, lief mit dem Kleinen um die Wette und brachte ihm bei, wie man jemanden mit Wasser so richtig nassmachen konnte.

Als wir am Abend heimkamen saß Ulrich am Rechner.

Ich machte für die Jungs, die völlig fertig waren, Abendbrot.

Ulrich saß am Rechner.

Dann machte ich die Jungs bettfertig und brachte sie zum Schlafen ins Bett.

Ulrich saß am Rechner.

Auch die folgenden zwei Tage trafen wir uns mit Oma.

Am letzten Abend sprach ich noch mal mit meiner Mum über das Thema Veränderung.

„Ich will dich zu nichts überreden.“ Sagte sei eindringlich.

„Aber mach die Augen auf und sieh dir deine Kinder an. Denk an den Tag im Freizeitpark. Wenn du Hilfe brauchst, weißt du wo ich bin.“

Dann fuhr sie wieder nach Hause.

Ich blieb zurück mit den neuen Gefühlen.

Vor allem: Meine Mum hat gesehen und begriffen, daß das kein Zustand ist. Und auf die Meinung meiner Mum legte ich viel Wert.

Ich grübelte lange. Der Entschluss, die Idee, alles was ich brauche und meine Kinder einzupacken und zu gehen, der war nicht neu. Weißgott nicht neu.

Neu war, ich hatte ernsthaft eine Möglichkeit.

Ich telephonierte mit einer Freundin. Wir waren damals zusammen in der Waldorfschule. Sie hat lange als Sekretärin in einer Anwaltskanzlei gearbeitet und konnte mir genau sagen, was ich brauchte, worum ich mich kümmern müsse und was mich erwartet. Und vor allem: Der Ehevertrag hätte gerade im Zusammenhang mit den Kinder keine Gültigkeit mehr.

Und was sie sagte klang sehr viel rosiger, als ich je angenommen hätte.

Ich hatte außerdem einen Freund, aus frühen Kindertagen noch, Norbert. Er war Fernfahrer und lange Touren gewohnt. Ich hatte auch Kontakt mit ihm. Er hatte mich mal in Kirberg besucht und sofort gesehen, daß es mir nicht gut ging. Das konnte ich in seinen Augen erkennen.

Auch er sagte, wenn ich Hilfe bräuchte, er wäre da.

Also rief ich ihn an.

Ich fragte ihn, ob es möglich wäre, wenn er in der Gegend wäre, daß er mich und die Kinder mitnehmen könnte?

Er sagte dann ich solle ihm den Termin sagen, dann mieten wir uns einen Sprinter und er hilft mir beim Auszug.

Mehr brauchte ich nicht.

Im Kopf ging ich alles durch was ich brauchte und was ich zurücklassen musste.

Das Haus war eine tolle Sache. Auf jeden Fall. Der Finanzielle Rückhalt, super Sache.

Aber ich wusste schon lange, was ich wirklich brauchte.

Mein zu Hause.

Meine Ostsee.

Mein Flensburg.

Eine Zukunft für mich und eine Zukunft für meine Kinder.

Liebe…

Ich stellte eine Liste auf mit den Dingen, die ich mitnehmen würde. Ich telephonierte mit meiner Mum und teilte ihr mit, daß ich jetzt Ernst machen würde. Sofort half sie mir wo sie konnte. Sie suchte im Internett, in der Zeitung und bei den Ämtern nach einer Wohnung für mich und die Kinder. Sie erkundigte sich auf den Ämtern, was ich an Voraussetzungen zu erfüllen hatte. Papiere und ähnliches.

Über einen Bekannten bekam sie die Empfehlung für einen guten Anwalt in Flensburg. Ich rief dort an und bekam einen Telephontermin.

Inzwischen hatten Ulrich und ich uns wieder mehrfach in den Haaren gehabt.

„Gib mir vier Wochen und wir sind hier raus. Dann hast du deine Ruhe.“ Sagte ich am Ende.

Er hat es natürlich nicht geglaubt.

Es fiel ihm auch nicht auf, daß ich schon damit begonnen hatte, meine Sachen auszusortieren und in Kartons zu verpacken.

Ich war sogar so ausgekocht und hab einen Karton mit Lebensmitteln gepackt. Alles, was nicht verdirbt. Nudeln, Soßen, Ravioli in Konserven und alles, was ich brauchen könnte in der ersten Zeit.

Ich hab den Karton nicht ganz voll gemacht, darauf hab ich noch meine Stoffe gepackt.

Sicher ist sicher.

Die Sachen der Kinder wären schnell gepackt. Die waren überwiegend da, wo sie hingehörten. Allerdings blieb unsere gewaschene Wäsche liegen, in Stapeln auf meinem Bett. Ich musste erst die wichtigeren Dinge erledigen.

Unter anderem brauchte ich einen sogenannten Wohnberechtigungsschein, auf dem Vermerkt war, auf wie viel Quadratmeter Wohnfläche ich Anspruch hätte mit den Kindern.

Ich suchte auch nach den Papieren für Yogi. Leider konnte ich weder den Brief finden, noch an den Schein gelangen. Auch das Familienbuch war nicht auffindbar.

Für den Berechtigungsschein rief ich in Kirberg auf dem Bauamt an. Ich konnte ihn dann nach ein paar Tagen abholen.

Ich legte mich richtig ins Zeug.

Einziger Wehrmutstropfen: Ich musste meine Katzen zurücklassen. Besonders meinen Strolch. Ich liebte den Kater und er liebte mich. Ich hab ihm oft in den Tagen erklärt, daß ich ihn nicht mitnehmen könne. Eine Wohnung zu bekommen mit zwei Kindern war eine Sache. Eine unlösbare aber mit Katze. Jedenfalls wenn die Zeit knapp bemessen war.

Ich vereinbarte mit Norbert, daß der Umzug am 2. August stattfinden sollte. Ich hatte also noch vier Wochen Zeit alles in die Wege zu leiten.

Über einen anderen Bekannten erführ meine Mum von einer freien Wohnung in Langballigholz, nur eineinhalb Kilometer vom Haus meiner Eltern entfernt. Meine Mum guckte sich die Wohnung an und konnte mit dem Vermieter vereinbaren, daß ich die Wohnung bekommen könnte, auch wenn ich nicht persönlich da war um sie vorher zu begucken.

Das war phantastisch.

Ich klärte im Kindergarten, daß Oliver ab August nicht mehr kommen würde, ich würde weggehen und die Kinder mitnehmen. Daß dann noch ein weiterer Monat Gebühr für den Kindergarten gezahlt werden musste, war nicht mehr mein Problem.

Ulrich hatte nicht nur in fast jedem Raum des Hauses Anschlüsse für das Internet gelegt, er hatte natürlich auch die Telefonanlage mit dem Rechner verbunden. In der ersten Juliwoche stellte mein Gatte dann über den PC fest, daß ich in Kirberg auf dem Bauamt angerufen hätte und stellte mich zur Rede.

„Warum hast du da angerufen?“ wollte er wissen.

„Um mich zu erkundigen.“ Antwortete ich ruhig.

„Über was?“ schnauzte er.

„Über einen Wohnberechtigungsschein.“ Sagte ich trocken.

Er ging in sein Schlafzimmer und hatte nichts besseres zu tun als sofort meine Mum anzurufen und sich dafür zu bedanken, daß SIE seine Ehe kaputt gemacht hätte.

Ehrlich, er hatte das Telephon nicht auf Lautsprecher und die Tür zu, aber ich konnte meine Mum trotzdem hören!

Im Groben und Ganzen riet sie ihm, mich in Ruhe gehen zu lassen.

Nach zwei weiteren Tagen kam Ulrich zu mir in die Küche geschlurft mit Schlappohren und Dackelblick.

„Gibst du mir noch mal eine Chance?“ winselte er, wie er es nach jedem Streit versuchte.

Ich drehte mich zu ihm um und sah ihm direkt in die Augen.

„Nein!“

Ulrich entgleisten sämtliche Gesichtszüge.

„Warum?“ fragte er erstaunt.

„Weil ich dir schon so viele Chancen gegeben habe, dir sooft gesagt habe, was falsch läuft und was passiert, wenn du dich nicht auch änderst. Nie hat es gefruchtet. Jetzt kann ich nicht mehr.“ Erklärte ich.

Ulrich schwieg.

Am nächsten Tag ging er zum Arzt und ließ sich krank schreiben. Auf einmal hatte er sogar Zeit für Oliver. Es tat mir fast leid, aber eben nur fast.
 

Am Freitag den 13. Juli hatte ich dann den Gesprächstermin mit meinem Anwalt. Der Alte hätte Frühschicht gehabt. Da er aber inzwischen gerafft hatte, daß es für mich kein Zurück mehr gab, ließ es mich völlig kalt, daß er das Telephonat eventuell mitbekam.

Ich schilderte kurz meine Situation, die Eheverhältnisse, was ich bisher in die Wege geleitet hatte und daß ich nur eine möglichst unkomplizierte Scheidung im Sinn hätte. Mein Anwalt machte mir da aber keine große Hoffnung. Solche Fälle fangen immer mit „Unkompliziert“ an und enden mit drei dicken Leitz-Ordnern voller Papiere. Der Trennung und der Scheidung stünde aber nichts im Wege.

Gegen Mittag des Tages bekam ich dann Post.

Vom Landesgericht Weilburg.

Mein krankgeschriebener Gatte hatte nichts Besseres zu tun gehabt als zum Anwalt zu rennen und das Aufenthalts- und Sorgerecht für die Kinder einzuklagen.

Ich war entsetzt!

Mir war klar, was er damit erreichen wollte.

Dennoch, als er auf die Terrasse kam, wo ich zum Telephonieren und Rauchen saß, fragte ich ihn.

Er setzte sich breitbeinig auf seinen Stuhl, lehnte sich höhnisch grinsend zurück, verschränkte die Arme vor seiner Brust und sagte: „Ich rate dir hier zu bleiben.“

Das wars!

Er will mir Ketten anlegen?

Mich mit Gewalt und Erpressung am Weggehen hindern?

Nicht mit mir!

Ich schnappte das Telephon und ging in mein Zimmer um meinen Anwalt anzurufen.

Ich schilderte ihm kurz die aktuelle Lage und er riet mir, sofort raus da. Es war Sommer, Ferienzeit und innerhalb von Deutschland könnte ich hinfahren, wohin ich wollte. Mit den Kindern!

Die Jungs waren gerade in der Mittagsstunde und schliefen noch.

Ich rief dann bei meiner Mum an und erzählte auch ihr die Neuigkeiten.

„Du kannst mit den Jungs hier bei mir bleiben, bis du in deine Wohnung kannst.“ Bot sie dann spontan an.

„Wir haben das Zimmer von deinem Vater ausgeräumt, ich kann euch da Matratzen hinlegen.“ Erklärte meine Mum weiter.

Ich fasste also den Entschluss gleich zu gehen.

Zuerst wollte ich noch zu meiner Freundin Biene nach Kirberg und dann von da aus starten. Jetzt brauchte ich nur noch Geld für Benzin, der Tank bei Yogi war schon auf Reserve.

Bei einer Nachbarin konnte ich mir das Geld leihen, 100 Euro. Wir trafen uns heimlich in einer Nebenstraße. Sie schlug mir vor, daß sie noch ein paar Sachen fertig machen und mir dann mitgeben wollte. Wir würden uns dann auf dem Weg noch mal treffen und sie würde mir das dann reinreichen.

Ich stimmte zu obwohl ich wusste, daß keiner auf einer langen Fahrt essen oder malen würde.

Dich Jungs schliefen noch.

Ich suchte zusammen, was wir dringend brauchten und wollte die Babyschale schon mal ins Auto packen. Als ich mein Auto aufschloss ging die Zentralverriegelung nicht.

Mir war sofort klar, daß er die Batterie abgeklemmt hatte.

„Was soll das?“ fuhr ich Ulrich an.

„Ich will dich vor einem Fehler bewahren.“ Sagte er überheblich.

„Ich kann dich zu Sabine hinfahren und auch abholen.“ bot er großzügig an.

„Du machst mir mein Auto fahrfähig.“ Sagte ich leise, aber wütend.

„Nein, ich werde dich fahren.“ Beharrte er.

„Du machst mir jetzt auf der Stelle das Auto fahrfertig oder ich nehme mir ein Taxi! Auf deine Kosten! NACH FLENSBURG!!!“ wetterte ich.

Als ich das Telephonbuch in die Hand nahm um nach einem Taxi zu suchen ging er in den Keller und holte die Autobatterie.

Er hatte sie nicht nur abgeklemmt, sondern sogar ausgebaut.

Inzwischen waren auch die Jungs aufgewacht und ich machte sie für die Fahrt fertig.

Ich schnappte das Notwendigste und packte die Kinder ins Auto.

Dann ließ ich Ulrich noch das Radio wieder einstellen und fuhr vom Hof.

Um die Ecke musste ich noch kurz anhalten, alle Nachbarn hatten inzwischen mitbekommen, was bei Hansens abging und alle wollten mich verabschieden, mir viel Glück und eine gute Fahrt wünschen und ihre Telephonnummer rein reichen.

Am verabredeten Treffpunkt traf ich dann meine Nachbarin, von der ich mir das Geld geliehen hatte und nahm weitere gute Wünsche und die Tasche mit den Broten, Getränken und dem Malzeug für die Kinder entgegen und machte mich auf nach Limburg. Dort tankte ich das Auto voll und setzte den Sitz von Oliver auf den Beifahrersitz. Ich hatte ihm versprochen, wenn wir zu Oma fahren, daß er vorne sitzen darf.

Dann machte ich mich endlich auf den Weg nach Hause.

Am Freitag den 13.

Nachmittags um 17 Uhr, bestimmt die beste Zeit um sich auf die Autobahn zu setzen.

Ich hatte eine rasende Wut in meinem Bauch und mir platzte die Halskrause. Dennoch fuhr ich nicht aggressiv. Bis nach Gießen war es fast eine Stunden. Dann kam der Gießener Ring und ich fand sofort die richtige Ausfahrt. War ganz einfach. Warum hat Ulrich sich hier ständig verfahren?

Dann musste ich nur noch immer der Autobahn folgen ohne abzufahren.

Ca. 600 Kilometer lagen jetzt vor mir.

Allerdings kam ich nicht sehr weit. Schon nach 100 Kilometern kam ich in einen Stau. An der Pfefferhöhe fuhr ich ab um meiner Mum mitzuteilen, daß ich definitiv auf dem Weg war. Dann klemmte ich mir Michael auf die Hüfte und Oliver an die Hand. Michael heulte laut. Ich wickelte ihn und stellte mich bei McDonalds an der Seite ganz vorne an den Tresen um nach warmen Wasser zu fragen für die Flasche von meinem Baby. Wir müssen mitleiderregend gewirkt haben denn ich bekam sofort und ohne Schwierigkeiten das verlangte.

Als die Jungs soweit versorgt waren (Oliver wollte auch nur eine Babymilch) setzte ich mich wieder in den Stau auf der Autobahn.

Michael weinte und weinte, schrie und hörte nicht auf. Er hasste Autofahren, er hasste seine Babyschale und er hasste überhaupt alles.

Ich ignorierte ihn so gut es ging.

Oliver saß neben mir und plapperte.

„Mami, wer ist das da? Wo fährt der hin? Wo wohnt der?“

„Ich weiß es nicht, Kind.“ Versuchte ich ruhig zu antworten.

„AAAAAAAAAH!!! AAAADAAADAAAA!!!!“ kam es von hinten.

Michael war echt zornig.

Nach weiteren 100 Kilometern ging es dann wieder flüssiger. Dennoch trat ich nicht aufs Gas. Ich wusste, wenn ich ökonomisch fahre, kann der Tank bis nach Hause reichen.

Irgendwann gegen 21 Uhr schlief Michael dann endlich ein.

Oliver aber noch lange nicht. Er hielt durch bis 23 Uhr.

Ich war inzwischen längst auf der A7 und hatte mehr als die Hälfte der Fahrt hinter mir. Vor mir lag Hamburg.

Als ich den Hafenbereich erreichte fuhr ich etwas langsamer und machte die Fenster auf. Dieser Duft. Heimat. Seefahrt. Schiffe. Der Geruch von Küchenabfällen auf den Achterdecks. Die salzigen mit Öl getränkten nassen Sisalseile, die die Schiffe an der Pier hielten, verrottetes Holz, Kaffe, Kakao, Kakaobutter, Schweröl, Rost. All das war der Geruch meiner Kindheit. Ich hätte weinen können vor Glück.

Dann kam der Elbtunnel.

Hinter dem Elbtunnel sah ich auf die Uhr, es war kurz vor Mitternacht.

Ich suchte schnell den Sender von RSH, Radio Schleswig-Holstein. Dort wird um Mitternacht immer die Schleswig-Holstein-Hymne gespielt, so auch in dieser Nacht.

Ich sang nicht alles mit, die Tränen würgten mir die Stimme ab.

Ich war inzwischen seit sieben Stunden unterwegs und hatte jetzt den stumpfsinnigsten Teil vor mir.

Zweihundert Kilometer fast stur geradeaus, zweispurig und dunkel.

Ich hatte so langsam einen Tunnelblick. Ich fuhr nur noch geradeaus.

„Da vorne sind zwei rote Lichter… Könnte ein Auto sein… Fahr mal dran vorbei…“

Ich hatte gut mit meinem Sprit gehaushaltet und noch einen halben Tank voll. Ich drückte dann etwas auf das Gaspedal und fuhr jetzt mit ungefähr 160, 180 km/h. Ich wollte nach Hause.

Und dann, endlich, ich hatte Flensburg erreicht. Ich wusste wo ich runter musste, um auf die Umgehung zu gelangen.

Ich fuhr am Fördepark vorbei und weiter, der Umgehung folgend.

Als ich das letzte Mal da war, ging die Umgehung nur bis nach Adelby. Inzwischen war sie fertig und ging bis an die B199. Ich brauchte nur der Straße folgen und im richtigen Moment rechts abbiegen.

Also fuhr ich weiter, immer noch mit Tunnelblick.

Irgendwann sah ich dann, daß ich mich bereits auf der B199 befand, konnte mich aber nicht erinnern, abgebogen zu sein.

Das musste ich dann mal im Auge behalten, wenn es hell ist, nahm ich mir vor.

Ich hatte ja jetzt alle Zeit der Welt, mir in den nächsten Tagen alles genau anzusehen.

Ich war zu Hause.

Ich musste nie wieder hier weg.

Dann, nach endlosen neun Stunden, erreichte ich endlich den Hof meiner Mum. Sie erwartete uns schon und ließ uns rein. Einen Moment blieben wir im Wohnzimmer, um die Fahrt ein bisschen abzuschütteln. Dann gingen wir ins Bett.

Endlich, ein Bett.

Endlich zu Hause.

Endlich.

Nach so viele Jahren.

Kapitel XXXI
 

Am Morgen standen wir zeitig auf. Ich hätte ohnehin nicht mehr schlafen können. Meine Mum war auch schon hoch wegen ihrer Spritze gegen die MS. Die Jungs lagen noch im Bett.

Meine Mum und ich saßen auf der Terrasse und rauchten.

„Wann sollst du bei deinem Anwalt sein?“ fragte meine Mum.

„Um halb 11. Er ist extra für mich heute in seiner Kanzlei.“ Antwortete ich.

„Das ist gut. Du kannst Michael bei mir lassen, aber Oliver solltest du mitnehmen. Er ist in einem Alter wo er mehr mitbekommt, als man vermuten möchte. Hast du noch genug Sprit im Auto?“ erwiderte sie.

„Ja, hab ich. Ich hab den Tank nur dreiviertel leer gefahren. Damit sollte ich noch etwas hin kommen.“ Berichtete ich.

Nach einem kleinen Frühstück wollte ich mich dann mit Oliver auf den Weg machen. Als ich mich in mein Auto setzte, fiel ich fast hinten über.

„Mein Gott! Wer hat denn hier geschlafen?“ rief ich verwundert, als ich in mein Auto einstieg und regelrecht hineinfiel.

Meine Mum lachte.

Ich hatte im Laufe der neunstündigen Fahrt über die Autobahn den Sitz immer weiter runter gedreht. Ich konnte gerade noch zwischen Armaturenbrett und Lenkrad durch auf die Straße gucken.

Als ich dann auf dem Weg in Richtung Flensburg war und die neue Strecke erreichte, versuchte ich genau darauf zu achten, wie die Straße denn jetzt verlief.

Ich musste feststellen, daß ich letzte nicht Nacht abgebogen war. Da gab es nichts zum Abbiegen. Die Tangente ging in einer Kurve direkt in die B199 über. Um in der Gegenrichtung nach Flensburg in die Stadt zu kommen, musste ich von der Tangente erst abbiegen.

Ich kannte mich kaum noch aus. Es hatte sich seit dem letzten Urlaub nicht all zu viel verändert, aber der war zwei Jahre her und in den 11 Jahren im Taunus hatte ich viele Verbindungen in Flensburg vergessen. Dennoch gelang es mir einigermaßen flüssig zu meinem Anwalt zu finden. Außerdem hatte ich den Vorteil eines „Ausländers“. Ich hatte noch das Limburger Kennzeichen und bekam damit einen gewissen „Fremden-Bonus“ bei den Einheimischen. Keiner hupte wenn ich von ganz rechts nach ganz links scheren musste, weil ich mich verhaspelt hatte und ich bekam Vorfahrt, wo ich eigentlich keine gehabt hätte.

Endlich waren wir dann bei meinem Anwalt angekommen.

Erneut schilderte ich die Eheverhältnisse, wie es von Anfang an ausgesehen hatte. Daß es mir Materiell an nichts fehlte, es aber keine Gefühle gab außer Hass, Missgunst, Misstrauen und Eifersucht. Ich erklärte in kurzen Beispielen den Kontrollzwang des Alten.

Auch Oliver erzählte, daß sein Papa gemein zu seiner Mama ist und daß er immer am Rechner sitzt und nie Zeit für ihn hat.

Und das Papa gesagt hätte, daß Mama lügt und man ihr nicht glauben dürfte.

Der Anwalt sagte mir dann, was als nächstes zu tun war für mich. Ich musste zum Amt gehen und HartzIV beantragen und ich musste ein Konto eröffnen.

Er machte mir eine kleine Liste mit den Dingen, die ich ab Montag in Angriff nehmen musste und wir vereinbarten einen neuen Termin.
 

Es war noch immer Sommerzeit, draußen war es warm und sonnig und den Sonntag fuhr meine Mum mit mir und den Kindern an den Strand. Oliver war schlichtweg begeistert und wusste gar nicht, welche Wunder er sich zuerst ansehen sollte.

Michael lag auf einem großen Handtuch und fingerte im Sand herum, unsicher, was er von dieser Materie halten sollte. Er war neun Monate alt, konnte aber noch nicht richtig frei sitzen.

Meine Mama und ich unterhielten uns über die nächsten Schritte, die mir bevorstanden. Ich musste Norbert anrufen und sehen, ob wir den Umzugstermin vorverlegen könnten. Dann mussten wir einen Sprinter mieten, ich brauchte Geld für Benzin, die 100 Euro für meine Nachbarin wollte auch meine Mum vorstrecken.

Ich hätte nicht gewusst, was ich ohne meine Mum hätte machen sollen, vor allem, wo ich hätte bleiben sollen.

„Mami, guck mal, ich hab einen Stein gefunden.“ Kam Oliver dann aufgeregt angerannt.

Nun ja, das soll an einem Strand vorkommen, daß man einen Stein findet… Aber es war süß und bemerkenswert.

Michael kaute derweil auf einer trockenen Blasenalge herum.
 

Die kommenden Tage waren anstrengend. Jeden Tag musste ich irgendwo hinfahren, zum Amt, dort bekam ich eine Liste der Papiere, die ich besorgen müsste. Darunter auch die Papiere aus dem Familienbuch für die Kinder und mich.

Ich wollte die Trennung so fair und freundschaftlich wie möglich durchziehen und rief dann bei Ulrich an um ihn zu bitten, mir die benötigten Papiere zu zuschicken. Er bejahte.

Allerdings wartete ich vergeblich und ich musste dann selbst die Papiere auf den entsprechenden Ämtern in Limburg und Weilburg anfordern.

Ich brauchte ein Exposé vom Vermieter, in dem stand wie hoch die Kaltmiete, Heizkosten, Nebenkosten wäre und die Wohnfläche in m², die Bescheinigungen für die Kinder und mich, daß wir in Langballig gemeldet wären, Geburtsurkunden und jede Menge weiteren Papierkrieg.

Ich erledigte alles, was zu erledigen war und staunte am Ende eines jeden Tages darüber, daß ich das wirklich packte. Ich behielt den Überblick und kam nicht ins Straucheln.

Mit meinem Anwalt zusammen setzte ich eine Liste auf über die Möbel, Kleidung und Küchenutensilien, die ich aus der Ehe mitnehmen wollte.

Ich wollte wie gesagt fair bleiben und Ulrich in seinem Lebenskomfort nicht einschränken. Ich verzichtete auch auf die Waschmaschine, die rechtlich gesehen mir zugestanden hätte.

Ich entschied mich für das alte Geschirr, die Möbel der Kinder, bestimmte Schränke meinerseits und das Mobiliar aus dem Gästezimmer, einer Schlafcouch und zwei Sesseln nebst einem kleinen Tisch, mein Fahrrad, die Spielsachen der Kinder, dem Esszimmer, das wir vor Jahren gekauft hatten. Außerdem natürlich mein Kartons, die ich schon gepackt hatte, mein Rechner mit allem, was dranhing. Zur Sicherheit machte ich eine genaue Liste. Und natürlich die Kleidung.

Diese Liste bekam der Anwalt meines zukünftigen Ex-Gatten. Auch teilten wir ihm mit, wann ich gedachte zu kommen, um alles abzuholen.

Oliver war immer dabei und über alles informiert.

Es war anstrengend, sehr anstrengend, aber auch schön. Ich nahm endlich einmal mein Leben selbst in die Hand und musste feststellen, daß es zwar nicht leicht, aber auch nicht unmöglich war. Und daß Ulrich all die Jahre schamlos übertrieben hatte, nur um mich einzuschüchtern. Um mich klein und unselbständig zu halten, damit ich ja nicht auf die Idee kommen würde, mich davon zu schleichen.

Tja, Pech gehabt, würde ich sagen.

Ich hatte inzwischen auch schon einen Kindergartenplatz für Oliver in Langballig bekommen. Er konnte gleich nach den Ferien kommen. Wir waren jetzt angemeldet und die Kinder versorgt.

Ich genoss die Gegend, mein Flensburg. Die meisten Autos, die hier unterwegs waren, hatten SL oder FL auf dem Nummernschild. RD und NMS waren auch super genauso wie NF. Ich war zu Hause.

Im Radio hatte ich RSH an und es liefen wunderbare Songs. Der Ping-Pong-Song von Enrique Iglesias, Relax von Mika, Silencio von David Bisbal, Vayamos Companeros von Marquess und vor allem Vom Selben Stern von Ich und Ich.

Immer, wenn dieses Lied im Radio lief, musste ich an Marco denken. Und wie nah er mir jetzt war. Und daß er keine Ahnung davon hatte, wie nahe ich ihm jetzt war. Ob er noch an mich dachte? Ob ich ihn wiederfinden könnte? Jedes Auto, daß um mich herum fuhr konnte Marcos sein.

„Ob ich Marco Lotz wieder finde?“ fragte ich laut.

„Jup!“ antwortete Oliver kurz und knapp.

Sein Wort in Gottes Ohr.

Ich hatte den Kindern oft von Marco erzählt. Wenn ich Michael gestillt hatte, wenn er fertig war und da so zufrieden in meinem Arm lag, dann erinnerte sein Blick mich oft an Marco. Wenn ich den Kleinen wickelte, wünschte ich mir jedes Mal, Marco könnte der Vater der Kinder sein.

Ich hatte das Gefühl, mit Marco wäre alles besser, viel besser. Und ich könnte ihm eine bessere Gefährtin sein als jede andere Frau auf der Welt.

Anmaßend, ich weiß. Aber ich hatte mich sehr verändert und das wusste ich. Ich hatte gelernt, bescheiden zu sein. Mit zu fühlen. Ich wusste, was wichtig ist in einer Beziehung, was ich als wichtig empfand. Und worauf ich gut und gerne verzichten konnte. Und das konnte ich geben. Und Marco würde es zurück geben, da war ich mir sicher.

Die Möglichkeit ihn wieder zu finden, war zum Greifen nahe. Längst hatte ich meinen Telephonanschluss beantragt und hatte das Telephonbuch gleich mitgenommen. Natürlich suchte ich gleich nach Anhaltspunkten, die mich zu Marco bringen könnten, aber da war nur der eine, den ich schon seit Jahren im Kopf hatte: Die Telephonnummer der Schreinerei seines Bruders.

Schon seit Jahren wusste ich, was ich sagen würde, wenn ich seinen Bruder anrufen würde.

Jetzt war alles zum Greifen nahe.

Als ich noch unten war, hab ich oft den Namen von Marco im Internet eingegeben und ihn gesucht. Alleine im deutschlandweiten Telephonbuch gab es 10 Einträge mit Marco Lotz, einer sogar ganz in der Nähe von Limburg.

Ich war aber sicher, daß keiner davon MEIN Marco war.

Es stand zu befürchten, daß er weggezogen sein könnte. Weg aus Flensburg. Aber ich hatte Hoffnung, so wie ich all die Jahre die Hoffnung auf etwas Sonne in meinem Leben nicht aufgegeben hatte.

Zuerst musste ich aber mein Leben und das der Kinder regeln. Das Geld musste fließen, die Papiere erledigt werden, die Wohnung eingerichtet werden, die Fahrt für den Umzug stand noch bevor.

Und doch hatte ich das Gefühl Marco ganz nahe zu sein, wenn das Lied im Radio lief. Und ich hatte das Gefühl, daß Marco genauso empfinden könnte, wenn er nur gewusst hätte, daß ich in der Nähe war.
 

Anfang August dann sollte der große Termin für den Umzug stattfinden. Norbert wollte extra sein Wochenende opfern und in der Nacht von Freitag auf Samstag mit mir losfahren. Mein Bruder organisierte einen Sprinter in Hamburg, weil wir in Flensburg nichts mehr bekamen. Erst viel Später erfuhr ich, daß das Amt die Umzugskosten auch für den Sprinter übernommen hätte.

Gegen Mitternacht fuhren wir dann los, Norbert und ich. Meine Mum hatte mir Geld mitgegeben fürs Tanken und eventuell etwas zu Essen.

Es war eine lange lästige Fahrt, aber wir kamen gut durch. Am Morgen waren wir schon gegen sechs Uhr in Frankfurt, wo Norbert noch ein paar Dinge bei seiner inzwischen verflossenen Freundin abholte. Dann fuhren wir direkt nach Heringen.

Ulrich hatte das Schloss inzwischen ausgetauscht, was aber zu erwarten gewesen war. Er ließ mich dann rein. Alle Türen waren abgesperrt, außer der Küche und meinem Zimmer. Außerdem hatte er sich einen Arbeitskollegen kommen lassen, von dem ich wusste, daß er in seiner Freizeit als Türsteher bei Discos und als bezahlter Schläger ein Nebengeld verdiente. Der hatte noch einen Kumpel dabei, den ich nicht kannte.

Offenbar hatte der Alte Angst vor einem kleinen dicken Mädchen und einem Fernfahrer.

Sie hatten alle drei nichts Besseres zu tun als im Weg zu stehen.

Außerdem war Ulrich der Meinung, die Möbel, das Spielzeug und die Kleidung der Kinder dürfe ich nicht mitnehmen. Allenfalls Kleidung für 14 Tage. Er war fest davon überzeugt, daß er mir die Kinder wegnehmen könnte.

Mein Hals wuchs und ich war Stocksauer!

Meine Nachlässigkeit in den Wochen vor dem 13. Juli kam mir allerdings sehr zu Gute. Ich nahm leere Kartons und Waschkörbe, die ich fand, und stopfte alles an Kleidung hinein, was auf meinem Bett lag. Da waren viele Sachen von den Kindern dabei. Ich überzeugte ihn davon, daß ich die Schlafsachen der Kinder bekam, Bettzeug und Kuscheltiere. Daraufhin schloss er dann die Kinderzimmer auf und ich räumte auch noch die Schränke aus, so gut ich konnte. Alles wurde einfach in den Sprinter geworfen und wenig darauf geachtet, daß es gut verpackt war. Norbert und ich wollten nur schnell wieder weg.

Ich ackerte wie ein Tier. Raffte alles an mich, dessen ich habhaft werden konnte. In der Küche suchte ich noch alles zusammen, was ich brauchen würde. Vieles wollte der Alte einfach nicht herausrücken.

Vor allem die Sachen der Kinder. Mit Mühe und Not konnte ich dann noch den Kinderwagen bekommen.

Nach nur zwei Stunden ackern wie die Bekloppten war alles im Sprinter verstaut und Ulrich kam mit einer Liste, die ich unterschreiben sollte, welche Dinge ich bekommen hätte. Ich weigerte mich. Ohne meinen Anwalt würde ich gar nichts unterschreiben. Allerdings hatte sein Arbeitskollege seinen Wagen so vor den Sprinter gestellt, daß wir nicht rauskommen konnten.

Ich machte dann ein Kreuz. Scheinbar war Ulrich das genug, denn sein Arbeitskollege (dessen Namen ich absichtlich nicht nenne) fuhr sein Auto beiseite und Norbert und ich konnten endlich abfahren.

Es war 12 Uhr mittags. Aber wir wollten nicht warten oder ausruhen. Das konnten wir, wenn wir wieder zu Hause währen.

Also ging es direkten Weges nach Gießen, von da auf die A5, die dann in Höhe Fulda in die A7 übergehen würde.

Norbert war fast die ganze Fahrt über am schimpfen. Die Hessen führen wie die Vollpfosten. Dann war auch noch die Autobahn ständig verstopft und wir fuhren eine Umleitung nach der anderen, bis Norbert beschloss die Strecke komplett neben der Autobahn zu fahren. Er kannte sich aus, hier fuhr er ständig seine Touren mit dem LKW.

Dennoch war es stressig. Dichter Verkehr und selbsternannte Verkehrsbremsen hinderten uns immer wieder daran vorwärts zu kommen.

Am Abend dann gegen 20 Uhr hatten wir aber dennoch endlich die ganze Geschichte und 1400 Km hinter uns und waren bei meiner Mum angekommen. Sofort gingen wir alle schlafen, mein Bruder blieb auch da. Norbert sollte am nächsten Morgen wieder kommen und dann würden wir das ganze Chaos in meine neue, meine erste eigene Wohnung bringen.

Es war die Hölle!

Bevor wir ans Haus kamen, mussten wir eine kleine Treppe mit viel zu flachen Stufen hoch, dann in den Hausflur und drei Treppen hoch bis zu meiner Wohnung, die unter dem Dach lag.

