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Via Inquisitoris

von

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Prolog

Nach zwölf Krimigeschichten im Inuyashafandom wollte ich mich einmal in einer anderen Kultur versuchen, die ich allerdings erfunden habe.

Ich hoffe, auch dieser Krimi findet eure Zustimmung, auch, wenn ganz sicher keine Romanze vorkommt...
 

1. Prolog
 

Die Bibliothek zeugte von der Sammelleidenschaft des Hausherrn. Aber keine der fünf Personen um den Tisch hatte einen Blick für die kostbaren Folianten an den Wänden. Schon seit fast einer halben Stunde herrschte Schweigen am runden Holztisch. Immer wieder glitten die Blicke der vier Männer und der einzigen Frau über die Zeitungen, die auf der Platte lagen. Schreiend verkündeten die Überschriften die schreckenerregenden Skandale der letzten Tage:

„Blutleere Frau beim Picknick – Freunde verschwunden!“

„Ganze Familie gnadenlos ausgelöscht – ohne Blut! Vampire in Edinburgh?“

„Das Rätsel der Blutsauger!“

„Wieder ein Vampir-Mord! - Was unternimmt die Polizei?“
 

Die dunkelhaarige Frau richtete sich auf und zupfte die Spitzen an den Ärmeln ihres altmodisch wirkenden Kleid ein wenig zu Recht: „Wir haben nun fast die gesamte Nacht hier gesessen und nachgedacht. Aber es gibt eigentlich nur wenige Möglichkeiten, die uns noch offen stehen. Wir müssen etwas unternehmen.“

„Meine liebe Catriona, da sind wir uns einig. Wir Vampire leben seit Jahrtausenden mit den Menschen – und wir sind mit unserer Taktik der Unauffälligkeit immer gut gefahren. Solch eine Pressehatz auf uns – oder eher, jemanden, der uns nachmacht, können wir nicht hinnehmen. Das ist gegen unsere ureigensten Regeln.“ Der Sprecher trug Kilt, die herkömmliche schottische Tracht. Er war der einzige Mann der Runde, der die Haare kurz geschnitten hatte.

„Natürlich, Gordon, darüber waren wir uns schon vor Stunden einig. Die Polizei hat jetzt einen Vampirjäger, einen Parapsychologen, angestellt. Niemand natürlich, der uns wahren Vampire schaden könnte, aber dennoch…es könnte die Jagd deutlich erschweren.“

„Das hat es doch schon. Diese Ausgangssperre…“ wandte ein Dritter ein: „Überdies könnte uns der Hohe Rat fragen, warum wir nicht vorher etwas mitbekommen haben.“

„Das wäre nur der Fall, wenn es sich bei dem Täter um einen von uns oder einen unserer Schüler, unserer Kinder, handeln würde. Und das glaube ich nicht.“ Der Hausherr richtete sich auf: „Es muss sich entweder um einen Menschen handeln, der glaubt, ein Vampir zu sein und dabei über Leichen geht – oder aber um einen Fremden. Wir fünf sind die einzigen Vampire in Schottland, natürlich mit unseren Schülern, aber ….nun, wir kennen uns alle seit Jahrhunderten, und ich bezweifle wirklich, dass einer von uns auf so eine verrückte Idee kommen würde. Allerdings ist nicht gesagt, dass diese Mordserie nun aufhören wird. So oder so müssen wir den Hohen Rat aller Vampire informieren – wenn sie es nicht sowieso schon wissen. Die Nachrichten in ganz Europa waren voll davon.“

„Sir Angus…“ warf einer anderer ein: „Dir ist klar, wenn wir den Hohen Rat informieren, wird er selbst Ermittlungen gegen uns einleiten. Schön, wir haben nichts zu verbergen, aber den Inquisitor in der Gegend, ja, auf dem Hals zu haben…“

„Das weiß ich, Ronald. Ich bin ihm einmal begegnet.“ Und da alle etwas erstaunt den Hausherrn ansahen: „Es war kurz vor der französischen Revolution. Unser „Vater“ nahm mich damals allein mit nach Rom, wie ihr euch wohl erinnert. Er hatte ein Treffen mit einer Vampirin namens Donna Inanna. Sie war - und ist - Ratsmitglied. Einer so alten und mächtigen Frau bin ich nie zuvor und nie nachher begegnet. Ich weiß nicht, was unser Meistervater damals von ihr wollte, bei dem Gespräch war ich nicht zugegen, aber wir trafen sie später ein wenig außerhalb von Rom. Sie nutzte da ein Anwesen, das einem anderen gehörte. Unser „Vater“ fragte sie eher beiläufig, ob sie nichts dagegen hätte, hier zu wohnen und sie zuckte die Schultern. Der Kadash sei ein reizender Gastgeber. Ich konnte mit diesem Begriff damals nichts anfangen, aber als er kam…“ Sir Angus sah in die Runde: „Er kam und ich spürte die Macht von Jahrtausenden. Selbst Donna Inanna war dagegen ein Nichts. Keine Chance, war alles, was ich noch denken konnte. Sie hatte wohl bemerkt, wie er auf mich wirkte, denn sie sagte, und das habe ich nie vergessen: mein Junge, ein wahrer Vampir tötet nicht. Weder seine Nahrungswesen noch einen Artgenossen. Um unser aller Frieden zu wahren ist es jedoch notwendig, Vampire, die verrückt werden und Gebissene schaffen, zu töten. Der Kadash ist derjenige von uns, der allein diese Blutschuld trägt. Darum spürst du den Schauer, wenn du ihn triffst. Aber sei ihm dankbar, denn er erspart uns allen viel Leid.“

„Wie sah er aus?“ erkundigte sich Catriona neugierig.

„Er war dunkel, dunkel die Haut, die Haare. Mehr weiß ich nicht mehr. Alles ging unter in dieser unglaublichen Ausstrahlung der Macht. Ich glaube, er ist wohl der älteste Vampir, der sich noch nicht zurückgezogen hat.“

Die anderen nickten. Es geschah immer wieder, dass sich mächtige Vampire aus den Händeln der Welt zurückzogen, um in der Einsamkeit ihren weiteren Studien nachzugehen. Natürlich, sobald sie keine Schüler mehr hatten, die der Lenkung bedurften. Auch ihr Meister hatte dies getan. Sie wussten nicht, wo er nun lebte. Es war verpönt, den Wunsch nach Einsamkeit zu ignorieren.

