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Liebe mich zu Tode

Isa/Braig
von

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Deus Ibi Est

Geheimnisse. Mysterien. Ungelöste Rätsel.

Davon gibt es viel zu viele. Tausende, vielleicht sogar Millionen von ihnen zeigen sich tagtäglich, unsichtbar für all jene, die nicht direkt mit ihnen in Verbindung stehen.

Man sieht den Menschen ihre Geheimnisse nicht an, obgleich sie sie doch so tief in ihren Herzen tragen, dass sie einen großen Teil ihrer Persönlichkeit ausmachen. Für die meisten Menschen kann das nur von Vorteil sein.
 

Das junge Mädchen dort am Wegesrand zum Beispiel. Das blonde Haar fällt ihm über die grünen Augen, die schelmisch aufblitzen und im Licht der Sonne funkeln, und ein zufriedenes Lächeln ziert seine Lippen.

Niemand würde bei diesem Anblick erahnen können, dass das Mädchen so selbst zufrieden dreinblickt, weil es gerade das Küchenmesser seiner Mutter genommen und den Jungen am andren Ende der Stadt umgebracht hat.
 

Was ist mit den drei Fremden, die seit wenigen Tagen in der Stadt verweilen?

In ihrer fremdländischen Kleidung wirken sie leicht fehl am Platze. Sie stechen schon von Weitem aus der Menge heraus.

Sie kennen einander. Sind Freunde. Gefährten auf einer langen Reise. Das erkennt man an der Art, wie sie miteinander umgehen. So vertraut, so sanft, so liebevoll.

Aber wer würde es schon erkennen, das düstere Schicksal, das sie umschwebt und sie verfolgt? Wer ahnt schon von der Tragödie, die sie ereilen wird?
 

Doch … dies hier ist nicht ihre Geschichte. Sondern die eines anderen Geheimnisses.
 

Es ist die Geschichte von ihm, dem jungen Mann, dessen Schritte ihn eilig durch die Straßen treiben. Also wenden uns ihm einen Moment lang zu, beobachten, wie er sich an den Menschen vorbeischiebt, ohne sich zu entschuldigen, wenn er sie anrempelt; wie seine Blicke immer wieder zu den Uhren wandern, die an allen öffentlichen Plätzen ausgestellt sind; und wie er flucht, weil all die Uhren ihm eindeutig sagen, dass er zu einem wichtigen Treffen zu spät kommen wird. Viel zu spät.

Wir können sehen, dass er nervös ist. Wieder und wieder beißt er sich auf die Unterlippe und zupft an seinem roten Halstuch, rückt es zurecht. Ein Schweißtropfen läuft seine Schläfe hinab, obwohl es an diesem Tage nicht gerade warm ist, sondern sich die ersten Schneeflocken des Jahres ihren Weg zur Erde bahnen.
 

Und da er unser Held ist … nein, wir sollten ihn besser unseren Protagonisten nennen, denn ein Held ist er wahrlich nicht …

Wie auch immer. Es ist nicht wichtig, wie wir ihn titulieren, es ist nur wichtig, dass wir wissen, an was er gerade denkt.
 

Seine Gedanken rasen, kreisen immer wieder um dieselben Fragen, die ihn seit Wochen beschäftigen, ihm den Schlaf rauben. Warum ich? Wie konnte ich in diese Situation geraten? Was zum Teufel tue ich hier?

Es ist durchaus berechtigt, sich diese Fragen zu stellen, wenn man bedenkt, was er in jeder freien Stunde tut, mit wem er sich trifft, welche Erfahrungen er macht und welche er weitergibt.

Doch wir wollen die Geschichte nicht bereits jetzt verraten.
 

Stattdessen sehen wir zu, wie er in eine Seitengasse abbiegt und vor einer der vielen Haustüren stehen bleibt, noch einmal tief Atem holt, schluckt … und wie er schließlich seinen ganzen Mut zusammen nimmt und klingelt.
 

Wir sehen, wie die Tür sich öffnet und ein weiterer junger Mann – jünger als unser Protagonist, aber dennoch kein Kind mehr – im Blickfeld erscheint. Seine Lippen kräuseln sich zu einem spöttischen Lächeln und er mustert sein Gegenüber eindringlich.

„Du bist spät, Braig“, sagt er kühl und beinahe anklagend.
 

Einmal mehr schluckt unser Protagonist und er zwingt sich, unsicher zu lächeln.