Wir schleppten, keuchten, pöbelten wie die Bauarbeiter. Ich schleppte sehr zu meinem eigenen Erstaunen die schweren Kartons hoch, Sessel im Alleingang. Ich hatte so viel Energie wie nie zuvor.

Das hatte ich mir gar nicht zugetraut.

Die Wohnung war klein, 46 m² Wohnfläche, drei verhältnismäßig kleine Zimmer.

Die Möbel und Kartons wurden grob in die Räume gestapelt, in die sie einmal eingeräumt werden sollten. Am meisten stapelte sich im Wohnzimmer, das gleichzeitig mein Schlafzimmer sein würde. Die Kinder sollten jeder ihr eigenes Zimmer haben.

Von meiner Mum bekam ich noch Matratzen für die Kinder und mich, damit wir schlafen konnten. Ich hatte kein Bett und die Möbel für die Kinder hatte ich nicht mitnehmen dürfen.

Endlich war der Sprinter leer geräumt und mein Bruder machte sich gleich auf den Weg damit zurück nach Hamburg.

Nun war ich allein, in meiner Wohnung. Die Kinder waren fix und fertig, obwohl sie den ganzen Tag bei der Oma waren. Es war kein Problem sie ins Bett zu bringen.

Dann stand ich in meinem Wohn-/Schlafzimmer zwischen all den Kartons, dem zerlegten Esszimmertisch neben dem sich die vier Stühle unter der Schrägwand stapelten, die lose Wäsche die ich noch gerafft hatte, noch mehr Kartons, den Schränken, die Sessel, das Sofa, der Rechner… Nichts hatte einen Platz, es war auch erstmal wichtiger, es überhaupt in die Wohnung zu bekommen. Zwischen all dem Chaos lag meine Matratze mit meinem Bettzeug. In der Küche setzte sich das Chaos fort. Ich hatte keine Küchenschränke, nur einen Herd mit Kochplatten und einen Spülschrank, der schon in der Wohnung war. Drum herum die Kartons mit dem Geschirr, den Vorräten, die ich tatsächlich noch im Karton mit den Stoffen fand. Offenbar hatte der Alte nicht bemerkt oder nachgesehen, was in den Kartons war.

Aber keine Schränke, in die ich etwas wegräumen konnte.

Meine Mum hatte mir noch einen Korb zusammengestellt mit einigen Töpfen und Zutaten, die sie nicht mehr benötigte.

Chaos.

Wo ich hinsah, Chaos.

Es schien unüberwindlich und zum ersten Mal, seit ich nach Hause gekommen war, fühlte ich mich allein und überfordert.
 

Schon am nächsten Tag wollte meine Mum dann mit mir und Michael, Oliver war schon im Kindergarten, nach Husby fahren, wo es ein altes Lagerhaus gab in dem man günstig Möbel und alle möglichen anderen Utensilien sehr günstig bekommen konnte. Meistens waren es Wohnungsauflösungen von Verstorbenen oder Leuten, die einfach verschwanden. Es gab wirklich alles und das zu einem sehr, sehr günstigen Preis. Natürlich hatte ich noch immer kein Geld vom Amt. Ich musste auch Unterhaltsvorschuss und das Kindergeld auf dem Familienamt beantragen, da der Alte natürlich noch nichts zahlte. Er war ja auch immer noch der Überzeugung, er könne mir einen Strich durch meine Rechnung machen und er wollte mir jeden Stein, den er fand, in den Weg legen.

Meine Mum zahlte dann all die Möbel und Utensilien, die wir aussuchten. Betten für mich und die Kinder, Schränke für die Kinder, Küchenequipe und vieles mehr.

Außerdem steckte sie mir immer wieder Geld zu für Benzin und daß ich den Jungens mal ein Eis kaufen konnte.

Es dauerte eine knappe Woche, dann hatte ich mich gefangen. Ich kam bestens mit den Jungen alleine zurecht. Im Grunde war das ja vorher auch schon so, nur jetzt ärgerte ich mich nicht mehr darüber, daß der Alte lieber am Rechner saß, als mir vielleicht mal mit den Kindern zu helfen.

Nach und nach verschwand auch das Chaos, die neuen Möbel kamen und endlich konnte ich durchatmen.

Ich wohnte jetzt in unmittelbarer Nähe zum Strand. Zu Fuß gemütlich gegangen brauchten wir nur eine viertel Stunde. Ich war viel mit den Jungs draußen. Es gab so viel zu sehen. Die Brombeeren wurden reif und überall in den Knicks gab es Haselnüsse. Wir hatten einen Wald vor der Haustür, die Gegend und den Strand. Es war wunderbar und ich genoss jeden Atemzug.

Etwas lästig waren allerdings die Mücken, die in dem Jahr ausgesprochen fruchtbar waren. Es verging kein Tag an dem ich nicht mindestens zwanzig Mücken erschlug.

„Das Erste, was ich kaufen werde, wenn ich Geld auf dem Konto habe, sind Fliegengitter für´s Fenster!“ sagte ich immer wieder.

Es sollte noch einen ganzen Monat dauern, bis ich Geld aufs Konto bekam, die Papiere waren noch nicht alle da. Aber ich hatte jede Menge Hilfe. Jeder, der von mir und meiner Geschichte hörte, jeder, den ich traf und mit dem ich ins Gespräch kam, wollte helfen.

Ich bekam Kleidung für die Kinder, Spielzeug, Küchengeschirr und vieles mehr.

Oliver war stinksauer als ich von der Umzugsfahrt nach Hause kam und ihm mitteilen musste, daß sein Vater die Spielsachen behalten hatte. Das Lego Duplo, sein Bobbycar, seine Autos, seine Stofftiere, einfach alles. Und jedem, der das hören wollte aber auch allen, die es nicht wissen wollten, erzählte der kleine Junge motzend, daß sein böser Papa das Spielzeug behalten hatte.

Ich erklärte Oliver dann, daß er nicht „der böse Papa“ sagen dürfte. Das ist nicht nett und das tut man nicht. Er solle „Papa“, „mein Vater“ oder „Ulrich“ sagen, aber nicht „mein böser Papa“.

Er entschied sich dann seinen „bösen Papa“ nur noch „Ulrich“ zu nennen.

In der ersten Augustwoche bekam ich dann eine Vorladung vor Gericht nach Weilburg für in vier Tagen.

Das war eindeutig zu knapp bemessen. Mein Anwalt setzte dann ein entsprechendes Schreiben auf und der Termin wurde dann nach vielem Hin und Her auf Ende August verschoben. Auch kam vor dem Termin eine Angestellte vom Jugendamt bei mir vorbei um sich ein Bild davon zu machen, wie die Kinder bei mir untergebracht waren. Ich habe selten ein so gutes Zeugnis bekommen.

Da ich eine etwa 700 km lange Tour vor mir hatte, wurde mir sogar angeboten, daß das Gericht mir die Fahrtkosten erstatten würde.

Inzwischen trauten wir meinem zukünftigen Ex-Gatten alles an Gemeinheiten zu, was uns einfiel.

Um die Möglichkeit zu umgehen, daß er mir eventuell das Auto in Weilburg entwenden würde – rein Rechtlich war es ja noch sein Auto, ich konnte aufgrund des Nichtvorhandenseins der Autopapiere ja den Wagen nicht umschreiben und ummelden lassen – beschlossen wir, daß ich Yogi hinter das Haus meiner Mum parken sollte. Die Kinder blieben bei meiner Mutter und mein Bruder war mit seiner Frau ebenfalls da, um meine Mum zu unterstützen. Immerhin hatte sie MS, Multiple Sklerose und keiner konnte sagen, wie lange sie stabil war.

Ich buchte dann also die Fahrkarte für den Zug und sollte dann am 30. September ganz früh morgens in den Zug steigen und nach Weilburg fahren, wo ich um halb fünf einen Termin beim Gericht hatte.

Die Fahrt war lang. Sehr lang. Langweilig… Aber eben notwendig. Ich hatte inzwischen so viel Rückrad und Selbstvertrauen aufgebaut, daß ich keinen Zweifel daran hätte, auch diese Hürde zu schaffen.

In Weilburg bekam ich einen Anwalt gestellt, der mir zur Seite stehen sollte. Mein Anwalt aus Flensburg konnte schlecht alles stehen und liegen lassen um mit seiner Mandantin mal eben nach Hessen in den Westerwald zu fahren.

Der Anwalt traf mich vor dem Gerichtsgebäude, daß sich nicht weit vom Bahnhof weg befand und wir besprachen kurz die Lage.

Auf dem Flur vor dem Gerichtsraum, in dem wir gleich die Verhandlung haben würden, war auch schon mein zukünftiger Ex-Gatte mit seinem Anwalt.

Dieser nahm meinen Anwalt zur Seite und besprach etwas mit ihm. Nach einigen Minuten kam er dann zu mir und berichtete, daß Ulrich den Vorschlag unterbreiten wollte, ich würde Michael behalten und er bekäme dann Oliver.

Ich war entsetzt!

Entrüstet!

Hallo? Wir redeten hier über zwei kleine Kinder, Menschen, mit Gefühlen und Gedanken. Nicht über ein Geschirr: „Du nimmst die tiefen, ich die flachen Teller!“

Mein Anwalt war nicht minder entrüstet, beruhigte mich aber. Er sagte mir auch, daß ich mir keine Sorgen machen müsste. Die Kinder waren drei und nicht ganz ein Jahr alt, eine prägende Zeit und keiner würde die zwei trennen und von der Mutter wegnehmen. Egal was der Alte versuchen würde. Außerdem hatte ich ja auch die Bestätigung vom Jugendamt, daß die Kinder bestens versorgt waren und ich nicht im Geringsten mit den Jungs überfordert wäre.

Alles lief zu meinen Gunsten.

Als dann die Verhandlung endlich begann verteilte der Anwalt von Ulrich einen dicken Packen Kopien, in denen verschiedenste Anzeigen von der Lufthansa zu finden waren, wo Kinder halbtags oder ganztags untergebracht werden konnten, wenn der Alleinerziehende Elternteil Arbeiten musste. Dann noch Aussagen seiner Schwester und seiner Mutter in denen zu lesen war, daß ich ja öfter am Telephon laut mit Oliver geschimpft hätte und ähnliches. Außerdem erklärte sich Ulrichs Mutter schriftlich dazu bereit, die ersten Wochen zu ihrem Sohn nach Heringen zu ziehen und die Versorgung für Oliver zu übernehmen.

Den Richter ließ das gelinde ausgedrückt kalt.

Er sagte dann etwas, daß es sicher für den Vater-Kind-Kontakt nicht so glücklich gewählt währe, daß ich so weit weg gezogen bin mit den Kindern. Aber es gab 100 einleuchtende Gründe, warum ich es dennoch gemacht hatte. Außerdem konnte man mir keine Kindesentführung nachsagen, da ich nicht ganz bis nach Dänemark ausgewandert war. Dann das Gutachten vom Jugendamt, vom Kindergarten, alles wies darauf hin, daß die Kinder bei mir am besten aufgehoben waren.

Ich bekam dann das vorläufige Sorge- und Aufenthaltsbestimmungsrecht für beide Kinder.
 

Am nächsten Tag wollte ich das mit meinen Jungs feiern. Ich packte sie ins Auto und wir fuhren nach Flensburg. Wir aßen Eis, die Kinder bekamen Brötchen, Würstchen und alles, was wir wollten. Wir waren lange an der Hafenspitze, wo ein Spielplatz für Kinder aufgebaut war und ich sah meinem Jungen beim Spielen zu. Michael war inzwischen 10 ein halb Monate alt. Er konnte gerade und frei sitzen, krabbelte umher und zog sich schon mal an den Möbeln hoch. Dennoch ließ ich ihn nur im Sand sitzen und mit einem Förmchen schaufeln, daß irgendein Kind da liegen gelassen hatte. Immerhin waren noch viele andere Kinder auf dem Spielplatz, die sicher keine Rücksicht auf den kleinen Krabbler genommen hätten. Die Sonne schien und es war warm.

Zum Abschluss gönnte ich mir eine Pita bei Dimitri, die Kinder kauten ein paar Pommes. Ich war zu Hause, zu Hause und überglücklich.

Am Abend dann, als ich die Jungs schon ins Bett gebracht hatte, klingelte es an meiner Tür.

„Nanu? Wer will denn so spät noch was von mir?“ dachte ich und machte die Wohnungstür auf.

Dahinter stand mein zukünftiger Ex-Gatte! Er warf den Kindersitz von Oliver und die Babyschale von Michael an mir vorbei in meinen Wohnungsflur und teilte mir mit, daß das Auto jetzt weg sei. Ich würde mich ja nicht um die Ummeldung kümmern!

Hinter ihm auf der Treppe standen seine Mutter und seine Schwester, beide höhnisch grinsend!

Ich war geschockt. Damit hatte ich nicht gerechnet.

Der Alte und seine bucklige Verwandtschaft verzogen sich wieder und ich rief meine Mama an. Ich war echt aufgelöst. Sie kam sofort und tröstete mich. Wir würden das schon schaffen.

„Du wirst das schon schaffen.“ Verbesserte sie sich dann selbst.

Am nächsten Tag berichtete ich meinem Anwalt davon, für solche Fälle hatte ich extra seine Privatnummer bekommen.

Auch er beruhigte mich, daß er das nicht machen könnte. Das war eine sehr unüberlegte und dumme Aktion, die ihm noch leid tun könnte.
 

Ich hatte in den Wochen vor dem Gerichtstermin viel mit Uwe telephoniert, wenn die Kinder im Bett waren oder wir einfach draußen vor dem Haus auf dem Rasen waren. Wir hatten verabredet, daß Uwe Mitte September nach Flensburg kommen würde, mit dem Zug, und ich wollte ihn dann abholen. Ich hatte ja noch das Gästebett, auf dem er schlafen konnte.

Nun, ohne mein Auto, ging das natürlich nicht mehr.

Das war sehr schade, ich hatte mich wirklich auf meinen Seelenfreund gefreut.

„Das macht nichts. Wer weiß, wofür das gut ist? Nichts passiert ohne Grund.“ Tröstet Uwe mich.

Ulrike, meine Freundin aus der Waldorfschule, die mir in den Rechtsdingen schon so gute Auskunft geben konnte, wohnte in der Nähe von Schleswig. Sofort bot sie mir an einmal alle zwei Wochen zu kommen und mit mir zusammen den Großeinkauf zu machen. Den ersten Großeinkauf wollte sie mir bezahlen. Ich sollte ohne Hemmungen sagen, was ich bräuchte, es wäre ein Geschenk für mich und die Kinder.

Eine Sache war da tatsächlich, die ich dringend brauchte.

Einen Dosenöffner.

Wie schon erzählt hatte ich mir ja ein Carepaket gepackt mit Lebensmitteln für die erste Zeit. Und wie ebenfalls schon erwähnt befand sich dabei eine Dose Ravioli.

Als ich den Karton ausräumte dachte ich noch: „Prima, das gibt es heute zu essen!“

Allerdings musste ich feststellen, daß ich an alles gedacht hatte, nur nicht an einen Dosenöffner. Ich fand dann in dem Korb, den meine Mum mir gepackt hatte, ein altes stumpfes Kartoffelschälmesser. Nachdem ich mit der Dose fertig war, die ich gelinde gesagt gemeuchelt, aber aufbekommen hatte, war auch das Kartoffelschälmesser wieder scharf.

Eine andere Freundin in meiner Straße, die ich erst kennen gelernt hatte, schenkte mir ihren alten Fahrradanhänger, in dem zwei bis drei Kinder Platz hatten. Ich konnte es ganz leicht an mein Fahrrad anbringen. So konnte ich kleine Besorgungen im Dorf machen, das immerhin auch zwei Kilometer entfernt war. Außerdem ging ich oft mit den Kinder zu Fuß ins Dorf, so hatten wir viel Zeit an der frischen Luft und mit den Brombeeren, Nüssen und Äpfeln, die inzwischen auch reif waren.

Meine Mum fuhr mit uns zu einem Flohmarkt wo wir ein kleines Kinderfahrrad und Stützräder bekamen und ein blaues Bobbycar mit blauem Anhänger. Das war super und Oliver freute sich wie ein Großer.
 

Das Auto fehlte oft. Von heut auf morgen musste Oliver alleine mit dem Schulbus zum Kindergarten fahren. Er machte das prächtig. Überhaupt hatte er sich prächtig entwickelt in den vergangenen zwei Monaten.

Unten, in Hessen, lernte er schon zur Toilette zu gehen, brauchte aber immer noch eine Windel.

Als wir bei meiner Mum waren, war er die Tage komplett trocken und bekam nur noch für die Nacht eine Windel. Dann, als wir in die Wohnung einzogen, war Oliver auch nachts trocken.

Alles klappte und lief weiter, auch ohne Auto.

Es war nicht einfach und ein Auto war dennoch notwendig, aber es war nicht unschaffbar.

Wie alles andere in den letzten Wochen auch.

Ich war trotz der Widrigkeiten angekommen.
 

Es war Mittwoch, der 12. September als ich Vormittags, als Oliver im Kindergarten war und Michael seine Vormittagsstunde schlief, mit meinem Telephon draußen vor dem Haus saß und eine schmökte. Ich telephonierte mit Uwe. Er war glücklich für mich, daß es mir so gut ging und ich so glücklich war. Er sagte auch, daß ich mich ganz anders anhörte. Ich hatte sogar 10 Kg abgenommen, was er natürlich nicht sehen konnte. Aber ich erzählte es ihm. Wir bedauerten, daß wir uns nicht sehen konnten, daß unser Plan so zu Nichte gemacht war. Aber wir hatten ja Zeit. Wenn nicht jetzt, dann halt später.

Wir hatten schon eine ganze Weile telephoniert als ich plötzlich sagte:

„Du, ich will dich nicht abwürgen, aber ich habe das dringende Bedürfnis zu telephonieren.“

„Gut, dann solltest du das tun. Und nachher erzählst du mir, was dabei herausgekommen ist.“ Verstand Uwe mich ohne weitere Erklärungen.

Ich legte auf und ging zurück in meine Wohnung.

Es war kurz vor 12, Michael schlief noch und würde vor halb eins nicht wach werden.

Ich suchte dann den Zettel aus meiner Schublade, auf dem die Nummer von der Schreinerei stand. Die Schreinerei von Marcos Bruder.

Schon lange wusste ich, was ich sagen wollte.

Ohne große Aufregung aber mit großem Selbstbewusstsein wählte ich die Nummer.

„Lotz?“ meldete sich eine weibliche Stimme am anderen Ende der Leitung.

„Ja, Moin, Hansen mein Name. Bin ich da richtig bei der Schreinerei Sascha Lotz?“ erkundigte ich mich höflich.

„Ja, einen Moment, ich verbinde Sie.“ Sagte die Dame und ich wurde in eine Warteschleife geschaltet.

Nur kurze Zeit später meldete sich ein Herr Lotz.

„Entschuldigen Sie, wenn ich so plump frage, aber, Sie haben doch einen kleinen Bruder?“ begann ich das Gespräch.

„Ja?“ antwortete Herr Lotz verwundert.

„Das ist wunderbar. Sie müssen wissen, wir waren zusammen auf der Fruerlundschule und mit einigen ehemaligen Schülern zusammen wollten wir ein Klassentreffen organisieren. Viele haben wir ausfindig machen können, aber bei Ihrem Bruder Marco sind wir etwas aufgeschmissen. Haben Sie eventuell eine Telephonnummer oder eine Adresse von ihm?“ erklärte ich ohne rot zu werden.

„Ja schon, aber die kann ich nicht einfach so rausgeben.“ Erwiderte er ohne Verdacht zu schöpfen.

„Sie können mir aber ihre Telephonnumer geben, dann kann ich sie an meine Eltern weitergeben, die sie dann an meinen Bruder geben können. Sie müssen wissen, wir haben nicht mehr so viel Kontakt.“ Bot er dann an.

Mir war das recht, ich hatte 8 Jahre gewartet, da konnten ein paar Tage oder Wochen nicht mehr viel ausmachen.

Ich willigte also ein, gab ihm meine Telephonnummer und meinen Mädchennamen und bekam das Versprechen, daß er beides gleich weiterleiten würde.

Ich legte auf.

Der erste Schritt war gemacht, jetzt musste ich abwarten, wie die Dinge sich entwickeln würden.

Inzwischen war es Zeit geworden, Oliver vom Bus abzuholen. Ich vergewisserte mich, daß Michael fest schlief. Dann nahm ich meine Zigaretten und ging zur Bushaltestelle, nur 20 Meter von meiner Wohnung entfernt.

Kapitel XXXII
 

Ich stand an der Haltestelle und genoss die warme Luft, die Gerüche, die für diese Gegend und diese Zeit so typisch waren. Es roch nach Salzwasser und Seetang, der feucht und gammelnd in der Sonne am Strand lag. Es roch auch nach Gülle. Aber die Gülle hier stank nicht so bestialisch nach verwesenden Tieren. Die Erde roch ganz anders. Unten in Hessen war der Boden lehmig, durchsetzt mit Lehmschiefer oder beides. Hier war der Boden dunkel und roch nach Humus. Dann das Stroh von den Getreidefeldern, daß noch in Ballen zusammengebunden auf den Feldern in der Sonne lag, frisch umgepflügte Felder, die von der Sonne erhitzte Straße, alles zusammen ergab eine ganz besondere Duftmischung und ich konnte gar nicht tief genug atmen um alles in vollen Zügen zu genießen. Über mir flogen einige Möwen und schrien, ein Geräusch daß ich lange vermisst hatte. Die Luft war mild und ein leichter Wind schmeichelte weich um mich. Ich war glücklich. Seit langer Zeit mal wieder richtig glücklich.

Dennoch, ich konnte mich nicht ganz frei machen. Zu sehr, zu lange hatte ich meine Gefühle verschlossen.

Ich traute mich nicht, meine Empfindungen ganz frei zu lassen. Ich hatte Angst gehabt, es würde zerreißen, wenn ich meine Gefühle jetzt ganz rauslassen würde. Zu groß waren die Endtäuschungen in der Vergangenheit, wenn ich mich auf ein Glücksgefühl einlassen wollte, es aber immer wieder zunichte gemacht wurde. Ich konnte all die Dinge, die sonst mein Herz kitzelten, nicht mehr ertragen.

Der Gesang der Vögel im Frühling, Stare und Singdrosseln im Sommer, warmer Sommerwind, der in den Blättern der Bäume rauschte, der Frühling an sich mit all seinen Gerüchen, Geräuschen und Farben. Weihnachtsszeit war für mich beinahe schmerzhaft. Ich konnte die Lieder nicht ertragen, besonders „Driving home for Christmas“ von Chris Rea. Ich währe auch so gerne nach Hause gefahren, nicht nur für Weihnachten…

Es würde noch dauern, bis ich wieder ganz frei atmen konnte, aber der Anfang war gemacht. Mit einem Schlag hatte ich viele meiner Träume verwirklichen können.

Ich hab meine Kinder ins Auto gesetzt, in mein Auto, in meinen Yogi, und bin die ganze Strecke alleine nach Hause gefahren.

Ich hatte eine Wohnung für mich und die Kinder.

Ich wohnte sogar wieder in Langballig.

Ich hab meine Sachen gepackt, die Probleme in Hessen gelassen, mein Leben selbst in die Hand genommen und war endlich zu Hause.

In meinem ganzen Leben hab ich mich noch nie so zu Hause gefühlt wie in diesem Moment.

Dann kam der Bus und mein überaus gut gelaunter Sohn stieg aus und lief mir juchzend entgegen.
 

In meiner Wohnung angekommen sah ich gleich, daß jemand angerufen hatte, der AB blinkte.

Ich hatte beim Aufräumen und Aussortieren in meinem Zimmer unten im Haus in Heringen auf einem Schrank einen kleinen Karton gefunden auf dem das Telephon abgebildet war, daß eigentlich unten im Flur stand. Ich dachte immer, daß ich da irgendwelche Bastelsachen drin gehabt hätte. Als ich den Karton aber vom Schrank holte und aufmachte fand ich sehr zu meinem Erstaunen eben das Telephon, das darauf abgebildet war.

Hatten Ulrich und ich ein zweites Telephon gekauft? Daran konnte ich mich gar nicht erinnern.

Nichts desto weniger freute ich mich natürlich über diesen Fund und packte ihn nach ganz unten in einen Karton. Das dazu passende Mobilteil wollte ich dann einfach so mitnehmen.

Jetzt stand dieses Telephon auf meiner Fensterbank und blinkte.

Die Neugier trieb mich sofort zu eben jenem Telephon. Ich sagte Oliver, er solle zur Toilette gehen, damit war er dann erstmal für ein paar Minuten beschäftig.

Ich drückte den blinkenden Knopf.

„Hallo Carmen, hier ist Marco. Du kannst mich ja mal anrufen, die Nummer wird dir angezeigt. Ruf mich am Besten zwischen 7 Uhr morgens und 16:30 Uhr nachmittags an. Bis dann.“

Meine Hände zitterten.

Mein Kopf war blutleer und in meinen Ohren rauschte es mehr als sonst.

Ich hatte das Gefühl, ein Vakuum würde meinen Brustkorb zusammen ziehen und für einen Moment war ich unfähig mich zu bewegen.

Marco!

Marco Lotz!

Er hatte angerufen!

Jetzt schon!

Wow!

Die Nummer wird mir angezeigt.

Super.

Ich wurde geradezu aus der Schockstarre in einen leichten Panikanfall geworfen und rannte jetzt einigermaßen kopflos durch meine Wohnung.

„Die Nummer wird angezeigt!“ schimpfte ich vor mich hin.

„Du Blödmann! Ich weiß doch überhaupt nicht, wie ich mit dem Telephon umgehen muss? Wo ist die Bedienungsanleitung!“

Ich riss die Schubladen meines Sidebords auf.

„Ah, da ist sie. So. Wie suche ich denn jetzt danach? Anrufbeantworter…“

Hecktisch blätterte ich in dem kleinen Buch.

„Anrufbeantworter programmieren. Anrufbeantworter einschalten… Abhören… Ah, hier. Ok, dann hoffe ich mal, daß die Nummer dann auch wieder angezeigt wird.“

„Mami, Michael ist wach.“ Kam dann mein Sohn dazwischen.

„Ja, Moment, warte…“

Ich konnte jetzt unmöglich erst die Kinder fertig machen.

Ich drückte den Wiedergabeknopf am Telephon und die Nachricht von Marco war erneut zu hören.

Ich guckte auf das Display auf meinem Mobilteil und – Die Nummer wurde angezeigt.

Ein mittlerer Berg viel mir von meinem hecktisch pochenden Herzen.

Hastig schrieb ich die Telephonnummer auf.

Gut, bis 16:30 Uhr war noch Zeit, jetzt musste ich mich erstmal mit den Jungs befassen.

Ich machte ein Brot für Oliver, wickelte Michael und machte eine Flasche für ihn fertig. Er war jetzt 11 Monate und aß auch schon mal Brot oder Nudeln, die Flasche war ihm allerdings wesentlich lieber und mir in dem Moment nur Recht.

Ich hatte das Gefühl, ich würde mich in eine Wolke aus Pixeln auflösen und wie ein Schwarm Mücken herumschwirren. Den Boden unter den Füßen bemerkte ich kaum noch und auch sonst machte ich alles wie in Trance.

Marco.

Er hat angerufen.

Ich soll zurückrufen.

Du meine Güte.

Oliver kaute zufrieden auf seinem Leberwurstbrot und Michael kaute genauso zufrieden auf dem Sauger seiner Flasche.

Ich saß auf meinem Sofa und musste erstmal tief Luft holen.

Zu gerne hätte ich jetzt eine geraucht, aber der Kinder zu Liebe machte ich das nur draußen.

Dennoch musste ich mich erstmal beruhigen und zusammenraufen.

Noch einmal tief Luft holen.

Marco.

Auf einmal fühlte es sich an, als wäre er ganz nahe.

Zum Greifen nahe.

Mein Herz flatterte wie das eines verliebten Schulmädchens.

Ganz ruhig.

Zuerst musste ich mal daran denken, daß er durchaus noch in einer festen Beziehung sein könnte.

Daß er durchaus glücklich sein konnte.

Die Tatsache, daß er mich angerufen hatte und daß er wünschte, daß ich zurückrufe, hatte noch gar nichts zu bedeuten.

Lediglich, daß er sich wohl noch an mich erinnerte und sich dafür interessierte, wie es mir ging. Vielleicht waren wir sogar noch Freunde.

Ich durfte mir nicht zu große Hoffnung darauf machen, daß er jetzt angeflogen kam, mir seine Liebe gestand und sofort mit mir für immer und ewig zusammen bleiben wollte. Noch dazu wo ich die zwei Jungs hatte. Wenn, dann gab es mich nur im Dreierpack.

Und ich wusste nicht, wie Marco zu Kindern stand. Zu kleinen Kindern. Zu Kindern, die nicht seine eigenen waren. Vielleicht hatte er ja inzwischen ein eigenes Kind? War verheiratet? Ok, beides war nur schwer vorstellbar, aber nicht unmöglich. Ich hab früher auch gesagt: Kinder? Klar. Zaun drum, drei Mal am Tag füttern, ein Mal die Woche Gassie gehen, aber bitte ohne mich.

11 Jahre waren eine lange Zeit.

Ich hab mich in den 11 Jahren stark verändert, nicht nur äußerlich, auch innerlich. Und der Zahn der Zeit würde auch an Marco nicht spurlos vorüber gegangen sein.

Aber ich hatte wieder eine Möglichkeit Kontakt mit ihm zu haben, ich würde erfahren wie es ihm geht, was er macht, was aus ihm geworden war.

Ich freute mich.

Das war mehr als ich in den letzten Jahren zu hoffen wagte.

Oliver war mit seinem Brot fertig und auch Michael spielte mit der leer getrunkenen Flasche.

Ich hatte mich inzwischen gefangen.

Gelöst aber durchaus wieder Herr meiner Sinne und Körperteile machte ich die Jungs fertig um raus zu gehen. Es war gerade erst 13 Uhr und die Sonne schien. Bis zur Nachmittagsstunde, die beide machten, war noch Zeit.

Ich schob Michael in seinem zur Spotkarre umgebauten Kinderwagen vor mir her und ließ Oliver frei laufen. Hier war das möglich. Hier waren wir auf dem Dorf, es gab keine Fußwege, die uns beschränkten. Natürlich mussten wir trotzdem auf Autos achten, aber alles war viel entspannter als in Hessen.

Mein Großer und ich entschieden uns dafür einen kleinen Abstecher zum nahe gelegenen Wald zu machen. Die Nüsse in den Knicks waren reif und wir futterten begeistert. Ich knackte die Nüsse mit den Zähnen. Entschuldige, meine lieber Zahnarzt, ich weiß, das ist nicht gut, aber ich tat das schon immer und ich würde erst damit aufhören, wenn ich befürchten müsste, daß die Reste meiner Zähne abbrechen würden.

Oliver fand jede Menge Brombeeren und war begeistert über all die Dinge, die man einfach so aus dem Busch pflücken und in den Mund stecken konnte. Wir kamen an einem Feld vorbei, wo noch einige Halme Weizen standen und ich zeigte meinem Sohn, daß man da kleine Körner herausholen und essen konnte. Oliver staunte, was ich alles wusste. Wir fanden sogar Mirabellen, sie waren köstlich und mein Großer versorgte seinen kleinen Bruder reichlich mit allem, was wir essbares fanden. Der fand die Mirabellen allerdings nicht so prickelnd und spuckte sie geradewegs wieder aus.

Nachdem Oliver sich davon überzeugt hatte, daß Mais frisch vom Feld total überbewertet wurde und Schlehen auch nicht gerade der Renner waren, machten wir uns auf den Weg zurück nach Hause.

In meinem Magen drängten sich inzwischen immer mehr Schmetterlingsraupen, die dabei waren sich zu verpuppen. Nur wenig später begannen sie auch zu schlüpfen, einer nach dem anderen. Mein Herz begann schneller zu klopfen in der Voraussicht, daß wir gleich zu Hause sein würden. Ich würde Marco gleich anrufen können.

Die Kinder waren sicher satt, vollgestopft mit Nüssen, Brombeeren und Mirabellen. Michael war sichtlich müde von der Sonne und der frischen Luft und auch sein großer Bruder sah aus als könnte eine Mütze voll Schlaf nicht schaden.

Ich machte die zwei Bettfertig und ohne Probleme gingen sie schlafen.

15 Uhr.

Jetzt hatte ich Zeit.

Ich baute mir eine Handvoll Zigaretten. Von meiner Mum hatte ich einen Stopfautomaten geschenkt bekommen. Das war billiger als Schachteln.

Dann nahm ich meine Zigaretten und mein Telephon, versicherte mich, daß die Jungs schliefen und ging runter.

Auf der Rückseite des Hauses konnte ich in der Sonne direkt unter meinem Wohnzimmerfenster im Gras sitzen.

Dann zog ich den Zettel mit Marcos Nummer heraus.

Es war eine Handynummer.

Vom Festnetz aufs Handy anrufen war nicht billig.

Egal!

Marco anrufen zu dürfen war unbezahlbar.

Mit zittrigen Fingern wählte ich die Nummer, drückte auf den grünen Knopf und wartete.

Es tutete.

Es tutete lange.

Sehr lange.

Ich wollte gerade endtäuscht auflegen, als er doch ranging.

„Ja?“

„Marco?“ meine Stimme muss gezittert haben.

„Ja? Carmen?“

„Ja, ich bins.“ Oh man, Marco…

„Hi, wie geht es dir?“ wollte er erfreut wissen.

„Gut, und dir?“ meine Finger waren ganz nassgeschwitzt und ich musste die Hand wechseln.

„Geht so, danke. Was machst du hier? Bist du im Urlaub?“

„Nein, ich wohne jetzt hier.“ Antwortete ich nicht ohne Stolz.

„Hat es euch da unten nicht mehr gefallen?“

„Nein, gar nicht. Es ging einfach nicht mehr.“ Antwortete ich in der Vorfreude ihm mitzuteilen, daß ich mich getrennt hatte.

„Es ging nicht mehr?“ fragte Marco.

„Nein, gar nicht mehr. Schon gar nicht für die Kinder.“ Ich grinste in mich hinein.

„DU HAST KINDER????“

„Jap.“ Genau diese Reaktion hatte ich erwartet und konnte mir das Kichern kaum verbeißen.

„Zwei Jungs. Dreieinhalb Jahre und 11 Monate.“ Gab ich weiter Auskunft.

„Du wolltest doch nie Kinder haben?“ erinnerte Marco sich erstaunt.

„Nein, wollte ich nicht. Aber ich war so einsam, daß ich doch welche haben wollte.“ Klärte ich ihn auf.