Sir Angus fuhr fort: „Dann schreiten wir zur Abstimmung. Catriona McKenzie, für dich und deine Schüler:.?“

Sie nickte: „Für mich und Archibald und James. Wir informieren den Hohen Rat.“

„Gordon MacGregor? Für dich und deine Schüler?“

„Einverstanden. Für mich, Arthur, Henry und Eleanor.“

„Sir Ronald McDonald? Für dich und deine Schüler?“

„Ich habe in der Tat Bedenken, den Inquisitor zu rufen. Aber ich sehe keine Alternative. Einverstanden. Für mich, Margaret, Mary und Charles.“

„Henry Stuart? Für dich und deine Schüler?“

„Wir werden sehen, ob der Inquisitor überhaupt von Nutzen sein kann. Wenn es ein Mensch ist oder mehrere Menschen sind, die diese Morde begangen haben, wird er kaum mit der Polizei zusammenarbeiten. Ist es allerdings ein ortsfremder, verrückt gewordener Vampir, wäre es sicherlich sinnvoll, auch unsererseits Ermittlungen anzustellen. Nun gut. Einverstanden. Für mich, Michael, Edward und Christopher..“

„Danke. Und ich, Sir Angus Douglas, stimmt ebenfalls mit „einverstanden“, für mich und meine Schüler: Frances, Thomas und Neville. – So werde ich die Taube abgehen lassen. Ich weiß nicht, wo sich der Hohe Rat der Vampire im Moment befindet, aber es mag sein, dass es Tage braucht, ehe der Inquisitor eintreffen kann. Ich möchte daher euch allen und euren Schülern die Gastfreundschaft meines Hauses anbieten.“

Die anderen vier neigten dankend die Köpfe.

Henry Stuart meinte jedoch: „Ich erkenne dein Angebot an, auch, wenn es wohl ein wenig beengt werden dürfte. Das größere Problem dürfte die Nahrung sein. Soweit ich weiß, herrscht hier in Edinburgh im Moment Ausgangssperre von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang.“

„Ja“, erklärte Sir Ronald: „Die Menschen gehen eben fälschlicherweise davon aus, dass wir uns wie dieser jämmerliche Abschaum von Gebissenen verhalten würden und im Sonnenlicht sterben.“ Sonne war unangenehm, zu lange verursachte sie Brennen auf der Haut, schlussendlich einen Sonnenbrand, wenn man sie nicht gewohnt war, aber sie brachte keinen wahren Vampir um.

„Wir sind einstweilen nicht auf die Jagd angewiesen, meine Freunde“, meinte der Hausherr: „Für eine solche Situation habe ich mir auf gewissen Umwegen Blutkonserven verschafft.“

„Frances?“ fragte Catriona mit gewissem Lächeln: „Deine Schülerin wird sehr nützlich.“

„Ja. Womöglich ist es manchmal sehr gut, mit der Zeit zu gehen. – Dann bitte ich euch, eure Schüler entsprechend zu informieren. Ich werde es auch tun und den Brief an den Hohen Rat schreiben.“
 

Zwei Tage später war der Inquisitor in Edinburgh.
 

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Im nächsten Kapitel beginnen also die Ermittlungen.
 

bye
 

hotep

Edinburgh: die erste Nacht, Teil 1

Die Ermittlungen beginnen mit einer Überraschung
 

1. Edinburgh: die erste Nacht, Teil 1
 

Als es an der Tür von Douglas Manor am Stadtrand von Edinburgh klingelte, hoben die Personen, die im Arbeitszimmer des Hausherrn saßen ebenso die Köpfe, wie diejenigen in der Bibliothek. Die Sonne war soeben untergegangen und sie erwarteten unangenehmen Besuch.

Frances, ein „Kind“ des Hausherrn, erhob sich sofort und ging zur Tür. Sie hatten bereits die Erfahrung gemacht, dass eine junge Frau auf Menschen, die sich bis zu Douglas Manor verirrten, harmlos wirkte, sich auch niemand wunderte, warum sie ihn nicht hereinbat. Sie schien gerade über Zwanzig zu sein.

Sie öffnete dennoch etwas angespannt. Kam der Inquisitor? Zu ihrer Überraschung stand eine junge Frau ihres Alters vor der Tür, deren blonde lange Haare und blaue Augen sie fast engelhaft aussehen ließen. Die Kleidung war die einer menschlichen Frau der heutigen Zeit. Aber die schottische Vampirin erkannte, dass sie einer Artgenossin gegenüberstand.

„Ja, bitte?“ entfuhr es ihr etwas unhöflich, aber zu mehr war sie nicht fähig.

„Mein Name ist Lady Sarah Buxton. Ich möchte zu Sir Angus Douglas.“

Frances starrte auf die Hand der Besucherin, wo sich eine silberne Plakette befand. Das Zeichen darauf kannte sie eigentlich, zwei Hände, die sich wie schützend über etwas wölbten, umrahmt von belaubten Zweigen: das Zeichen des Hohen Rates. Doch diesmal waren die Hände zur Faust geballt. Es bedufte keines großen Nachdenkens, um zu wissen, dass diese Vampirin im Auftrag des Inquisitors gekommen war.

„Natürlich“, sagte sie darum hastig: „Mein Name ist Frances. Frances Douglas. Ich bin das „Kind“ von Sir Angus. Bitte, folgen Sie mir, Lady Buxton.“

„Lady Sarah, bitte“, korrigierte diese automatisch. Sie hatte ihren Titel ererbt, nicht erheiratet, so stand er bei ihrem Vornamen.