„Ich konnte nicht früher weg. Meister Ansem hatte mich gebraucht“, sagt er und setzt zu einer weiteren Erklärung an, schließt den Mund doch sogleich wieder, als eine Hand über seine Wange streicht und Finger ihn am Kinn packen, wobei sie die langen, spitzen Nägel in sein Fleisch bohren.
 

„Du weißt, wie sehr ich Ausreden verabscheue ...“
 

Oh ja. Ja, das weiß er zur Genüge. Deswegen hält er es auch für klüger zu schweigen. Und als sich die Hand des anderen wieder entfernt, kommt er nicht umhin, erleichtert aufzuatmen. Natürlich währt diese Atempause nur kurz, denn sogleich wird er an seinem Halstuch ins Haus hineingezogen.

„Und du weißt, dass ich es nicht mag, warten gelassen zu werden?“
 

Es ist keine Frage. Es ist die Illokution einer Aufforderung, die Braig nur zu gut versteht. Er hat ihr Treffen verpasst. Er hat ziemlichen Mist gebaut. Und er hat die Konsequenzen zu tragen.

Schnell streift er die weißen Handschuhe ab und lässt sie zu Boden gleiten. Die blaugraue Uniform mit den vielen Knöpfen folgt sogleich, ebenso die Stiefel, die Hose und seine Unterwäsche.

Sein Halstuch … sein Halstuch behält er an. So wie immer. Grüne Augen mustern seinen Körper, mustern jede Bewegung, die er tut. Und als er schließlich entblößt auf dem Boden kniet, wird das Halstuch um seine eigenen Augen gelegt. So wie immer.
 

„Meister Ansem, wie?“, wird ihm ins Ohr geraunt und er schaudert leicht. „Der einzige, den du 'Meister' zu nennen hast, bin ich ...“
 

Wieder schaudert Braig. Und wie jedes Mal, wenn sie beide zueinander finden, fragt er sich, ob es richtig ist, was hier geschieht.

Jedes Mal aufs Neue glaubt er, dass er durch ihrer beider Taten die weißen Flügel eines Engels bricht und seine unschuldige Seele in tiefste Finsternis taucht.

Doch ist es eigentlich nicht er, dessen Flügel gebrochen und dessen Körper gebrandmarkt wird?
 

Aber lasst uns nicht zu weit vorausgreifen.

Wie jedes Geheimnis hat auch dieses eine Vorgeschichte.
 

Also lasst uns von Anfang an beginnen …

I Can't Do This

Radiant Garden.
 

Es ist wohl nicht übertrieben, die Stadt ein Paradies zu nennen.
 

Doch wir nennen sie nur ein einziges Mal so.

Wäre dies hier allerdings ein Reiseführer, so könnte man damit rechnen, an dieser Stelle diverse Beispiele für die architektonischen Meisterleistungen, die wundervollen künstlerischen Schöpfungen und die Freundlichkeit der Einwohner zu finden. Außerdem würden die Worte 'paradiesisches Paradies' und 'Erfüllung eines jeden Traumes' verdammt häufig fallen.
 

Wir fassen uns jedoch zum Glück recht kurz, beschränken uns also nur auf die Fakten, die zum Verständnis unserer Geschichte wichtig werden können:
 

Im Zentrum Radiant Gardens thront auf einem Hügel das Schloss Ansems des Weisen. Eben jenes Schloss bevölkert nicht nur der weise Herrscher über die Welt, sondern auch jene Auserwählte, die das Schloss als einen Ort des Lernens, des Forschens und des Wissens nutzen können und dürfen. Ansems Schüler, seine Lehrlinge sind sein ganzer Stolz und ihre Forschungsergebnisse im gesamten Land bekannt.
 

Jedoch … ist Zusammenarbeit zwischen ihnen in diesen Fällen ein Fremdwort. Zu verlockend ist die Aussicht auf Ruhm und Ehre, auf Sponsorengelder und wissenschaftliches Ansehen. So ist es selbstverständlich, dass auch Freunde oftmals nicht mehr sind als Rivalen. Und es ist klar, dass es jede mögliche Schwachstelle der anderen – sei sie privater oder fachlicher Natur – herauszufinden, zu beleuchten und auszunutzen gilt.

Aber dazu später mehr.
 

Der zweite Fakt besteht aus einem einzigen Satz:

Radiant Garden ist ein architektonischer Müllhaufen.
 

Wie sich das genau darstellt, wäre langweilig und langwierig zu erklären. Sehen wir uns also lieber nach einem geeigneten Beispiel – ah, da haben wir es ja schon.
 