„Einsam? War es denn so schlimm?“

„Ja, das war es. Lange Erzähle.“

„Und hier gefällt es euch dann besser?“ fragte Marco weiter.

„Jap. Auf jeden Fall. Ich hatte solches Heimweh.“ Ich musste fast weinen, teils vor Glück, daß ich ihn endlich am Telephon hatte, teils weil das Heimwehgefühl noch so nahe war. Und meine Sehnsucht nach Marco, aber das konnte ich ihm ja jetzt schlecht sagen. Ich wollte ihn nicht gleich wieder verschrecken.

„Und dein Mann?“

„Den hab ich da gelassen. Ich hab mich getrennt.“

Schweigen.

„Du hast dich getrennt.“ Stellte er mehr fest, als daß er fragte.

„Wie lange bist du denn schon hier?“ wollte Marco dann wissen.

„Seit zwei Monaten.“ Antwortete ich.

„ZWEI MONATE? Und dann rufst du erst jetzt an?“ entrüstete er sich.

„Ich musste erstmal mein Leben ordnen, die Wohnung, die Ämter, Anwalt, Umzug, wie gesagt, lange Erzähle.“ Erklärte ich mich.

„Und jetzt ist alles geregelt?“

„Ja. Aber wie geht es dir? Bist du noch mit deiner Freundin zusammen?“ erkundigte ich mich jetzt nach seinem Befinden.

„Ja, bin ich.“

Damit hatte ich rechnen müssen, damit hatte ich gerechnet.

Einen kurzen Moment war ich enttäuscht, fing mich aber schnell wieder.

„Immer noch die von damals? Als wir das letzte Mal telephoniert hatten?“ fragte ich weiter.

„Ja, immer noch die. Seit 11 Jahren.“ Antwortete er.

„Wenn ihr mal Zeit habt, dann könnt ihr doch mal vorbeikommen? Auf einen Kaffee? Ich kann leider nicht nach Flensburg kommen, zurzeit habe ich kein Auto.“ Schlug ich dann vor, so gelassen wie möglich.

„Wir beide? Ich UND meine Freundin?“ fragte Marco ungläubig.

„Ja klar? Warum nicht?“ sagte ich ganz locker.

„Mal gucken.“

Scheinbar war ihm der Gedanke, seine Freundin mitzubringen, nicht ganz geheuer.

„Was machst du jetzt? Ich meine, Beruflich?“ wechselte ich das Thema.

„Zurzeit bin ich in einer Hausmeisterfirma, eine kleine Privatfirma. Wir mähen den Rasen, stutzen Bäume und Büsche, reparieren, wischen Treppenhäuser, putzen Fenster. Halt alles, was ein Hausmeister machen muss und das dann bei verschiedenen Objekten.“ Erklärte Marco.

„Im Moment bin ich in Glücksburg.“ Fügte er noch hinzu.

„Und was machst du da?“ fragte ich in Ermangelung eines interessanteren Themas.

„Ich wische den Hausflur in einem Gebäude, in dem nur Eigentumswohnungen sind.“ Gab er bereitwillig Auskunft.

„Du, ich hätte am Dienstag Nachmittag Zeit, so ab 14 Uhr. Hättest du da Zeit für ein Treffen?“ fragte er dann spontan.

Ob ich Zeit hätte?

Hallo?

Ich war Mutter zweier Kleinkinder, ich HATTE Zeit!

Vor allem für Marco hatte ich alle Zeit der Welt und ich könnte jeden Termin einrichten.

„Klar hab ich Zeit.“ Antwortete ich dann.

„Also dann komme ich um halb drei zu dir.“ Freute Marco sich.

„Du allein?“ fragte ich nur um sicher zu gehen, daß ich ihn richtig verstanden hatte.

„Ja, ich allein.“ Bestätigte er.

Mein Herz machte einen Hupfer inklusive doppeltem Salto und dreifacher Schraube.

Er kommt.

Am Dienstag.

Zu mir.

Allein!

„Erschrick dich aber nicht, ich habe 30 Kilo Übergewicht.“ Warnte ich ihn dann vor.

„Erschrick du nicht, ich trage jetzt eine Brille.“ Lachte Marco.

„Ich freu mich.“ Sagte ich dann nur. Das breite Grinsen konnte er gottseidank nicht sehen, ich muss ausgesehen haben wie die Karikatur für eine Zahnpastareklame.

„Schön, dann sehen wir uns dann. Ich muss jetzt aber weiter machen. Meine Nummer hast du ja, wenn etwas ist.“ Sagte er dann.

„Super, ich freu mich.“ Sagte ich wieder. Etwas Besseres wollte mir einfach nicht einfallen.

„Dann bis dann.“ Verabschiedete Marco sich.

„Bis dann.“

Ich drückte den roten Knopf an meinem Mobilteil und ließ das Telephon sinken.

Ich hatte eine Verabredung.

Mit Marco.

Mit Marco alleine.

Marco und ich, ganz alleine.

Und die Kinder.

Ich zählte im Kopf die Wochentage durch.

Heute war Mittwoch, am Dienstag wollte Marco kommen, das waren heute nicht mitgerechnet sechs Tage.

Am 17. September würde ich ihn wieder sehen.

Wie er wohl jetzt aussah.

Würde ich ihn wieder erkennen?

Ach sicher, ich glaubte nicht, daß Marco sich so sehr verändern hätte können, daß ich ihn nicht mehr erkannt hätte.

Außer vielleicht er hätte stark zugenommen und sein Gesicht wäre von einem Bart so zugewuchert, daß man die Nase gerade noch erahnen könnte, geschweige denn die Augen…

Aber dafür war Marco weißgott nicht der Typ.

Würde er mich noch mögen können? So fett wie ich jetzt war? Ich hatte zwar 10 Kilo abgenommen, aber ich wog immer noch 80 Kilo bei einer Körpergröße von 158cm. Mein Bodymaßindex war milde ausgedrückt katastrophal!

Aber er musste mich ja nicht leiden mögen. Er war ja noch in seiner Beziehung.

Allerdings kam er alleine.

Ob da etwas mitschwang?

Ach was, du siehst Gespenster! Schalt ich mich selbst.

Am Dienstagnachmittag um halb zwei.

Bis dahin wollte ich noch einiges schaffen.

Jetzt aber lehnte ich mich zurück an die Hauswand, ließ mir die Sonne ins Gesicht scheinen und genoss meine Zigarette.

Marco.

Ich werde dich wiedersehen.

Schon in sechs Tagen…

Kapitel XXXIII
 

In meinem Kopf ging ich alles durch, was ich bis Dienstag schaffen wollte, musste und konnte.

Ich wollte ihn mit meiner Kochkunst überraschen.

Damals, vor der Hochzeit, konnte ich nicht kochen. Nicht einmal heißes Wasser!

Ich konnte Fleisch kleinschnippeln, würzen und sogar braten, aber davon alleine konnte man sich nicht ernähren. Selbst wenn man den Speiseplan mit Rührei und Kartoffelpüree aufpeppte. Allenfalls gelang es mir noch einen Salat zu schnitzen, bei der Marinade war dann aber schon wieder schluss.

„Hey, Carmen, wann machst du mal wieder Nudeln? Ich hab Bock auf angebrannte Nudeln.“ Fragte mich mein Bruder damals mal.

Damals war ich beleidigt.

Heute konnte ich darüber lachen.

Aber was könnte ich kochen, wenn Marco da war?

Was würde er mögen?

Ich war mir sicher, daß er alles mochte. Außer vielleicht Kapern, eingelegte Paprika oder ähnliches. Auch exotische Ingredienzien sollte ich vorerst vermeiden wie Aubergine, Zucchini oder Kürbis.

Ich konnte Sauerfleisch machen.

Wenn ich es heute einlegte, dann am Samstag kochen würde, könnte es bis Dienstag richtig durchgezogen sein. Dazu Bratkartoffeln mit Zwiebeln. Das war leicht, machte nicht so viel Arbeit und ich konnte gleich mit einer kleinen Spezialität glänzen.

Also, nachher musste ich dann noch mal nach EDEKA.

Dann wollte ich natürlich einen guten ersten Eindruck machen, die Wohnung sollte blitzen.

Meine dunkle Vergangenheit kam an meinem Kopf wieder durch, ich musste noch meine Haare blond nachfärben.

Haare, ich musste die Haare von meinen Beinen entfernen.

Gut, ich ging jetzt absolut nicht davon aus, daß wir gleich am Dienstag in der Koje landen würden. Dennoch, das musste einfach sein.

Was würden wir dann machen, an dem Nachmittag? Das sollte ich dann am Besten einfach auf uns zukommen lassen. Vielleicht könnten wir rausgehen mit den Kindern.

Oh man, das war aufregend.

Ich schwebte im siebten Himmel.

Nicht einmal das Bewusstsein, daß er immer noch mit seiner Freundin zusammen war, konnte mich von meiner rosa Wolke schupsen.

Mein Herz hatte Flügel bekommen. Wunderschöne gläserne Flügel mit weißen Daunen.

Und diese Flügel waren so leicht wie Luft.

Ich hatte das dringende Bedürfnis etwas zu zeichnen.

Aber erst musste ich die Dinge erledigen, die ich mir vorgenommen hatte.

Ach ja. Und ich sollte Uwe anrufen und ihm erzählen, was dabei herausgekommen war.

Ich steckte mir eine neue Zigarette an und wählte Uwes Nummer.
 

Pünktlich um 17 Uhr wurden meine Jungs wieder wach. Oliver ging ganz alleine zur Toilette, Michael lag in seinem Bett und sang.

Ich machte beide Ausgehfein und mit einem Brot in der Hand saßen sie dann in dem Anhänger an meinem Fahrrad.

Beflügelt von den Gefühlen, die mich erfüllten, fuhr ich ins Dorf hoch. Meine Gedanken jagten sich gegenseitig.

Marco, er kommt am Dienstag. Ich würde ihn endlich wieder sehen. Nach so langer Zeit. Nach all der Sehnsucht, die ich nur mühsam ertragen hatte.

Die Sonne schien und die Luft war warm, es war ein leichtes und treten in die Pedale.

Was würde wohl passieren?

Nichts.

Er war noch in seiner Beziehung.

Allerdings hatte ich schon lange das Gefühl, daß sie nicht anständig mit ihm umging.

Keine Ahnung, wieso. Aber seit vielen Monaten, eigentlich schon Jahren, war ich überzeugt, daß Marco es mit mir besser haben könnte.

„Du redest dummes Zeug!“ schalt ich mich laut.

„Das redest du dir ein, weil du ihn haben willst. Wer weiß? Vielleicht ist sie ja doch gut für ihn und er ist glücklich?“ redete ich weiter laut vor mich hin.

„Allerdings hat er am Telephon nicht so ganz davon überzeugt geklungen. Aber er hat ja auch nichts direkt dazu gesagt. Du bildest dir da was ein! Aber er kommt, am Dienstag, um halb drei, alleine. Ganz alleine für mich.“

Ich sprach laut mit mir selbst, immer noch das dämliche Grinsen im Gesicht.

Endlich war ich im Dorf angekommen.

Ich schnallte die Kinder los, hob Michael in einen Einkaufswagen mit Auto und Oliver nahm vorne im Auto Platz. Mit viel „Brumm brumm“ und fast pausenlosem Hupe drücken von Oliver schob ich die Kinder dann durch den Laden.

Ich kaufte Pudding für die Jungs, Milch und eine Packung "Mäuseköttel". Die waren so lecker, wir aßen die Dinger fast nur noch. Sie hießen nicht wirklich "Mäuseköttel" und natürlich waren es auch keine. Auf der Packung stand etwas von "Reisextrudate" und sie wahren mit Schokoladengeschmack. Meine Mum hatte die Dinger für die Kinder gekauft. Sie hatten in etwa die Farbe, Form und Größe wie eben Mäuseköttel und wir haben sie dann nur noch so genannt.

Michael mochte die noch nicht so wirklich, das konnte aber auch daran liegen, daß er noch nicht alle Zähne hatte.

Dann kaufte ich noch etwas Aufschnitt ein, Salami, Schinken, Käse, Gut&Günstig war sehr zu empfehlen.

Dann ging ich zum Fleischtresen und suchte ein schönes Stück Nacken aus. Glücklicherweise war es sogar im Angebot.

„Wo kann ich Pökelsalz bekommen?“ fragte ich die Verkäuferin hinter dem Fleischtresen.

„Also, wir haben keines, wir bekommen die Ware frisch und fertig geliefert. Aber im Gewürzregal könnten Sie Glück haben.“ Lächelte die Verkäuferin freundlich.

Ich war da nicht so sehr sicher. Unten, in Kirberg, da bekam ich das Pökelsalz nur beim Metzger.

Dennoch wollte ich es nicht unversucht lassen und fand tatsächlich das Gewünsche im Gewürzregal.

Super!

Jetzt brauchte ich noch dieses Zeug mit den Senfkörnern zum Einlegen von Gewürzgurken. Auch da, klasse. Jetzt noch Nelken, Wacholderbeeren, Lorbeerblätter und ganzen Piment. Alles da. Großartig, damit konnte es dann ja losgehen. Ach, Salatkrönung und Essig, wichtig, sonst schmeckt es nicht. Und ein Päckchen Gelatine für das Gelee. So, jetzt hatte ich wirklich alles beisammen, was ich für Sauerfleisch brauchte.

Dann nahm ich noch eine Packung Butterkekse für die Jungs mit, kaufte jedem ein kleines Eis und verstaute dann alles in dem kleinen „Kofferraum“, der sich am Anhänger befand.

Praktische Sache, so ein Fahrradanhänger.

Beschwingt und voller Vorfreude fuhr ich wieder nach Hause und machte mich gleich an die Arbeit.

Das Fleisch musste vom Knochen getrennt und in handliche Stücke geschnitten werden. Dann von allen Seiten mit Pökelsalzt bestreuen. Eine Tuperdose hatte ich leider nicht, aber in einem Gefrierbeutel konnte das Fleisch auch luftdicht ziehen.

Drei Tage musste das jetzt so im Kühlschrank liegen.

Ich räumte dann den Rest der Einkäufe weg, gab den Jungs je einen Pudding und als sie damit fertig waren gingen wir wieder raus.

Draußen war es einfach am schönsten.
 

Am folgenden Morgen hatte ich schon wieder das dringende Bedürfnis mit Marco zu telephonieren.

Aber ich konnte ihn ja jetzt schlecht ständig anrufen.

Das wäre sicher zu aufdringlich.

Aber diese Sehnsucht nach seiner Stimme, seiner Nähe, auch wenn es nur über das Telephon war, war einfach nicht auszuhalten.

Ich hatte dann auch einen Einfall für einen plausiblen Grund.

Es konnte ja sein, daß ich gerade nicht zu Hause, war, wenn er anrufen wollte. Dafür hatte ich ja noch mein Handy. Der Vertrag war zwar ausgelaufen, sicher hatte der Alte meinen Vertrag nicht erneuert. Aber ich konnte noch angerufen werden.

Das war wichtig.

Sehr wichtig.

Wichtig genug jedenfalls, um Marco dringend noch mal anrufen zu müssen.

Oliver war längst im Kindergarten und Michael spielte im Wohnzimmer auf dem Boden mit seinen Beißringen.

Ich nahm mein Telephon und wählte Marcos Nummer.

„Ja? Lotz?“ meldete er sich dann.

„Hi, ich bin es noch mal.“ Sagte ich.

„Carmen? Hi, schön daß du anrufst.“ Es klang, als wäre bei Marco die Sonne aufgegangen.

Mein Herz flatterte wie ein Schmetterling.

„Du, ich hab gestern ganz vergessen dir meine Handynummer zu geben.“ Erklärte ich dann.

„Stimmt. Dann gib sie mir mal jetzt. Oder schick einfach eine SMS, dann hab ich die Nummer ja auch.“

„Nein, eine SMS kann ich leider nicht versenden.“ Antwortete ich dann und erklärte, wie das zusammen hing.

„Ach so, na, dann schieß mal los.“ Lachte Marco.

Ich gab ihm meine Nummer.

„Weiß du was?“ fragte Marco mich dann.

„Nein, was denn?“

„Ich bin richtig aufgeregt wegen Dienstag.“ Gestand er grinsend. Klar, ich konnte es nicht sehen, aber ich konnte es hören.

„Bist du?“ fragte ich erstaunt. Und geschmeichelt.

„Ja, keine Ahnung warum, aber meinem Kollegen ist auch schon aufgefallen, daß ich viel mehr rauche als sonst.“ Gestand er.

Mein Herz hüpfte wieder munter vor sich hin.

„Ich bin auch aufgeregt.“ Gestand ich meinerseits.

„Was sagt denn deine Freundin dazu?“ fragte ich mutig. Ich war nicht sicher, ob ich wirklich wissen wollte, was seine Freundin dazu sagt.

„Bente? Nichts. Ich habs ihr nicht erzählt.“ Antwortete Marco und ich meinte eine leichte Verschlechterung seines Gemütszustandes wahrzunehmen.

„Warum nicht?“ nun war ich doch wirklich neugierig geworden.

„Ach, das muss ich mir nicht auch noch antun. Es läuft nicht mehr so gut zwischen uns, eigentlich länger schon.“ Erläuterte Marco beinahe niedergeschlagen.

Mein Herz allerdings schlug einen preisverdächtigen Salto nach dem anderen.

Sofort hatte ich ein schlechtes Gewissen, naja, ein bisschen, kaum, schon etwas…

Wie konnte ich mich darüber freuen, daß es Marco mit seiner Trulla – Entschuldigung, mit seiner Freundin nicht so gut ging? Mein armer Marco. Was machte sie mit ihm?

Das schlechte Gewissen wechselte in einen leichten Zorn gegen seine Madam.

„Warum? Was ist los?“ fragte ich so neutral wie möglich und ehrlich interessiert.

Die Augen werd ich ihr auskratzen, wenn sie ihn schlecht behandelt.

„Ach irgendwie ist alles nur noch ätzend.“ Winkte Marco ab.

Ich spürte, daß er nicht darüber reden wollte.

„Das tut mir leid für dich.“ Sagte ich dann. Das tat es ehrlich. Sie hasste ich jedoch dafür, daß sie zuließ, daß dieser wunderbare Mensch sich schlecht fühlte.

„Du, ich muss dich leider schon wieder abwürgen. Ich soll gleich eine Hecke schneiden und das wird etwas lauter.“ Erklärte er mir dann.

„Wir können ja später telephonieren.“ Schlug er noch vor.

„Ja, das können wir machen. Und sonst sehen wir uns ja am Dienstag.“ Erwiderte ich.

„Genau. Ich freu mich schon darauf.“ Strahlte er jetzt schon wieder.

„Ich mich auch.“ Smilete ich versonnen.

„Dann bis dann.“ Verabschiedete er sich.

„Bis dann.“

Ich legte auf.

Mit dem letzten Rest meiner Selbstbeherrschung konnte ich mich noch davon zurückhalten einen Rückwärtssalto aus dem Stand zu probieren.

War das ein Wink mit dem Zaunpfahl?

Was hatte er da gerade gesagt?

Und schon beim zweiten Telephonat mit mir?

Durfte ich mir Hoffnung machen?

Oder lieber nicht?

Hallo?

„Bleib mal auf dem Teppich!“ Versuchte ich mich zu bremsen.

Es gelang mir nicht.

Meine rosarote Wolke war schon wieder geradewegs im siebten Himmel angekommen, ich saß noch immer darauf und sie war noch tuffiger als am Vortag.

Außerdem hoppelten jetzt lauter flauschige weiße Wattehäschen um mich herum und ich strahlte mit der Sonne um die Wette.

Oh man, das konnte alles gar nicht wahr sein.

Ruhig.

Ganz ruhig.

Aber ich wollte mich nicht beruhigen.

Ich schnappte mir mein Baby, schwang mit ihm im Kreis und drücke es an mich vor lauter Glücksgefühl.

Michael wusste nicht wie ihm geschah und war zuerst ganz verdaddert. Dann aber lachte er mit mir.

Mein Telephon klingelte.

Auf der Anzeige las ich den Namen meiner Mutter. Ich hatte ihre Nummer im Telephon gespeichert.

Ich riß mich so schnell ich konnte zusammen und ging ran.

„Ja?“ meldete ich mich gut gelaunt.

„Ja, hier auch ‚Ja‘.“ Meldete sich meine Mum ebenfalls gut gelaunt.

„Du, Dern, ich wollte dich fragen, ob du nachher vorbeikommen kannst. Ich meine, wenn Oliver aus dem Kindergarten kommt. Ich habe gekocht aber viel zu viel.“ Wollte meine Mutter wissen.

„Klar, ich kann auch gleich kommen und dann holen wir Oliver an der Schule vom Bus ab.“ Schlug ich vor.

„Das könnt ihr auch machen. Wann bist du dann da?“ stimmte meine Mum zu.

„Ich denke mal so in zwanzig Minuten. Ich mache Michael eine neue Windel und komme dann gleich zu dir.“

„Alles klar, dann bis gleich.“ Sagte meine Mum.

„Bis gleich.“

Ich legte auf und stellte das Mobilteil in die Ladestation.

„Na dann komm mal her, wir fahren gleich zur Oma.“ Sagte ich dann zu Michael, der seine Beißringe scheinbar viel interessanter fand.
 

Auf dem Weg zu meiner Mum flog ich beinahe. Und immer noch kreisten meine Gedanken nur um ein Ereignis: Marco Lotz.

Es läuft schon länger nicht mehr so richtig bei ihm und seiner Freundin. Warum hatte er mir das erzählt? Und schon beim zweiten Telephonieren? Wollte er mir damit etwas sagen? Oder nicht? Durfte ich mir Hoffnung machen? Ach was. Selbst wenn er mit seiner Freundin nicht mehr lange zusammen bleiben würde bedeutete das nicht gleich, daß er mit mir zusammen sein wollte.

Aber vielleicht ja doch?

Ich fühlte mich wie ein verliebter Teenager.

Ich musste an damals denken, wo Marco mir den Kopf in alle Himmelsrichtungen gleichzeitig verdreht hatte. Das war ein ähnliches Gefühl. Aber damals waren wir noch jung und hübsch. Und ich bin keines mehr von beidem. Allenfalls noch „Und“.

Ich war so beflügelt, daß ich die Anstrengung vom Fahrradfahren gar nicht mehr wahrnahm. Ich hatte so viel Energie wie schon seit Jahren nicht mehr.

Meiner Mum erzählte ich nichts davon. Sie wollte am kommenden Wochenende zu meinem Dad nach Süd-Korea fliegen für drei Monate. Mein Papa war dort stationiert um die größten Containerfrachter der Welt zu bauen, mehrere Schiffe gleichzeitig. Ich wollte nicht, daß sie sich Sorgen um mich machte. Es bestand eigentlich kein Anlass dafür, aber sie hätte sich sicher Sorgen gemacht. Vor allem, wenn ich ihr gesagt hätte, daß es Marco Lotz war, der mich gerade so verwirrte.

Sie freute sich, daß es mir offensichtlich richtig gut ging. Wir saßen auf der Terrasse. Mum hatte ihren Laptop mit nach draußen genommen und wir hörten Musik.

Münchner Freiheit, „So lang man Träume noch leben kann“

Versonnen und in rosaroten Herzchenwolken schwelgend sang ich mit. Ein bisschen Wehmütig und voller Vorfreude auf Korea und ihren Mann sang meine Mum mit.

Wir holten dann Oliver vom Bus ab der sich riesig freute, daß wir bei Oma wären. Hier konnten die Kinder im Garten spielen, Oliver plünderte die wenigen Erdbeerpflanzen, die meine Mum in Pflanzkübeln angebaut hatte und ich konnte mit meiner Mum ganz entspannt auf der Terrasse sitzen und die Luft, die Gerüche, die Geräusche und das Gefühl zu Hause zu sein genießen.

Das Leben war einfach herrlich.

Als ich am Abend nach Hause kam blinkte mein AB wieder. Offenbar hatte Marco versucht anzurufen. Schade, daß ich nicht da war. Jetzt war es aber weit nach 16:30 Uhr und ich wollte lieber nicht anrufen, wenn er zu Hause war. Wenn er so schon Stress mit seiner Trulla hatte, dann wollte ich nicht für noch mehr Ärger sorgen.
 

Als ich dann am nächsten Morgen von der Haltestelle zurück kam, wo ich Oliver am Bus abgeliefert hatte, klingelte schon mein Telephon noch kaum, daß ich richtig in der Tür war.

Michael schlief noch tief und fest.

Ich sah auf das Display und las Marcos Namen. Schon nach dem ersten Telephonat mit ihm hab ich ganz feierlich seine Nummer in mein Telephon eingegeben und noch feierlicher seinen Namen dazu geschrieben. Ausgeschrieben. Unverkennbar Marco Lotz.

Jetzt konnte der alte mich nicht mehr dafür zur Rede stellen, er durfte es nicht mehr.

Es war ein tolles Gefühl von Freiheit.

„Hallo du.“ Meldete ich mich.

„Hi, hier ist Marco.“ Erwiderte er meine Begrüßung.

„Ich weiß, das wird mir ja im Display angezeigt.“ Grinste ich versonnen.

„Was gibt es?“ fragte ich dann.

„Eigentlich nichts Besonderes.“ Gestand er.

„Ich wollte nur eine liebe Stimme hören.“

Wow!

Das war wirklich enorm. Mein Herz implodierte nur um sofort auf die doppelte Größe aufzublühen.

„Und dann rufst du mich an?“ fragte ich fast zärtlich.

„Warum nicht?“ fragte er salopp, aber nicht ohne lieben Unterton.

„War denn was los bei dir?“ ich ahnte schon, daß er wieder Ärger gehabt hatte. Allerdings hoffte ich inständig, daß ich nicht Schuld daran war.

"Hattest du Ärger?"

„Kann man so sagen.“ Gestand er niedergeschlagen.

„Magst du erzählen?“ fragte ich so taktvoll wie möglich.

„Ach, ich hatte gestern wieder einen langen Tag, jede Menge Laub harken, Unkraut jäten, Büsche beschneiden, Treppenhäuser wischen, das ganze Programm. Und dann kommt man von der Arbeit nach Hause und sie sitzt am Rechner.“ Beschwerte er sich.

„Und damit nicht genug. Sie meinte dann, ich solle gleich mal Einkaufen fahren, das Geld dafür konnte ich bei ihrer Mutter abholen und für sie dann auch gleich mit einkaufen gehen. Sie hatte keine Lust dazu.“

„Was soll das denn?“ entrüstete ich mich.

„Sie hat ja auch nur den ganzen Vormittag Zeit dafür, geht dann nachmittags drei Stunden putzen und dann fläzt sie sich wieder vor den Rechner. Und Essen gemacht hatte sie auch nicht. Das durfte ich dann auch selber machen, als ich mit dem Einkaufen fertig war.“

Er tat mir ehrlich leid und meine Halskrause auf die Trulla wuchs.

„Und wenn ich dann mal am Rechner sitze und mich in einem Spiel festbeiße, dann gibt es gleich wieder Ärger.“ Ereiferte er sich weiter.

„Das geht ja gar nicht. Läuft es denn schon länger so?“ fragte ich.

„Doch, ja, schon seit mehreren Monaten.“ Gestand er dann.

Ich konnte nachfühlen, wie es ihm im Moment ging. Für mich klang das so, daß seine Gutmütigkeit da ausgenutzt wurde. Er konnte nicht nein sagen. Die Trulla wusste das und nutzte das aus.

„Das tut mir leid.“ Sagte ich dann nur. Ich wusste nicht, was ich sonst sagen konnte. So am Telephon war das auch nicht leicht.

„Darum rufe ich dich an, ich wollte eine liebe Stimme hören.“ Sagte er dann wieder. Sanft und fast liebevoll.

„Danke.“ Brachte ich nur hervor. Ich hätte am liebsten geweint vor Freude.

„Ich freue mich so auf Dienstag, ich weiß gar nicht warum.“ Gestand er dann.

„Ich freue mich auch.“ Antwortete ich. Ich hätte ihm auch sagen können warum. Weil ich ihn immer noch über alles liebte, weil ich ihn so sehr vermisst hatte, daß ich Schmerzen hatte, weil ich auf der ganzen Welt nur noch ihm vertrauen konnte, ganz und gar, bis ins Intimste, weil er mir nie mit Absicht weh getan hatte…

Aber ich sagte es nicht.

Ich wollte ihn nicht überfordern oder ihm das Gefühl geben, daß er irgendwie verpflichtet wäre. Ich wollte ihm die Möglichkeit geben ganz allein herauszufinden, wie viel Gefühl er noch für mich hatte.

„Ich hab schon zwei Schachteln Zigaretten geraucht.“ Beichtete er dann.

„Schon zwei ganze Schachteln? Nur heute Morgen?“ ich war mehrfach erstaunt.

„Naja, nicht ganz.“ Lenkte er dann ein.

„Aber eine 30-Packung hab ich schon gekillt.“

„Bist du wahnsinnig?“ fragte ich dann.

„Vielleicht? Weiß nicht. Dirk ist meine Veränderung auch schon aufgefallen.“ Kicherte er.

Wir unterhielten uns noch lange über alles Mögliche. Währenddessen kümmerte ich mich um Michael, baute Zigaretten, brachte Michael in seine Mittagsstunde, ging raus und rauchte mit Marco zusammen und auf diese Weise verbrachten wir drei Stunden miteinander am Telephon.

Schließlich hatte er wieder ein Projekt, wo er mit der Motorsense arbeiten musste und wir beendeten das Gespräch.

„Schade, daß jetzt Wochenende ist.“ Sagte er mit ehrlichem Bedauern.

„Warum?“

„Dann können wir nicht telephonieren.“

Ich verstand, er war dann zu Hause und die Trulla in der Nähe. Währe sicher keine gute Idee da mit einer anderen zu telephonieren.

„Wir sehen uns ja am Dienstag.“ Tröstete ich nicht nur ihn, auch mich selbst.

„Ja, und ich freu mich riesig darauf.“ Versicherte Marco mir bestimmt zum 100sten Mal.

„Ich mich auch.“

Dann verabschiedeten wir uns und ich legte auf.

Das Telephon war ganz heiß und musste dringend wieder auf die Ladestation.
 

Das Wochenende verging einigermaßen schnell. Ich hatte einiges zu tun. Ich musste die Wäsche waschen. Ich hatte zwar keine eigene Waschmaschine, aber im Keller stand eine, die von den Mietern benutzt werden konnte. Sie war alt und wusch nicht besonders gut. Die Wäsche war immer sehr nass, wenn ich sie herausholte. Aber die Sachen waren sauber. Ich hängte die Wäsche dann auf meinem Wäscheständer auf und stellte sie draußen in die Sonne. Da wir immer etwas Wind hatten, der jederzeit auffrischen konnte, befestigte ich den Wäscheständer draußen an einer der Stangen, an denen Leinen befestigt waren für zum Wäscheaufhängen. Die waren aber zu hoch für mich. Ich kam zwar ran, aber ich konnte die Wäsche nicht mehr so hoch aufhängen, weil ich immer noch Probleme mit den zwei Stichen daneben von der Spinalanästhesie hatte. Es zog dann immer wie Strom durch meine Wirbelsäule.

Dann sortierte ich die Kleidung, die ich für die Jungs bekommen hatte. Räumte Kartons aus, die noch herumstanden, putzte meine Küche, das winzige Bad, in dem nur eine Dusche stand und vergaß auch nicht mit den Kindern rauszugehen.

Immerzu musste ich an Marco denken und daran, daß wir nicht telephonieren konnten. Einerseits war ich traurig, aber das Hochgefühl der Vorfreude auf Dienstag überwog mehrfach.
 

Irgendwie war dann das Wochenende vorüber gegangen. Meine Mum war inzwischen in Korea gelandet. Sie war gut angekommen und glücklich wieder in Mokpo und bei ihrem Mann zu sein.

Ich freute mich ehrlich für sie und war nicht im Geringsten neidisch. Ich brauchte keinen Urlaub, ich war zu Hause, jeden Tag freute ich mich darüber. Ich gönnte ihr das Glück, hatte ich doch zurzeit auch eine so wunderbare Zeit.

Gut, das Auto fehlte. Das musste ich zugeben. Ich hatte nicht so viel Geld in der Tasche, daß ich den Jungs sorglos Pommes und Eis kaufen konnte.

Aber ich war zu Hause. Ich hatte eine neue Freundin gefunden, die ganz in der Nähe wohnte. Sie hatte vier Kinder und war auch gerade erst nach Langballig gezogen. Sie kannte längst meine Geschichte und ich hatte ihr auch von Marco erzählt. Sie freute sich für mich.

So vertrieb ich mir und den Kindern die Zeit am Wochenende.

Am Sonntagabend rief Marco dann aber doch an.

„Ich bin im Keller, da lässt sie mich eine Weile in Ruhe.“ Flüsterte er fast.

„Hattet ihr wieder Streit?“ Wenn ich nur etwas hätte tun können…

„Ach, die hat nen Schaden!“ kotzte er beinahe.

„Heute musste ich wieder für ihre Mutter den Chauffeur spielen und nach Hamburg fahren. Und ihre Mutter ist milde gesagt fett!!! Die wiegt mindestens 150 Kg. Mein Armes Auto ächzt immer ganz entsetzlich.“

Ich konnte an seiner Stimme hören, daß es ihm ehrlich nicht gut ging.

„Ich wollte deine Stimme hören.“ Sagte er dann traurig, aber zärtlich.

„Du kannst immer anrufen, wenn du willst.“ Sagte ich tröstend.

„Ich freu mich auf dich.“ Flüsterte er dann.

Oh man, mein armes Herz. Ich war so verliebt. Am liebsten wäre ich gleich zu ihm gefahren, aber ich hatte ja kein Auto.

Ich hoffte nur, daß ich mich jetzt nicht in den Gefühlen für Marco verrannte. Ich musste mich zusammen reißen, auf den Boden und vor allem in die Realität zurück kommen.

„Bis Dienstag ist es ja nicht mehr lange.“ Versuchte ich ihn zu trösten.

„Das stimmt. Du, ich glaube, da ist jemand, ich muss auflegen. Schlaf gut.“ Sagte er dann hastig.

„Du auch.“ Konnte ich noch antworten, dann war die Verbindung unterbrochen.

Hoffentlich war das nicht seine Trulla, die jetzt vielleicht noch mitbekommen hatte, daß er telephoniert hatte.

Er tat mir wirklich leid.

Die Kinder waren schon im Bett und ich hatte vor noch zu Duschen. Ich musste mir ja auch noch die Haare färben und entf…

Ach du Schande!

Da war ich jetzt am Mittwoch einkaufen!

Und was hatte ich NICHT eingekauft?

Richtig!

Die Blondierung und die Enthaarungscreme!

Super!

Ganz großes Kino!

Naja, morgen war Montag, da konnte ich die Sachen ja noch holen. Dann würde ich eben morgen Abend erst duschen.