„Verzeihung.“ Frances schloss die Tür hinter der Besucherin, ging aber an ihr vorbei, als sie wartete, wie es die alte Höflichkeit gebot: „Darf ich bitten?“ Was war wohl geschehen, dass nicht der Inquisitor selbst kam, sondern der Hohe Rat jemand anders schickte? Fanden die mächtigsten Vampire das Geschehen in Edinburgh nicht wichtig?

Sarah betrachtete interessiert das alte Anwesen. Fast wie zuhause, dachte sie unwillkürlich. Als sie an der Bibliothek vorbeikam, erkannte sie durch den Türspalt neugierige Blicke der über zehn zumeist blonden Anwesenden dort. Sir Angus hatte wohl dafür gesorgt, dass sich alle schottischen Vampire im Augenblick hier aufhielten. Das würde ihren schweren Auftrag doch erleichtern. Wenigstens etwas.
 

Im Arbeitszimmer erhoben sich alle Fünf, als Frances „Lady Sarah Buxton“ ankündigte, überrascht und besorgt zu gleich. Sie hatten mit dem Inquisitor gerechnet. War das jetzt eine andere Nachricht vom Hohen Rat? Eine Ablehnung?

Sarah verneigte sich höflich. Sie wusste, dass sie bei weitem von den hier Anwesenden die jüngste Vampirin war, von der Zeit der Verwandlung gerechnet. Und unter Vampiren galt das Alter viel, zeigte es doch die magische Macht und die Fähigkeiten an.

„Lady Sarah“, meinte Sir Angus: „Willkommen in Douglas Manor. Mein Name ist Sir Angus Douglas. Ich nehme an, dass Sie im Auftrag des Hohen Rates gekommen sind?“

„In der Tat.“ Sarah wusste, dass dies eine verdeckte Aufforderung war, sich zu legitimieren und wies erneut die Plakette vor. Sie bemühte sich, kühl und selbstsicher zu wirken.

„Sie sehen uns ein wenig überrascht, Lady Sarah. Wir…nun, ich bin dem Kadash vor langen Jahren einmal begegnet. Ich hätte nicht erwartet, dass er …dass er eine Schülerin hat.“ Hoffentlich war das keine Beleidigung.

„Oh, das bin ich auch nicht.“ Sarah lächelte ein wenig. Wie stets unter Vampiren offener, als wenn Menschen zugegen waren. Immerhin trug hier jeder Fangzähne. „Ich habe nur einen Auftrag.“ Sie erkannte durchaus, dass ihre Gegenüber ebenfalls in Anbetracht der neuen Situation etwas angespannt waren.

„Gut. Wie können wir Ihnen helfen?“

Sie warf einen raschen Blick in die Runde: „Soweit ich weiß, beunruhigt eine seltsame Mordserie Sie alle. Ich...mein Auftrag lautet, möglichst viele Informationen darüber zu beschaffen. Es wäre sehr freundlich, wenn ich mit jedem von Ihnen einzeln sprechen könnte. Womöglich fiel einem etwas auf, was einem anderen entging.“

„Engländerin!“ murmelte Henry Stuart – und das war nicht als Kompliment gemeint.

Sarah neigte ein wenig den Kopf schräg. Sie musste mit auftauchenden Schwierigkeiten sachlich umgehen können, oder sie würde versagen – mit allen Konsequenzen für sie selbst. So meinte sie nur: „In der Tat. Sollte das für Sie eine Schwierigkeit darstellen? Es geht immerhin um unser aller Volk.“

„Natürlich“, sagte Sir Angus eilig. Wenn der Kadash so freundlich gewesen war, hier nicht selbst einzutreffen, musste das auch nicht dadurch passieren, dass man seine Mitarbeiterin beleidigte. „Bitte, meine Freunde…Lady Sarah, bitte, nehmen Sie hier Platz.“ Als die anderen vier das Arbeitszimmer verlassen hatten, setzte sich der Hausherr und betrachtete seinen jungen Gast. Sie schien Anfang Zwanzig zu sein, aber sie war gewiss älter. Schon, weil sie sonst keinen derartigen Auftrag bekommen hätte. Nun, auch Frances sah so jung aus und hatte mittlerweile bereits mehr als hundertzwanzig Jahre seit ihrer Verwandlung erlebt. Das Aussehen blieb immer gleich. „Wie kann ich Ihnen helfen?“

Sarah hatte ihrerseits ihren Gastgeber gemustert. Er trug wie viele männliche Vampire den Gehrock des 19. Jahrhunderts, altmodisch genug, um sich darin wohl zu fühlen und doch einigermaßen der heutigen Zeit angepasst. Seine langen, dunklen Haare schienen die Mode einer noch früheren Zeit widerzuspiegeln. Tatsächlich hatte sie unter den fünf schottischen Meistervampiren nur einen Mann mit kurzen Haaren entdeckt. Ob das wohl einen besonderen Grund hatte? Aber das ging sie soweit nichts an: „Es geschahen Morde an Menschen. Die Opfer waren vollkommen blutleer und eine gewisse Hysterie brach unter den Menschen aus, die auch die wahren Vampire beeinträchtigt. Was genau ist passiert?“

„Vor zwölf Tagen gingen vier Menschen zu einem abendlichen Picknick bei dem großen Hollyrood Parc beim Schloss von Hollyrood House“, fügte er freundlich für die Ortsfremde hinzu: „Keiner kehrte zurück. Man fand die Leiche der jungen Frau vollkommen blutleer, die der drei jungen Männer waren verschwunden. Ich weiß nicht, ob sie sie inzwischen gefunden haben, aber es stand nichts in der Zeitung. Vor acht Tagen wurde die Familie von Lord Tuyston ermordet, Eltern und zwei Kinder, alle wiederum vollkommen blutleer. Und vor vier Tagen die Familie von Sir Gerald Minor. Wieder vier Menschen. – Das ist es ja, was uns so alarmierte.“

„Das heißt, in dieser Nacht wäre erneut ein Mord an der Reihe, wenn sie sich an das bisherige Schema halten.“ Sarah nickte etwas: „Aber das deutet doch darauf hin, dass es sich nicht um einen Vampir handelt. Ein Mensch hat gegen fünf Liter Blut. Schon einen vollkommen leer zu trinken überansprucht unsereins gewöhnlich, geschweige denn, vier oder fünf.“