Ein junger Mann verlässt eines der Häuser außerhalb der zweiten Stadtmauer. Sein Blick fällt auf seine Armbanduhr und er verzieht unglücklich das Gesicht, murmelte einen leisen Fluch. Er ist spät dran. Er muss sich beeilen, wenn er unbemerkt ins Schloss gelangen möchte, denn der perfekte Moment für solch heimliche Aktionen ist die Wachablösung. Wenn er die verpasst, ist sein – ist ihr gemeinsamer – Plan zunichte gemacht.

Das will er nun wirklich nicht zu verantworten haben.
 

Während wir seinen Weg durch die engen, verwinkelten Gassen, Gärten und Wege verfolgen, ist hier die geeignete Stelle, um auf Radiant Garden einzugehen:

Wie bereits erwähnt, besitzt Radiant Garden zwei Stadtmauern. Die Erste umschließt das Schloss und die daran angrenzenden Häuser, den kleinen Stadtplatz, das Zentralsystem der Gartenanlagen. Einst war dies das ursprüngliche Radiant Garden; eine kleine Hauptstadt, nur für den König und seine engsten Untergebenen gedacht.
 

Dies war selbstverständlich einige Jahrhunderte, bevor Ansem zum Aufpasser über … Verzeihung – zum Bewahrer des Volkes gewählt worden war, der Fall. In der Zwischenzeit hatte sich vieles verändert. Die Stadt war gewachsen. Und das nicht gerade knapp. Viele, vielleicht sogar zu viele Menschen waren im Laufe der Zeit nach Radiant Garden gezogen, hatten die Nähe zu ihren mehr oder weniger gütigen Königen gesucht – manche aus purer Verehrung und Treue, manch andere, weil sie sich dadurch persönliche Vorteile für Leib und Leben erhofft hatten, und wieder andere, die versuchten, die beiden vorigen Gruppen um ihr schwer verdientes Geld zu bringen.
 

Heutzutage ist es nicht viel besser. Seit Radiant Garden sich zu einer Metropole und einem wahren Kulturzentrum gemausert hat, ist es eigentlich nur noch schlimmer geworden. Die Stadt platzt aus allen Nähten. Und wenn man dann doch bedenkt, wie viele Eltern ihre Kinder hierhin schicken, damit sie die besten Schulen des Landes besuchen können, um eines Tages den Eltern die Ehre und den Ruhm zu bescheren, dass ausgerechnet dieses oder jenes Kind auserwählt wird, einer von Ansems Lehrlingen zu werden … hach, da wird einem doch ganz warm ums Herz vor Ekel bei so viel Egoismus, nicht wahr?
 

Aber zurück zu unserem Freund.
 

Er rennt noch immer, atmet flach und ruckartig. Die ersten Schweißperlen bilden sich auf seiner Stirn, während er die innere Stadtmauer passiert, sich über einen flachen Zaun schwingt und an einer alten Frau vorbei saust, die von dieser Störung alles andere als begeistert ist und ihm hinterherschimpft. Er ignoriert sie und duckt sich unter einer Wäscheleine hindurch, verlässt den kleinen Garten und findet sich auf dem Marktplatz wieder.

Ein Lächeln schleicht sich auf seine Gesichtszüge und er bleibt einige Momente stehen, um zu verschnaufen. Seine Lungen brennen und in seinen Seiten sticht es schmerzhaft, doch das macht ihm nichts. Er ist gleich da. Das ist die Hauptsache. Auf mehr kommt es gerade nicht an.
 

Er stößt das Tor zum Garten des Schlosses auf und erklimmt die vielen Stufen, nimmt immer zwei auf einmal. Oben angelangt holt er einmal tief Luft und klettert über die letzte Mauer, die ihn vom Inneren des Schlosses trennt, springt auf der anderen Seite herab und schleicht lautlos weiter.
 

Nur noch ein paar Schritte!
 

Er kann spüren, wie sein Herz in seiner Brust beinahe zerspringt vor Nervosität; und mit jedem Zentimeter, den er voranschreitet, wird das zufriedene Lächeln auf seinen Lippen breiter.
 

Langsam schiebt er die letzte Tür, die letzte Barriere auf – und wird prompt von hinten am Kragen gepackt und verliert den Boden unter den Füßen. Und das im ganz wörtlichen Sinne
 

Oh, verdammt.
 

„Hey, Dilan!“, ertönt eine amüsierte Stimme über ihm und er wird einmal kurz durchgeschüttelt. „Schau mal, wir haben Besuch!“
 

Klasse. Setz es doch gleich in die Zeitung! Er seufzt und lässt den Kopf hängen, sieht jedoch wieder hoch, als ein dunkler Schatten auf ihn fällt. Mit einem gezwungenen Lächeln hebt er die Hand und winkt dem guten Dilan zu.
 