Wenigstens hatte ich am Samstag daran gedacht das Sauerfleisch zu kochen, das hätte ich auch beinahe vergessen.

Man oh man, ich war mit meinem Kopf wirklich in den Wolken…
 

Am Montagmorgen war die Nacht dann um sieben wieder für mich vorbei. Ich hatte schlecht geschlafen. Irgendwie beschäftigte mich, daß Marco zu Hause so viel Ärger hatte.

Ich machte den Jungs Frühstück, Michael war auch schon aufgewacht. Dann machte ich beide fertig zum Rausgehen, Oliver sollte zum Bus und danach würde ich mit Michael noch etwas Spazieren gehen, später noch mal nach EDEKA fahren.

Als der Schulbus dann mit meinem Großen davongefahren war, wollte ich eigentlich gleich losgehen, eine Runde drehen wie gesagt. Aber irgendwie hatte ich Unruhe im Magen. Außerdem hatte ich mein Handy vergessen, was, wenn Marco wieder Sehnsucht nach mir hätte?

Als ich dann nach Hause kam blinkte schon wieder mein AB.

„Na, hat Marco schon wieder angerufen?“ freute ich mich.

Ich ließ den AB abspielen.

„Hallo Carmen. Du bist nicht zu Hause. Na gut. Ich hab morgen Nachmittag leider keine Zeit.“ Hörte ich ihn sagen.

Mein Herz sackte mir in die Knie und Endtäuschung machte sich breit. Aber das war ja zu erwarten. Vielleicht hatte seine Trulla ihn erwischt.

„Ich könnte aber heute Nachmittag kommen, so um halb zwei Uhr? Sag mir Bescheid, wenn dir das Recht ist.“ Ging die Nachricht weiter.

Auf halben Weg zu den Knien machte mein Herz abrupt halt und sauste mit Schallgeschwindigkeit in meinen Hals.

Ob ich…

Ob es mir Recht wäre?

Was für eine unfassbare, überflüssige, blöde Frage!!!

Sofort wählte ich seine Nummer und er ging auch gleich ran.

„Natürlich ist mir das Recht!“ rief ich beinahe, ohne Marco vorher zu begrüßen.

„Das hab ich gehofft.“ Freute er sich.

„Ich bin dann ab halb zwei Uhr bei dir.“ Fügte er noch hinzu.

„Gut, dann hab ich noch einiges zu tun, wir sehen uns ja nachher.“ Meine Stimme zitterte und jeder Muskel in meinem Körper stand in den Startlöchern.

„Ja, bis nachher.“ Sagte er.

Ich legte auf, holte kurz tief Luft und sprang dann sofort los.

Ich musste SOFORT nach EDEKA, die Sachen holen, dann musste ich mich duschen, die Haare färben, die Creme auf die Beine auftragen, beides musste einwirken… Oh man, die Küche, ich muss noch aufräumen, abwaschen, mein Wohnzimmer aufklaren…

Und ich darf dabei meine Kinder nicht vergessen.

Ich schnappte Michael, der gerade auf seiner Decke lag und sich einen Beißring geangelt hatte.

„Halt den gut fest.“ Sagte ich und griff mit der anderen Hand meinen Haustürschlüssel.

Ich flog die Treppe im Hausflur runter, schnallte den Kurzen in den Anhänger, schloss mein Fahrrad auf und düste sofort los. Der Fußweg, der gleichzeitig der Fahrradweg war, hatte einige Hubbel und Mulden aufzuweisen. Ich war so schnell, daß der Anhänger beinahe hinter mir her hopste, sehr zu Michaels Vergnügen.

In Rekordzeit erreichte ich das Dorf und EDEKA. Ich setzte Michael in einen Einkaufswagen und hastete durch den Laden. Ich musste etwas suchen, bis ich eine Blondierung gefunden hatte, die zu meinem Blond, daß ich bisher hatte, passte und auch bezahlbar war. Dann noch die Haarentfernungscreme, da gab es nur zwei zur Auswahl. Ich schnappte mir die günstigere und hoffte, daß sie genauso gut wirken würde, wie die teure. Wenn nicht: Pech.

Im Eiltempo fuhr ich wieder nach Hause. Solange Michael noch wach war, räumte ich im Wohnzimmer auf. Ich hatte einige Klamotten rumliegen und Geschirr stehen lassen. Herjeh, die Küche, ich musste auch noch abwaschen.

Gegen halb 12 legte ich Michael zum Schlafen hin. Zwei Stunden später als sonst, aber dann würde er den Mittag durchschlafen. Das hoffte ich zumindest. Und ich hatte jetzt bis viertel nach 12 Zeit meine Haare zu färben, die Creme auf die Beine aufzutragen und zu Duschen. Um viertel nach 12 sollte ich Oliver vom Bus einsammeln. Danach musste ich abwaschen.

Hastig trug ich die Blondierung auf und massierte sie ein, danach machte ich meine Beine nass und trug die Creme auf.

Ich wollte mich jetzt in die Dusche auf einen Hocker setzen und mindestens warten, bis ich die Creme inklusive der aufgeweichten Haare abwaschen könnte.

Nach kurzer Zeit aber brannte mir die Zeit wieder unter den Nägeln.

Splitternackt, die Blondierung in den Haaren, die Creme auf den Beinen, stand ich dann in der Küche und machte den Abwasch.

„Gut, daß Marco mich jetzt nicht so sehen kann!“ ging es mir durch den Kopf und musste Lachen.

Es war nicht viel Abwasch und ich war schnell fertig. Die Blondierung hatte auch wunderbar gewirkt. Die Creme war länger drauf geblieben, als auf der Packung stand, aber das war sicher kein Problem.

Ich ging dann duschen und wusch alles ab. Die Haare an meinen Beinen waren gut entfernt und mit der Färbung konnte ich auch zufrieden sein.

Viertel nach 12, was für ein Timing.

Ich vergewisserte mich, daß Michael wirklich schlief und düste dann zur Bushaltestelle. Nach gefühlten Ewigkeiten kam dann endlich der Bus. Zusammen mit Oliver ging ich wieder nach Hause, er bekam ein Brot und ging dann auch gleich in die Mittagsstunde. Offensichtlich hatte er sich im Kindergarten kaputtgespielt, das kam nur gelegen.

Halb eins.

Ich trocknete das Geschirr und die Töpfe ab und räumte alles weg.

Ach verdammt, die Kartoffeln! Und Zwiebeln hab ich auch nicht, naja, wird sicher auch ohne gehen.

Ich setzte schnell einen Topf mit Kartoffeln auf.

Ich war fertig.

Nicht zu fassen, ich hatte alles geschafft.

Ich sah auf die Uhr.

Viertel vor eins.

Ok, was nun?

Am liebsten hätte ich jetzt Marco angerufen. Aber ich wollte wirklich nicht so aufdringlich sein.

Ich beschloss ein paar Zigaretten zu basteln.

Ich könnte ja Uwe anrufen.

Ach nein, was, wenn Marco dann gerade anrufen wollte?

Außerdem hatte ich jetzt gar nicht die Ruhe um mit Uwe zu quatschen.

Fünf Minuten vor eins.

Ich ging in die Küche und stellte die Platte mit den Kartoffeln runter.

Dann ging ich wieder ins Wohnzimmer und baute weiter Zigaretten.

Ein Uhr.

Oh man, wollte die Zeit denn gar nicht vergehen?

Inzwischen hatte ich eine Schachtel mit Zigaretten gefüllt, das sollte erstmal reichen.

Fünf Minuten nach eins.

So langsam wurde ich nervös.

Ich überlegte, ob ich mich ans Wohnzimmerfenster stellen sollte, von da aus könnte ich sehen, wenn er kommt.

Zehn nach eins.

Ich konnte aber auch unmöglich eine halbe Stunde lang hier herumstehen.

Ich ging in die Küche und machte die Platte mit den Kartoffeln ganz aus, ließ den Topf aber so wie er war stehen. Wenn die Kartoffeln jetzt noch nicht ganz gar waren, nachher würden sie es sicher sein.

Viertel nach eins.

Lieber Himmel, welcher Idiot hat bloß die Zeit erfunden? Und wessen Schuld ist es, daß sie so zähflüssig tropfte, wenn man sehnsüchtig auf etwas wartete?

Ich guckte noch mal nach den Jungs, beide schliefen tief und fest, Michael schnarchte sogar leise.

Ok, dann gehe ich jetzt mal vor die Tür.

Ich brauchte frische Luft.

Und eine Zigarette.

Oder zwei…

Ich schnappte mir mein Handy und ging runter vor die Haustür, wo ich mich auf der einen Stufe davor nieder ließ. Unter dem Busch neben der Haustür stapelten sich meine inzwischen Kippen. Ich sollte mal einen ollen Blumentopf oder etwas ähnliches besorgen, in den ich dann meine Kippen werfen konnte.

Ich zündete mir eine Zigarette an und startete auf meinem Handy eines der Kartespiele.

Eigentlich war ich viel zu nervös zum spielen, aber es würde mich sicher etwas beruhigen. Zumindest war ich ein wenig beschäftigt.

Fünf vor halb zwei.

In meinem Magen schlüpften hunderte Insekten gleichzeitig.

Dann hörte ich Schritte.

Um die Ecke, aus der Richtung, wo der Parkplatz war.

Weitere tausend Insekten gesellten sich zu den ersten, die schon in meinem Magen herumflatterten.

Jetzt nur nicht nervös werden…

Total hoffnungslos. Meine Finger zitterten so sehr, daß ich die Zigarette fallen ließ.

„Na, hast du was verloren?“

Es war Hansi, ein Nachbar von mir.

Schlagartig gefror mindestens die Hälfte der wüst in meinem Magen herumflatternden Insekten.

„Joa, aber schon wiedergefunden.“ Erwiderte ich.

„Na dann ist ja alles gut.“ Sagte Hansi, hob kurz die Hand zum Gruß und ging weiter.

Uff…

Menno…

Ich sammelte meine Zigarette wieder auf und wand mich dem Spiel wieder zu.

Hat der mich erschreckt.

Nur mühsam beruhigte sich mein Kreislauf wieder und auch mein Herz hatte wieder einen annähernden Rhythmus.

Fünf nach halb zwei.

Naja, ich musste ja eigentlich wissen, daß Marco nicht pünktlich war. Es konnte schon mal bis zu einer Stunde dauern, bevor er kam. Allerdings hoffte ich inständig, daß er das heute mal nicht machen würde.

Zwanzig vor zwei.

Erneut hörte ich Schritte.

Ob er es dieses Mal war?

Ich versuchte ruhig zu bleiben, man glaubt ja nicht wie schwierig das war.

Die Schritte kamen näher.

Mein Herz hüpfte wie die Figur in einem 2D Game auf der Playstation immer höher in Richtung meines Halses.

Ich hörte einen Schlüsselbund klimpern.

Erneut schlüpften tausende von Insekten in meinem Magen.

War er es?

War Marco endlich da?

Die Schritte waren jetzt ganz nahe.

Ich hielt die Luft an.

Dann stand er vor mir.

Nur zwei Meter entfernt.

Marco.

Marco Lotz.

Mein Marco Lotz.

In Lebensgröße, live und in Farbe.

Er sah dünn und krank aus, alt.

„Den päpple ich mit viel Liebe und guter Küche wieder auf!“ war das erste, was ich denken konnte.

Sämtliche Körperfunktionen waren bei mir eingefroren, inklussive aller Insekten in meinem Bauch. Mein Herz hörte beinahe auf zu schlagen und ich wusste nicht, was ich tun sollte.

Er stand da vor mir, in seiner Arbeitsmontur und sah mich an.

„Hi“ sagte ich dann nur und musste an die Szene in dem Woopie Goldberg Film „Jumping Jack Flash“ denken, als der Geheimagent dann endlich in Lebensgröße neben ihr stand.

Marco schwieg.

Ich saß auf meiner Stufe und konnte mich nicht rühren.

„Komm her.“ Sagte er dann.

Wie erlöst aus einem hundertjährigen Schlaf kam Leben in meine Glieder und fast von selbst trug mein Körper mich zu ihm hin und ich sank in seine Arme.

„Ich hab dich so vermisst.“ Schluchzte ich.

Marco hielt mich fest und ich hielt mich an ihm fest.

Einige Minuten standen wir so da, Arm in Arm. Es war als würde die Welt stehen bleiben und nur noch wir existierten.

Wir.

Marco und ich.

Nach so langer Zeit.

Dann löste er die Umarmung ein wenig, ohne mich ganz los zu lassen, legte seine Hand unter mein Kinn und hob mein Gesicht. Ich sah ihm in die Augen und er sah mir in die Augen.

„Warum bist du auch abgehauen?“ fragte er dann leise, zärtlich, ein wenig vorwurfsvoll.

„Warum hast du mich nicht aufgehalten?“ fragte ich mit zitternder Stimme zurück.

Er nahm seine Schachtel mit den Zigaretten aus der Jackentasche und bot mir zuerst eine an.

Wir setzten uns nebeneinander auf die Stufe vor der Haustür und rauchten schweigend unsere Zigaretten.

Der Tabak, den er verwendete, war grauenhaft. Aber im Moment war mir das ganz egal.

„Hast du gut hergefunden?“ fragte ich dann mit einigermaßen stabiler Stimme.

„Klar, war ja ganz einfach.“ Erwiderte er.

Ich machte meine Zigarette aus, Marco war längst mit seiner fertig.

„Komm, wir gehen rein.“ Sagte ich und stand auf.

Kapitel XXXIV
 

Marco folgte mir.

„Sei leise, die Jungs schlafen noch.“ Flüsterte ich.

Ich öffnete meine Wohnungstür und wir gingen direkt ins Wohnzimmer.

Wir setzten uns auf mein Sofa.

„Magst du was trinken?“ fragte ich dann.

„Ja, hast du Cola da?“

„Klar.“

Ich ging in die Küche um das Gewünschte zu holen. Ich nahm zwei Gläser aus dem Schrank und ging zurück ins Wohnzimmer. Marco schenkte für uns beide ein und ich setzte mich wieder aufs Sofa zu ihm.

Ich musste immer an damals denken, als alles noch viel einfacher mit uns war.

„War es denn wirklich so schlimm?“ fragte Marco dann, als hätte er meine Gedanken erraten.

„Ja, das war es. Eigentlich hab ich auch viel zu lange gewartet mit dem Weggehen.“

Ich erzählte in groben Zügen was die Jahre über gelaufen war, was ich alles vermisst hatte, daß ich ihn vermisst hatte.

„Ja warum musstest du ihn den heiraten?“ fragte er wieder.

„Warum hast du nicht gesagt, ich solle bleiben?“ entgegnete ich.

„Währest du dann geblieben?“ Marco sah mich an.

„Ich weiß nicht, schon… Irgendwie hatte ich gehofft du würdest auftauchen und mich retten.“ Gestand ich.

Marco schwieg.

„Ich kann dir zeigen, wie sehr ich dich vermisst hab.“ Sagte ich dann und stand auf. Ich holte den Pulli, den ich nach dem Vorbild seiner Patric-Jacke genäht hatte.

Marco staunte nur, unsicher, was er sagen sollte.

„Kann man es erkennen?“ fragte ich dann.

Marco nickte.

Ich legte den Pulli auf einen der Sessel und setzte mich wieder neben Marco auf das Sofa.

Mein Herz klopfte wie wild und ich musste immer an das Lied von Ich und Ich denken, „Vom selben Stern“.

„Komm her.“ Sagte Marco dann und im nächsten Moment lag ich in seinen Armen und er küsste mich.

Er küsste mich, so wie damals.

Mein Marco küsste mich und in meinem Kopf drehte sich alles.

Ich wünschte, daß dieser Moment niemals vergehen würde.

Leider wurde dann aber Michael wach und quakte.

„Ich muss mich mal um den Kurzen kümmern.“ Sagte ich und löste mich nur widerwillig aus seiner Umarmung.

Etwas unsicher auf meinen weichen Knien wankte ich zuerst in die Küche, wo ich Michaels Milch machte. Das Wasser aus dem Hahn war warm genug, so daß ich nicht erst welches aufkochen musste.

Ich stellte die fertige Flasche im Wohnzimmer auf den kleinen Tisch, holte die Wickelunterlage, die eigentlich nur aus mehreren Decken und oben drauf einem Handtuch bestand, und legte sie auf den Esszimmertisch. Ich hatte keinen richtigen Wickeltisch, aber dieses Provisorium erfüllte die Aufgabe eines Wickeltisches sehr gut.

Dann holte ich Michael aus seinem Bett, brachte ihn ins Wohnzimmer und wickelte ihn.

Als er fertig angezogen war schnappte ich mir ein Lätzchen, daß ich immer bereit liegen hatte, band es dem Kurzen um und gab ihm die Flasche.

Marco beobachtete uns dabei und sah auch zu, wie der Kleine zügig seine Flasche leerte. Michael beäugte den Neuling skeptisch, während er an seiner Flasche nuckelte.

Als er fertig war setzte ich den kleinen Kerl auf, klopfte ihm den Rücken bis die Luft aus seinem Bauch heraus war und setzte ihn so auf mein Bein, daß er sich den Besucher angucken konnte.

„Na du, komm mal her.“ Sagte Marco dann und schnappte sich den Kleinen.

Der saß jetzt auf Marcos Knien, guckte skeptisch, dann lachte er. Die beiden haben sich auf Anhieb verstanden.

Ich freute mich darüber. Natürlich war es mir wichtig, daß die Kinder Marco mochten. Ich hab ihn immer wieder vor den Kindern erwähnt und Oliver wusste, daß dieser ominöse Mensch heute kommen würde.

Marco wippte den Kleinen auf seinen Beinen und Michael war ganz vergnügt.

Im nächsten Moment wurde dann auch Oliver wach. Er stand alleine auf und ging zur Toilette.

Als er fertig war hörten wir, daß er spülte, sich die Hände wusch und dann kam er auch schon ins Wohnzimmer.

„Ich bin wach Mami.“ Sagte er, sein Interesse galt aber vor allem dem unbekannten Besucher.

„Das sehe ich.“ Antwortete ich.

„Ist das Marco Lotz?“ wollte Oliver dann wissen.

„Ja, das ist Marco Lotz.“ Bestätigte ich.

„Hallo, Marco Lotz.“ Sagte er dann schüchtern und grinste breit.

„Hallo Oliver.“ Erwiederte Marco den Gruß.

„Du kannst aber einfach Marco sagen.“ Fügte er noch hinzu.

„Onkel Marco?“ wollte er dann wissen.

„Nein, daß ist doch nicht Onkel Marco. Onkel Marco ist doch mein Bruder.“ Erklärte ich.

Das war natürlich etwas verwirrend für den Kurzen.

„Ist das dein Freund?“ fragte Oliver weiter und ließ Marco nicht aus den Augen.

Kinder.

Sie können einen wirklich in Verlegenheit bringen.

„Ja, Marco ist ein Freund, aber nicht MEIN Freund.“ Versuchte ich dann zu erklären.

Ich sah Oliver im Gesicht an, daß er das nicht verstand. Aber das war auch nicht wichtig.

„Hast du Hunger?“ fragte ich dann an Marco gewandt.

„Ein bisschen vielleicht.“ Sagte er.

„Ich habe selbstgemachtes Sauerfleisch und Pellkartoffeln. Ich muss nur Bratkartoffeln davon machen.“ Erklärte ich.

„Das hört sich doch gut an.“ Freute sich Marco.

„Gut, dann gehe ich mal in die Küche. Ihr kommt hier zurecht?“ ich erhob mich vom Sofa.

„Klar, kein Problem.“ Winkte Marco ab.

Während ich die Kartoffeln pellte und in die bereits heiße Pfanne schnippelte, hörte ich aus dem Wohnzimmer Kindergejuchze und einen ausgelassenen Marco, der mit den Jungs spielte und tobte.

Mit BEIDEN Jungs.

Wow.

Da saß mein Marco Lotz im meinem Wohnzimmer in meiner Wohnung und spielte mit den Jungs. Nie hätte ich geglaubt, daß das einmal wahr werden könnte.

Meine Hände zitterten und ich war mit dem Messer etwas fahrig, dennoch schaffte ich es die Bratkartoffeln unfallfrei fertig zu bekommen.

Ich brachte dann Teller und Besteck ins Wohnzimmer, holte die Pfanne mit den Bratkartoffeln und die Tüte mit dem Sauerfleisch und bat alle an den Tisch.

Für Michael hatte ich einen Hochstuhl geschenkt bekommen. Den, den ich in Hessen hatte, hat der Alte nicht rausgegeben.

Michael kaute nur gelegentlich auf einem Stück Bratkartoffel herum, daß ich ihm in den Mund schob. Er war noch von seiner Flasche satt und probierte eigentlich nur von unserem Essen.

Das Sauerfleisch mochte er allerdings nicht.

Als ich mein erstes Stück probierte, war mir auch klar warum.

Es war total versalzen! Offensichtlich war ich mit dem Pökelsalz viel zu großzügig gewesen.

Auch Marco beschränkte sich auf die Bratkartoffeln, nachdem er das Fleisch probiert hatte.

Aber sehr zu meiner Verwunderung schaffte er es nicht mal die ganz aufzuessen.

„Schmeckt es dir nicht?“ fragte ich.

„Doch schon, die Bratkartoffeln sind super. Aber irgendwie bekomme ich nichts herunter.“ Gestand er dann bedauernd.

Kein Wunder, wenn er so dünn und krank aussieht.

„Geht das schon länger so?“ fragte ich besorgt.

„Naja, nicht immer. Ich hab einfach keinen Appetit.“ Sagte er.

Ich machte mir ehrlich Gedanken um ihn. Er wirkte müde und abgespannt.

„Was hältst du davon, wenn wir ein bisschen raus gehen?“ schlug ich dann vor.

„Ja, das können wir machen.“ Sagte Marco schon wieder mit etwas mehr Elan.

Die Jungs waren angezogen und draußen war es noch warm. Wir schnappten uns die Beiden, Marco nahm Michael auf den Arm und ich Oliver an die eine und die Wickeltasche in die andere Hand.

Unten im Hausflur stand die Karre von Michael und Marco setzte ihn geschickt hinein, schnallte ihn an und übernahm sofort das Schieben der Karre.

Ich begriff sofort, daß ich den Kinderwagen nicht schieben würde.

Stolz wie Oskar, wie ein richtiger Vater, schob er dann mit dem Kinderwagen vor sich her. Oliver wollte dann unbedingt an Marcos Hand. Ich war abgemeldet. Aber ich freute mich ehrlich darüber. Beide Kinder haben ihn sofort angenommen.

Unterwegs kamen wir an Apfelbäumen vorbei und naschten mit Vergnügen von den reifen Früchten. Sogar Michael ließ sich von Marco einen Apfel anbieten und kaute genüsslich daran herum.

Die Sonne schien und es war warm, ein wunderbarer Spätsommernachmittag.

Wir spazierten zum Strand runter. Die Geschäfte dort hatten alle geöffnet. Marco spendierte allen ein Eis und war ehrlich traurig, daß ich wirklich nur eine Kugel wollte. Aber mehr schaffte ich einfach nicht. Ich sah zwar von der Figur her so aus, als bräuchte ich schon mindestens fünf Kugeln für mich alleine, aber ich aß gar nicht so viel.

Wir gingen auf den Spielplatz wo Oliver sich austoben konnte. Michael, der ja noch nicht laufen konnte, blieb in seiner Karre sitzen und spielte mit Marco, der sich angeregt mit ihm unterhielt.

Es fühlte sich wunderbar an. Hier am Strand, auf dem Spielplatz mit den Kindern und Marco.

„Der Große heißt mit Vollem Namen „Marc Oliver“. Sagte ich dann zu Marco.

Der hielt einen Moment in der Beschäftigung mit Michael inne und sah aus, als wenn er angestrengt nachdenken musste.

Dann sah er mich skeptisch an.

„Das hat doch jetzt aber nichts mit mir zu tun, oder?“ fragte er dann.

Er hat den Zusammenhang sofort erkannt, so wie Uwe damals, als ich ihm von Marco und der Namensgebung für meinen Erstgeborenen erzählte.

„Doch.“ Lächelte ich versonnen.

„Das hat es.“

Marco schwieg. Er wusste nicht was er dazu sagen sollte.

Wir blieben eine Weile auf dem Spielplatz am Strand und unterhielten uns über alles Mögliche. Ich erzählte von den Geburten der Kinder, wie es dazu kam, daß ich letztendlich doch gegangen war um wieder hierher nach Hause zu kommen und wie ich es schaffte, das Leben meiner Kinder und mir einzurichten.

Marco erzählte von seinen Berufen, daß er den Dachdecker, den er gelernt hatte, schon lange nicht mehr ausübte, was er zwischendrin alles für Jobs hatte und ähnliches.

Auf dem Rückweg aßen wir noch ein Eis, was natürlich ganz besonders die Kinder Freute.

Auf halben Weg zu mir nach Hause ging dann Marcos Handy.

Er holte es aus der Tasche, guckte auf das Display, verzog für einen kurzen Moment das Gesicht und steckte es wieder ein.

„Ich bin nicht da, ich bin gerade mit der Motorsense in Gange.“ Erklärte er mir dann.

„Deine Trulla?“ fragte ich ihn.

„Ja, Kontrollanruf.“ Erwiderte er.

„Macht sie das öfter?“ fragte ich weiter.

„Ja, fast jeden Tag.“ Erklärte Marco.

„Wie lästig.“ Sagte ich nur.

Nach einer Weile hörte das Handy auf Musik zu machen.

Die Uhr war inzwischen halb sechs geworden. Scheinbar wunderte sie sich, daß Marco noch keinen Feierabend hatte.

„Bekommst du nicht Ärger, wenn du sie einfach ignorierst?“ wollte ich dann wissen.

„Die macht sowieso Ärger.“ Entgegnete Marco.

Nur fünf Minuten später ging sein Handy wieder los.

Es war seine Freundin.

Dieses Mal ging er ran.

„Ja? Ich hab dich nicht gehört, ich bin mit der Motorsense am arbeiten. Ja immer noch. Nein, ich hab noch keinen Feierabend. In Glücksburg. Ja, genau da. Das weiß ich nicht, ich muss auch noch die Hecken schneiden. Ja kann ich mal gucken. Ja, ist ok.“

Er schaltete das Handy dann ganz aus.

Natürlich hatte Marco gelogen.

Meinetwegen.

Ich fühlte mich direkt geschmeichelt.

„So, jetzt hab ich erstmal Ruhe.“ Sagte er dann als er das Handy wieder in die Tasche steckte.

„Ich soll wieder einkaufen. Das kann sie mal schön alleine machen.“ Schnaubte er.

Er tat mir leid.

Ich wusste, wie er sich fühlte.

Wir setzten uns draußen auf den Rasen in die Sonne. Die Jungs spielten im Gras, beide. Marco bot mir eine seiner Zigaretten an.

„Ach nee, lass mal, ich nehme lieber meine eigenen.“ Lehnte ich ab.

„Warum?“ fragte er.

„Dein Tabak ist grauenhaft. Der schmeckt wie Bahndamm Nordseite, selbstgeerntet!“ schimpfte ich lachend.

„Wieso? So schlecht ist der doch nicht?“ wunderte Marco sich.

„Du rauchst ja auch alles, was brennt.“ Lachte ich.

„Das stimmt.“ Gab er grinsend zu.

Wir gingen dann wieder hoch in meine Wohnung, wo wir die Jungs für zum Schlafen fertig machten. Es war inzwischen halb acht und die beiden hatten nur eine Mittagsstunde gemacht. Oliver war total aufgekratzt und Michael pöbelte nur noch. Er wollte auch kein Brot essen, also bekam er noch eine Flasche, mit der er dann auch zufrieden war.

Während ich die Brote für Oliver machte hatte Marco sich Michel geschnappt und gab ihm sein Fläschchen. Normalerweise konnte Michael seine Flasche schon alleine halten, aber offensichtlich hatte er großes Vergnügen daran sich von Marco füttern zu lassen.

Oliver war inzwischen satt und ich schickte ihn zur Toilette. Dann räumte ich den Esszimmertisch auf, legte die improvisierte Wickelunterlage darauf und wollte Marco den Kleinen abnehmen um ihn zu wickeln.

Marco allerdings dachte gar nicht daran, mir Michael zu geben. Er stand auf, legte ihn auf die Wickelunterlage und begann den Kleinen auszuziehen.

Skeptisch beobachtete ich, wie Marco dem Zwerg eine frische Windel verpasste und wieder anzog.

Damit hätte ich nicht gerechnet.

Schon gar nicht, daß Marco das so gut konnte.

„Hast du etwa eigene Kinder?“ fragte ich dann vorsichtig.

„Nein, zumindest keine, von denen ich weiß. Aber mein Bruder hat eine kleine Tochter, die hab ich früher auch gewickelt.“ Erklärte er dann sichtlich stolz darauf, daß er mich überraschen konnte.

Keine eigenen Kinder.

Ich war froh darüber.

Dann waren beide Kinder im Bett und sofort war Ruhe. Kein Gemaule seitens der Jungs.

„Die sind aber unkompliziert.“ Staunte Marco.

„Sind die immer so?“

„Ja, die sind immer so.“ antwortete ich nicht ohne Mutterstolz.

Wir saßen wieder auf dem Sofa und Marco nahm mich wieder in die Arme.

„Das war ein schöner Nachmittag.“ Seufzte er.

Dann sah er auf die Uhr. Es war inzwischen acht Uhr geworden.

„Jetzt muss ich aber doch nach Hause.“ Sagte er mit ehrlichem Bedauern. Er griff in seine Jacke, holte das Handy heraus und schaltete es wieder ein.

„Oha, fünf Anrufe in Abwesenheit. Alles von Bente.“ Teilte er mir mit.

„Das gibt sicher Ärger.“ Bemerkte ich schuldbewusst.

„Den gibt es sowieso.“ Winkte Marco ab.

„Aber ich sollte mich so langsam auf den Weg nach Hause machen.“ Bedauerte er dann und holte tief Luft.

Mir kamen die Tränen. Am liebsten hätte ich ihn einfach da behalten.

„Du musst doch nicht weinen.“ Sagte er dann, als er die aufkommende Feuchtigkeit in meinen Augen bemerkte.

Nun kamen die Tränen erst recht.

„Ich komme doch wieder.“

Er nahm mich in seine Arme und hielt mit tröstend fest.

„Wirklich?“ schluchzte ich beinahe.

„Ja, sobald es geht.“ Bekräftigte Marco.

„Diese Woche noch?“ wimmerte ich.

„Ich will es versuchen.“ Sagte Marco sanft, hob mein Gesicht und gab mir einen Kuss.

„Kommst du noch mit zum Auto?“ fragte er dann.

„Klar, die Kinder schlafen ja schon.“ Sagte ich.

Auf dem Parkplatz sah ich dann zum ersten Mal Marcos Auto. Ein blauer Golf.

Irgendwie seltsam, Marco mit einem Auto. Ich kannte ihn nur mit seinem Mountainbike.

„So, ich muss los.“ Sagte Marco und schloss das Auto auf.

Ich weinte wieder. Ich wollte mich beherrschen, aber es gelang mir nicht.

Natürlich bemerkte Marco es und nahm mich gleich wieder in die Arme.

„Ich komme doch bald wieder.“ Versuchte er mich zu trösten.

„Versprochen?“ weinte ich.

„Versprochen.“

Dann küsste er mich wieder, so wie am Nachmittag, bevor die Jungs aufgewacht waren.

Nur mit größtem Widerwillen löste ich mich von ihm und ließ ihn einsteigen.

Er startete den Wagen und fuhr sofort los.

Immer noch weinend ging ich wieder in meine Wohnung. Nun war ich wieder allein. Ich fühlte mich sehr allein, Marcos Nähe war so wunderbar. Meine Gefühle waren durcheinander. Liebte er mich noch? Wenn man von den Küssen ausging, dann ja. Aber konnten wir eine Zukunft haben? Was erzähle ich den Jungs? Wie würden sie damit umgehen? Ich hab mich gerade von ihrem Vater getrennt. Oliver wusste das und verstand es auch. Was, wenn Marco und ich uns jetzt näher kommen und es klappte nicht? Was tat ich den Kindern damit an?

Was wenn ich mir die Gefühle für Marco nur einbildete? Wenn ich mich in den vergangenen Jahren in etwas hineingesteigert hatte, was dann verpuffen würde?

Ich war verwirrt. Verliebt. Durcheinander…

Was würde als nächstes passieren?

Wie sollte es weiter gehen?

Kapitel XXXV
 

„Ich brauche dringend etwas kaltes zu Trinken und eine Fluppe“ unterbreche ich meine Erzählung.

Nicole sitzt schon die ganze Zeit gebannt und bewegungslos mit großen Augen und hört konzentriert zu.

„Wie, du kannst doch jetzt keine Werbepause einlegen?“ beschwert sie sich entrüstet.

„Doch, das kann ich. Siehst du ja.“ grinse ich frech.

„Mein Hals ist staubtrocken.“ ergänze ich und stehe auf.

„Na, dann werde ich dir mal unauffällig folgen.“ stellt Nicole fest und tapert hinter mir her in die Küche.

Ich mache mir eine Zigarette an und gebe dann meiner Freundin die Schachtel.

„Wie geht es denn jetzt weiter?“ fragt sie dann ungeduldig.

„Naja, das war ja jetzt die Frage.“ sagte ich.

„Ach was! Nein, im Ernst. Erzähl weiter.“ drängt Nicole mich.

„Ich brauche erst mal was kaltes zu Trinken. Gibst du mir mal die Cola aus dem Kühlschrank?“

Nicole dreht sich um und öffnet meinen Kühlschrank, an dem sie bis eben gelehnt hatte.

„Wo denn? Ach da. Hab schon.“ Sie reicht mir die Flasche.

„Danke.“

Ich schraube den Verschluss ab und setze direkt die Flasche an.

„UHAAH, kalt! Und zu viel Kohlensäure.“ verziehe ich das Gesicht.

„Gut. Du hast jetzt Kippe, kaltes Trinken, nun kannst du weitererzählen.“ stellt Nicole ganz aufgeregt fest.

„Wie ist es denn jetzt tatsächlich weitergegangen?“ drängt sie erneut.

„Naja, es war natürlich nicht so einfach, wie man gerne annehmen möchte, aber auch nicht so schwierig.“ sage ich.

„Jetzt mach es mal nicht spannender, als es ohnehin schon ist.“ motzt Nicole.

„Mache ich ja gar nicht.“ ich grinse.

„Also, weiter jetzt.“
 

*
 

Schon gleich am nächsten Morgen rief Marco wieder an. Ich war gerade wieder in der Tür, nachdem ich Oliver zum Bus gebracht hatte.

„Hi du. Hast du gut geschlafen?“ fragte Marco.

„Ja, ging so.“

Ich brauchte nicht zu erklären, warum.