Der Hausherr und älteste Vampir in Schottland war ein wenig beruhigt, dass die junge Frau so rational an diese peinliche Angelegenheit heranging. Aber wenn sie für den Inquisitor arbeitete, würde sie sicher auch über entsprechende Fähigkeiten verfügen. „Ja. Darum sahen wir nur zwei Möglichkeiten. Erstens: Menschen gehen gegen Menschen vor. Sie wissen schon, diese Verrückten, die sich auf Friedhöfe herumtreiben und glauben, Vampire zu sein. Und die andere Möglichkeit: ein wahrer Vampir war so toll, Gebissene zu erschaffen, die sich nun über die Menschen hermachen. Das glaube ich persönlich weniger. Immerhin zeichnet sich dieser Abschaum von Gebissenen durch ihren unstillbaren Blutdurst aus. Sie würden kaum drei oder vier Tage ohne jede Nahrung auskommen.“

Sarah nickte erneut: „Sie sehen das recht nüchtern, Sir Angus. – Frances sagte, sie sei Ihr „Kind“?“

„Ja. Ich habe drei. Neville ist der älteste meiner Schüler...nun, seine Verwandlung liegt am längsten zurück. Frances ist seit gut hundertzwanzig Jahren Vampir und der jüngste, Thomas, seit 1924.“

„Oh, dann sind Frances und Thomas ja noch in den kritischen Jahren.“ So nannten Vampire die Zeit, die bei jedem ungefähr fünfzig bis achtzig Jahre nach der Verwandlung einsetzte, wenn ihnen bewusst wurde, dass sich vor ihnen Jahrhunderte, Jahrtausende des Lebens dehnen würden, die gefüllt werden wollten. Das war die Zeit, in der die Meister gefordert waren, ihren Schützlingen ein sinnvolles Leben aufzuzeigen. In der Regel war diese Phase, je nach Temperament, gute hundertzwanzig bis hundertfünfzig Jahren nach der Verwandlung abgeschlossen.

„Frances hat es bereits hinter sich. Sie entdeckte den Reiz der modernen Welt.“ Sir Angus lächelte mit gewissem Stolz: „Sie beschäftigt sich sehr viel mit diesem Computer. Was sich als recht nützlich erweist. Sie hat gewisse Fähigkeiten entwickelt, die erstaunlich hilfreich sind. – Thomas, ja, er ist noch sehr in der Fragephase. Er ist sehr weich, sehr labil und braucht viel Unterstützung. Wenn Sie mit ihm sprechen, wird er Ihnen gewiss auch Fragen zum Vampirleben anderswo stellen.“

„Ich werde ihm antworten.“ In dieser Zeit brauchte ein Vampir jede Unterstützung, die ihm ältere geben konnten. „Ist von den anderen auch noch einer in den kritischen Jahren?“

„James McKenzie, der jüngere Schüler der beiden von Catriona. Aber das wird sie Ihnen sicher noch selbst sagen. – Lady Sarah, eine Warnung. Henry….Henry Stuart und seine drei Schüler sind fanatische Schotten, Sie werden es Ihnen nicht einfach machen. Sicher, Sie werden den Hohen Rat nicht brüskieren wollen, aber sie werden Ihnen auch nicht helfen. Sie haben alle vier in den Kriegen gegen Engländer gekämpft.“

„Danke für die Warnung, Sir Angus.“ Sarah unterließ es höflich darauf hinzuweisen, dass es hier nicht um Engländer oder Schotten oder gar irgendwelche vergangene Kriege ging, sondern schlicht um die Tatsache, wer hinter den Morden steckte. War dies ein Vampir, der es gewagt hatte, Gebissene zu erschaffen, musste er sterben – und ebenso die unglücklichen Menschen, die er so verunstaltet, ja, in alle Ewigkeit verdammt hatte. „Gibt es noch jemanden, bei dem ich behutsam sein müsste?“

„Ich kenne die Schüler nicht so genau…das kann Ihnen sicher der jeweilige Meister sagen.“

„Natürlich. Danke. – Oh, eine Frage hätte ich noch.“

„Nun?“

„Ich…Frances ist Ihr „Kind“, aber Sie haben auch zwei männliche Schüler. Mistress Catriona hat dagegen zwei männliche „Kinder“.“ Sie war sich nicht ganz sicher, wie die richtige Titulatur lautete, so wählte sie die altmodische.

Sir Angus nahm das zur Kenntnis: „Ja, ich bin mir im Klaren darüber, dass das ungewöhnlich ist. Gewöhnlich nimmt man Menschen aus seinem eigenen Geschlecht. Aber bedenken Sie, dass Schottland noch nie sehr dicht besiedelt war. Und schon gar nicht nach dem 18. Jahrhundert. Die Landlegungen schickten auch Kandidaten für Vampire in die USA. – Ronald, Sir Ronald MacDonald, hat zwei weibliche Schülerinnen, und einen männlichen. Ich bin mir bewusst, Lady Sarah, dass Sie nur Informationen sammeln sollen. Wir sind alle sehr beunruhigt und würden uns über eine rasche Aufklärung freuen.“

„Sie sind sich also sicher, dass es niemand Ihrer Freunde oder deren Schüler ist?“

„Ja.“ Sir Angus war definitiv:

Sarah lächelte ein wenig: „Natürlich. Sonst hätten Sie ja auch kaum den Hohen Rat informiert.“ Oder das genau deswegen getan, um von sich oder den anderen abzulenken. Aber sie musste behutsam sein, bis sie wusste, wer hier was war. „Ich würde dann gern mit allen Meistern sprechen…einzeln, natürlich.“

„Ich verstehe. – Wann müssen Sie Bericht erstatten? Oh, nicht, dass ich Sie loswerden möchte, Lady Sarah, meiner Treu! Ich möchte Ihnen nur ein Zimmer für den Tag anbieten. Und natürlich unsere Mahlzeiten. Frances, ich erwähnte es bereits, kennt sich mit dem Computer aus und hat uns einige Beutel aus der Blutbank abgezweigt, so dass eine Jagd derzeit nicht erforderlich ist. Wir wollten keine unnütze Aufmerksamkeit auf uns lenken.“

„Ich danke Ihnen, Sir Angus. Das war sicher eine weise Entscheidung.“ Wie auch immer Frances das gemacht hatte.