„Ach nein. Beehrt uns unser kleiner Einbrecher auch mal wieder?“
 

Wieder seufzt er und zuckt mit den Schultern. „Also das 'klein' verbitte ich mir! Kann ja nicht jeder so'n Riese sein.“
 

Dilans Lächeln wird breiter, gefährlicher. Er tauscht Blicke mit seinem Kollegen aus – und unser junger Protagonist ist der Meinung, dass sie sich mit den Blicken ficken, aber das nur am Rande – und dann sagt er: „Aeleus, denkst du nicht, so ein großes Mundwerk sollte bestraft werden?“
 

„Was? Dumme Idee, ganz dumme Idee!“
 

„Eine vortreffliche Idee“, widerspricht ihm Aeleus und man kann sein Grinsen beinahe hören. „Eine Nacht im Kerker hat noch keinem geschadet.“
 

„Oh, von wegen! Da ist es kalt und muffig und verdammt nochmal, Aeleus, lass mich runter!“ Und wie immer, wenn man sich etwas wünschte, sollte man vorher nachdenken, wie genau man seinen Wunsch formuliert. Genau das lernt Braig jetzt nämlich, als er mit der Nase voran im feuchten Gras landet. Und flucht. Und sich murrend aufrappelt, sich den Staub von der Uniform klopft und seinen beiden Freuden noch einmal klarzumachen versucht, dass das wirklich absolut komplett nicht witzig gewesen ist.
 

Ihr Gelächter sagt natürlich etwas anderes. Schließlich schüttelt Dilan den Kopf und seufzt. „Manchmal frage ich mich, was mit dir los ist.“
 

„Im Moment?“ Braig stemmt einen Arm in die Hüfte. „Im Moment bin ich außer Puste und voller Mordgedanken zwei gewissen Gorillas gegenüber.“
 

Das bringt ihm einen leichten Klaps auf den Hinterkopf ein. „Du weißt, wie das gemeint ist. Seit du nicht mehr in der Akademie wohnst, kommst du ständig zu spät und bist unkonzentriert. Und siehst – mit Verlaub – ziemlich beschissen und fertig aus.“
 

„Danke, gleichfalls.“ Braig zuckt mit den Schultern und rückt sein Halstuch zurecht, streicht dabei geistesabwesend über Leder und Metall, das sich eng an seinen Hals schmiegt. „Mir geht es blendend“, sagt er ausweichend. „So blendend, dass ich euch heute Abend beide unter den Tisch saufen könnte.“
 

„Ist das eine Einladung?“
 

Braig gestikuliert gönnerhaft. „Kommt ganz darauf an, ob mich die Herren weiter nerven wollen oder nicht.“ Grinsend geht er an ihnen vorbei – und erinnert sich daran, dass die ganze Geschichte damals ebenfalls in einer Bar begonnen hat.
 

~*~
 

Ein halbes Jahr zuvor trug sich nämlich ein überaus wunderbares Ereignis zu: Braig las. Freiwillig. In einem Buch, das nichts mit seiner Arbeit zu tun hatte. Eine Tatsache, die für Even Anlass war, das Ende der Welt zu prophezeien, und für Dilan, seinen Freund zu fragen, ob er denn krank wäre. Braig rollte nur mit den Augen und fragte zurück, warum sie denn alle so eine große Sache daraus machten. Aber eigentlich war es eine große Sache – oder zumindest eine äußerst befremdliche –, denn Braig brüstete sich doch immer wieder damit, nur dann in seiner Freizeit Bücher zu lesen, wenn auch hübsche, bunte Bildchen daneben gedruckt waren.

Er war in dieser Sache eben nicht wie Even, der – seiner geheiligten Meinung nach – Fachliteratur sogar mit ins Bett nahm oder Aeleus, der nach Feierabend ganze Nächte in der Bibliothek verbrachte und sich durch all die klassischen und hochtrabenden Gedichtbände las. Nein, dass Braig einmal ein Buch anfasste, kam nur selten vor. Aber an diesem Tag hatte er einen guten Grund dazu.
 