„Ich hab auch kaum geschlafen. Bente hat mir wieder eine Szene gemacht. Ich wäre nicht zu erreichen gewesen, wäre nicht ans Handy gegangen.“ erzählte er niedergeschlagen.

„Das tut mir leid.“ das tat es ehrlich. Immerhin war ich dieses Mal nicht ganz unschuldig.

„Muss es nicht. Erstens bin ich das ja schon gewöhnt und zweitens weiß ich ja wofür.“

Ich konnte ihn beinahe grinsen sehen.

„Ich will versuchen, daß ich morgen Nachmittag vorbeikommen kann.“ sagte er dann.

„Das wäre wundervoll.“ sagte ich.

„Ich glaube, ich vermisse dich.“ gestand Marco zärtlich.

Holla die Waldfee, so etwas hatte er noch nie zu mir gesagt. Mir kamen die Tränen.

„Ich vermisse dich auch.“ sagte ich dann.

„Weinst du?“ fragte Marco leicht vorwurfsvoll.

„Nein.“ log ich.

„Doch, du weinst.“ er ließ sich nicht beirren.

„Nein, ist schon gut.“ winkte ich ab.

„Bist du denn morgen da?“ fragte Marco vorsichtig.

„Natürlich bin ich da.“ entrüstete ich mich.

„Für dich bin ich immer da.“

„Dann komme ich morgen Nachmittag, aber nicht so früh. Ich ruf dich an, wenn ich auf dem Weg bin.“ sagte er dann.

„Das wäre schön.“ sagte ich zärtlich.

„Das war wirklich ein schöner Nachmittag gestern. Deine Jungs sind wirklich süß.“ sagte er.

Wir telephonierten noch lange. Nebenbei machte ich meinen Haushalt, beschäftigte mich mit Michael, legte ihn Schlafen, das ganze Programm. Nur zur Bushaltestelle konnte ich Marco nicht mitnehmen, weil die Reichweite meines Telephons nicht groß genug war.

Den Nachmittag dann widmete ich mich wieder ganz den Jungs, wir waren draußen, naschten von den Apfelbäumen und aus dem Knick, waren am Wasser und machten einfach den Nachmittag durch.

Gegen Abend legte ich dann beide eine Stunde früher ins Bett, sie sind fast augenblicklich eingeschlafen.

Auch den nächsten Vormittag verquatschten Marco und ich am Telephon. Obwohl er doch am Nachmittag kommen wollte.

Es war wie ein Märchen. In meinem ganzen Leben hatte sich noch nie etwas so gut angefühlt. Dennoch versuchte ich auf dem Boden zu bleiben. Ich durfte mich ihm jetzt nicht an den Hals werfen, ihn bedrängen. Er brauchte Zeit um sich selbst klar zu werden, was er nun machen würde.

Mit seiner Trulla war es kein Zustand, das wurde mir immer mehr klar. Auch Marco war sich dessen bewusst, aber er musste sich erst selbst klar darüber werden. Auch konnte er jetzt nicht von Heute auf Morgen sagen, er geht und fängt vielleicht mit mir etwas an, dafür war es noch zu früh, zu frisch. Wer weiß wie es aussah, wenn uns die Realität einholte? Dann die Kinder. Ganz besonders die Kinder. Sie hatten gerade erst eine dramatische Veränderung in ihrem kurzen Leben hinter sich, die sich auch erst noch richtig festigen musste. Ich wollte so vernünftig wie möglich bleiben und ich spürte, daß es Marco genauso ging. Wir waren beide alt genug um zu überschauen, wie weit die Reichweite gehen würde, wenn wir jetzt etwas überstürzten.
 

An diesem Nachmittag kam er erst gegen halb sechs Uhr abends. Wir hatten gerade noch Zeit mit den Jungs zusammen ein bisschen raus zu gehen und Abendbrot zu essen. Ich ließ sie etwas länger auf, als sonst, aber sie waren beide so müde, daß wir sie dann doch bald ins Bett brachten.

Wir.

Marco und ich.

Er kümmerte sich jetzt schon wie ein richtiger Vater, um beide. Er wickelte den Kurzen, half dem nicht mehr ganz so kurzem beim Zähneputzen, sagte beiden gute Nacht und deckte beide zu.

Ich hätte weinen können, so selig war dieser Anblick.

Und Marco war völlig entspannt. Ja, es schien ihm geradezu gut zu tun, sich mit den Jungs zu befassen.

Zusammen räumten wir den Esstisch ab und klarten die Küche auf.

Dann saßen wir in meinem Wohnzimmer auf dem Sofa, ich in seinem Arm.

Ich lag mit meinem Kopf auf seiner Brust und konnte sein Herz schlagen hören.

„Wir sind vom selben Stern, ich kann deinen Herzschlag hören.“ ging mir der Text von "Ich & Ich" durch den Kopf.

„Kennst du das Lied „Vom selben Stern“? Fragte Marco mich dann.

Ich wäre fast erschrocken.

„Ja, ich hab gerade daran gedacht.“ sagte ich dann erstaunt.

„Ich auch.“ gestand Marco.

Das war seltsam.

Ich meine, wir waren uns früher schon einig, ohne darüber reden zu müssen. Das war nicht wirklich neu. Aber das wir tatsächlich dasselbe dachten? Das war beinahe unheimlich.

Natürlich ging dann auch wieder Marcos Handy.

Er guckte nur drauf und drückte den Anruf weg.

„Ich denke, ich sollte mal losfahren.“ seufzte er dann unwillig.

„War das wieder deine Trulla?“ als wenn es jemand anderes hätte sein können.

„Ja, ich muss los.“ bedauerte er.

Mir kamen gleich wieder die Tränen. Am liebsten hätte ich ihn da behalten, ihn nicht mehr los gelassen, ihn einfach nicht gehen lassen. Aber ich wollte ihm auch keine Schwierigkeiten machen. Er hatte so schon genug Ärger.

„Wann kommst du wieder?“ fragte ich und ich konnte die Tränen nicht zurückhalten.

„Nicht weinen.“ sagte er ein bisschen hilflos.

„Sorry.“ flüsterte ich, die Tränen erstickten meine Stimme.

„Ich komme wieder, so bald ich kann.“ versuchte er mich zu trösten, kramte ungelenk ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und wischte mir verlegen lachend die Tränen weg.

„Tut mir leid.“ weinte ich unter neuen Tränen, ich konnte mich einfach nicht beherrschen.

„Kommst du noch mit zum Auto?“ fragte er dann.

„Sicher.“

Wir standen auf und ich versuchte so geordnet wie möglich meine Wohnungsschlüssel zu greifen, aber ich war irgendwie verdreht. Alles war so unwirklich.

Als wir an seinem Auto ankamen und er aufschloss, kamen mir schon wieder die Tränen.

„Ich muss los.“ sagte er dann bedauernd.

„Ich weiß.“ weinte ich.

„Ich rufe dich morgen wieder an.“ tröstete er und wischte mir wieder die Tränen weg.

Dann nahm er mich in die Arme, küsste mich und drückte mich fest an sich.

Oh man, lieber Himmel, laß ihn erkennen, daß er mich liebt. Wenn ich ihn jetzt wieder verliere, weiß ich nicht ob ich das überstehe. Ich hielt mich an ihm fest, klammerte beinahe. Ich wollte ich nicht gehen lassen, aber ich musste. Ach verdammt, warum muss man so vernünftig sein, nur weil man ein paar Jahre älter geworden war?

Mit großem Widerwillen ließ ich mich dann aus der Umarmung lösen.

„Nicht, nicht weinen, ich kann dich ja so gar nicht zurücklassen.“ Es schien beinahe, als wenn Marco gleich mit weinte.

Ich riss mich zusammen so gut es ging.

„Es geht schon. Mach dir keine Sorgen.“ ich weinte immer noch.

„Sieh zu, daß du nach Hause kommst.“ scheuchte ich ihn dann nicht sehr überzeugend.

„Ich ruf dich an.“ versprach er.

Noch einmal nahm er mich fest in die Arme und küsste mich innig.

„Los, hau ab.“ schluchzte ich.

Er stieg dann in sein Auto und fuhr los.

Ich sah ihm so lange nach, bis ich die Rücklichter nicht mehr sehen konnte, dann ging ich zurück zu meiner Wohnung, hemmungslos heulend wie ein Schlosshund.
 

In dieser Woche schaffte er es leider nicht mehr zu kommen. Wir telephonierten die Vormittage, so oft es ging. Aber er hatte lange Arbeitstage und hatte immer erst so spät Feierabend, daß es schon anfing dunkel zu werden. Am Wochenende konnte er sich dann gar nicht melden. Er durfte wieder mit seiner, wie er sagte, Schwiegermutter nach Hamburg, mit Bente musste er nach Kiel, er war schlicht nicht abkömmlich.

Ich vermisste ihn, sehnte mich nach ihm und konnte überhaupt an kaum noch etwas anderes denken. Auch Oliver redete nur noch von Marco. Er fand ihn wirklich toll.

Aber man musste Marco einfach toll finden. Er war so lieb, so einfühlsam. Der kleine Rüpel in ihm, den ich von früher noch kannte, der war gezähmt. Sicher, seine kleinen Gemeinheiten, die machte er immer noch. Zum Beispiel ärgerte er mich gerne, wenn ich nach einer Zigarette fragte. Er zog immer die Schachtel weg, daß ich nicht drankommen konnte. Er neckte mich, aber das war genau das, was ich an ihm vermisst hatte, all die Jahre, in denen er im Grunde nur noch eine Erinnerung für mich war. Dennoch gab er mir das Gefühl gleichberechtigt zu sein.

Er spielte mit den Kindern, tobte mit Oliver und war einfach da.

Es war mir einerseits nur recht, daß Oliver sich so für Marco begeistern konnte.

Andererseits war es schwer abzuschätzen, wie weit ich seine Begeisterung gehen lassen durfte. Noch konnte keiner sagen, ob dieser Wunsch von mir in Erfüllung gehen könnte: Marco Lotz, der Vater meiner Kinder?

Es bestand die Möglichkeit, daß es so kommen konnte.

Es bestand aber genauso die Möglichkeit, daß alles ganz anders kommen könnte.

Es war wie ein Drahtseilakt über einem Moor.
 

Am Dienstag konnte Marco sich dann wieder frei nehmen und zu uns kommen. Er hatte dieses Mal sogar schon um 12 Uhr am Mittag Feierabend und war nun den ganzen Nachmittag für uns da. Für mich da.

Als er ankam wirkte er abgespannt, aber er erholte sich sichtlich. Auch als die Kinder dann aus der Mittagsstunde kamen und seine Aufmerksamkeit für sich in Anspruch nahmen. Fast den ganzen Nachmittag verbrachten wir am Strand. Es war wie im Himmel.

Ich erzählte von meiner Ehe, er von seiner Beziehung mit Bente. Und wir unterhielten uns über die Dinge, die wir daraus gelernt hatten, was uns in einer Beziehung eigentlich wichtig war. Dabei ergänzten wir uns. Keiner wollte dem anderen damit klar machen, was er falsch machen könnte, wir tauschten nur unsere Erfahrungen aus und stellten eigentlich ganz nebenbei fest, daß wir uns mehr als einig waren.

Er erzählte, daß er oft an mich gedacht hatte, aus Neugier, wie es mir wohl ginge. Daß er aber nicht wusste, wie er nach mir hätte suchen sollen. Ich stand nicht im Telephonbuch, in der Auskunft war ich auch nicht und meinen Wohnort kannte er auch nicht. Die Briefe, die ich an ihn geschickt hatte, es waren nur zwei und eine Karte zu seinem 30. Geburtstag, hab ich ohne Absender geschickt und auch ohne Angaben im Brief selbst, mit denen man auf den Verfasser der Schreiben und dessen Adresse hätte zurück schließen können. Ich wollte unter allen Umständen vermeiden, daß die Briefe zurückkämen, selbst, wenn er nicht zugestellt werden konnte und damit verloren ginge.

Zu groß wäre der Ärger gewesen, den ich dadurch bekommen hätte.

Marco hätte sich auch nicht getraut, bei meiner Mum anzurufen.

Das konnte ich nachvollziehen.

Ich erzählte ihm, daß ich mal versucht hatte, bei seinen Eltern anzurufen, daß sich da aber nur ein „Johannsen“ oder etwas ähnliches gemeldet hatte.

Es stellte sich dann heraus, daß seine Eltern umgezogen waren, in den Klosterholzweg in das Haus seiner Großmutter und ihre Telephonnummer auch mitgenommen hatten. Ich muss genau den Zeitraum erwischt haben, als die neuen Mieter schon in dem Haus in der Elbestraße wohnten, die Telephonnummern aber noch nicht von der Post umgestellt waren.

Ich erzählte ihm aber nicht, wie sehr ich ihn wirklich vermisst hatte. Daß ich ständig von ihm geträumt hatte, daß ich ihn im Traum suchte und nicht finden konnte. Und wenn er da war, dann konnte ich die Träume nicht festhalten.

Noch immer war das, was zwischen uns geschah, zu jung, zu frisch, um es auf die Probe zu stellen. Es war noch nicht einmal wirklich klar, ob sich wirklich etwas zwischen uns entwickelte.

Ein Samen war gesät worden, ob der Boden fruchtbar genug war, musste sich erst herausstellen.

Natürlich ging auch dieser Nachmittag nur all zu schnell vorbei. Und obwohl er wieder viel zu lange bei mir blieb, war die Zeit einfach nicht genug.

Es wurde mir immer schwerer, ihn gehen zu lassen.

Er hatte mir inzwischen versichert, daß er nur noch im Wohnzimmer schlief. Dennoch konnte ich meine Eifersucht und den Zorn, die ich gegen seine Trulla hatte, kaum noch verbergen.

Auch Marco schien es immer schwerer zu fallen, doch wieder nach Hause zu fahren. Es war eine schwere Zeit.

Himmelhoch jauchzend, solange wir zusammen sein konnten, zu Tode tief betrübt, wenn wir uns wieder trennen mussten. Ich war berauscht, süchtig nach seiner Nähe und kaum hatte er den Motor seines Wagens gestartet, setzten bei mir schon die Entzugserscheinungen ein.

In der Nacht nach diesem langen Nachmittag, der dann doch zu kurz war, um halb zwei Uhr morgens, klingelt mein Telephon und riss mich aus meinem Schlaf.

Sofort dachte ich, daß das nur Marco sein konnte.

Er war es.

„Kann ich kommen?“ fragte er kleinlaut.

„Bist du noch nicht hier?“ fragte ich zurück.

Eine halbe Stunde später war er dann da, ich empfing ihn auf dem Parkplatz.

Es war Nacht.

Wir waren alleine.

Die Jungs schliefen tief und fest.

Und bis er zur Arbeit los musste, hatten wir ein paar Stunden Zeit.

Wir hatten damals, vor 12 Jahren schon sexuellen Kontakt und es war absolut keine Frage, was in dieser Nacht passieren würde.

Und es passierte.

Und es war das mit Abstand Allerschönste, was je zwischen uns passiert war.

Es war genauso, wie ich es mir immer erträumt hatte, wenn ich mir ausmalte, was passieren würde, wenn ich mit Marco nur einmal noch ganz alleine sein könnte.
 

An einem Sonntag, es war der 14. Oktober und Michaels erster Geburtstag, rief Marco vormittags bei mir an und fragte, ob er kommen kann.

„Natürlich kannst du kommen.“ sagte ich.

„Ich hab mich aus der Wohnung geschlichen und sitze in meinem Auto, ich wusste nicht, ob ich einfach losfahren sollte.“ gestand er niedergeschlagen.

„Komm her, ich bin da.“ sagte ich.

Nur zwanzig Minuten später war er dann tatsächlich da. Die Jungs waren gerade in der Mittagsstunde.

Ich erwartete ihn schon draußen vor dem Haus. Wir setzten uns in die Sonne.

Marco war sehr niedergeschlagen und sah gar nicht gut aus.

„Ist alles in Ordnung?“ fragte ich, obwohl ich ihm schon ansehen konnte, daß überhaupt nichts in Ordnung war. Sonst wäre er auch nicht „geflohen“.

„Ich krieg noch einen zu viel.“ sagte er und sehr zu meinem Entsetzten weinte er.

Marco weinte.

Das war in etwa so häufig wie Regen auf dem Mond.

Ich war bestürzt und hatte tiefes Mitleid mit ihm. Ich nahm ihn in die Arme, er sank beinahe in sich zusammen und weinte.

Er brauchte mir nichts erzählen. Ich wusste zwar nicht was genau vorgefallen war, es war aber ganz offensichtlich, daß es schlimm gewesen sein musste.

Er vergrub sein Gesicht an meiner Brust und weinte, und ich ließ ihn.

„Tut mir leid.“ sagte er dann, als er sich wieder etwas gefangen hatte.

„Das muss es nicht. Ich bin ja da.“ sagte ich sanft.

„Darum bin ich ja gekommen.“ gestand er dann.

„So kann es doch nicht weiter gehen.“ sagte ich dann.

„Ich weiß.“ gab er zu.

„Aber ich weiß nicht, was ich machen soll.“

Ach Marco, die Antwort lag so nahe, aber die Umsetzung war so kompliziert...

Noch immer hatte er Bente nichts von mir oder den Kindern erzählt. Ein Wunder, daß sie nicht längst Wind davon bekommen hatte. Immerhin sind wir inzwischen mehrfach zusammen gesehen worden.

Allmählich ist es auch Marco klar geworden, daß er mit mir, mit UNS zusammen bleiben wollte.

Oliver wusste das schon früher als wir selbst.

Marco telephonierte einmal mit mir und die Jungs konnten mithören. Da nahm mein großer das Telephon.

„Marco?“

„Ja?“

„Ich nenn dich jetzt Papa“

Das stellte er einfach so fest.

Marco verschlug es die Sprache.

Und nicht nur ihm.

So einfach war das, für ein Kind.

So verlegen war es für uns Erwachsene.

Ich musste direkt lächeln, als ich mich daran erinnerte.

Marco beruhigte sich wieder.

„Lass uns irgendwo hinfahren.“ sagte er dann.

„Gut, lass uns fahren. Wir gucken ob die Jungs wach sind und dann machen wir uns fertig.“ stimmte ich zu.

Zusammen gingen wir rauf in meine Wohnung. Michael lag bereits in seinem Bettchen und sang seinem „Tiger“ etwas vor. Eigentlich war es ein kleiner Stoffleopard mit regenbogenbunten Tupfen. Aber Oliver nannte den schon immer Tiger und Michael benutzte ein Wort, das ganz ähnlich klang. Er begann gerade erst mit den artikulierten Sprechen.

Oliver war gerade auf der Toilette, als ich mit Marco in die Wohnung kam.

„MARCO!!!!“ rief er begeistert und stürmte mit heruntergelassener Hose auf Marco zu und klammerte sich um seine Beine. Höher kam der Kleine nicht.

„Hallo Oliver“ begrüßte Marco ihn herzlich, ging in die Knie und drückte den Jungen an sich. Ich konnte geradezu dabei zusehen, wie sich in Marco einige Knoten entspannten.

Wir machten einen kleinen Imbiss, Michael ließ sich begeistert von Marco mit Leberwurstbrot füttern.

Dann machte ich die Wickeltasche fertig.

Die Autositze der Kinder hatte ich in meinem Keller gelagert. So lange ich mein Auto nicht hatte, waren die sonst nur im Weg.

Marco holte die Sitze aus dem Keller, ich setzte derweil Michael in seine Karre, die auch mit musste.

Sein Golf war nicht gerade groß und den zusammengefalteten Kinderwagen bekamen wir nur mit Trick 17 und Selbstüberlistung in den Kofferraum.

Aber wir bekamen alles ins Auto.

Dann fuhren wir los.

„Wo sollen wir hinfahren?“ fragte Marco dann.

„Ich weiß nicht? Nach Flensburg wäre wohl nicht so klug.“ überlegte ich.

„Da könntest du Recht haben. Lass uns nach Kronsgard fahren.“ beschloss er dann.

„Wo ist das?“ erkundigte ich mich. Klang irgendwie dänisch.

„Hinter Kappeln, an der offenen Ostsee.“ erklärte Marco.

„Au ja, das hört sich gut an.“ stimmte ich zu.

„Fahren wir zum Einkaufen?“ wollte Oliver jetzt wissen.

Wenn wir bisher alle zusammen losgefahren sind, dann meistens zum Einkaufen. Also, mit „bisher“ meine ich die Zeit, die wir noch unten in Hessen waren.

„Nein, Schatz, wir fahren einfach nur weg.“ erklärte ich dem Jungen.

„Einfach nur weg?“ fragte Oliver ungläubig.

„Einfach nur weg.“ bestätigte Marco.

Er hörte sich schon wieder viel besser an.

Marco schaltete sein Autoradion ein und soll man es für möglich halten? Es lief „Vom selben Stern“ im Radio. Marco und ich guckten uns an, lächelten versonnen und er drehte die Musik ein bisschen lauter.

Ich war so verliebt und ich hatte den Eindruck, daß es Marco genauso ging. Es fühlte sich so wunderbar an hier neben ihm im Auto zu sitzen. Wenn auch etwas gewöhnungsbedürftig, ich kannte ihn ja bisher nur mit einem Fahrrad. Allgemein hatte ich etwas Schwierigkeiten die 12 Jahre, in denen wir uns nicht mehr gesehen hatten, gefühlsmäßig zu überbrücken.

Marco war schon immer etwas jünger als ich und das würde sich auch in Zukunft nur schwerlich ändern. Jetzt aber hatte ich dieses Bewusstsein so stark wie nie in meinem Hinterkopf. Ich hatte ihn noch als 23jährigen in Erinnerung. Danach macht die Zeit im Grunde einen Schnitt und setzt jetzt nach 12 Jahren wieder neu an. Die Zeit dazwischen hab ja nur ich erlebt, wie ich selbst älter wurde. Ich fühlte mich im Moment so alt. Und er fühlte sich für mich noch so jung an. Ich kam mir vor wie eine alte Frau die einen sehr viel jüngeren Mann liebte.

Und noch etwas schwang ständig in meiner Melodie mit. Der Unterton der mir sagte: „Du kannst ihn nicht behalten. Er ist immer noch mit seiner Trulla zusammen. Und es steht in den Sternen, ob er den Schritt von ihr weg und zu dir hin wagt.“

Ich war so eifersüchtig. Neidisch.

Sie verbrachte Zeit in seiner Nähe, die ihr nicht mehr zustand. Die ihr schon zu dem Zeitpunkt nicht mehr zustand, als sie damit begonnen hatte, ihn schlecht zu behandeln. Selbst wenn er wirklich nicht mehr mit ihr im Ehebett schlief.

Es war das Ehebett, in dem ich das erste Mal mit ihm zusammen schlief. Er hatte es damals, als er noch in der Ostlandstraße wohnte, von seinem Bruder „geerbt“. Und als ich dann übers Wochenende im September 1995 bei ihm war, teilte er mir mit, daß ich das erste Mädchen gewesen sei, daß mit ihm in diesem Bett geschlafen hatte.

Ich war zuerst da.

Ich kannte ihn schon viel länger.

Und ich kannte ihn viel Besser, als dieses Weib, das ihn jetzt so quälte.

Ich würde besser mit ihm umgehen.

Marco legte eine Kassette mit ABBA ein. Zuerst lief „Money Money Money“. Danach kam ein Lied, bei dem ich fast weinen musste.

„One of us is crying, one of us is lying in his lonley bed. Starring at the cealing, wishing she were somewere else insted...“

Es war so einfach. Ich liebte ihn und würde ihm nie weh tun. Marco liebte mich offensichtlich auch und er würde mir auch nie weh tun, er hatte mir nie weh getan, nicht mit Absicht. Das damals, in der Fruerlunder Straße in der Wohnung seines Bruders, wo er mich eingesammelt hatte weil er auf Deutsch gesagt „dicke Eier“ hatte und ich gerade verfügbar war, da hatte er mir zwar weh getan, aber es war nicht seine Absicht. Es war nicht vorsätzlich. Er hatte schlicht und einfach nicht darüber nachgedacht. Er hat, wie man so schön sagte, mit seinem Schwanz gedacht!

Ich nahm es ihm nicht übel, aber vergessen konnte ich es doch nicht.

Andererseits, hey, welche Frau kann sich bei einem Mann an einen speziellen Vorfall erinnern, wo der Mann ihr in irgendeiner Weise weh getan hätte?

Ein einziges Mal.

Und die übrigen über 100 Male fühlte ich mich wohl und geborgen in Marcos Nähe.

So wie jetzt auch.

Aber wie gesagt, immer dieser dunkle Unterton...

Dennoch, es war herrlich. Marco war ausgelassen und gut gelaunt und ich nicht minder. Die Jungs freuten sich sowieso.

Kronsgard war eigentlich kein richtiges Dorf. Es war mehr eine kleine Ansammlung von einem Strandhotel, aber ein kleines, Kiosk, Pommesbude und die Möglichkeit seinen Wohnwagen aufzustellen. Aber der Strand war herrlich. Leider war das Wasser schon recht kalt, auch das Wetter an sich. Und wie es sich am offenen Wasser gehörte hatten wir auch entsprechenden Wind. Oliver fand eine Plastikschaufel und war erst mal beschäftigt. Marco und ich saßen im Sand, Arm in Arm und beobachteten die Jungs. Wir haben auch Michael in den Sand gesetzt, der jetzt begeistert mit den Händen im selbigen herumbuddelte. Der ein oder andere Stein landete dabei auch in seinem Mund. Wir passten auf, daß er sie nicht verschluckte oder gar ins falsche Halsloch bekam. Ansonsten guckten wir nur zu, ob er das Gesicht verzog oder nicht.

Als die Sonne immer weiter auf den Horizont zuging fuhren wir wieder nach Hause.

Zuhause blinkte mein AB.

Es war mein zukünftiger Ex-Gatte, der sich wegen des Autos meldete.

Mein Anwalt hatte es in den letzten Wochen geschafft meine bucklige angeheiratete Verwandtschaft davon zu überzeugen, daß die Idee, mir und den Kindern das Auto wegzunehmen, eine äußerst schlechte war.

Ich sollte zurückrufen, was ich dann auch Tat. Marco war noch da und hatte Michael auf den Knien, Oliver hatte am Strand zu der Schaufel noch ein Auto gefunden, was er jetzt beides im Badezimmer unterm Wasserhahn vom Sand befreien wollte.

„Hansen?“ meldete sich Ulrich am anderen Ende.

„Ja, hier auch.“ sagte ich emotionslos.

„Ich sollte zurück rufen.“ fügte ich noch hinzu.

Ich schaltete das Telefon auf Lautsprecher.

„Ja.“ sagte Ulrich.

„Ich möchte bitte, daß du deinen Ausweis bei deinem Anwalt abgibst. Meine Eltern werden den dann abholen, das Auto auf deinen Namen anmelden. Dann Bekommt dein Anwalt die Autopapiere und das Auto stellen wir da hin.“ forderte er.

„Warum machen wir das nicht ganz einfach? Ich bekomme die Papiere vom Auto, melde ihn selbst an, gebe die Nummernschilder bei meinem Anwalt ab, ihr holt die, Baut sie an und stellt das Auto bei meinem Anwalt auf den Parkplatz. Dann kann ich ihn mir da abholen.“ schlug ich vor.

„Ja, so können wir das auch machen.“ resignierte er, nachdem er eine Weile nichts gesagt hatte.

Marco verhielt sich währenddessen so ruhig es ging.

„Ist Oliver da?“ fragte Ulrich dann.

„Ja, der ist da, aber er ist gerade im Badezimmer.“ antwortete ich.

„Kann ich ihn mal sprechen?“ er klang muffelig.

„Ich kann ihn ja mal fragen.“

Ich stellte das Telephon auf den Esstisch und ging ins Bad.

„Oliver? Dein Papa ist am Telephon.“ rief ich nach dem Jungen.

„Ist Marco schon wieder weg?“ fragte er sichtlich traurig über diesen Gedanken.

„Nein, dein richtiger Papa ist am Telephon.“ sagte ich.

„Welcher Papa?“ wollte Oliver wissen.

„Ulrich, dein Papa.“

Oliver ließ seine Spielsachen, dir er sauber machen wollte, im Waschbecken liegen und ging ins Wohnzimmer – mit einer direkten Linkskurve auf das Sofa zu.

„Nein, am Telephon.“ flüsterte ich so laut ich konnte und drückte Oliver das Mobilteil in die Hand.

„Hallo Oliver?“ hörte ich jetzt Ulrich sagen.

„Ja? Wer ist da?“ wollte Oliver wissen. Offenbar hatte er immer noch nicht kapiert, was ich meinte.

„Hier ist dein Papa.“ sagte Ulrich.

„Neeeh, mein Papa ist hier!“ antwortete Oliver im Brustton der Überzeugung und gab Marco das Telephon.

Marco und ich waren augenblicklich schockgefroren!

Damit hatte keiner von uns gerechnet.

Auch am anderen Ende der Telephonleitung klang die Stille etwas frostig.

Hu! Das war bitter. Besonders für Ulrich.

Wir bekamen Oliver dann doch noch dazu sich ein bisschen mit seinem Vater zu unterhalten. Aber Marco und ich konnten uns überhaupt nicht beruhigen. Marco lachte so tonlos er konnte und ich wusste nicht, wie ich mich beherrschen sollte.

Endlich war das Gespräch zu Ende und Oliver drückte auf den roten Knopf für zum Auflegen.

„Das war bitter!“ prustete Marco heraus.

„Jap! Aber mal ehrlich, er hat es doch nicht anders verdient, oder?“ kicherte ich.

„Das war ein Schlag ins Gesicht.“ bestätigte Marco.

Noch lange konnten wir uns darüber nicht beruhigen.

Wir aßen dann zu Abend und brachten die Jungs ins Bett.

An diesem Abend blieb er länger, noch bis halb 10. Dann dachte er langsam daran, daß er mal nach Hause sollte.

Er schaltete sein Handy ein.

Richtig, das hatte ich gar nicht mehr im Kopf gehabt. Er hatte es ausgeschaltet, daher war es auch so wunderbar ruhig den ganzen Tag.

„Wie sagst du immer? Holla die Waldfee!“ rief er dann.

„Was ist? Hat sie wieder angerufen?“ Ich hatte allerdings nicht wirklich angenommen, daß seine Olle sich heute zurückgehalten hätte.

„Sieben Anrufe in Abwesenheit und drei SMS!“ verkündete Marco.

„Wow! Das ist heftig.“ bestätigte ich.

Trotzdem war ich wieder traurig, daß er los musste. Und trotzdem konnte ich die Tränen wieder nicht zurückhalten.

Ich begleitete ihn wieder zum Auto, ich wollte so lange wie möglich in seiner Nähe sein. Er nahm mich in die Arme und küsste mich innig, leidenschaftlich. Ich hing an seinen Lippen wie eine Ertrinkende.

„Eigentlich möchte ich gar nicht nach Hause fahren.“ flüsterte er dann.

„Dann bleib doch einfach hier.“ sagte ich.

„Das geht auch nicht...“

„Ich weiß...“ Ich verstand das wirklich. Solange Marco sich nicht 100%ig darüber klar war, nicht 100%ig sicher war, was er tun wollte und wie es danach weitergehen würde, so lange musste er nach Hause fahren. So lange würde er nichts von mir und den Kindern erzählen und so lange würde ich auf ihn warten müssen.

„Ich liebe dich.“

Mein Herz blieb stehen.

„Was hast du gerade gesagt?“ fragte ich tonlos.

„Ich liebe dich. Carmen, ich liebe dich.“ wiederholte Marco.

„Wirklich?“ meine Stimme erstickte in neuen Tränen.

„Ja, wirklich. Ich weiß zwar nicht warum, aber ich liebe dich.“

„Ich liebe dich auch.“ weinte ich.

Endlich, endlich durfte ich es ihm sagen.

Endlich durfte ich meine Gefühle zeigen, aussprechen, ihm direkt in die Augen sehen und aussprechen.

„Du musst doch nicht weinen.“ lachte er hilflos und zärtlich.

„Ich weiß, aber...“ weiter kam ich nicht.

Wir küssten uns als wäre es das erste Mal, das letzte Mal, für alt und für neu und für jetzt.

„Ich komme morgen wieder.“ versprach er.

„Wann?“ fragte ich, immer noch mit Tränen im Gesicht.

Er wischte sie mir mit dem Finger weg.

„Morgen früh. Wann stehst du auf?“ fragte er.

„Wann kannst du hier sein?“ fragte ich zurück.

„Normal stehe ich zur Arbeit um fünf Uhr auf. Ich kann aber sagen, daß ich später anfange. Wäre dir sieben Uhr recht?“

„Sicher, wann du willst.“ flüsterte ich.

„Hast du Urlaub?“

„Ja, eine Woche. Aber ich hab es Bente nicht erzählt.“ grinste Marco.

„Das ist wunderbar.“ freute ich mich.

„Ich wollte dich eigentlich überraschen und einfach vor deiner Tür stehen.“ sagte er.

Ich wusste nicht was ich sagen sollte.

„Dann bis morgen früh.“ sagte ich und löste mich aus seiner Umarmung.

„Sieh zu, daß du los kommst.“

„Bis morgen.“ er küsste mich noch mal, dann setzte er sich in sein Auto, startete den Wagen und fuhr los.

Eine ganze Woche Urlaub und er ist nur für mich da.

Und er liebt mich.

Er hat es mir gesagt.

Er hat wirklich gesagt, daß er mich liebt.

Kapitel XXXVI
 

Die Nacht konnte ich kaum schlafen. Beinahe sehnsüchtig wartete ich nur darauf, daß es endlich sieben Uhr wäre und Marco endlich kommen würde. Um halb sieben stand ich auf, baute mir eine Zigarette und ging nach unten, um sie zu rauchen. Die Jungs waren beide noch ruhig, also schliefen sie noch. Mein Handy nahm ich mit. Ich spielte immer eines der Kartenspiele. Damit konnte ich mein Gehirn ein bisschen abschalten und gleichzeitig beschäftigen.

Schon um zwanzig vor sieben hörte ich Schritte auf dem Weg vom Parkplatz her. Das konnte Marco aber bestimmt noch nicht sein.

Doch ich täuschte mich.

Ich sprang auf und flog ihm um den Hals, als ich ihn erkannte.

„Nanu? Was machst du denn schon so früh hier draußen?“

Er freute sich, daß ich schon da war, wunderte sich aber doch.

„Ich konnte nicht schlafen.“ gestand ich.

„Ich auch nicht, du hast mir gefehlt.“ sagte er ganz leise und küsste mich.

Wir setzten uns auf die Stufe vor der Haustür und ich rückte so dicht an ihn ran, wie nur irgendwie möglich. Eigentlich blieb ihm gar nichts anderes übrig, als mir den Arm um die Schultern zu legen, sonst hätte ich ihn von der Stufe geschubst.