„Ich…kommen Sie. Ich werde Ihnen ein Zimmer für Ihre Unterhaltungen zur Verfügung stellen. Darf ich Sie etwas fragen….Haben Sie den Kadash, den Inquisitor, je zu Gesicht bekommen?“

„Ja.“ Mehr wollte und sollte sie dazu wohl nicht sagen.

Sir Angus nickte nur. Wenn sie nicht verschwiegen gewesen wäre, hätte sie einen derartigen Auftrag gewiss nie bekommen.
 

Er begleitete Lady Sarah zu einem kleinen Arbeitszimmer und ging, um Catriona McKenzie zu holen.

Sarah trat zu dem Kamin und hielt die Hände an das Feuer, eine Gewohnheit aus Menschentagen, die sie noch immer nicht hatte ablegen können. Aber sie war nervös. Dieser Auftrag war ihre erste große Prüfung, und sie konnte nur hoffen, dass sie keinen Fehler beging. Im Hohen Rat waren durchaus einige nicht begeistert gewesen, dass sie ihn erhalten hatte – nun, dachte sie, diese Vampire waren überhaupt nicht begeistert, sie noch am Leben zu wissen. Aber die Fürsprecher hatten sich durchgesetzt: solange sie keinen Verstoß gegen die Regeln beging, Menschen oder gar Vampire tötete, oder das Volk sonst wie schädigte, gab es keinen Grund, sie umzubringen. Gleich, welche eigenartige Fähigkeit sie besaß. Und gleich zweimal nicht, wenn diese dem gesamten Volk nutzen könnte. So hatte ihr der Rat dies anvertraut – auf Probe.

Sie drehte sich um, als die schottische Meistervampirin eintrat. Ihr bodenlanges, geschnürtes Kleid war mit Spitzen besetzt.

„Setzen wir uns doch…“ Catriona lächelte: „Ich sehe, Sie tragen moderne Kleidung, Lady Sarah. Ist dies in London heute unter den Vampiren üblich?“

„Nein. Viele tragen, ebenso wie Sie, die…gewohnte Kleidung aus der Zeit ihrer Verwandlung. Aber ich kam mit dem Nachtexpress her und wollte unauffällig unter Menschen reisen.“

„Ich war noch nie in London. Obwohl ich zugeben muss, ich wäre gern dorthin gefahren, als unser König, ich meine James Stuart, dort gekrönt wurde. Aber das ging eben nicht. Damals waren die Verkehrsmittel ja auch noch bei weitem nicht so schnell.“ Ehrliches Bedauern lag in ihrer Stimme.

Das war 1603 gewesen, entsann sich Sarah. Wie lange Catriona wohl schon Vampir war? Aber es galt für unschicklich, danach zu fragen, auch nach dem Leben, das man vorher als Mensch geführt hatte. So nickte sie nur: „Ja, das ist ein eindeutiger Fortschritt. – Sie können mir nicht viel zu den Morden sagen?“

„Nein. Ich bin mir allerdings sicher, dass es niemand meiner…guten alten Bekannten oder einer unserer „Kinder“ war. Ich persönlich glaube an einen Menschen.“

„Ein Mensch, der so viele andere tötet?“

In der Schottin tauchte die Erinnerung an ihren eigenen Vater auf, den Tod ihrer Schwester in den Flammen, den so vieler andere, aber sie war geübt in der Verdrängung: „Nun, glauben Sie mir, Lady Sarah – ich habe schon viel gesehen, was Menschen einander antun können. Und es ist wirklich nicht schwer, einen Menschen zu töten.“

Sarah unterdrückte gerade noch ihre Frage, ob sie da aus Erfahrung spreche. Was auch immer Catriona zu ihrer Menschenzeit getan hatte, ging niemanden mehr etwas an. „Sie denken also nicht, dass es ein ortsfremder Vampir sein könnte?“

„Ich würde keinen Nutzen darin sehen. Wir fünf haben uns Schottland aufgeteilt, ja. Und viel mehr Vampire als wir und unsere Schüler in einem so dünn besiedelten Land würde gegen die Regel der Unauffälligkeit verstoßen. Was hätte ein Fremder davon? Und – warum sollte er nicht zu Sir Angus als dem Ältesten gehen und mit ihm einfach reden?“

„Und um Wohnrecht ersuchen, natürlich. – Ich möchte später auch noch mit Ihren „Kindern“ sprechen.“

„Ja. Ich verstehe. Ich glaube zwar nicht, dass sie Ihnen etwas mitteilen können, aber Sie müssen natürlich Ihren Auftrag erfüllen. James…nun, James ist gerade noch in den kritischen Jahren. Wäre es Ihnen möglich, das zu berücksichtigen?“

„Selbstverständlich.“

„Danke, Lady Sarah. Wie gesagt, ich denke nicht, dass es einer von uns fünfen war. Und ich glaube auch nicht einer der Schüler. Wir haben sie sorgfältig ausgesucht. Für meine beiden würde ich sogar die Hand ins Feuer legen.“ Catriona bemerkte das flüchtige Lächeln der Besucherin: „Haben Sie so etwas schon gehört und es stimmte nicht? James ist Künstler. Er hat immer schon gern gezeichnet, gemalt, statt sich um „männliche“ Sportarten zu kümmern. Für den Sohn eines Baronets zu Zeiten Königin Viktorias war das ziemlich… unangebracht. Er hatte erhebliche Probleme mit seinem Vater, zumal er nicht zur Armee wollte. Archibald dagegen ist einfach nicht in der Lage zu töten. Weder bei Jagd noch Sport. Das brachte ihm den Verstoß durch seinen Vater ein. Und machte ihn zu meinem „Kind“, als er hörte, dass wir niemals töten. Sie sehen…“

„Ich verstehe. Danke für Ihr Vertrauen.“

„Ich hoffe, Sie werden es nicht weitererzählen.“

„Nein. Alle diese Gespräche sind vertraulich. Darf ich Sie bitten, mir den Rangnächsten hereinzuschicken?“ Also den, dessen Verwandlung kürzer zurücklag.