Er strich über vergilbte Seiten, zeichnete eng beschriebene Zeilen mit dem Finger nach, um auch ja keines der Worte zu überlesen. Manchmal brauchte er einige Sekunden, um die krakelige Handschrift zu entziffern oder um das, was er gerade gelesen hatte, einen Moment lang sacken zu lassen, es sich begreiflich zu machen, sich vorzustellen. Und manchmal starrte er einfach nur minutenlang auf eine der vielen Zeichnungen, wagte es kaum zu blinzeln oder Atem zu holen, aus Angst, das Buch vor ihm könnte zu Staub zerfallen oder sich vor seinen Augen auflösen.
 

Das, was da vor ihm lag, dieses Wissen, diese Macht, war einfach unbeschreiblich. Und als er die letzten Zeilen der letzten Seite erreicht hatte, fühlte er sich mit einem geheimen Wissen erfüllt, das nur ihm allein dargeboten worden war.
 

Das jedoch nur so lange, bis Dilan ihm von hinten einen leichten, freundschaftlichen Klaps auf die Schulter gab, der in seiner Wucht einer Bärenpranke in nichts nachstand und Braig missmutig das Gesicht verziehen ließ. „Na, mein Alter“, sprach Dilan gut gelaunt und lugte zu dem Buch. „Wo steckst du deine Nase heute wieder rein?“
 

„Nichts Wichtiges.“ Braig versuchte schnell, das Buch aus Dilans Reichweite zu bringen.
 

Leider vergeblich, denn Dilan hatte bereits danach gegriffen, blätterte darin. Erst hoben sich seine Augenbrauen ein Stück, dann noch eines und schließlich sah es so aus, als wollten sie mit seinem Haaransatz verschmelzen. „Seit wann interessiert du dich für alte Legenden?“
 

„Seit geht dich nichts an.“
 

„Sehr unhöflich.“ Dilan schloss das Buch und legte es zurück auf den Tisch. „Dabei wollte ich dir gerade jemanden empfehlen, der dir ein wenig mehr über diesen Unsinn erzählen kann.“Nun war Braig doch hellhörig geworden. Er sah zu seinem Freund hoch, musterte ihn abschätzend und fragend, was Dilan zum Schmunzeln brachte. „Du hast schon von Dr. Cid gehört?“
 

Braig schüttelte den Kopf und Dilan erzählte ihm von dem Historiker und Wissenschaftler, der – zusammen mit seinem Sohn – einige Städte weiter lebte und dort seinen Forschungen nachging.
 

„Tja, dann werd' ich wohl meinen nächsten freien Tag opfern und ihn suchen müssen. Wo genau wohnt er denn?“
 

„Du kannst es auch einfacher haben.“
 

„Ah?“
 

„Er ist alle zwei Wochen im Seven Stars. Das ist eine Bar außerhalb der zweiten Stadtmauer, damit du das weißt.“
 

„Warum kommt er nach Radiant Garden, um in einer Bar zu sitzen?“
 

„Das wirst du sehen, wenn du dort bist.“
 

Warum beunruhigte ihn Dilans Grinsen? Hmm. Wie auch immer. Dr. Cid in einer Bar abzufangen war wirklich einfacher, als sich extra dafür Urlaub nehmen zu müssen und ihn vielleicht unnötig zu verschwenden, wenn er vor verschlossenen Türen stand. „Wann ist er das nächste Mal da, du Lexikon?“
 

„Dieses Wochenende.“
 

Na, das war doch ein richtiger Glückstreffer. Es war nämlich Freitag und das bedeutete, das Wochenende begann in ein paar Stunden.
 

~*~
 

An diesem Abend streifte Braig durch die Stadt, die Hände tief in den Taschen seiner schwarzen Jeansjacke vergraben, das rote Halstuch wie immer um seinen Hals geschlungen, eine Zigarette zwischen den Lippen. Und zwischendurch fragte er sich immer wieder, weshalb Dilan so amüsiert ausgesehen hatte, was so besonders an diesem Schuppen sein sollte, dass man extra dafür anreiste.
 

Nun ja, und dann stand er vor dem Gebäude, sah den Namen neonrot auf schwarz in großen Lettern geschrieben. Und erkannte die Besonderheit.
 

„Oh, das kann doch nicht wahr sein!“, sagte er leise zu sich selbst, war bereits versucht, den Rückweg anzutreten.
 

Denn das Seven Stars war eine gottverdammte BDSM-Bar.

Meet Your Master

Das 'Seven Stars' entsprach in keinster Weise Braigs Vorstellungen und Befürchtungen. Als er – nach einer gefühlten halben Stunde innerlichem Debattieren – endlich allen Mut zusammengenommen und die Tür aufgestoßen hatte, sprangen ihm keine nackten oder in Lack bekleideten Leute entgegen, die ihn fesselten und ihm mit Peitschen, Spielzeugen und Messern Dinge antaten, über die er nicht einmal in seinen kühnsten Alpträumen nachdenken würde.