„Hast du gestern noch schlimm Ärger bekommen?“ erkundigte ich mich schuldbewusst.

„Naja, das Übliche. Sie ist ausgerastet, wollte wissen wo ich war und war dann der Meinung mich raus zuschmeißen, was sie dann aber doch nicht gemacht hat. Inzwischen ist ihr auch aufgefallen, daß ich nicht mehr im Schlafzimmer schlafe.“ erzählte er wie beiläufig.

„Das hat sie jetzt erst bemerkt? Geht ihr sonst nicht gemeinsam zum schlafen? Und was hast du ihr erzählt, wo du warst?“ wunderte ich mich.

„Ich hab immer noch am Computer gesessen und mein Spiel gedaddelt. Dann bekommt sie eh nicht mit wann ich ins Bett komme. Aber sie hat es wohl doch so langsam mal bemerkt. Ich hab ihr gesagt ich war in Westerholz bei meinem Kumpel.“ erklärte Marco.

„Was hast du jetzt vor, ich meine, wie soll es weiter gehen?“ fragte ich ihn.

„Ich weiß nicht. Ich werde mich trennen, soviel steht fest. Aber ich brauche eine Wohnung, oder sie braucht eine.“ überlegte er laut.

„Es wird Zeit, daß du da rauskommst.“ sagte ich.

„Ich weiß. Ich weiß nur noch nicht, wie ich ihr das beibringen soll.“ gestand Marco.

„Aber sie gibt dir doch genügend Gründe? Da muss doch irgendein angemessener Ansatz dabei sein?“

„Das stimmt. Irgendwie bin ich feige.“ gab er niedergeschlagen zu.

„Das musst du nicht. Ich bin da. Ich stehe dir bei. Ich stehe das zusammen mit dir durch.“ sagte ich eindringlich.

„Ich weiß. Ich weiß auch, daß du darunter leidest, wenn ich immer wieder nach Hause muss.“

Dem konnte ich nichts hinzufügen.

„Mach dir eine Liste, was du alles mitnehmen wirst.“ schlug ich vor.

„Dann überlegst du, wie du den Umzug schaffen kannst.“ ergänzte ich.

„Der Umzug ist nicht das Problem und die Aufteilung der Sachen auch nicht wirklich. Das Schlafzimmer ist definitiv meines. Das hatten wir schon mal festgestellt. Sie behält das Wohnzimmer.“ zählte Marco auf.

„Sieh zu, daß du deine Sachen möglichst bald zusammen hast und raus bringst. Wenn sie begreift, daß sie dich verloren hat könnte sie auf die Idee kommen noch so einiges beiseite zu schaffen.“ riet ich ihm.

Marco nickte wortlos.

„Und in der Zwischenzeit gucken wir nach einer Wohnung für dich.“

„Sie hat schon oft gedroht, sich eine neue Wohnung zu suchen. Ich hab ihr sogar schon mal die Zeitung so aufgeschlagen auf den Küchentisch gelegt, daß sie die Anzeigen nicht mal suchen musste.“ erzählte Marco.

„Und? Was hat sie gesagt?“

„Naja, zickig ist sie geworden. Was das solle und so. Aber sie hat nicht die Anstalten gemacht, sich tatsächlich eine eigene Wohnung zu suchen.“

„Sag mal, wie alt ist die eigentlich? Das hört sich nach Teenager an!“ fragte ich.

„Sie ist vier Jahre älter als ich. Und ein bisschen größer.“

„Bitte was???“ ich war geschockt.

„Und dann ist sie so unselbständig? Das kann doch nicht sein. Die würde gut zu dem Alten passen.“ entrüstete ich mich.

In meinem Kopf stellte ich mir eine übergroße kräftig gebaute Matrone vor neben meinem kleinen etwas zu schlank geratenem Marco. Was wollte die von ihm? Das war ja wie eine Katze, die sich eine Maus hielt!

Ich schluckte den Ärger aber runter.

In dem Moment spielte mein Handy das Lied „To Zanarkand“ aus dem FFX-Game, das ich für meinen Wecker eingestellt hatte.

„Ich muss die Jungs fertig machen.“ sagte ich und stand auf. Marco stand ebenfalls auf und kam ganz selbstverständlich mit rauf.

Oliver freute sich geradezu ein Loch in den Bauch als er Marco sah.

„Marco! Marco! Mein Papa ist da!“ jubelte der Kleine und Marco freute sich mindestens genauso sehr.

Beinahe zeitgleich konnte man dann die Rufe von Michael hören, der bis eben noch ruhig war. Ich hätte gedacht, daß er noch schläft. Aber als er hörte, daß Marco wieder da war, da war er dann gleich hellwach.

„Hast du hier geschlafen?“ erkundigte sich Oliver.

Ach Sohn, du sprichst meine sehnlichsten Wünsche aus.

„Nein.“ lachte Marco.

„Warum nicht?“

„Das geht noch nicht. Komm, Zähne putzen.“ antwortete Marco.

Wahnsinn, kaum richtig in der Tür und gleich kümmert er sich. Es war schwer für mich, mich daran zu gewöhnen, daß ich nicht mehr ganz alleine für die Kinder verantwortlich sein brauchte.

Und, Moment, was hatte Marco gerade gesagt? Das geht NOCH nicht?

Hach, wo kamen nur all diese Schmetterlinge in meinem Bauch her.

Ich hatte Michael auf dem Arm, den ich gerade aus seinem Bett gehoben hatte und Marco stand noch mit Oliver auf dem Flur. Als wir aneinander vorbeigingen gab Marco mir ein schnelles Küsschen auf dem Weg. Wir waren eine richtige Familie, jedenfalls so musste es sich anfühlen wenn.

Auch Michael bekam ein Küsschen und der Kleine wollte kaum auf meinem Arm bleiben.

„Nein nein, du wirst erst mal gewickelt.“ lachte ich und hatte meine Mühe den Wirbelwind festzuhalten.

Michael wurde immer beweglicher. Nicht nur, daß er gerade sitzen und sich alleine vom Bauch auf den Rücken und wieder zurück drehen konnte. Ich musste nachts nicht mehr raus um mein Baby zu „retten“, weil er sich auf den Bauch gerollt hatte aber nicht wieder zurückkam. Er fing auch an zu krabbeln und sich an den Möbeln hoch zu ziehen. Nicht mehr lange und er würde laufen.

„Was möchtest du denn zum Frühstück? Ein Brot oder deine Flasche?“ fragte ich den kleinen als er vor mir auf der Wickelunterlage lag.

„Mako“ sagte der Kleine.

Ich war erstaunt! Das war sein erstes Wort!

„Marco?“ fragte ich nach, unsicher ob ich ihn richtig verstanden hatte oder ob das nur Gebrabbel war.

„Mako!“ wiederholte der Kurze.

„Marco?“ rief ich über den Flur.

„Was?“ kam aus dem Bad.

„Michael hat gerade 'Marco' gesagt!“

„Was hat er?“

„Er hat gerade 'MARCO' gesagt.“ rief ich etwas lauter.

„Bist du sicher?“ fragte Marco.

„Ja, er will dich zum Frühstück.“ rief ich zurück.

„Na dann.“

Seltsam. Das war alles zu unwirklich um wahr zu sein.

Entweder träumte ich, oder ich lag im Koma. In beiden fällen wollte ich auf keinen Fall aufwachen.

Zum Frühstück bekam Oliver dann eine Schüssel Mäuseköttel, die er schon ganz alleine essen konnte. Und Michael wollte lieber seine Flasche. Jedenfalls bekam er nicht Marco zum Frühstück.

Ich machte die Brotdose für Oliver fertig, einen halben Apfel und eine Kivi. Brot wollte er partout nicht essen.

Dann bekamen beide Kinder eine Jacke an und wir machten uns auf den Weg zur Bushaltestelle, alle vier.

Oliver ließ es sich nicht nehmen allen Anwesenden zu erzählen, daß das Marco war, sein neuer Papa.

Das Wetter war heute leider nicht so besonders gut. Es war kühl, der Himmel bewölkt und immer wieder regnete es zwischendurch.

In meiner Wohnung sahen wir dann Fern, ich hatte von meiner Mum einen alten Fernseher bekommen. Er war auch aus dem Lagerhaus in Husby, wo man alle möglichen Sachen aus Wohnungsauflösungen bekam. Der Fernseher hatte oben im Gehäuse eine tiefe Kerbe. Ich mochte mir nicht wirklich vorstellen, wie die in den Fernseher gekommen sein könnte, vielleicht von einer Axt? Als ich dann im Werbeprospekt von Real,- einen DVBT-Recever im Angebot fand, fuhr ich gleich hin und holte mir das gute Stück. Damals hatte ich noch mein Auto. Die Häuser hatten eingebauten DVBT-Empfang und eine Schüssel durfte ich nicht aufstellen. Die wäre ohnehin zu teuer gekommen. Ich hatte aber auch die wichtigsten Programme über DVBT, RTL, SuperRTL, Sat1 und besonders wichtig Pro7 und RTL2. Da liefen meine Lieblingsserien Charmed und Stargate Atlantis.

Michael spielte auf dem Boden und Marco beschäftigte sich immer wieder mit dem Kleinen.

Gegen halb 11 brachte Marco ihn dann ins Bett, für die Vormittags-Stunde. Wenn Oliver nach Hause kam, dann war der Kleine wieder wach und gegen halb zwei Uhr gingen dann beide noch mal ein zwei Stunden schlafen.

Als Marco dann ins Wohnzimmer zurückkam machte er einfach den Fernseher aus.

„Was kommt jetzt?“ fragte ich. Natürlich konnte ich mir schon vorstellen, was jetzt kommen könnte.

„Jetzt will ICH mein Frühstück.“ verkündete er kiebig und fiel über mich her.

Ich genoss jede Berührung, seinen Geruch, seine Wärme, die er ausstrahlte, seine Küsse, ganz besonders seine Küsse. Und ich berührte ihn, wo ich konnte. Nur... Naja, nur unterhalb der Gürtellinie, der Bereich über den Knien, da hatte ich starke Schwierigkeiten, Hemmungen die sich nicht überwinden ließen. Ich bemerkte es. Marco nicht. Ich wischte den Gedanken und das damit verbundene unschöne Gefühl beiseite und widmete mich wieder ganz dem, was gerade geschah.

Es war phantastisch! Unbeschreiblich! Niemals in meinem ganzen Leben hätte ich auch nur geahnt, daß ich zu solchen Gefühlen fähig war. Was Marco da mit mir anstellte, war sicher keine Kunst, aber was er damit bei mir auslöste war gelinde ausgedrückt über allem, was ich je gehört hatte.

Ich war immer der Meinung, daß ich vaginal, im Innenbereich, nicht in der Lage war mehr zu empfinden, als eben die Bewegung, wenn er in mir war.

Weit gefehlt!

Die Legende vom G-Punkt – sie ist wahr.

Jedenfalls wenn der G-Punkt sich nicht nur auf einen Punkt beschränkt. Meiner schien zu wandern, sich auszubreiten, zu verknoten, zu schwellen und zu pulsieren! Es war unbeschreiblich. Das aller herrlichste: Es tat nicht weh. Früher war Marcos Glied eine Nuance zu lang für mich, es war immer ein bisschen schmerzhaft gewesen. Aber jetzt? Jetzt konnte ich ihn nicht tief genug in mir haben. Ganz tief, Marco, in mir...

„AAH“

„SCHT!!, Michael schläft.“ zischte Marco flüstern.

„Ich kaAAAH nicht!“ keuchte ich.

Ich explodierte. 100 Mal. 1000 Mal! Alles war ein einziger Rausch und es viel mir schwer mich zu beherrschen. Ich krallte nach einem Handtuch, das auf der Sofalehne hing, knüllte es hastig zusammen, drückte es mir vors Gesicht und keuchte hinein.

Ich konnte nicht mehr, aber ich WOLLTE mehr!

Und er gab mir mehr.

Sehr viel mehr.

Beinahe eineinhalb Stunden hielt er durch.

Ich war schon längst am Ende meiner Kräfte, aber aufhören konnte ich auch nicht.

Dann kam er.

In mir.

Es fühlte sich so unfassbar gut an.

Jetzt hatte ich ihn in mir, Teile von ihm. Nirgendwo sonst gehörte das hin.

Ich war fast traurig, als er sich von mir löste und alles wieder aus mir herauslief.

Als ich mich erholt hatte, tat mir alles weh. Ich pulsierte immer noch, es fühlte sich an, als wäre ich an winzige Stromkabel angeschlossen, die kleine Blitze durch meinen Körper abfeuerten.

„Mensch, du bist verdammt eng!“ stellte Marco außer Atem fest.

„Nein, DU bist so GROSS!“ widersprach ich keuchend.

Wir zogen uns an um unten eine zu Rauchen.

„Uh, das gibt Muskelkater!“ stöhnte ich auf der Treppe.

„Ja, was machst du denn auch immer?“ neckte Marco mich.

„Ich? Was machst DU mit mir?“ konterte ich lachend.

„ICH? Nichts. Ich bin ganz harmlos.“ grinste er frech.

„Ja, ja. Das wüsste ich aber.“ stichelte ich weiter.

„Ich bin ganz unschuldig.“

Ich liebte ihn, genau dafür liebte ich ihn. Genau das hab ich all die Jahre vermisst.

Wir hatten dann gerade noch Zeit uns zu duschen, dann mussten wir schon zur Bushaltestelle und Oliver abholen.
 

Am Nachmittag machten die Jungs dann doch keine Schlafenszeit mehr. Wir beschlossen nach dem Mittagessen spontan ein bisschen Einkaufen zu fahren. Mir fehlten einige Dinge in der Speisekammer. Außerdem gab es beim Mediamarkt eine Gefrier-Kühl-Kombination für 300 Euronen. Mein kleiner Kühschrank mit dem Eisfach war viel zu klein geworden. Nicht der Kühlschrank ist geschrumpft sonder der Bedarf an Vorrat war gestiegen. Marco hatte in den ersten 14 Tagen, nachdem wir uns wiedergesehen hatten, keinen rechten Appetit, aber der kam schnell wieder. Wenn ich für ihn mitkochte musste ich immer drei Erwachsene und eineinhalb Kinder berechnen.

Also brauchte ich einen größeren Kühlschrank. Und da das gute Stück gerade im Angebot war, wollte Marco die Gelegenheit nutzen.

„Ich hab doch gar nicht genug Geld für so etwas.“ räumte ich ein.

„Das lass mal meine Sorge sein. Du kannst es mir ja in Raten zurückzahlen.“ grinste Marco unternehmungslustig.

Bevor ich mich jetzt also erst lange bitten ließ, zogen wir die Jungs an, bauten die Kindersitze in Marcos Auto ein und fuhren zum City-Markt nach Flensburg. Dort war der Mediamarkt.

Der Kühlschrank war wirklich toll. Und ich sollte ihn in den kommenden Tagen geliefert bekommen.

Was für ein Luxus, so viel platz und ich konnte endlich Fischstäbchen kaufen, die ich nicht am selben Tag noch machen musste. Ich konnte Hackfleisch auf Vorrat kaufen und Gemüse. Klasse.

Dann gingen wir noch in den City-Markt rein. Ich sollte mir Gemüse und Obst aussuchen, was ich und die Kinder mochten. Die Jungs bekamen Süßigkeiten und bei McDonalds waren wir auch noch. Marco bezahlte fast alles, das war auch äußerst gewöhnungsbedürftig. Ich musste an den Tag denken, wo Marco und ich im Kino waren. Damals musste ich meine Eintrittskarte und meine Verpflegung selbst bezahlen.

Jetzt war Marco bereitwillig großzügig, eine ganz neue Seite an ihm für mich.

Konnte das wirklich meine Marco Lotz sein? Konnte das alles wirklich wahr sein? Konnte es tatsächlich gerade passieren?

Mir war ganz schwindelig.

Danach fuhren wir noch in den Fördepark. Wir kauften bei Aldi und bei Real ein. Ich nahm Salatgurken, Quark und Paprika mit. Außerdem ein schönes Stück Schweinefleisch vom Nacken und Kartoffelspalten aus der TK-Truhe. Heute wollte ich griechisch kochen. Giros mit Paprika und selbstgemachtem Zaziki und Kartoffelspalten aus dem Ofen.

Marco war begeistert. Und als wir mit dem Essen fertig waren war Marco noch begeisterter und mehr als pappsatt.

Ich freute mich, daß es ihm so gut schmeckte. Und er zeigte es auch.

„Dein Essen gehört verboten!“ schimpfte er matt.

Ich schmunzelte in mich hinein.

Es war inzwischen spät geworden und die Jungs wurden immer aufgekratzter.

„Die gehören ins Bett.“ stellte ich fest.

„Wieso? Die sind doch ganz munter?“ wunderte Marco sich.

„Eben deswegen. Sie sehen munter aus, sind aber einfach nur überdreht. Du musst mal ihre Augen ansehen, dann erkennst du es.“ erklärte ich.

„Stimmt.“ gab Marco dann zu.

„Michael bekommt die Augen gar nicht mehr richtig auf und Oliver hat auch ganz kleine Augen. Also dann, Leute: Bettzeit.“

Er schnappte sich Oliver und wollte mit ihm Zähneputzen gehen. Der wehrte sich aber und fing an zu maulen.

Auch Michael wollte nicht gewickelt werden und versuchte mir vom Tisch zu hopsen. Aber nach einigen kompromisslosen und geschickten Handgriffen hatte jeder seinen Jungen fertig fürs Bett. Marco brachte beide zu Bett und sagte gute Nacht. Sofort war es ruhig.

„Ehrlich, so pflegeleicht sind Kinder selten.“ staunte Marco.

„Hoffen wir, daß es so bleibt.“ lachte ich.

„Sie hatten aber ja auch einen langen Tag.“ sagte Marco.

„Und nun?“ fragte ich und sah ihn erwartungsvoll an.

„Nun?“ Er sah mich an und den Blick kannte ich. Der hieß ungefähr so viel wie: Vorsicht, du bist mein Nachtisch, die Sahne hab ich schon im Anschlag.

Er nahm mich in die Arme, küsste mich und schob mich langsam aber sicher rückwärts ins Wohnzimmer.

„Hey, Moment mal.“ versuchte ich zu sagen, aber Marco küsste mich immer noch und ließ mir keinen Platz zum Reden.

Er schob mich auf mein Bett und ich ließ mich rücklings darauf fallen. Dann begann er damit mich auszuziehen.

„Was soll denn das jetzt werden?“ pöbelte ich kichernd. Natürlich wusste ich was das jetzt werden sollte und es kribbelte auch schon an den richtigen Stellen und mir wurde ganz heiß.

„Rate mal?“ grinste Marco mich an.

Äääh, Halma?“

„Nein.“

„Domino?“

„Auch nicht.“

„Mensch Ärgere dich nicht?“

„Nicht ganz.“

„Strip-Poker?“
 

Wir waren fix und alle. Ich meine, nicht einfach nur erschöpft, nein. Ich fühlte mich, als hätte ich gerade einen Marathonlauf gewonnen. Und Marco sah auch nicht gerade so aus, als würde er jetzt noch einen Triathlon dranhängen.

„Lass uns in die Küche gehen.“ keuchte ich total außer Atem.

„Nach unten schaffe ich es vielleicht, aber ob ich wieder rauf komme...“

„Gute Idee.“ pflichtete Marco mir bei und wir krochen in die Küche. Dort machten wir die Tür zu, das Fenster weit auf und die Zigaretten an.

Ich musste Husten, der erste Zug klemmte mir fast die Bronchien zu.

„Irgendwie muss ich noch an meiner Atemtechnik arbeiten“ röchelte ich.

Marco lachte nur.

Wir standen beide nur sehr leicht bis eigentlich gar nicht bekleidet in der dunklen Küche Arm in Arm.

„Ich möchte dir ein Lied zeigen.“ sagte ich dann und löste mich nur so weit aus seiner Umarmung, daß ich an meinen CD-Spieler kam.

Ich suchte auf der CD von Xavier Naidoo das Lied „Nicht von dieser Welt“ heraus und ließ es abspielen.

„So hab ich mich die letzten Jahre gefühlt.“ flüsterte ich.

Marco hielt mich fest im Arm.

Es war so schön und ich wünschte mir, er würde einfach vergessen, daß er nach Hause fahren musste.

Er blieb lange, sehr lange. Um halb 11 erst dachte er mal daran, daß es vielleicht doch besser war, nach Hause zu fahren.

Er zog sich an und schaltete sein Handy ein.

„Nanu? Nur drei Anrufe in Abwesenheit?“ sagte er erstaunt.

„Gibt sie es langsam auf?“

„Nein, die SMS ist gesalzen und gepfeffert. Sie will ihre Koffer packen.“ berichtete Marco.

„Na, dann soll sie mal hinne machen.“ sagte ich.

„Kommst du mit zum Auto?“ fragte er mich dann und packte sein Handy wieder ein.

„Klar.“

Mir kamen schon wieder die Tränen. Ich konnte ihn einfach nicht loslassen. Es war so schwer und es wurde immer schwerer.

„Wann kommst du morgen?“

„Ich denke mal so wie heute?“

„Das wäre schön.“ ich schmiegte mich in seine Arme und versuchte krampfhaft die Tränen zurückzuhalten.

„Ich kann dir ja den Wohnungsschlüssel mitgeben, dann kannst du reinkommen, wenn du wieder so früh bist und ich noch nicht wach.“ schlug ich vor.

„Meinst du, daß du noch nicht wach bist, wenn ich komme?“ fragte Marco.

„Kann schon sein, ich bin echt fertig.“

„Na komm, ich muss los.“ sagte er.

In dem Moment ging sein Handy los, es war die Trulla.

„Ich muss ran gehen.“

Zorn ergriff mich wieder. Kann sie ihn nicht mal in Ruhe lassen? Muss sie ihm ständig auf die Nerven gehen?

„In Westerholz bei meinem Kumpel.“ hörte ich ihn sagen.

„Mein Akku war alle und ich habs gerade erst aufgeladen. Nein. Ja ich mache mich jetzt auf den Weg. Ja. Bis gleich.“

„Ist sie sehr wütend?“ fragte ich.

„Nö, aber sie explodiert gleich.“ antwortete Marco.

„Merkt sie eigentlich gar nicht, daß sie genau das Gegenteil von dem erreicht, was sie damit vor hat zu erreichen?“ entrüstete ich mich.

Marco zuckte nur mit den Schultern.

Ich griff nach meinem Schlüsselbund, machte einen der zwei Wohnungsschlüssel ab und gab ihn Marco. Er nahm ihn und fädelte ihn gleich an seinem Schlüsselbund ein.

„Merkt sie denn nicht, wenn du einen neuen Schlüssel am Bund hast?“ fragte ich skeptisch.

„Nein, kann sie nicht. Den hab ich immer in meiner Jacke. Und selbst wenn sie danach sucht kann das immer noch von der Arbeit sein.“ erklärte er.

„Wenn du meinst.“

Wir gingen zum Parkplatz. Nun konnte ich mich wirklich nicht mehr beherrschen.

„Nicht weinen, ich bin doch morgen wieder da.“ es war wirklich sünde, er war immer so hilflos, aber ich konnte die Tränen nicht zurückhalten.

„Ich weine ja gar nicht.“ versuchte ich zu lachen.

„Ich muss nur mal so dringend zum Klo...“

Er nahm mich fest in seine Arme und küsste mich.

„Wir sehen uns doch morgen früh.“ flüsterte er sanft und küsste meine Tränen weg.

„Ich weiß. Aber ich würde dich so gerne behalten.“ wimmerte ich.

„Du kannst mich ja behalten.“ sagte er leise.

„Wann denn?“

„Bald.“

„Ich will dich aber jetzt behalten.“ weinte ich.

Er sagte nichts darauf.

Das musste er auch nicht.

Der vernünftige Teil meines Herzens war sich bewusst, daß wir nichts überstürzen sollten oder unüberlegt handeln.

„Los, hau ab.“ sagte ich und stieß ihn sanft in Richtung seines Autos.

„Bis morgen.“ verabschiedete er sich und küsste mich noch mal.

„Bis morgen. Los, sieh zu.“
 

Am nächsten morgen ging mein Wecker wie immer um sieben Uhr los. Ich hatte tatsächlich durchgeschlafen. Mir tat alles weh.

Oliver war schon aufgestanden und saß auf der Toilette.

„Mami, Michael weint.“ rief er mir zu.

Dann hörte ich es auch. Michael lag in seinem Bett und wimmerte leise vor sich hin. Als ich ihn raus nahm war er ganz heiß.

Fieber.

Auch das noch.

Ich machte beide fertig, gab Oliver sein Frühstück, Michael wollte seine Flasche nicht.

„Tja, wir sollten damit zum Onkel Doktor gehen.“ stellte ich dann fest.

„Zum Arzt?“ fragte Oliver.

„Ja, zum Arzt, Michael ist krank.“ bestätigte ich.

„Ich auch?“ fragte Oliver weiter.

„Nein, du nicht. Du bist ja gesund und gehst gleich in den Kindergarten.“ erklärte ich dem Jungen.

„Ja, genau. In den Kindergarten.“ sagte Oliver.

„Und Michael nicht.“ fügte er hinzu.

Ich schrieb noch einen Zettel für Marco, der noch nicht da war, falls er so viel später kommt, daß ich ihn nicht mehr treffen würde, und erklärte ihm, daß ich mit Michael beim Arzt im Dorf sei.

Dann brachte ich Oliver zum Bus. Als der wegfuhr ging ich gleich mit Michael los. Ich hatte ihn warm eingepackt.

Auf halben Wege dann sah ich Marco kommen. Er hielt kurz neben uns an und fragte, was los sei. Ich erklärte ihm dann, daß ich zum Arzt musste und dass er ruhig schon reingehen könne.

„Ich kann dich doch schnell fahren.“ bot er dann an.

„Nein, ich hab doch den Kindersitz gar nicht mit.“ lehnte ich ab.

„Den kann ich ja schnell holen.“ schlug Marco vor.

„Das kannst du machen, warte.“ ich kramte meinen Schlüsselbund aus der Tasche und gab ihm den.

„Da ist der Schlüssel für das Kellerschloss dran.“ erklärte ich.

„Gut, dann bis gleich.“

Marco fuhr los und ich ging weiter mit Michael zum Arzt. Natürlich saß er noch in seiner Karre. Ein paar Schritte an den Möbeln entlang konnte er schon machen, aber für einen Fußmarsch von 2 Km reichte das nicht einmal annähernd. Außerdem war er heiß und blass. Es wunderte mich direkt, daß er nicht weinte oder quengelte.

Beim Arzt mussten wir nicht lange warten. Schon nach 10 Minuten durften wir in das Behandlungszimmer. Ich schätze mal es lag daran, daß Michael doch noch angefangen hatte zu schreien wie am Spieß. Kaum daß ich ihn vor dem Korb mit den Spielsachen abgesetzt hatte, fing er an und ließ sich durch nichts aber auch gar nichts beruhigen.

Der Arzt untersuchte ihn, guckte in seine Ohren, sah sich seinen Hals an – Michael machte von alleine brav „AAAAH“ - horchte sein Herz und seine Lunge ab und drückte auf seinem Bauch herum, wobei Michael herzlich rülpsen mussten.

„Ah, ein Bäuerchen.“ lachte der Doktor.

„Ich nenne das immer einen kleinen „Agrarwissenschaftler“. Bemerkte ich.

„Das ist auch gut.“ lachte der Arzt.

„Tja, Frau Hansen, der Kleine ist eigentlich kerngesund. Allerdings ist sein Bauch etwas hart, nicht aber im Bereich des Blinddarms, darum müssen Sie sich also nicht sorgen. Ich gebe ihnen mal ein Rezept für ein leichtes Abführmittel mit. Bekommt er noch seine Milch?“

„Ja, seine Flaschenmilch. Er isst aber auch schon mal richtiges Essen. Gestern hat er sich zum Beispiel mit Giros und Zaziki vollgestopft. Wir essen auch viel Obst und Nüsse, was man halt im Knick zur Zeit so findet.“ berichtete ich.

„Das hört sich ja eigentlich nach einer ausgewogenen Kost an.“ resümierte der Arzt.

„Warum hat er Fieber?“ wollte ich wissen.

„Ich denke, das kommt von den drei Backenzähnen, die er gerade bekommt. Das Zahnfleisch ist etwas gerötet in dem Bereich, aber nichts dramatisches. Putzen Sie ihm immer gut die Zähne, das reicht völlig aus.“ erklärte er.

„Wenn das Fieber zu hoch wird, geben Sie ihm ein Paracetamol-Zäpfchen für Säuglinge. Haben Sie noch welche?“

„Nein, ich glaube nicht. Könnten Sie mir bitte auch die Viburcol-Zäpfen mit aufschreiben? Die wirken manchmal wahre Wunder.“ bat ich.

„Kein Problem, das können wir machen. Beobachten sie den kleinen Käfer und wenn sich etwas verschlechtert, dann kommen Sie einfach noch mal vorbei. So, kleiner Mann. Dann kannst du dir vorne noch etwas aussuchen und dann gehst du mit deiner Mami wieder nach Hause.“

Ich zog den „kleinen Käfer“ wieder an und ging mit ihm nach Vorne zu den Sprechstundenhilfen. Marco wartete schon auf uns und ich wäre ihm am liebsten entgegen gelaufen. Das hätte Michael auch am liebsten gemacht, der wäre mir fast vom Arm gesprungen. Nachdem der Kleine den Korb mit den Spielsachen eingehend und ausgiebig studiert hatte, entschied er sich für einen durchsichtigen Plastikwürfel in dem ein Geduldsspiel mit kleinen Metallkugeln rasselte.

„Und? Alles in Ordnung?“ fragte Marco besorgt und nahm mir den Kurzen ab, der zufrieden und gut gelaunt auf dem klödernden Würfel herumkaute.

„Alles in Ordnung. Er bekommt drei neue Backenzähne, daher wahrscheinlich die erhöhte Temperatur und sein Bauch ist hart. Ich muss auch gleich noch mal in die Apotheke.“ berichtete ich.
 

Zu Hause angekommen war es schon wieder halb 11. Wir beschlossen dann Michael noch wach zu lassen, bis sein Bruder nach Hause kam und dann beide in eine etwas frühere Mittagsstunde zu legen. Marco wollte Oliver vom Bus abholen, während ich mit Michael drin blieb.

„Du musst aber gucken, der Bus kommt Mittags vom Dorf aus in Richtung Westerholz. Du kannst in der Bushütte auf dieser Seite warten, dann siehst du dir Straße besser...“ wollte ich ausführlich erklären.

„Ich schaffe das schon.“ lachte Marco.

„Ich bin schon ein großer Junge, das bekomme ich hin.“

„Du hast Recht.“ lenkte ich ein.

„Ich bin furchtbar.“

„Nein, das bist du nicht. Du bist nur eine Mutter.“ sagte Marco liebevoll und drückte mich an sich.
 

Am nächsten Tag dann, am Mittwoch, Nahm Marco mich und die Kinder mit zu seiner Mum. Ich war gespannt, was sie sagen würde. Auch war ich gespannt auf das Haus. Immerhin war es das Haus, in dem Marco und ich das allererste Mal... Wir waren damals beide 16. Das bedeutete, es war neunzehn Jahre her, fast zwanzig. Ich war mir sicher, daß Marco das seiner Mama nie erzählt hatte. Es war irgendwie ein mulmiges Gefühl, das jetzt wieder zu sehen.

Marcos Mama freute sich sehr, ihren Sohn zu sehen und die Kinder, von denen er ihr schon erzählt hatte. Bei mir musste sie allerdings etwas überlegen.

„Carmen?“ fragte sie dann.

Ich hätte nicht erwartet, daß sie mich wiedererkennen würde. Scheinbar hatte ich damals einen bleibenden Eindruck hinterlassen.

„Ja.“ antwortete ich etwas verlegen.

„Die Carmen von damals?“ fragte Marcos Mutter noch einmal.

„Ja, genau die.“ antwortete ich immer noch schüchtern.

„Das ist ja ein Ding.“ aber sie freute sich.

Wir erzählten ihr so kurz es ging, wie wir wieder zueinander gefunden hatten, daß Bente bis jetzt nichts davon wusste und daß Marco dabei war, sich zu trennen. Er brauchte nur noch eine Wohnung.

Seine Mum hörte mit Staunen zu und freute sich für uns. Sie versprach auch Bente noch nichts davon zu erzählen, sollte sie mal bei Marcos Mutter anrufen.

Die Kinder mochte sie sehr. Oliver benahm sich sehr gut und Michael tat das, was er am besten konnte: Süß sein.
 

Die Woche verging viel zu schnell. Schon bald hatten wir wieder Wochenende und ich wünschte, ich könnte einfach eine Falte in die Zeit machen, so daß wir gleich da weiter machen konnten, wo Marco das nächste Mal wieder bei mir sein würde.

Zu Hause hatte er mehrfachen Stress. Es gab inzwischen auch einen handfesten Streit, in dem Marco seiner Trulla mitteilte, daß er ausziehen würde, sie käme ja nicht zu Potte. Natürlich nahm sie ihn nicht ernst. Irgendwie erinnerte mich das an meine letzten Wochen unten in Hessen.
 

Am Montag Vormittag bekam ich dann einen Anruf von meinem Anwalt, daß ich die Fahrzeugpapiere bei ihm abholen könne. Er wollte mir das nicht zuschicken, was ich durchaus nachvollziehen konnte.

Sofort rief ich bei Marco an um zu klären, ob er mich fahren könnte.

„Klar, kann ich das. Ich kann heute etwas früher Feierabend machen. Dann können wir zusammen zu deinem Anwalt fahren.“ sagte er.

Am Nachmittag dann kam er schon um drei Uhr, die Jungs hatte ich gar nicht erst hingelegt und wir fuhren gleich los.

Bei meinem Anwalt holte ich die Papiere dann ab.

Am nächsten Morgen stand ich dann mit den Kindern schon um sechs Uhr auf. Ich wollte mit dem Bus um zwanzig vor Sieben in die Stadt fahren und gleich zur Zulassungsstelle um rechtzeitig da zu sein.

Ich hatte Glück, es waren nur drei Leute vor mir dran. Marco hatte in der Nähe zu tun und kam für ein paar Minuten, um mir Gesellschaft zu leisten.

Als ich dann aufgerufen wurde, wollte er die Jungs bei sich behalten, so viel Zeit hätte er allemal.

„Haben Sie einen besonderen Wunsch?“ fragte mich die Angestellte.

Ich überlegte kurz.

„Ist das Kennzeichen „SL CK 616“ noch frei?“ versuchte ich mein Glück.

Die Sachbearbeiterin guckte in ihrem Computer und nach einigen Minuten sagte sie dann: „Ja, das Kennzeichen ist frei.“

„Super, das nehme ich!“

Ich freute mich wie ein Kleinkind.