„Das ist Gordon. Gordon MacGregor.“

„Danke.“
 

Kurz darauf kam dieser. Sarah musste sich zwingen, nicht zu auffällig seine schottische Kleidung zu betrachten, den Kilt, das gleichfarbig karierte Tuch, das er um sein Hemd geschlungen trug. Soweit sie wusste, konnte man an dem Karomuster, dem Tartan, den jeweiligen Clan erkennen. Und obwohl Sir Angus gesagt hatte, Henry Stuart und seine Schüler seien fanatische Schotten, so war doch Gordon der einzige der Meistervampire, der die hergebrachte Mode trug. Und er war der Einzige, der seine blonden Haare kurz geschnitten hatte.

Er setzte sich unaufgefordert, deutliches Zeichen, dass er sich für älter und damit ranghöher hielt. „Nun, was wollen Sie wissen, Lady Sarah?“ Er klang nicht unfreundlich. Diese Affäre musste so rasch es ging enden. Und wenn der Inquisitor sich erst einmal nur berichten ließ, war das sein gutes Recht. Vermutlich bekam er oft Meldungen, die sich als nicht relevant herausstellten. So schickte er nur Mitarbeiter, um erst einmal vor Ort zu prüfen.

„Glauben Sie an Menschen, die diese Morde begingen?“

„Ja. Aus zwei Gründen. Wir fünf kennen uns seit langen Jahrhunderten. Würde einer von uns das Anzeichen dieser Verrücktheit zeigen, Gebissene zu erschaffen, hätten das alle anderen bereits mitbekommen. Unsere Schüler werden und wurden sorgfältig ausgesucht und niemand hat mehr als die vom Hohen Rat empfohlene Zahl von dreien, so dass wir sie gut überprüfen konnten.“

„Und ein ortsfremder Vampir, der eine neue Heimat sucht?“

„Das würde natürlich gegen die Regeln verstoßen. Zum einen wäre es üblich anzufragen, nicht wahr? Zum anderen: kein wahrer Vampir, der seine sechs Sinne beisammen hat, begeht solche auffälligen Massaker. Überdies, aber das dürften Sie wissen, Lady Sarah, würde es niemandem von uns gelingen, diese Unmengen an Blut zu trinken. Nein. Ich tippe auf diese verrückten Menschen, die immer häufiger werden, seit gut hundert Jahren, die sich für unsereins halten. Und nur Menschen morden sinnlos.“

„Danke, Mr. MacGregor. Sie sehen das sehr nüchtern.“

„Ich nehme an, Sie haben von meiner Vergangenheit gehört?“

„Selbstverständlich nicht!“ Sarah war fast entsetzt.

Also hatten sich Angus und Catriona an ihre eigenen Dinge gehalten. Nun, eigentlich hatte er das auch erwartet: „Das freut mich. – Ich war …auch nach meiner Verwandlung…sehr an anderen Ländern interessiert. Und so ging ich zur Marine der…hm…schottischen Majestät. Ich trug Jahrhunderte Uniform. Darum liebe ich nun auch diese Kleidung. – Aber in diesen Zeiten habe ich viele Länder, aber auch viele Kriege der Menschen gesehen.“

„Das denke ich mir.“

„Und gerade an Bord der Schiffe habe ich gelernt, dass man alles nur nüchtern betrachten kann, sollen alle überleben. Auch Angus hat dies gelernt…Manche von uns sind noch emotioneller.“ Er brach abrupt ab, aber da Sarah nicht nachfragte, fuhr er etwas beruhigter fort: „Sie werden sicher auch noch mit unseren „Kindern“ reden wollen? Arthur ist bereits ein wenig unwirsch – er muss in drei Tagen auf sein Schiff. Er kommt sehr nach mir.“ Etwas wie Stolz lag in der Stimme des Meistervampirs: „Er will andere Länder sehen, andere Kontinente. Er hat nun auf einem Containerschiff angeheuert. Natürlich sind das viel kürzere Liegezeiten als zu meiner Zeit, aber er wird dennoch die Welt sehen können. Mein anderes „Kind“ ist Henry. Auch ihn habe ich wohl angesteckt, aber er will nur mit dem Finger reisen. Er sammelt Landkarten, schon seit Jahrhunderten. Ich denke, da würde ihn manche Bibliothek beneiden. Und das jüngste „Kind“ ist Eleanor. Sie ist noch in den kritischen Jahren. Ich nahm sie zu mir, als sie….ihre Eltern stammten aus Irland und flohen nach dem niedergeschlagenen Osteraufstand nach Glasgow. Sie starben und...nun, ich traf sie. Sie ist allerdings auf dem besten Weg, die kritischen Jahre zu überstehen. Sie hat ein großes Interesse am Meer entdeckt, allerdings, was die Tiere dort betrifft. Sie will demnächst tauchen lernen und Meeresbiologin werden.“

„Das ist sehr schön.“ Sarah lächelte. Gordon MacGregor hatte wohl allen seinen Schützlingen irgendwie seine Leidenschaft vermitteln können, auch, wenn es diese nun sehr unterschiedlich umsetzten. „Ich werde sehen, ob ich mir allen Schülern noch reden muss, aber wenn dies der Fall ist, werde ich selbstverständlich darauf Rücksicht nehmen, dass sich Eleanor noch in den kritischen Jahren befindet.“

„Das ist gut. Noch etwas?“

„Nein, danke. – Oh, ehe Sie Sir Ronald McDonald zu mir senden…ich bräuchte kurze Pause, um mir rasch Notizen zu machen.“ Ihre Darlegung musste alle möglichen Hinweise enthalten, das war ihr klar. Und sie war sich wirklich nicht sicher, wie gut ihr Gedächnis für den Rapport wäre.