(Zumindest behauptete er das, aber woher sollte er solche Vorstellungen denn überhaupt haben, wenn er nicht über sie nachgedacht hatte? Ist es nicht immer wieder wunderbar, geschätzter Leser, einen Charakter dabei zu ertappen, wie er nicht nur Euch, sondern vor allem sich selbst belügt?)
 

Nein. Das 'Seven Stars' war eine ganz normale Bar mit ganz normalen Besuchern und ganz normaler Einrichtung. Stühle, Tische, ein bequemes Sofa – und nicht einmal das war aus Lack oder Leder –, die Wände in einem dezenten Beige gehalten. Einzig die Tür in der hintersten Ecke deutete daraufhin, dass es noch etwas anderes in diesem Etablissement gab als gute Drinks und noch bessere Gespräche.
 

Auch die Gäste waren zumindest auf den ersten, zweiten und fünfzigsten Blick ganz normal. Und sympathisch. Immerhin war an diesem Abend der zweite Protagonist unserer Geschichte anwesend; der musste ja sympathisch sein, nicht wahr?
 

Selbigen Protagonisten musste man wohl als das beschreiben, war er war: Ein hormonell gesteuerter Teenager. Einer von der dennoch überraschend introvertierten Sorte, der kein unnützes Wort verlor, der seine Zeit nicht damit verbrachte, sich – wie es so viele Teenager in unserer Zeit tun – zu betrinken und jedem Rock hinterherzulaufen. Und das lag nicht nur daran, dass er nicht auf Röcke stand. Zumindest dann nicht, wenn der Träger weibliche Geschlechtsmerkmale besaß. Auch Männern lief er nicht hinterher, denn er selbst sah sich eher als Raubtier, das geduldig auf der Lauer lag, nur um im entscheidenden Moment blitzschnell zuzuschnappen.
 

Und als an diesem Abend ein schwarzgekleideter Mann zur Tür hereinkam, ein rotes Tuch um den Hals und einen verunsicherten Ausdruck in den Augen, was ihn beides als perfekte Beute auszeichnete, wusste der Jugendliche bereits nach einem kurzen Augenblick, wie er sich an dieses Beutetier heranzupirschen hatte.
 

Braig kam sich dumm vor. Bescheuert. Vollkommen schwachsinnig. Und noch weitere Adjektive fielen ihm ein, die er im Bezug auf sich selbst verwenden könnte. Aber jetzt war das zu späät. Jetzt saß er mit einem Bier in der Hand an einem der vielen Tische und schaute sich überall und nirgends gleichzeitig um. Immerhin wollte er keine Aufmerksamkeit erregen.
 

„Bist du neu hier?“
 

Verdammt. „Was? Nein, ich … “, begann er und wirbelte herum, sah sich schon Auge in Auge mit einem behaarten, klobigen Muskelprotz, der fand, dass Braig wie seine neue „Freundin“ aussah. Die Worte blieben ihm im Halse stecken, als er sah, wer ihm da gegenüber saß.
 

„Du bist ein Kind“, bemerkte er und kam sich dabei unendlich clever vor.
 

Der Jugendliche verdrehte nur die Augen und strich sich eine verirrte Haarsträhne aus dem Gesicht. „Erstens bin ich siebzehn und somit volljährig und zweitens - “ Er grinste Braig an. „ - ist das nur ein weiterer Beweis dafür, dass du wirklich neu bist und von nichts 'ne Ahnung hast.“
 

Braig blinzelte und murrte leise, reckte das Kinn trotzig in die Höhe. „Nur, weil ich finde, dass Kinder um diese Zeit schon ins Bett gehören, hab ich keine Ahnung?“
 

„Es ist gerade mal neun Uhr“, kam die Antwort nach einem kurzen Blick auf die Wanduhr. „Du verzettelst dich nur immer weiter, Mann! Stell dich mir lieber vor, das ist höflicher.“
 

„Braig“, sagte er schließlich nach einem Stoßseufzer. „Ich würde jetzt gerne sagen 'Freut mich', aber das tut es nicht.“
 

Sein Gegenüber lächelte nur. „Mich freut es dafür umso mehr.“ Braig verdrehte nur die Augen. „Ich bin übrigens Isa.“
 

„Was du nicht sagst. Ist das die Kurzform für Isabelle?“
 

Mit einer leichten Genugtuung sah Braig, dass Isas Wangen einen schwachen Rotton annahmen, ehe er ihm zähneknirschend erklärte, dass Isa eine Abkürzung für Isaac war, was Braig allerdings absolut nicht interessierte.
 