Meine Mum hatte dieses Kennzeichen damals auf ihrem Santana. Ein wunderbares Auto, wir haben alle sehr an ihm gehangen. Und jetzt durfte ich dieses Kennzeichen an mein Auto machen.

Ein weiterer Traum, den ich damals in Hessen oft geträumt hatte, wurde wahr.

„Gehen Sie mit diesen Papieren rüber in die Zweigstelle. Dort bekommen Sie dann die Nummernschilder.“

Ich verließ den Raum und grinste beinahe im Kreis.

„Was ist?“ fragte Marco erwartungsvoll.

„Ich habe ein super Nummernschild bekommen, das sind mir die 10 Euro Wunschzuschlag wert“ strahlte ich.

Ich erklärte ihm kurz die Zusammenhänge.

„Wow, das ist echt super.“ freute sich Marco mit mir.

„Ich muss dann auch wieder weiter. Ihr kommt zurecht?“ fragte er.

„Klar, wir kommen zurecht.“ bestätigte ich gut gelaunt.

„Ruf mich an, wenn du das Auto abholen kannst.“ sagte er noch, gab mir einen Kuss und war auch schon verschwunden.

Zusammen mit den Kindern holte ich dann die Nummernschilder ab. Dann nahmen wir den nächsten Linienbus, der in die Straße fuhr, in der mein Anwalt war. Dort gab ich die Nummernschilder ab. Jetzt wollte mein Anwalt Ulrichs Familie in Kenntnis setzen, daß die Nummernschilder abgeholt und das Auto dann auf den Parkplatz an der Kanzlei abgestellt werden könnten.

Wenn das Auto dann da war, würde mein Anwalt mich darüber informieren.

Ich fuhr mit den Kindern so mit dem Bus wieder nach Hause, daß wir nicht den ganzen Weg vom Dorf bis zu uns nach Hause gehen brauchten. Das bedeutete zwar, daß wir uns noch zwei Stunden die Zeit vertreiben mussten, was in der Stadt allerdings kein großes Problem darstellte. Ich kaufte mir eine PM, eine Zeitschrift, die ich immer gerne las, und ging mit den Kindern nach Karstadt. Dort holte ich mir einen kleinen Salat, für Oliver und Michael Pommes mit Ketjup und noch eine Cola für mich, für die Jungs hatte ich Tee mit. Dann setzten wir uns in die Spielecke. Ich saß am Tisch und las, immer ein Auge auf die Kinder und die zwei amüsierten sich. Michael konnte inzwischen einige Schritte frei laufen und versuchte sich jetzt im Klettern.

Noch am gleichen Nachmittag rief mein Anwalt bei mir an um mir mitzuteilen, daß das Auto jetzt abholbereit war.

Ich rief gleich bei Marco an. Er versprach gleich nach Feierabend zu kommen.

Um halb sechs Uhr war er dann bei uns. Ich war aufgeregt wie ein kleines Kind. Nach sieben Wochen würde ich endlich mein geliebtes Auto wieder in die Arme schließen... Nun ja, vielleicht nicht in die Arme schließen können, dafür war er dann doch etwas zu sperrig. Aber ich könnte mein Auto endlich abholen.

Es war schon längst dunkel, als wir dann ankamen. Noch bevor wir überhaupt richtig angehalten hatten, wäre ich am liebsten aus Marcos Auto gesprungen.

„Mein Yogi, endlich, ich hab meinen Yogi wieder.“ jubelte ich und sprang wie ein Grashüpfer um mein Auto herum.

Marco schüttelte mit dem Kopf aber freute sich ehrlich mit mir.

Ich wollte ihn aufschließen, leider ging es nicht.

„Ach du ahnst es nicht.“ keuchte ich und schlug mir mit der Hand gegen die Stirn.

„Der gute Herr Stephan hat die Wegfahrsperre aktiviert.“ seufzte ich.

„Kein Problem, das bekommen wir schon hin.“ tröstete Marco mich. Ich gab ihm den Schlüssel und ich weiß nicht wie, aber nach einigen Minuten hatte er die Sicherung ausgetrickst.

„Das Schloss ist kaputt.“ teilte er mir dann mit.

„Es funktioniert noch normal, aber man darf die Wegfahrsperre nicht aktivieren.“ erklärte er weiter.

„Ich weiß. Das hat Yogi schon seit Jahren. Ich hab nur vergessen es dem Anwalt zu sagen. Danke, du bist ein Zauberer.“

Ich fiel ihm um den Hals und wir küssten uns.

„Soll ich einen von den Jungs mitnehmen?“ fragte ich ihn dann.

„Nein, das brauchst du nicht. Genieße du deine erste Fahrt. Aber trete ihn nicht gleich so hoch.“ sagte Marco.

„Ich weiß, er hat lange gestanden. Er muss erst mal warm werden, bevor ich ihn treten darf. Ich hatte ohnehin nicht vor zu heizen.“ lachte ich.

„Ich bleibe hinter dir, falls etwas ist.“

„Ok, dann bis gleich.“

Wir küssten uns und dann stieg jeder in sein Auto und wir fuhren nach Hause. Endlich, nach so langer Zeit. Ich hatte mein Auto echt vermisst.

„Hallo Yogi, mein süßer.“ sagte ich zu meinem Auto und drückte ihm einen Kuss auf sein Lenkrad.

Zu Hause angekommen musste Marco dann auch gleich wieder nach Hause. Zu schade.

„Kannst du nicht noch einen Moment bleiben?“ bettelte ich.

„Tut mir leid. Ich muss auch noch einkaufen. Ich komme aber morgen ganz bestimmt wieder.“ versprach er mir tröstend.

Marco hielt sein Versprechen. Er kam sogar früher, als erwartete, sehr viel früher.

Michael lag in seiner Vormittagsstunde zum Schlafen und Marco und ich telephonierten. Er hatte mir inzwischen für mein Handy ein Headset besorgt und ich hatte einen neuen Vertrag. So konnten wir stundenlang schnacken und ich hatte beide Hände frei. Ich baute mir eine Zigarette und war gerade auf dem Weg nach unten als er mich fragte:

„Bist du schreckhaft?“

„Manchmal, kommt drauf anAAAAH!“

Als ich die Haustür aufmachte stand er plötzlich vor mir und grinste diebisch.

„Du IRRER! Du kannst mich doch nicht so erschre...“ er erstickte mein Gepöbel in dem er meinen Mund mit dem seinen schloss.

„Ich habe ungefähr eine Stunde Zeit.“ grinste er dann.

Wir sind dann zu mir rauf in die Wohnung und fielen sofort übereinander her. Bloß nichts anbrennen lassen. Innerhalb von Sekunden waren wir aus der Kleidung gesprungen. Es war ein Quickie, naja, nach unseren Maßstäben war es ein Quickie. Eine halbe Stunde. Das war schneller, als unser bisheriger Rekord von eineinhalb Stunden. Wir hatten gerade noch Zeit in Ruhe eine zu rauchen, dann musste er schon wieder los.

An dem Nachmittag rief meine Mum aus Korea an und wollte wissen, wie es mir ginge.

Ich erzählte ihr, daß ich mein Auto wieder hatte.

„Und ich hab ein ganz tolles Kennzeichen bekommen.“ freute ich mich.

„Na? Welches denn?“ fragte meine Mum.

„SL“

„Ach was.“ Logisch, in Langballig hatten alle „SL“ für „Kreis-Schleswig-Flensburg“.

„CK“

Schweigen.

„616“

Pause.

„Hach, da muss ich ja direkt eine Träne verdrücken.“ sagte meine Mum.

„Ich muss dir noch etwas beichten.“ sagte ich dann.

„Was denn?“

„Ich bin verliebt.“

„In wen?“ Mum schien böses zu ahnen.

„In Marco.“

„In deinen Bruder?“

„Nein, in den Dachdecker.“

Meine Mum musste kurz überlegen.

„Der von damals?“ fragte sie ungläubig.

„Der von damals.“ wiederholte ich zur Bestätigung.

„Was soll ich jetzt dazu sagen.“ war dann ihr vorerst einziger Kommentar.
 

Bei Marco zu Hause indes ging es immer heißer her. Inzwischen warf Bente ihm auch vor, er würde fremdgehen. Er sagte nichts dazu, auch nichts dagegen. Sie schrie ihn an und Marco hörte weg. Die Situation spitzte sich zu. Ich sagte ihm immer wieder: Mach Schluss bevor es richtig hässlich wird. Aber er traute sich einfach nicht. Er wusste einfach nicht, wie er es Bente beibringen sollte.

Bis die Situation dann doch eskalierte.

Marco war den 3. Oktober, einem Samstag, wieder bei mir. Am Abend dann bekam er einen Anruf von seiner Mutter, daß Bente angerufen hätte. Bente tobte wie ein Tier und wollte wissen, wo Marco war. Von Marcos Mum erhielt sie allerdings nicht die gewünschte Information.

Kurz danach bekam Marco eine SMS von Bente, sie hätte das Auto jetzt als gestohlen gemeldet.

Ich konnte dabei zusehen wie Marco rot anlief und zu kochen begann.

Laut den Papieren gehörte der Golf Bente, war aber eigentlich Marcos Auto. Nur als er arbeitslos wurde konnte man ihm auf diesem Weg das Auto nicht wegnehmen.

„Ich muss sofort nach Flensburg.“ sagte Marco ernst.

„Jetzt ist Feierabend.“

„Ruf mich an, wenn du mich brauchst. Egal wie spät es ist. Wenn nötig, dann hole ich dich auch aus Flensburg ab.“ schlug ich eindringlich vor. Wie gut, daß ich mein Auto inzwischen wieder hatte.

„Ok, das werde ich machen. Ich muss los.“ sagte er und hatte schon die Jacke an und den Schlüssel in der Hand.

Obwohl ich nicht mit zum Auto gekommen war, konnte ich die kreischenden Reifen hören, mit denen er vom Parkplatz fuhr.
 

Sehr spät in der Nacht dann klingelte mein Telephon. Ich wollte eigentlich auf ihn warten, war aber doch eingeschlafen.

Es muss so um die halb zwei Uhr gewesen sein.

„Hallo Carmen, bist du noch wach?“

„Hmmmhmm.“

„Ich stehe in Mürwik an der Bushaltestelle, kannst du mich abholen?“ er klang sehr niedergeschlagen.

„Bin gleich da.“ nuschelte ich.

Die Kinder schliefen beide tief und fest.

Ich ging zu meinem Auto, startete es und fuhr los.

Das Radio geht von alleine an, wenn ich den Wagen startete.

Ich fuhr auf die Nordstraße und düste nach Flensburg. Vor mir war eine Schleichnase, die ich überholte. Als ich Ringsberg erreichte lief ein Lied im Radio, daß mich an „I will do anything for love“ von „Meatlove“ erinnerte. Als ich genauer hinhörte, wurde ich richtig wach. Es war dieses Lied und bis eben war ich im Halbschlaf gefahren! Und ich hatte auch noch ein Auto überholt!!!

Ich kam jedenfalls heil in Flensburg in Mürwik an, sammelte Marco an der Bushaltestelle ein und fuhr mit ihm wieder nach Hause. Er hatte die nötigsten Dinge in einer Tasche einschließlich seiner Arbeitssachen dabei.

„Es ist vorbei.“ sagte er. Niedergeschlagen aber auch erleichtert. Bente wird in den nächsten Tagen seine Sachen in Kartons packen und die Möbel, die Marco gehörten ausräumen. Am Ende der Woche würde Marco dann mit zwei Kollegen den Umzug vornehmen. Von seinem Bruder würde er den Anhänger leihen.

Das Auto wollte sie unbedingt da behalten. Er könne es ihr ja für 2500 Euro abkaufen.

Deswegen wird er noch mal mit seinen Eltern sprechen, ob sie ihm das Geld vorschießen könnten.

Jetzt fuhren wir erst mal nach Hause. Zu mir nach Hause. Und er würde bleiben.

„Hast du ihr gesagt, wo du hingehst?“ fragte ich.

„Nein. Sie wollte es zwar wissen, aber ich hab gesagt, was sie das jetzt noch anginge. Sie muss nicht alles wissen.“ berichtete er matt.

Mein Bett, daß ich bisher benutzt hatte, war zu klein, um zu zweit richtig darin zu schlafen. Aber ich hatte ja noch die Schlafcouch, die ich aus der Ehe mitgebracht hatte. Darauf war Platz genug für uns beide.

Die Jungs freuten sich riesig darüber, daß ihr neuer Papa schon so früh da war und sie lenkten Marco von seinen trüben Gedanken ab.

Überhaupt hatte er sich in den letzten Wochen erholt, trotz all des Ärgers den er noch hatte. Er sah schon längst nicht mehr so krank und dünn aus. Und nun konnte ich mich ganz und gar um ihn kümmern, er würde nicht wieder wegfahren, von jetzt an durfte ich ihn behalten.

Kapitel XXXVII
 

Natürlich konnte es nicht so bleiben, wie es jetzt war. Marco brauchte eine eigene Wohnung. Meine Wohnung war definitiv zu klein für vier Leute. Er musste seine Sachen irgendwo unterbringen. Zunächst einmal durften wir noch den Kellerraum von dem Nachbarn benutzen, der unter uns wohnte. Er war so gut wie nie da und sein Kellerraum um einiges größer als meiner. Bei mir standen bis jetzt zwar nur mein Fahrrad und ein paar Kartons, die leer waren, dennoch würde der Platz nicht wirklich reichen. Und wir konnten nicht immer die Sachen im Keller unseres Nachbarn stehen lassen.

Wir suchten in wirklich jeder möglichen Zeitung nach einer geeigneten Wohnung für Marco. Bente wollte die gemeinsame Wohnung in Flensburg übernehmen.

Nach einigen Tagen fanden wir dann auch eine Wohnung für Marco. Sie war in Westerholz, nicht sehr weit von Langballigholz, wo ich mit den Kindern wohnte, entfernt. Leider würde er erst ab dem 01.01.2008 dort einziehen können. Bis dahin mussten wir sehen, wo wir seine Sachen unterbrächten.
 

Der Umzug von Flensburg, erst mal raus aus der Wohnung, lief dann am folgenden Wochenende über die Bühne. Einiges konnten wir in meinem Keller unterbringen, anderes in den Kellerraum des Nachbarn. Aber alles passte nicht rein und musste erst mal in meiner Wohnung untergebracht werden.

Wir hatten jetzt quasi zwei komplette Haushalte in einer viel zu kleinen Wohnung. Kartons mit Kleidung, Büchern, Geschirr und Nippes stapelten sich an jeder nur verfügbaren Stelle. Im Wohnzimmer, in den Kinderzimmern, auf dem Flur, in der Küche, sogar im Bad mussten wir ein paar Kartons unterbringen.

Dennoch freute ich mich. Und die Jungs freuten sich. Auch sie waren glücklich, daß sie ihren neuen Papa jetzt ganz für sich behalten durften. Es war eng und alles andere als gemütlich, dennoch machten wir das beste aus der Situation. Es gab schlimmeres, da waren wir uns sicher. Und alles, was im Moment zählte, war das Glück das wir durch den anderen erlebten.

Wir waren zusammen.

Das war alles, was zählte.

Während er mit seinen Kollegen die Möbel und Kartons in den Keller und meine Wohnung brachten, kam Marco zwischendurch zu mir und meinte: „Ich hab da was für dich.“ und strahlte übers ganze Gesicht.

„Was ist es denn?“ fragte ich überrascht.

„Das hier. Bente trägt ja kein Silber, sie hat diese Kette nie in der Hand gehabt. aber du trägst doch Silber.“

Er legte mir eine Panzerkette in die Hand. Nicht so dick wie die großen, aber schon etwas stärker als die Kette, die ich zur Zeit trug.

„Die müsstest du noch kennen, die hab ich damals getragen, bis ich mir eine andere gekauft hatte.“

Ich freute mich so wahnsinnig, daß ich erstarrte. Ich konnte nichts sagen und mich nicht bewegen. Das war seine Kette. Die hatte er getragen. Das bedeutet, er hat sie lange Zeit am Körper gehabt und die Schwingungen seiner Persönlichkeit haben sich auf die Kette übertragen. Das klingt jetzt total kitschig, aber so fühlte ich.

„Jetzt weiß ich, warum die Goldschmiedin damals die größere Öse an den Anhänger mit dem Katzenzahn gemacht hatte." sagte ich verträumt.

Sie passte perfekt über die Kette, die ich gerade von Marco bekommen hatte.
 

Die erste Zeit fuhr Marco mit meinem Auto zur Arbeit. Sein Arbeitskollege Dirk war natürlich mehrfach erstaunt, als er ein fremdes Auto auf den Hof fahren sah, aus dem dann Marco ausstieg. Marco schilderte in Kurzform, was am Wochenende passiert war. Dirk war erstaunt aber freute sich für Marco.

Bei seiner Mutter konnte er dann einen Kredit erhalten um den Golf auszulösen. Da es immer noch einige Streitigkeiten zwischen Bente und Marco gab, setzten wir ein Schreiben auf, daß die Verhältnisse in Bezug auf die beendete Beziehung und die Aufteilung der Besitztümer klar stellte. Ich setzte es auf und achtete darauf, daß keine Lücken zurückblieben.

Damit war dann fürs erste alles geregelt.

Marco bekam sein Auto zurück und Bente behielt die Wohnung.

Ich war selig. Ich konnte all das Glück kaum fassen und war unsicher, ob ich das jetzt so annehmen konnte. Ob ich mich jetzt in diesen riesigen Haufen aus weißen Daunen fallen lassen konnte oder ob das ganze nur eine Mogelpackung war und der Haufen aus Daunen sich als dünne Schicht auf einem Harten Kegel erweisen würde. Trotz der Tatsache, daß fast alle meiner sehnlichsten Wünsche in Erfüllung gegangen waren, blieb ein Rest Misstrauen. Nicht Marco gegenüber. Auf keinen Fall!

Aber dem Schicksal gegenüber. Ich suchte nach einem Haken. Das konnte doch alles gar nicht so einfach sein?

Stell dir vor du machst bei einem dieser Gewinnspiele mit in dem es heißt: Sie haben 1.000.000 Euro gewonnen!

Dann machst du den Brief auf und musst feststellen, daß du nicht wirklich gewonnen hast, sondern erst an einer Verlosung teilnehmen musst mit dem du gleichzeitig ein Abonnement abschließt, das aber nur im sehr Kleingedruckten zu finden ist, welches man elektronenmikroskopisch vergrößern muss um es lesen zu können. Dann schickst du voller Hoffnung die Teilnahme ab und bekommst statt des warmen Geldregens eiskalt ein Abo aufgedrückt, daß du auch noch bezahlen sollst.

In meinem Fall hatte ich an so einer Verlosung teilgenommen, den Hauptpreis gezogen und es gab keine Fußangeln.

Das war einfach zu schön um wirklich wahr zu sein.

Auch musste ich meine Gefühle etwas zurückschrauben.

Ich hing an Marco wie eine Ertrinkende. Er war es, mit dem mein Leben stieg oder fiel. Er war es, der mir einen Grund gab, weiter zu Atmen. Ich liebte ihn über alles vorstellbare hinaus. Ich liebte ihn nicht bedingungslos. Ich liebte ihn erbarmungslos. Aber ich wollte ihn nicht unter Druck setzen. Ich wollte ihm nicht das Gefühl geben, daß ich klammerte, daß er für etwas verantwortlich war, das er vielleicht nicht tragen konnte. Außerdem wusste ich, wenn man ihn klammerte, dann wird er sich wieder befreien. Dann würde ich ihn verlieren.

Für den Moment hing der Himmel für uns beide voller Geigen und die Welt drehte sich um uns. Noch war alles neu und wunderbar, unbegreiflich und unfassbar. Jeder, der unsere Geschichte hörte, war neidisch und ungläubig zugleich. Zu phantastisch klang es. So etwas passiert doch nur bei GZSZ oder in der Lindenstraße. So etwas KONNTE nicht passieren, so etwas konnte man sich allenfalls ausdenken.

Aber es war wahr.

Wir waren zusammen so sehr ein Ganzes, daß wir oft sogar dasselbe dachten. Nicht nur das Gleiche, nein, das SELBE!

Einmal war ich in der Küche beim Essen machen als mir einfiel, daß ich noch ein Schreiben vom Amt ausfüllen und abschicken musste. Ich ging ins Wohnzimmer, sagte kein Wort, drehte mich um mich selbst und überlegte, wo ich es hin gepackt hatte.

Marco saß auf dem Sofa und guckte fern.

Als er meine stumme Suche bemerkte, griff er kurz ein Stück Papier auf dem Sidebord und gab mir tatsächlich das von mir gesuchte.

Er sah mich an und grinste.

Ich sah ihn an und staunte.

„Woher weißt du, daß ich gerade DAS gesucht hatte?“ fragte ich ungläubig.

„Weiß nicht, war so ein Gefühl.“ zuckte Marco mit den Schultern.

Ein anderes Mal saßen wir beim Essen mit den Jungs zusammen. Ich hatte Kotelette mit Gemüse und Kartoffeln gekocht. Während des Essens stand ich auf um in die Küche zu gehen und etwas zu trinken. Am Esstisch haben wir nichts zu Trinken stehen, weil die Kinder sich sonst satt trinken und nichts essen. Einem plötzlichen Impuls folgend nahm ich noch ein scharfes Steakmesser mit. Als ich gerade auf dem Weg zurück ins Wohnzimmer war rief Marco mir etwas zu.

„Kannst du mir ein... OK...“ er bekam den Satz nicht zu Ende. Inzwischen war ich im Wohnzimmer angelangt und gab Marco das Messer.

„Woher...“

„Mir war so...“

Und so etwas passierte uns dauernd.

Der eine dachte, der andere tat. Der eine fing einen Satz an, der andere sagte ihn zu Ende.
 

Es kennt ja jeder die anfängliche Schüchternheiten, die in jeder Beziehung normal waren. Nun, Marco und ich kannten uns zwar von früher, wir hatten uns auch nicht nur bekleidet gesehen. Dennoch war da schon eine gewisse Schüchternheit. Zum Beispiel wenn ich auf der Toilette war, daß er nicht reinkam und mich mit heruntergelassenen Hosen sähe. Andererseits aber duschten wir zusammen. Oder man kann sich einen Pups nicht verkneifen und der wird dann auch noch zu einem akustischem Spektakel und einem Olfaktorisch unvergesslichem Erlebnis.

Im Prinzip war diese Schüchternheit total unangebracht, das sagte mir auch mein Verstand. Aber sie war da.

Das Schicksal jedoch hatte in Marcos und meiner Beziehung keine Schüchternheit vorgesehen und beschloss uns und vor allem mir da etwas nachzuhelfen.

Ich bekam einen Furunkel.

Ich hatte noch nie in meinem ganzen Leben auch nur den Ansatz eines Furunkels.

Und ich bekam ihn nicht irgendwo.

Nein!

Ich bekam ihn an der Innenseite des Oberschenkels, dort, wo ich nicht alleine ran kam.

Er schmerzte höllisch. Ich ging damit zum Arzt und bekam eine Zugsalbe. Die musste jetzt aufgetragen und verpflastert werden, was ich aber nicht selbst machen konnte, da ich wie schon erwähnt nicht alleine an das Ding rankam.

Marco musste mir helfen.

Da lag ich nun, untenrum unbekleidet wie auf einem Silbertablett und hatte eine Übelkeit erregende Krankheit am Oberschenkel.

Marco machte das nichts aus aber mir war es furchtbar peinlich, besonders, als das ekelige Ding auch noch aufging!
 

Etwas später hatte ich dann Probleme mit Hämorrhoiden. Ich hatte eine Dattelgroße Blase am After, die sich entzündet hatte. Das wurde operiert und ich konnte drei Wochen nicht sitzen, stehen oder gar gehen. Natürlich kam ich wieder nicht selbst an die Wunde, um sie zu beobachten und zu versorgen. Das musste wieder Marco übernehmen. Spätestens da war ich dann durch mit irgendwelchen Schamgefühlen.
 

Beim Auspacken der Kartons mit Marcos Kleidung hatte ich große Hoffnung, die Patrik-Jacke zu finden, in die ich so verliebt war, daß ich mir einen Pulli in der Art genäht hatte.

Aber sie war nicht dabei.

Marco vermutete, das Bente die Jacke beiseite geschafft hatte. Sie mochte diese Jacke noch nie und wollte immer, daß Marco sie entsorgte.

Ich hasste dieses Weib! Wie konnte sie nur darüber bestimmen, was Marco behalten durfte und was nicht? Sie kann nur froh sein, daß ich sie nicht näher kennen lernen wollte, als was ich bis jetzt von ihr mitbekommen hatte.

Ich versuchte mich mit dem Gedanken zu trösten, daß der Inhalt der Jacke wesentlich wichtiger war, als die Jacke selbst. Und den Inhalt hatte ich. Den würde mir auch keiner mehr wegnehmen.
 

Anfang Dezember war Marcos Arbeitgeber der Meinung, er müsse Marco die Kündigung aussprechen zum 01.01.2008. Eine schriftliche Mitteilung sollte noch folgen. Dann, nur wenige Stunden später, bekam Marco einen Anruf von seinem zukünftigen Ex-Arbeitgeber in dem er mitteilte, daß Marco doch nicht gekündigt würde.

Marco war erleichtert. Weihnachten stand vor der Tür und eine Kündigung käme sehr ungelegen.

Ganz nebenbei, es war das schönste Weihnachtsfest meines Lebens.

Schon seit ich Marco kannte hatte ich mir gewünscht, mit ihm feiern zu können. Gut, nicht jedes Weihnachten. Ich hatte ja auch andere Beziehungen. Aber oft schwang diese kleine Melodie mit. Wie schön wäre es gewesen, mit Marco Weihnachten zu feiern. Ganz besonders stark war dieses Bedürfnis natürlich während der verkorksten Ehe. Und mit jedem Jahr wuchs dieses Sehnsucht.

Wir hatten keinen Baum. In der kleinen Dachwohnung war absolut kein Platz, nicht mal für einen kleinen Baum und schon gar nicht, mit all den Kartons die sich um uns stapelten.

Wir hatten vereinbart, daß wir nur für die Kinder Geschenke machen würden und wir haben uns beide daran gehalten. Mein sehnlichster Weihnachtswunsch war schon in Erfüllung gegangen. Marco war da und liebte mich. Das Einzige, was ich mir zu Weihnachten von ihm wünschte war das Versprechen, daß wir auch nächstes Jahr zusammen Weihnachten feiern würden. Mehr brauchte ich nicht.

Ein Wermutstropfen blieb jedoch, die Tatsache, daß Marco am 1.1. in seine Wohnung nach Westerholz ziehen würde. Ich weiß nicht warum oder wovor ich Angst hatte, aber ich heulte wie ein Schlosshund, als er mit den zwei Kollegen, die ihm schon beim ersten Umschiften seiner Habseligkeiten geholfen hatten, die Sachen in seine Wohnung brachte.

„Ach Engelchen, ich gehe doch nicht weg.“ lachte Marco etwas hilflos und guckte mich mit Dackelblick an. Es war süß, er war immer so verlegen, wenn ich anfing zu Weinen. Ich wollte nicht weinen, ich wollte ihn auch nicht verlegen machen, aber ich hatte das Gefühl, er würde mich jetzt wieder verlassen.

„Wo wirst du denn Schlafen?“ wimmerte ich.

„Aber das weißt du doch, mein Engelchen. Bei dir. Oder glaubst du ich könnte auch nur noch eine Nacht ohne dich auskommen?“ Er sagte das so zärtlich und so überzeugend, daß ich ihm gerne glaubte. Dennoch kam es mir vor wie eine Trennung.

„Ich liebe dich, mein Engelchen. Und ich werde nicht weggehen. Was sollte ich denn ohne dich anfangen?“

Er hat sein Verspechen gehalten. Er schlief bei mir und fuhr nur nach Westerholz, wenn wir waschen mussten. Er hatte die Waschmaschine behalten, die im Keller war inzwischen nicht mehr brauchbar.
 

Im neuen Jahr dann Anfang Februar bekam Marco das zweite Mal eine Kündigung von seinem Arbeitgeber. Die Kündigung wurde für Ende Januar ausgesprochen. Schriftlich. Da Marco aber schon die erste Woche vom Februar gearbeitet hatte und damit nicht einmal die Kündigungsfrist eingehalten werden konnte, ging das ganze vors Arbeitsgericht.

Das Geld hat Marco nie bekommen, auch wenn es ihm rein rechtlich zugesprochen wurde. Auch seine Stelle bekam er nicht zurück, Marcos ehemaliger Arbeitgeber musste Konkurs anmelden.

Nun war er jedenfalls Arbeitslos und jetzt noch in den Wintermonaten etwas neues zu finden war nicht leicht. Natürlich studierten wir die Anzeigen in der Zeitung. Marco fuhr oft ins Arbeitsamt um sich da kundig zu machen. Aber es war nichts zu bekommen.

Ich hatte am Anfang des Jahres das Erziehungsgeld für Michael beantragt, das waren 300 Euro im Monat bis der Kleine zwei Jahre alt werden würde. Außerdem wurde der Alte im Dezember gerichtlich verurteilt den Unterhalt für mich und die Kinder rückwirkend bis Juli letzten Jahres, wo wir uns getrennt hatten, nach zu zahlen. Davon holte sich die Familienkasse natürlich ihren Anteil und auch die Arge. Dennoch blieb eine ganze Menge übrig. Ich konnte meiner Mum einen Teil dessen, was sie mir vorgeschossen hatte, zurückzahlen.

Bei diesem Gerichtstermin im Jannuar des neuen Jahres musste ich mit Michael kommen, weil ich keine Möglichkeit hatte, den Kleinen Unterzubringen. Der Alte war natürlich wieder mit seiner Mami da. Für den Kurzen interessierten sich beide nicht.

Nach dem Termin fing Ulrich mich zusammen mit seiner Mutter auf dem Flur ab und verlangte beide Kinder am Nachmittag mitzunehmen.

„Du kannst sie sehen, wenn du willst. Wir können uns zusammen treffen. Ich weiß nicht wie Oliver darauf reagieren wird. Er ist ziemlich sauer, daß du seine Spielsachen alle behalten hast. Aber mitgeben werde ich sie dir nicht. Noch nicht. Und schon gar nicht den Michael.“

Er rastete aus. Ich würde ihm die Kinder verweigern. Und seine Mutter blökte mich an, sie hätte fünf Kinder großgezogen, sie würde ja wohl mit einem Kleinkind klar kommen können.

„Das mag sein, aber habt ihr euch mal Gedanken darüber gemacht, ob ER mit EUCH klar kommt?“

Für Michael waren beide Fremde. Ulrich hatte sich nicht um den kleinen gekümmert, solange wir noch unten waren. Und bei Oliver musste ich erst gucken, wie er auf Ulrich reagierte.

Der Alte und seine Mami wurden laut und sehr unfreundlich. Keiner von beiden nahm Rücksicht darauf, daß ich Michael dabei hatte.

„Kommen Sie, Frau Hansen. Es hat doch keinen Zweck, mit diesen Leuten kann man ja nicht reden.“ holte dann mein Anwalt mich aus dieser Situation heraus.

„Ich habe grundsätzlich nichts dagegen, daß er die Kinder sieht. Aber ich möchte eine sanfte Annäherung. Und Michael ist noch viel zu klein, der kann sich nicht mal klar artikulieren.“ erklärte ich dann meinem Anwalt.

„Das ist auch richtig so. Ich werde mich noch mal mit ihrem Gatten und seiner Mutter unterhalten und dann sehen wir, ob sie zur Vernunft kommen. Sie sind ja sicher telephonisch zu erreichen, dann kann er Sie anrufen und Sie können alles weitere dann besprechen.“ schlug mein Anwalt vor.

Damit war ich einverstanden.

Als ich dann zu Hause war klingelte um kurz nach 12 Uhr bei mir das Telephon.

Ich dachte, das wäre Ulrich um mit mir über den Nachmittag zu sprechen, aber es war der Kindergarten.

„Frau Hansen, Ihr Mann war gerade hier mit einer älteren Frau. Sie wollten Oliver abholen. Ich hab das nicht zugelassen, das hatten wir ja so besprochen. Ich hab Oliver jetzt in den Bus gesetzt und der Busfahrer passt auch auf, daß unterwegs nichts passieren kann.“

„Danke, das ist wirklich sehr nett von Ihnen, ich werde mich darum kümmern.“ sagte ich. Da meine Freundin gerade da war, war es auch kein Problem Michael alleine zu lassen. Ich ging dann zur Bushaltestelle rüber.

Der Bus kam dann auch bald und gleich im Schlepptau der Alte mit seiner Mami. Diese parkten auf dem Parkplatz, der zu den Mietshäusern gehörte und wartete auf der anderen Straßenseite auf mich.

Ich war mit Oliver noch nicht über die Straße als er sich an der Haltestelle aufbaute und mich anschnauzte.

„Was soll das, daß ich Oliver im Kindergarten nicht besuchen darf? Und gelogen hast du auch. Oliver hat sich gefreut mich zu sehen.“ schrie er mich an.

„Ich hab nicht gelogen. Ich hab nur gesagt, ich muss erst sehen, wie er reagiert.“ sagte ich ruhig.

„Was sollte das eigentlich? Konntest du nicht anrufen und ein Treffen mit mir vereinbaren?“ fragte ich noch immer ruhig.

Oliver stand neben mir an meiner Hand und wusste nicht, was er davon halten sollte.

„Ich wollte Oliver sehen und das hab ich ja auch geschafft!“ motzte Ulrich laut.

„Na, dann sind wir ja jetzt alle zufrieden und können nach Hause gehen.“ sagte weiterhin ruhig und schob mich mit Oliver an der Hand an seinem Vater vorbei.

„Und so lange du nicht in der Lage bist, dich vernünftig mit mir zu unterhalten möchte ich doch von einem Kontakt zwischen dir und meinen Kinder absehen.“ erklärte ich weiter, immer noch ruhig aber bestimmt.

Ulrich ging dann vor Oliver in die Hocke und blaffte den Jungen an: „Deine Mutter hat NEIN gesagt, wir können uns nicht sehen.“ stand wieder auf und dampfte mit seiner Mami ab.

Oliver war den Tränen nahe.

„Aber Mami, du hast doch gar nicht nein gesagt.“ wimmerte er zu mir.

„Das ist richtig, aber Ulrich will es nicht verstehen.“ versuchte ich dem Kleinen zu erklären.

Als Marco dann am Nachmittag nach Hause kam fiel Oliver ihm um den Hals und knuddelte wie ein Weltmeister.

„Mein Papa.“ sagte er immer wieder.
 