„Natürlich. Ich kann mir vorstellen, dass es nicht sehr einfach ist, für den Inquisitor zu arbeiten.“ Er ging.
 

Aus dem Bericht des Inquisitors an den Hohen Rat:
 

Nach den ersten durchgeführten Gesprächen lässt sich Folgendes sagen:

Es ist davon auszugehen, dass die fünf Meistervampire nicht annehmen, einer der ihren sei es gewesen und auch keiner ihrer Schüler. Ob dies den Tatsachen entspricht, wird sich noch zeigen.

Allerdings nehme ich an, dass es geradezu töricht von den Fünfen gewesen wäre, den Inquisitor zu sich zu holen, wäre einer schuldig – es sei denn, er oder sie wollte sich oder einen anderen decken.

Ihr alter, gemeinsamer, Meister hat sich bereits zurückgezogen und es widerspricht jeder Lebenserfahrung, dass ein jahrtausendealter, bereits zurückgezogener Vampir, Menschen tötet, zumal, wenn er bereits fünf „Kinder“ hatte und so seinen Wunsch nach Nachkommen befriedigen konnte. Gebissene entstehen ja eher durch den Wunsch eines sehr jungen Vampirs, doch wie ein Mensch Nachkommen zu erhalten. Daher werde ich den Meister der Fünf nicht weiter behelligen oder behelligen lassen.

Es wäre allerdings wünschenswert, sich zumindest den ersten Tatort anzusehen und vor allem ein Gespräch mit den Menschen zu führen, vor allem, demjenigen, der die Ermittlungen führt.
 

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Im nächsten Kapitel gehen allerdings erst einmal die Unterhaltungen mit den schottischen Meistervampiren weiter.
 

bye
 

hotep

Edinburgh: die erste Nacht: Teil 2

Vielen Dank an Zwiebel, die mich darauf aufmerksam machte, das mein PC eine Kursivtaste hat^^. Ich denke, so ist es mit den "Kindern" wirklich leichter zu lesen.

Heute schon das nächste Kapitel, da ich in Urlaub fahre:
 

3. Edinburg: die erste Nacht Teil 2,
 

Sir Ronald McDonald lächelte Sarah an, als er den Raum betrat. Sie entsann sich, dass er zwei weibliche Schülerinnen und einen männlichen hatte. Seine bis zu den Schultern reichenden Haare leuchteten förmlich in rötlichem Blond. Er trug, wie auch Sir Angus, die Kleidung, die zur Mitte des neunzehnten Jahrhunderts üblich gewesen war, nicht zu auffällig, um damit in der heutigen Zeit nicht unter Menschen gehen zu können, und doch altmodisch genug, sich darin wohler zu fühlen.

Auch Sarah fühlte sich in ihrem augenblicklichen Kostüm fast unschicklich angezogen, denn sie bevorzugte eigentlich bodenlange Kleider, aber das war nötig. Sie gab das Lächeln zurück.

„Danke, Sir Ronald…“

„Im Auftrag des Inquisitors, nicht wahr?“ Er setzte sich mit einem durchaus interessierten Blick über ihre Figur, auch, wenn die hochgeschlossene Rüschenbluse nur andeutungsweise zeigte, was darunter lag, sie ihre Beine sittsam geschlossen seitwärts gestellt hatte. Er empfand allerdings kein Begehren, wie zu seiner Menschenzeit, nur das Vergnügen, etwas Schönes betrachten zu dürfen. Mit dem ewigen Leben ging der Verlust des Kinderwunsches und damit der Leidenschaft einher: „Nun, Lady Sarah, Sie möchten bestimmt meine Meinung zu den Massenmorden hören?“

„Ja.“ Er würde ihr also auch helfen wollen, es womöglich sogar können.
 

Er schloss für einen Moment die Augen. So lange Jahre war er im Krieg gewesen, ehe er dessen müde seinen Vampirmeister getroffen hatte, in so vielen endlosen Fehden seines Clans gegen andere, so viele Taktikbesprechungen hatte er erlebt, so viele Schlussfolgerungen…

„Ich bin sicher, heute Nacht werden wieder Menschen sterben, wieder eine Familie. Und wieder wird die menschliche Polizei im Dunkeln tappen. Da ich überzeugt bin, dass es niemand von uns Fünf war, bleiben also nur unsere Schüler, ein ortsfremder Vampir oder Menschen. Aus einem einfachen Grund schließe ich auch unsere Schüler und einen Fremden unseres Volkes aus: kaum jemand von uns vermag bei einer Mahlzeit mehr als einen halben Liter Blut zu sich zu nehmen. Dazu müsste man schon ausgehungert sein. Oder so verrückt, dass man, ohne jedes Sattsein, aus einem Menschen durch vollständiges Aussaugen einen Gebissenen macht. Also bin ich sicher, dass sich da ein Mensch oder mehrere ….hm…Spaß machen.“

„Ein eigenartiger Spaß“, meinte Sarah prompt. Aber er hatte Recht mit dem, was er sagte. Ihr fiel auf, wie sein Blick erneut über ihre Beine glitt. Natürlich würde er dabei kaum das empfinden, was er einst als Mensch gefühlt hatte, aber es zeigte ihr, dass er zu dieser Zeit wohl sehr gern mit Frauen umgegangen war. Das erklärte vermutlich auch, warum er zwei weibliche Kinder gewählt hatte.