„Schön, Isa, erklär' mir mal lieber, wieso du darauf kommst, dass ich hier neu bin? Bin ich der einzige in dem Laden mit heterosexueller Ausstrahlung?“
 

Jetzt war es an Isa, leise zu lachen. Für so ganz grade hielt er Braig nämlich wirklich nicht. Aber selbst, wenn er es doch sein sollte – unwahrscheinlich, aber möglich –, so würde es doch nur noch mehr Spaß machen, ihn mit nach Hause zu nehmen. Isa mochte den Gesichtsausdruck von Männern, die sich für absolut heterosexuell hielten und die er eines Besseren belehren konnte.

Und er war sich sicher, dass Braig eine ähnlich amüsante Reaktion haben würde.
 

„Erstens hast du keinen Schimmer davon, dass hier mindestens so viele Frauen verkehren wie Männer. Zweitens siehst du unendlich verloren aus. Und drittens bezweifle ich, dass das da - “ Und er deutete auf Braigs Halstuch. „ - Absicht ist. Du siehst nicht so aus, als würdest du auf so etwas stehen.“ Er musterte Braig mit kritischem Blick und grinste. „Obwohl ich mich gerne vom Gegenteil überzeugen lasse.“
 

„Auf was stehen?“, fragte er nach und zupfte an seinem Halstuch herum.
 

„Darauf, dir zwei Hände in den Hintern schieben zu lassen oder das bei anderen zu tun.“
 

Braigs Blick war zu einer Maske eingefroren, die irgendwo zwischen Unglauben, Entsetzen und Ekel schwankte, was Isa nur wieder zum Lachen brachte. „Du verarschst mich!“, sagte Braig also nur, der das Lachen auf die falscheste Weise interpretierte.
 

„Willst du's ausprobieren?“
 

Nein. Das wollte er wirklich nicht. Er riss sich das Halstuch ruckartig ab und zerknüllte es, machte Anstalten, es in seine Hosentasche zu stecken.
 

„Würde ich nicht tun“, riet ihm Isa gut gelaunt.
 

„Und warum nicht?“
 

„Je nach Hosentasche bist du entweder nur passiv oder nur aktiv.“
 

Nach einem weiteren angewiderten Blick verschwand das Halstuch in einer Innentasche seiner Jacke und er nahm sich vor, es in den Müll zu werfen, sobald er wieder in der Akademie war.
 

„Schon viel besser“, sagte Isa und schmunzelte weiter. „Und jetzt erzähl mir doch, was du hier suchst.“
 

„Warum sollte ich ausgerechnet mit dir darüber reden?“
 

„Lass es mich so ausdrücken: Solange du dich mit mir unterhältst, symbolisiert das, dass du keinen anderen Gesprächspartner wünschst.“
 

Langsam ließ Braig den Blick über die anwesenden Gäste schweifen und seufzte. Na gut. Die alle sagen auch nicht sympathischer aus. Außer vielleicht dem jungen blonden Mann mit dem Bart hinten in der Ecke. Aber selbst der war bereits in ein Gespräch verwickelt. Er seufzte noch einmal. Wunderbare Aussichten.

„Hör mal“, sagte er schließlich, „ich suche jemanden.“
 

„Das tut fast jeder hier.“
 

„Nein, ich meine, ich suche jemanden Bestimmtes.“
 

„Ach?“ Isa hob die Augenbrauen und stützte das Kinn auf eine Hand. „So spezifisch in deinen Wünschen?“
 

Ach, verflucht, konnte man so dämlich sein? Nun, offensichtlich konnte man. Er trank den Rest seines Glases leer und lehnte sich auf den Stuhl zurück. „Hör zu“, sagte er dann langsam und deutlich, damit selbst das Kind ihn begriff, „ich bin nicht … so.,“
 

„So? Was ist denn so?“
 

Krank, pervers, schwul … die Auswahl an Antwortmöglichkeiten war unbegrenzt.

„Ich bin nicht auf der Suche.“
 

„Eben hast du noch gesagt, du suchst etwas ganz Spezielles.“
 

Ach, scheiße! Machte der das mit Absicht? Sicherlich. So blöd konnte nicht einmal der Knirps da sein. Er bestellte sich noch ein Bier, um sich die Geduld anzutrinken, die er eigentlich im Moment gar nicht besaß. „Ich suche Doktor Cid, weil ich ihm 'ne Frage stellen will, mehr nicht, kapiert? Ich bin weder hier, um jemanden zu ficken noch um mich ficken zu lassen“, sagte er betont, damit es selbst dem letzten Idioten begreiflich gemacht werden könnte.
 