Es war nicht leicht finanziell zurecht zu kommen ohne Hilfe. Aber wir wollten keine Hilfe. Ich wollte es alleine schaffen und nicht ständig meiner Mum oder wem anders in den Ohren liegen, daß ich kein Geld hatte. Ich wollte mich mit Schulden auch nicht von jemandem abhängig machen. Ich hätte nicht sagen können, wie, wann und ob ich es zurückzahlen könnte.

Wir schnallten die Gürtel etwas enger, verzichteten auf Extras und fuhren nur mit dem Auto, wenn es unumgänglich war. Marco bekam zwar Arbeitslosengeld, aber das reichte gerade aus um die Wohnung in Westerholz zu bezahlen. Das Geld, was davon übrig blieb, hätte nicht mal gereicht um sich einen Strick zu kaufen und dann an der tiefsten Stelle in der Ostsee zu erschießen.

Die Zeit war hart aber wir haben uns nie gestritten. Nicht mal in die Wolle haben wir uns bekommen. Nicht ein böses oder verletzendes Wort gegen den anderen, egal wie schlecht die Laune war oder was man so fand. Viele Beziehungen scheitern schon an der legendären ausgequetschten Zahnpastatube, Bartstoppeln nach dem Rasieren im Waschbecken, die nicht runter geklappte Klobrille, das Spiegelei, daß sie mit großer Sorgfalt zubereitet hat, immer darauf bedacht das Eigelb heil zu lassen und er hat dann nichts besseres zu tun als dann das Eigelb mit Messer und Gabel zu meucheln. Die Liste solcher „Fehler“ wäre endlos weiterzuführen und jeder kennt diese Geschichten.

Das waren für uns aber keine Fehler. Es sind Dinge, über die der eine sich keine Gedanken gemacht hat. Und der andere, der sie entdeckt, sollte sich auch keine Gedanken machen. Die Wurst ist schnell im Kühlschrank verstaut. Bartstoppeln kann man wegwischen und wenn jeder seine eigene Zahnpastatube hat, dann kann auch jeder damit machen, was er für Richtig befindet. Auch die Spiegeleier, wenn es ihm Spaß macht...

Wenn ich in meine Schubladen in der Küche greife und die Soßenkelle suchen muss, weil Marco sie nicht dahin geräumt hat, wo sie hingehört, dann ärgere ich mich kurz, dachte dann aber darüber nach WER die Kelle „falsch“ weggeräumt hatte und freute mich eigentlich wieder. Kein geringerer als MEIN Marco Lotz.

Auch über die Umgangsweise und die Regeln an die die Kinder sich halten sollten, mussten Marco und ich uns nie unterhalten. Wir waren von Anfang an so einer Meinung, daß die Kinder keine Chance hatten, uns gegeneinander auszuspielen.

Es gab keinen Anlass sich zu streiten oder auch nur zu diskutieren. Sollte doch eine kleine Uneinigkeit vorkommen, dann konnten wir das in aller Ruhe dem anderen sagen. Es war absolut nicht notwendig zu streiten oder sich gar zu verletzen.
 

Im Mai dann endlich bekam Marco das einmalige Angebot einen vom Arbeitsamt unterstützten Fahrschuhlkurs für einen LKW-Führerschein mit zu machen. Das war schon lange Marcos Traum, einen LKW fahren zu dürfen und er sagte zu. Der Lehrgang würde zwei Monate dauern.

Ulrich hatte sich in dieser Zeit auch noch was einfallen lassen.

Da er die Kinder nicht bekam dachte er sich jetzt, damit er den ehelichen Steuervorteil für das Jahr nach der Trennung noch bekommen könnte, daß ich unterschreiben sollte, wir hätten es im März drei Wochen lang versucht noch mal miteinander auszukommen. Das Trennungsjahr lief seit dem Tag, an dem ich mit den Jungs nach Hause gefahren war und ich wolle das unter keinen Umständen unterbrechen. Ich musste mich dann mit ihm bei seinem Notar treffen der mir erzählte, es gäbe ein Schlupfloch wodurch das Gericht nicht nach diesen drei Wochen fragen würde und das Trennungsjahr nicht unterbrochen würde. Dennoch war mir das mehr als suspekt und auch mein Anwalt riet mir dringend davon ab. Wer konnte mir versichern, daß der Alte nicht eines Morgens mit einem dicken Hals auf mich aufwachte und sich selbst beim Finanzamt anzeigte? Keiner.

Als der Notar mir dann alles erzählt hatte lehnte ich entschieden und deutlich ab.

Natürlich war Ulrich nicht alleine zu dem Treffen mit seinem Notar gekommen. Seine Mutter war dabei. Die verzog nur das Gesicht, schürzte die Lippen und sah aus wie „Katze von hinten“. Der Alte regte sich auf und warf mir vor, ich wolle ja nur sein Geld und das würde mir dann negativ angelastet.

„Ich will dein Geld nicht. Es steht mir zu, das ist alles.“ erwiderte ich in aller Gelassenheit.
 

Auch wurde über die Anwälte vereinbart, daß mir noch einige Dinge aus dem Ehelichen Hausstand zustehen würden, unter anderem natürlich die Möbel und Spielzeug sowie Kleidung der Kinder.

Ich stellte eine Liste auf.

Der Alte strich sie zusammen und stellte Bedingungen.

Zum Beispiel würde ich die digitalen Bilder der Kinder nur bekommen, wenn er ein bestimmtes Buch über Insekten zurückbekäme, welches sich definitiv nicht in meinem Besitz befand.

Meine Comicsammlung von Sailor Moon und eine nicht geringe Sammlung alter Überraschungsei-Figuren würde ich nur bekommen, wenn er eine Speicherkarte wieder bekäme, die sich ebenfalls nicht in meinem Besitz befand.

Und bestimmtes Kochgeschirr würde ich nur bekommen, wenn er die Playstation1 mit den zwei Spielpads zurück bekäme. Die konnte er sich von mir aus an die Knie nageln. Die Speicherkarte hatte ich nicht, konnte sie ihm also auch nicht zurück geben.

Von mir aus sollte er sich doch die Figuren rektal einführen und sich danach mit meiner Comicsammlung den Arsch abwischen!!!
 

Marcos Lehrgang machte im Juli eine Woche Sommerpause. In dieser Woche wollten wir dann alle zusammen nach Limburg fahren und die Sachen abholen, die jetzt noch auf der Liste standen. Marco lieh sich von seinem Bruder den Anhänger. Wir wollten auch ein paar Tage bleiben. In dieser Zeit konnten wir bei meiner Freundin Bine unterkommen.

Auf der Fahrt nach Limburg hin regnete es in Strömen. Es regnete, regnete und regnete. Regnete es nicht, sahen wir nichts wegen dem Ziehwasser der anderen PKW und LKW. Ach, hatte ich schon erwähnt, das es regnete?

Auf der Fahrt wurde mir schlecht. Je näher wir nach Limbrug kamen um so schlechter wurde mir.

„Keine Angst, Engelchen. Ich bin ja da.“ tröstete Marco mich.

„Und du nimmst mich ganz bestimmt wieder mit nach Hause?“

„Sicher. Ich lass dich nicht da.“

„Was ist, wenn ich aufwache, und alles war nur ein Traum?“ wimmerte ich.

„Das wirst du nicht.“ versicherte er mir.

Nach acht Stunden waren wir dann endlich in Kirberg angekommen.

Der Abholungstermin war für den folgenden Tag verabredet. Wir ließen die Jungs bei Bine und ihren drei Jungs und machten uns auf den Weg nach Heringen. Dort wartete Ulrich noch auf jemanden, vorher dürften wir nicht rein.

Strolch war draußen und kam auf mich zu. Mein Herz zersprang mir fast. Er erkannte mich sogar wieder und ließ sich auf den Arm nehmen und beschmusen. Er kroch auch in den Anhänger und untersuchte alles ganz genau.

Dann kam ein Auto und fuhr auf die Auffahrt. Die Lebensgefährtin von einem seiner Arbeitskollegen war gekommen um als Zeugin zu fungieren. Ulrich machte scheinbar gar nichts alleine.

Mir war es egal. Marco und ich räumten die bereitstehenden Kartons, Wäschesäcke, Spielsachen und die Möbel in den Anhänger. Als wir damit fertig waren ging ich noch mal durchs Haus um zu sehen, ob noch etwas übersehen worden ist.

Als wir dann fertig waren ging es noch um die drei Streitpunkte. Die Playstation hatte ich dabei und die konnte er bekommen. Aber die Speicherkarte und das Buch konnte ich ihm nicht geben, da ich beides nicht hatte.

Sollte er doch mit meinem Müll glücklich werden.

Als wir losfuhren musste Marco lachen.

„Was ist?“ fragte ich.

„Ich hab den Alten zu der Frau sagen hören, daß wir armen Schweine jetzt gleich wieder nach Hause fahren müssten. Wenn der wüsste.“

„Stimmt. Er hätte aber auch fragen können. Er hat sich ja nicht mal nach den Jungs erkundigt.“ sagte ich.

Wir blieben insgesamt vier Tage. Ich zeigte Marco die Gegend. Wir waren in Idstein, bei der Akademie, in der Bären-Apotheke (Herr Stalla freute sich ein Loch in den Bauch), wir haben uns natürlich auch die Altstadt von Idstein angesehen, wir waren in Bad Camberg und natürlich auch in Limburg. Marco war begeistert von all den alten Fachwerkhäusern, allerdings weniger von den viele Bergen und Steigungen, die wir herauf und herunter krakseln mussten.

Ich hatte ihm erzählt, daß es für mich in dieser Gegend keine Chance gab, ihn zu vergessen.

Es gab kleine Lastwagen, die man in BadEms leihen konnte. Sie hatten ein winziges Schild auf dem „BadEms Lotz“ zu lesen war.

In Kirberg gab es einen Innenausstatter, der auf seinem Fahrzeug ganz groß „Lotz“ stehen hatte.

In Diez gab es einen Elektrofachhandel mit dem Namen „Lotz“ und dieses Geschäft hatte oft in den Kaffblättchen eine große Anzeige wo dick und fett „Lotz“ zu lesen war. Außer dem hatte diese Firma auch ein Firmenfahrzeug, ganz in Rosa mit dem Red Zack darauf und auf beiden Seite in großen weißen Buchstaben „Lotz“

Außerdem hieß der für die Fisslerheizung im Haus des Alten zuständige Mensch mit Nachnahmen „Lotz“ und eine Kassiererin im Real (Massa) ebenfalls.

Wie oft hab ich diese Kassiererin ehrlich beneidet.

Den Menschen von der Heizung konnte ich Marco natürlich nicht bringen. Aber wir begegneten dem Auto von der Firma in Diez. Auch fuhr einer dieser kleinen Lastwagen aus BadEms vor uns. Bine hatte noch ein Kaffblättchen, in dem die große Anzeige der Elektrofirma war. Und bei einem Spaziergang durch Kirberg kamen wir auch an dem Innenausstatter vorbei.

Die Kassiererin haben wir auch nicht getroffen, was aber wohl daran gelegen hat, daß wir nicht bei Real einkaufen waren.

Auf jeden Fall kam Marco aus dem Staunen nicht heraus.

Wir besuchten meine Freundin Carmen in Altendiez und einige der Nachbarn in Heringen. Sie freuten sich alle sehr, mich wieder zu sehen und zu sehen, wie süß mein Marco ist und wie glücklich wir miteinander waren. Auch die Kinder.

Als wir dann aber wieder nach Hause fuhren war keiner so froh darüber wie ich. Ich wollte nur schnellstmöglich einen größtmöglichen Abstand zwischen mir und dieser Gegend haben.
 

Nachdem Marco mit dem Lehrgang für den LKW-Führereschein fertig war bekam er gleich eine Anstellung bei einer großen Firma für Baubedarf in Flensburg. Zunächst war es mal ein Zeitvertrag, aber er hatte wieder Arbeit und vor allem ein geregeltes Einkommen. Er fühlte sich sichtlich wohl in seinem Job und vor allem damit, wieder einen Job zu haben.

Ich vermisste ihn schrecklich. Aber über die Zeit lernte ich auch damit zurecht zu kommen.
 

Als Marco gerade die Zusage bekam, daß er bei Jacob Cement als Fahrer anfangen konnte, bekam ich ein Schreiben von der Arge in der mir erklärt wurde, die Wohnung, in der ich mit den Kinder wohnte, wäre zu klein für die berechneten Heizungskosten, diese würden den Rahmen um 15 Euro über steigen. Ich solle mir doch innerhalb der kommenden sechs Monate eine neue Wohnung suchen.

Ich rief an und fragte, ob ich die 15 Euro nicht selbst übernehmen könnte. Das könnte ich zwar machen, wurde mir dann erklärt, allerdings würden dann eventuelle Nachzahlungen in Bezug auf die Nebenkostenabrechnung nicht mehr vom Amt übernommen.

Das war für mich tatsächlich ein Problem.

Nun musste ich also eine neue Wohnung haben. Das war nicht so einfach. Oliver ging in den Kindergarten in Langballig, später sollte er hier auch in die Grundschule kommen. Ich war milde umschrieben einer mittleren Panikattacke nahe.

Der Zufall jedoch, oder das Schicksal? Wollte es dann aber, daß in dem anderen der beiden Mietshäuser, eine Wohnung zum 1. Oktober des Jahres frei werden sollte. Sie war genauso geschnitten wie meine, aber im Erdgeschoss. Dadurch, daß die Drembel jetzt wegfielen, war jeder Raum 75cm tiefer als die Räume in meiner Wohnung und das machte einen Unterschied von 12 m² aus. Da die Heizkosten auf jede Wohnung pauschalisiert wurden blieben sie die gleichen wie für meine Wohnung und das Amt genehmigte sie.

Die neue Wohnung hatte keine Schrägwände mehr, zwar hatte ich auch da keine Badewanne, aber etwas mehr Platz um das Waschbecken herum.

Dann lag das andere Haus dichter an der Hauptstraße. Ich konnte praktisch vom Küchenfenster aus sehen, ob der Bus kam. Wenn ich noch dichter an die Bushaltestelle hätte ziehen wollen, dann hätte ich in das Wartehäuschen einziehen müssen. Auch mussten wir unsere Einkäufe nicht mehr so weit schleppen, da wir den Parkplatz fast vor der Tür hatten. Und Treppen fielen ganz weg, die Wohnung lag ja im Erdgeschoss.

Mit einem zinslosen Kredit vom Amt konnte ich Teppichboden kaufen. Oliver bekam sein ganzes Zimmer mit einem Straßenteppich ausgelegt.

Die Küche machten wir uns auch richtig schön. Marco hatte noch einen Herd mit Ceranfeld und Backofen. Da er einen Starkstromschein hat, darf er ihn sogar selber anschließen. Ich bekam beim Praktiker sehr günstige Arbeitsplatten und Borde für die Küche und hatte nun Ablage- und Arbeitsfläche ohne Ende. Marco baute alles ein.

Aber das aller Beste war noch: Marco kündigte seine Wohnung in Westerholz und übernahm meine alte Wohnung. Nun waren wir offiziell Nachbarn. Wenn er zum Wäschewaschen ging (Marco hatte ja eine eigene Waschmaschine), dann musste er nur nach nebenan gehen. Sein Auto konnte ganz offiziell auf dem Parkplatz stehen, denn er war ja jetzt ein Anwohner.

Der Himmel auf Erden.

Die Wucht in Tüten.

Ein Märchen in Reinform.
 


 

Epilog
 

Nicole und ich sind inzwischen schon wieder im Wohnzimmer.

„Wahnsinn, das ist echt eine irre Geschichte.“ staunt sie.

„Ja, das kann man so sagen. Und alles ist wahr, nichts ist verschönt oder hinzugedichtet.“ bestätige ich selig lächelnd.

„Was ist denn aus Bente geworden?“ fragt Nicole.

„Tja, sie musste sich einen zweiten Job suchen um die Wohnung halten zu können. Kurz nach der Trennung wollte sie auch mit Marco Essen gehen um noch mal darüber zu reden. Marco fragte nur, ob er seine Freundin und die Kinder mitbringen könnte.“

„Autsch, derber Schlag.“ keuchte Nicole.

„Wir sind ihr auch mal begegnet, beim Tummelum in Flensburg. Sie ging an mir vorbei und hatte Marco wohl auch erkannt. Ehrlich, eine heftigere Welle des Hasses hab ich noch nicht gespürt. Wenn Blicke hätten töten können, wäre ich im Bruchteil einer Sekunde vaporisiert worden.“ erzählte ich.

„Und die Arbeit? Marco fährt ja noch bei Jacob Cement, oder?“

„Ja, er fährt da immer noch. Eigentlich schon wieder. Über die Wintermonate war der Zeitvertrag abgelaufen und wurde nicht erneuert, weil es im Winter nicht genug zu Tun gibt in einer Baustofffirma. Als sich dann nach viele Bewerbungen von Marco bei anderen Firmen herausstellte, daß sich noch zwei andere Firmen um Marco als Fahrer rissen, hat der Chef von Jacob Cement ganz schnell die Initiative ergriffen und ihn schleunigst wieder eingestellt. Zuerst noch mit einem Zeitvertrag, der ist jetzt seit Januar zu einem Festvertrag geworden.“ erzähle ich.

„Super, das ist echt riesig. Wie sieht es eigentlich mit dem Ring aus, den Marco dir doch schon seit Jahren schuldete?“ erkundigt Nicole sich weiter.

Ich lächle versonnen.

„Den hab ich bekommen. Im ersten Frühling nach meiner Trennung von Ulrich hat Marco silberne Freundschaftsringe gekauft. Ein Jahr später hat er die Namen und die Jahreszahl unseres Wiedersehens eingravieren lassen. Hier, das ist er.“ ich zeige Nicole den schlichten Ring mit der Gravur.

„Wow. Der ist schön.“

„Und den hab ich am 17. März ein Jahr später in Kiel bekommen, einen Tag vor der offiziellen rechtskräftigen Scheidung. Er ist aus Weißgold mit einem Zirkon. Eigentlich hatte Marco da nur das spontane Bedürfnis mir einen Ring zu schenken. Den Brief mit der rechtskräftigen Scheidung bekam ich erst später.“ ich deute auf einen Ring an meiner rechten Hand.

„Der ist auch toll.“

„Und diesen hier hab ich zwischendurch mal in Kiel bekommen, einfach so. Er ist aus Silber und war wahnsinnig teuer. 7,50 Euro.“lächle ich.

„Na man, da hat er sich aber in Unkosten gestürzt.“ staunt Nicole sarkastisch.

„Ja, das hat er.“ lache ich.

"Ich liebe diesen Ring."

„Dann hat er seine Schulden, was das Versprechen mit dem Ring betrifft, ja doppelt und dreifach beglichen.“ rechnet Nicole nach.

„Und nicht nur das. Ich kann es zwar noch nicht so ganz glauben, aber Marco redet oft und schon sehr lange vom Heiraten. Dabei ist er gar nicht der Typ, der heiraten würde.“ lächle ich selig.

„Ist nicht wahr, wann wollt ihr den heiraten?“ staunt Nicole.

„Wenn wir absehen können, wie es mit den Finanzen weiter geht. Es hängt wahnsinnig viel mit diesem Termin zusammen. Wir müssten umziehen, in eine gemeinsame Wohnung. Meine jetzige Wohnung wird vom quasi vom Amt bezahlt. Wenn ich heirate, fällt dieser Anspruch weg und wir müssten plötzlcih zwei Wohnungen tragen, was nicht machbar ist. Da wir aber nicht in einer kleinen Dreizimmerwohnung bleiben können, müssten wir umziehen. Aber wir wollen hier von Langballig nicht weg. Erstmal wegen der Kinder, Kindergarten und Schule und dann auch wegen der Gegend.“ erkläre ich.

„Ah, verstehe. Du hast noch gar nicht erzählt, wie du jetzt doch zu einer Katze gekommen bist.“ will Nicole weiter wissen.

„Naja. Nach eineinhalb Jahren ohne Katze hab ich es nicht mehr ausgehalten. Ich hab ständig meinem Strolchie nachgeweint. Und ich brauche einfach eine Katze um mich. Da ist so eine kleine Stelle in meinem Herzen, die kann nur von einer Katze gefüllt werden. Also bin ich los und hab mir ein Katzenbaby ausgesucht und dann, als er alt genug war, als er reif zum Ernten war, hab ich ihn abgeholt. Auf vielfachen Wunsch von Oliver sollte der Kater dann auch Strolch heißen. Im November des gleichen Jahres wurde er an der Hauptstraße angefahren, ich hab ihn aber noch rechtzeitig gefunden und er kam wieder völlig auf die Beine. Aber Ende Juni dann ist er überfahren worden.

Ich stand dabei, hinter der Haltestelle. Ich hörte nur den Knall, als würde ein Auto auf ein anderes fahren, dann das Klingeln einer kleinen Glocke, die Glocke, die Strolchie an seinem Halsband hatte. Ich drehte mich zur Straße um und sah nur noch, wie der Kater durch die Luft flog und hart auf der Straße aufkam. Er schlug noch mit den Hinterbeinen aus, als wolle er weiter weglaufen. Zuerst dachte ich, das wäre ein gutes Zeichen, er bewegte sich ja noch. Aber in meinem Hinterkopf konnte ich mir ausrechnen, daß er den Schlag nicht hat überleben können. Mir blieb nichts anderes übrig, als meine sterbende Katze von der Straße aufzusammeln.“ erzähle ich mit Tränen in den Augen.

„Au weia, das war sicher hart.“ fühlt Nicole mit mir.

„Das war es. Ich bin noch mit Nerven- und Kreislaufzusammenbruch in der Klinik gelegen.“

„Und wer ist dann der kleine Tieger, der da gerade in seinem Karton im Regal schläft?“ wunderte sich meine Freundin.

„Das ist Koko. Eigentlich Kokoro, das ist Japanisch und bedeutet „Herz“.“ erkläre ich.

„Ich hab wahnsinnig unter dem Verlust von Strolchie gelitten und eigentlich nur noch geweint. Ich musste es irgendwie verarbeiten, es raus lassen. Hätte ich es verdrängt, wäre ich an dem Knoten erstickt. Nur 14 Tage nach Strolchies Tod packte Marco und mich und die Kinder ins Auto und fuhr mit uns in die Nähe von Tarp. Er hatte eine Zeitungsannonce gefunden für kleine Katzenbabys. Ich sollte mir eine aussuchen. Der kleine Kater, den ich dann bekam, war ein Waisenbaby. Seine Mama hat den Wurf sehr früh zurückgelassen, wahrscheinlich hatte sie einen Unfall. Jedenfalls hat die Frau die Babys mitgenommen und aufgezogen. Koko war noch so winzig, aber er konnte fressen und zur Toilette gehen, damit war er reif genug für eine Adoption. Ehrlich, der war so winzig. Eine halbe Hand voll Katze. Vollgefressen wog er 680 Gramm, ich habs mit der Küchenwaage nachgewogen. Wenn er die normalen Krachkekse gegessen hatte, dann hatte er nach spätestens fünf Keksen echte Kopfschmerzen. Und er bekam die Türen nicht alleine auf, nicht mal, wenn er sich nur dagegen stemmen brauchte. Das Nassfutter hab ich ihm kleingemust, damit er nicht an den Brocken erstickt.“

„Ist ja süß“ schwärmt Nicole.

„Und er ist eine reine Hauskatze. Ich lasse ihn nicht raus und bisher klappt das auch noch ganz gut. Wenn wir später mal eine Wohnung haben, die etwas weiter ab von der Hauptstraße ist, dann darf er auch raus.“ erkläre ich weiter.

„Hat dein Exmann denn jetzt eigentlich Kontakt mit den Kindern?“ fragt Nicole.

„Inzwischen wieder. Anfangs haben wir uns mit Hilfe des Jugendamtes darauf geeinigt, daß wir erst ein paar gemeinsame Treffen mit Oliver machen und daß er ihn, wenn alles gut läuft, auch alleine abholen darf. Das riss dann im Oktober ganz plötzlich ab. Ich denke, das kommt daher, daß ich die Wahrheit gesagt habe.“

„Wie, die Wahrheit, was hast du denn gesagt?“

„Er war Ende Oktober hier oben und es ging noch um ein paar Papiere. Dabei maulte er mich dann an, warum ich ihm nicht gesagt hätte, daß ich die Kinder mit in Limbrug gehabt hätte. Ich sagte, er hätte ja fragen können. Ich trage ihm seinen Arsch nicht mehr hinterher. Dann flaumte er mich an, ich wolle ja gar nicht, daß er Kontakt mit den Kindern hätte. Natürlich wollte ich das nicht, sonst hätte ich die Kinder nicht mitgenommen. Dann schrie er mich an, ich wolle ihn ja gar nicht da haben. Natürlich wollte ihn nicht da haben, sonst wäre ich ja nicht weggegangen.

Das war wohl mehr Wahrheit, als er vertragen konnte.

Daraufhin hat er sich jedenfalls zwei Jahre lang in keinster Weise gemeldet. Auch seine tolle Familie nicht, die ja hier in der Nähe wohnt.

Als ich dann das alleinige Sorgerecht beantragen wollte, konnte er doch ganz plötzlich wieder Kontakt mit Oliver haben und seine Eltern stellen jetzt Anspruch auf ihr Umgangsrecht. Daß ich mich allerdings in keinster Weise verpflichtet sehe, die Fahrtkosten zu übernehmen, auch nicht Anteilig, stößt ihnen sehr sauer auf. Aber das ist nicht mein Problem. Ich sperre mich nicht, aber wie sie das umsetzen wollen, das ist nicht meine Sache.“ erläutere ich.

„Man, die sind lästiger als Krätzmilben.“ meint Nicole.

„Das sind sie. Aber ich lasse mich nicht einschüchtern.“ erwidere ich grinsend.

„Ich kann mich nicht an den Fahrtkosten beteiligen. Das wäre zu Michaels Nachteil. Und Marco hat nichts damit zu tun. Selbst wenn wir drei Mal ein Liebespaar sind, ist er nicht für die Kinder zuständig.“ führe ich weiter aus.

„Es bleibt also spannend.“ sagt Nicole.

„Lass uns mal in die Küche gehen, eine Rauchen. Außerdem muss ich noch meine Medikamente nehmen.“ schlage ich vor und stehe auf.

Nicole folgt mir.

„Was sind das für Medikamente?“ fragt sie mich.

„Einmal ein Betablocker, als Migräneprophylaxe, dann ein Mittel wegen meines zu hohen Blutdruckes und ein Antidepressivum.“ erkläre ich ihr.

„Ein Antidepressivum? Hast du depressionen?“ verwundert sich meine Freundin.

„Die hatte ich schon in Hessen, schon lange. Aber mein Arzt wollte mir nichts aufschreiben, wenn ich nicht vorher bei einem Psychiater gewesen wäre. Das kam natürlich nicht in Frage, der Alte hätte das nur wieder für eine Schikane gegen ihn gehalten. Als ich dann zu Hause war, Marco wieder hatte und der Rausch vom Anfang unserer Liebe langsam nachließ, kamen die Depressionen zurück, mit aller Macht. Ich hab in einem tiefen Loch gesessen und schlimme Selbstzweifel gehabt. Marco wäre ohne mich und den Kinder besser dran und ähnliches. Er hat mich dann zum Arzt geschleift, der mir diese Kapseln verschrieben hat. Seitdem bin ich ein normaler Mensch, naja, annähernd normal. Sexuell klappt zwischen Marco und mir zwar alles bestens, aber ich habe extreme Schwierigkeiten zu geben. Also, mal die Führung zu übernehmen, ihn da anzufassen oder sogar etwas mit dem Mund zu machen... Ich habe allerschlimmste Probleme mit Fäkalien. Und mit meinem Körper. Daß ich dick bin, naja, damit kann ich leben. Aber untenrum, im Schambereich, ich fühle mich schmutzig. Ich muss jedes Mal, bevor wir ins Bett gehen, ausgiebig duschen und hab immer noch das Gefühl, nicht sauber zu sein. Das macht mich manchmal echt fertig. Aber ich will nicht noch mehr Medikamente nehmen müssen. Über die Zeit bekommen wir das schon hin. Das sagt Marco jedenfalls. Und er ist so unendlich geduldig mit mir.“ erzähle ich.

„Man, da hast du ja einiges zurückbehalten von dem scheiß Typen.“ schlussfolgert Nicole.

„Das stimmt wohl. Aber ich versuche mich nicht davon beeindrucken zu lassen.

Mit Marco kann ich über alles reden. Wirklich über alles. Er kennt meine intimsten Geheimnisse und Gedanken. Mehr als jeder andere Mensch auf dieser Welt, der in irgendeiner Weise mit mir zu tun hatte. Es gibt keine Geheimnisse zwischen uns. Wir sind immer offen und ehrlich zueinander, egal worum es geht. Ich lasse ihm seine Freiheiten. Wir haben zum Beispiel beide nach alten Freunden und auch Freundinnen gesucht, auch verflossene Beziehungen. Ich kann Marco vertrauen und er mir. Ich weiß, mit wem er Kontakt hat und er weiß von meinen Kontakten. Ich habe sogar wieder Kontakt mit meinem Porschefahrer, der inzwischen wieder nach Fulda gezogen ist. Und zu meinem ersten Ex-Freund Ralf. Der war natürlich mehrfach überrascht, als er hörte, daß Marco Lotz und ich zusammen waren. Aber die Vergangenheit ist eben Vergangenheit und es gibt keinen Grund für Feindseligkeiten. Ich erzähle Marco, wenn ich beim Autofahren mit nem Motorradfahrer Rennen gefahren bin und wir geflirtet haben. Und er erzählte mir, wenn er auf seinen Touren süße Mädels mit Holz vor der Hüttn und wenig Textil um die Beine gesehen hat oder wenn eine Freundin von früher ihn angerufen hat. Grund zur Eifersucht gibt es erst, wenn einer etwas verheimlicht. Einmal hatte er eine Freundin getroffen, die Kummer hatte. Da hat er sie kurzer Hand mit nach Hause gebracht und gesagt, ich könne ihr helfen. Ich mag sie zwar nicht und irgendwie bin ich auch eifersüchtig. Aber ich vertraue Marco. Und als ich ihm erzählt hab, daß ich eifersüchtig bin, ihm aber den Umgang keinesfalls verbieten will, da war er so gerührt, daß er fast weinen musste. Nicht, weil ich ihm den Umgang nicht verbieten wollte, sonder über die Tatsache, daß ich eifersüchtig war.

Wir sind zwar zusammen, aber wir engen uns nicht ein.

Ich lasse ihm seine Freiheiten, auch wenn das bedeutet, daß ich mal eine Nacht ohne ihn verbringe, weil er bei einem Kumpel ist oder auf einer Betriebsfeier. Ich telephoniere ihm nicht hinterher um zu kontrollieren, wo er ist. Auf der anderen Seite lässt Marco mir aber auch meine Freiheiten und unterstützt mich noch dabei. Zum Beispiel haben wir endlich meinen Seelenfreund Uwe besucht. Das erste Mal seit wir uns kennen, daß wir uns leibhaftig gegenüber standen. Und Marco freute sich mit uns. Oder wo meine Mum und mein Bruder abends nach Flensburg wollten in die Karaoke-Bar. Marco erklärte kurzer Hand, daß ich mitfahren sollte. Er kümmere sich um die Kinder.

Wenn ich krank bin, dann nimmt er die Kinder und geht raus, damit ich ein bisschen Ruhe habe.

Unser Zusammenleben ist so perfekt, so harmonisch, warum sollten wir es uns durch falsches Misstrauen verderben?“ sprudele ich heraus.

„Das ist faszinierend, und wahr.“ nickt Nicole langsam.

„So hab ich noch nie darüber nachgedacht.“ sagt sie dann.

„Das haben die Wenigsten. Und wenn ich dann sehe, im Umfeld oder im Fernsehen, über was für Kinderkacke die Leute sich aufregen und sich gegenseitig verletzten, könnte ich nur kotzen.“ erkläre ich.

„Was wird jetzt mit dem Haus? Das gehört dir doch noch zur Hälfte, oder?“ erkundigte Nicole sich weiter.

„Nein, inzwischen nicht mehr. Nach vier Jahren hat er begriffen, daß die einzige Bedingung, die ich stellte war, daß ich komplett ohne Nachfolgekosten aus der Sache raus wollte. Er bekommt das Haus und den Hof und ich habe keinen Nutzen, aber auch keinen Schaden davon. Er wollte jetzt erst, daß ich ihm das Haus überschreibe und auch aus den Bankschulden genommen würde. Er wollte aber, daß ich dann quasie bei ihm eine private Schuld über 12000 Euro behalten würde, die ich ihm dann zurückzahlen sollte. Das wollte er dann über den Unterhalt berechnen. Wir würden dann also so lange keinen Unterhalt von ihm bekommen, bis die Schulden getilgt gewesen wären. Das ist aber schon rein Rechtlich unzulässig da er den Kinder Geld wegnehmen würde, daß wir zum Überleben brauchen. Nach insgesamt vier Jahren hat er es dann doch geschafft, einen vernünftigen Schrieb mit seinem Notar zu verfassen der mich aus allen Kosten raushält. Soll er glücklich werden mit dem Haus.“

Da höre ich das Klimpern eines Schlüsselbundes und im nächsten Moment wird die Wohnungstür aufgeschlossen.

„Schuhe ausziehen, Michael, worauf wartest du? Nein, Koko, du bleibst drin. Hallo Engelchen.“

„Hi, mein Liebster.“

„Hallo Marco.“

„Ach, hallo Nicole. Immer noch da?“ fragt Marco.

„Nein, ich bin nur eine holographische Projektion, in Wirklichkeit bin ich schon längst zu Hause.“ lacht Nicole.

„Ah, dann ist ja gut. Kommst du jetzt rein, Michael?“

„Aber ich muss noch Schuhe ausziehn!“ quakt der kleine.

„Dann mach das endlich.“ sage ich und sammle die Katze nebenbei ein.

„Aber ich kann das nicht.“ jammert Michael trotzig.

„Sieh zu, sonst kannst du ja auf dem Flur schlafen. Die sind beide satt. Das Brot, das meine Mama gebacken hatte, ist restlos verputzt worden.“ berichtet Marco.

„Na, dann können sie ja gleich ins Bett. Ist eh spät genug.“ sage ich.

„Das stimmt. Und ich mache mich jetzt auch langsam mal auf den Weg nach Hause.“ pflichtet Nicole mir bei.

„Machts gut, Ihr beiden. Ich rufe dann wieder an. Du, Carmen, wenn du heiratest, darf ich dann deine Trauzeugin sein?“ fragt Nicole noch in der Tür.

„Nein, der Posten ist schon vergeben. Den Part übernimmt Uwe. Aber du kannst ja meine Brautjungfer sein.“ lache ich.

„Ok, damit kann ich leben. Sag Bescheid wenn es soweit ist.“ erwidert meine Freundin.

„Mach ich. Komm gut nach Hause.“
 

Sophie Carack 2012



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