Isa blinzelte einige Male und schmunzelte dann wieder, nickte. „Der Doc ist unten“, erklärte er und deutete mit dem Daumen zu der einsamen und schon die ganze Zeit verdächtig wirkenden Tür. „Der wird sicher noch 'ne ganze Weile beschäftigt sein. Also … “ Der Blick, den er Braig schenkte, gefiel diesem überhaupt nicht. „Da du so lange warten werden musst, können wir doch einfach noch ein wenig plaudern, oder? Erzähl mir von dir. Was machst du so, wenn du nicht gerade aus Versehen in S/M-Bars abhängst?“
 

Sie unterhielten sich lange Zeit und selbstverständlich vernichtete Braig noch einige Drinks – Biere wie bunte, klebrig süße Cocktails – und ebenfalls selbstverständlich war er irgendwann irgendwie überaus angeheitert.
 

Während Isa in sich hinein lächelte und Braig von seiner Arbeit und seinen nervigen Kollegen erzählen ließ, warf er einen Blick auf die Uhr und sah dann bestürzt und mit Unschuldsmiene drein. „Schau nur, wie spät es schon ist! Sieht so aus, als hättest du den Doc verpasst.“
 

Eine Sekunde lang sah Braig Isa nur verdutzt an, bis er in seinem nicht mehr so wirklich nüchternen Zustand begriff, was los war. Dann schaute auch er auf seine Armbanduhr und stieß einen verwirrten Laut aus. Wann zum Teufel war es denn so spät geworden?

„Wunderbar“, murrte er und strich sich durch die Haare. „So spät fahren keine Busse mehr. Das heißt, ich darf laufen. Klasse.“
 

„Von hier zur Akademie? Da bist ja Stunden unterwegs, wenn nicht noch länger.“ Isa schenkte ihm ein Lächeln und legte den Kopf schief. „Was hieltest du davon, heute Nacht einfach bei mir zu schlafen?“
 

Was er davon hielt?
 

Nun ja, man könnte es so ausdrücken: Er wusste selbst nicht, woran es lag – ob jetzt an der Uhrzeit, dem Alkohol oder der Tatsache, dass Isabelle einfach ein richtig schöner Name war –, aber … ja. Er hielt davon viel.
 

Und kam mit.



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Kommentare zu dieser Fanfic (3)

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Von:  Lumaria
2010-02-24T16:16:53+00:00 24.02.2010 17:16
hmmmmm kommt da noch mehr?
ich hoffe doch...
das gefällt mir.. da sgefällt mir sehr~
Von:  -Anele-
2009-12-27T10:47:12+00:00 27.12.2009 11:47
Ich muss dir jetzt mal ein dickes Kompliment zu diesem Schreibstil aussprechen. "Wir sehen zu" "Helden sollten wir ihn nicht nennen"- das macht doch mal richtig Lust auf mehr. Sehe, sehr schön!!

Das Pairing ist Liebe!!^^ Die beiden passen toll zusammen und ich freu mich sehr auf die Fortsetzung.
Lieben Gruß und guten Rutsch ins neue Jahr!
-Anele-
Von:  Flaire
2009-12-26T22:04:49+00:00 26.12.2009 23:04
Das hat man nun davon, wenn man fragt, woran Ange schreibt. Man wird gleich weiterverlinkt. ^.^

Die Schreibweise kannte ich von dir glaub ich noch nicht. Ich meine so aus der Erzählersicht. Für den Prolog aber sehr passend, wie ich finde.

Zum Schreibtechnischen brauch ich sicherlich nichts mehr sagen, da du mit Sicherheit weißt, dass sie einfach nur fantastisch ist und mir immer wieder aufs neue Spaß macht zu lesen.

Braig hat aber ganz schönen Respekt vor dem noch 'Unbekannten'. Bin mal gespannt wie es zu diesem kam. Denn solch eine Ehrfurcht hatte ich ihm ehrlich gesagt nicht erwartet.
Noch, dass du ihn mehr oder weniger verukst - zumindest wirkt es hier so auf den ersten Blick bzw. Eindruck.

Also da du mich schon mal hierher geschickt hast, hab ich mir gedacht, ich lass gleich mal ein kleines Kommi da.

Ach ja noch was.

ERSTE!!! XDDD


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