Sir Ronald hob die Hand: „Meine liebe Lady Sarah, natürlich. Aber wenn Menschen verrückt sind, sind sie es.“

„In der Tat. Und dass jemand Gebissene erschaffen hat?“

„Wozu?“ fragte er zurück: „Schön, ich weiß, dass das immer wieder vorkommt, schließlich hält sich der Hohe Rat nicht ohne Grund den Inquisitor, den Kadash, Aber ich kenne meine vier Freunde schon Jahrhunderte lang. Niemand von uns wäre so hirnverbrannt. Und meine Schüler kenne ich auch.“

„Ist einer von ihnen in den kritischen Jahren?“

„Oh, darauf wollen Sie hinaus, Lady Sarah.“ Gewöhnlich, daher stammte ja auch der Name, entpuppte es sich in dieser Zeit, ob ein ehemaliger Mensch in der Lage war, mit dem Vampirleben umzugehen, mit dem doch recht plötzlichen fast ewigem Leben. Wem dies nicht gelang, wurde verrückt, erschuf bisweilen - in dem wohl verzweifelten Bemühen, Nachkommen zu erhalten - die Gebissenen. Nur waren sie eben keine Vampire, sondern deren wahnwitzige Abbilder, blutrünstig, ohne Verstand – und ohne Seele. „Nein. Charles ist bereits seit fast fünfhundert Jahren mein Kind. Er verlor seine Eltern im Krieg, ich denke, es war 1474, als die Engländer unter Richard Gloucester, dem späteren Richard den Dritten, die Grenze nach Norden …ausdehnten. Er wuchs als Geisel in York auf, daher sein, durchaus etwas bedauerliches, Faible für die englische Küche. Nun gut. Er hat wohl die größte Sammlung von Rezepten, die ein Vampir je hatte.“ Er lächelte.

Sarah starrte ihn perplex an: „Er sammelt Kochrezepte?“ Nun ja, jedem sein Interesse, aber für ein Wesen, das ausschließlich die hochkonzentrierte Energie menschlichen Blutes benötigte, um seine Fähigkeiten zu behalten, war dies wirklich ….spleenig.

„Und kocht. Freilich nur für Menschen. - Er hat seit dreihundert Jahren Gasthäuser.“ Zurzeit zwei, die recht gute Einkünfte abwarfen. Charles war ein wirklich fähiger Koch und Wirtschafter.

Immerhin aß er nicht selbst, dachte sie unwillkürlich. „Oh, das ist in der Tat ungewöhnlich, aber natürlich ist das jedem seine Sache. – Auch Ihre Schülerinnen sind also bereits aus den kritischen Jahren hinaus?“

„Ja. Margaret und Mary sind bereits an die zweihundert Jahre bei mir. Und, damit Sie auch nicht unbedingt mit ihnen reden müssen: sie lebten beide auf der Strasse. Wie lautet die nette Umschreibung heute dafür: Bordsteinschwalbe. Das war damals weder romantisch noch besonders einträglich. Aber sie wollten überleben. Sie sind Schwestern. Sagt Ihnen der Begriff Clearances etwas, Lady Sarah?“

„Ich glaube, so nannte man die Vertreibung der Menschen aus den Highlands im 19. Jahrhundert.“

„Ja. Ein traumatisches Kapitel der an Tragödien reichen schottischen Geschichte. Ausnahmsweise waren es nicht die Engländer, die dafür verantwortlich zu machen waren – wenn ich das Ihnen gegenüber so sagen darf, Lady Sarah – sondern Schotten selbst.“ Er hätte sich eher die Zunge abgebissen, als einer Engländerin gegenüber zu erwähnen, dass die endlosen Clanfehden auch die Bevölkerung mehr als nur mitgenommen hatten. Er brauchte da nur an seinen entfernten Verwandten Sir Angus McDonald denken, der in einer Fehde 1581 alle Menschen des gegnerischen Clans, die aufzutreiben waren, hatte niedermetzeln lassen, aber auch selbst alle Tiere, die einem Menschen von Nutzen sein könnten. Dies war etwas anderes: „Anfang des 19. Jahrhunderts bemaß sich die Macht der Clanchefs nicht mehr nach der Zahl der Männer, die für sie kämpften, sondern nach dem Ertrag ihrer Ländereien. Viele von ihnen führten ein ausschweifendes, aristokratisches Leben. Um diesen Lebensstil zu finanzieren, wollten sie auf ihren Ländereien im Hochland die lukrative Schafzucht ansiedeln. Zum Teil mit brutaler Härte vertrieben sie systematisch die Menschen, die dort lebten. Ganze Landstriche wurden entvölkert. Die Vertriebenen landeten in den Slums der Großstädte und der neuen Industriegebiete, wie Glasgow, wenn sie nicht auswanderten. Und für junge Mädchen gab es Arbeit in den Fabriken, den Spinnereien, die damals entstanden. Aber eben nicht für alle. So landeten meine beiden Kinder eben auf der Strasse. Ich lernte sie dort kennen.“

„Danke, Sir Ronald.“ Nein, es wäre unhöflich nachzuforschen, mit was sie sich nun beschäftigten. Das würde sie sie wohl selbst fragen müssen.

„Darf ich Sie noch etwas fragen, Lady Sarah? Warum nennt man den Inquisitor auch Kadash?“

Sie war etwas überrascht. Sir Ronald war doch viel älter als sie, da sollte er es doch wissen? Oder wussten die Vampire, die nichts direkt mit dem Hohen Rat oder dem Inquisitor zu tun hatten, darüber auch kaum Bescheid? Sie erklärte daher höflich: „Die Frage müsste andersherum heißen: warum nennt man den Kadash auch Inquisitor. Kadash ist ein Wort aus einer längst vergangenen Sprache. Es soll der Richter bedeuten. Als die Inquisition im 14. Jahrhundert mächtig wurde, in Italien und Spanien, wurde dort das Wort Inquisitor als Leiter einer Untersuchung gebraucht. Nun, zunächst. Das klang auch in den Ohren unseres Volkes wohl…freundlicher.“ Sarah zuckte ein wenig die Schultern: „Manchmal sind Vampire auch nicht anders als Menschen.“

„Natürlich.“ Sir Ronald lächelte erneut: „Wir entstammen der gleichen Wurzel, auch, wenn wir Vampire uns weiterentwickelt haben. Nun, ohne diese Evolution wäre die Jagd nach Menschen gewiss viel schwieriger, primitiver. – Haben Sie noch weitere Fragen, meine liebe Lady Sarah?“

„Im Augenblick nicht. Wären Sie so freundlich, mir Henry Stuart zu schicken?“

„Na, viel Spaß. - Ich meine, ich bin Schotte, aber ich sehe in Ihnen eine Frau, zumal die Mitarbeiterin des Inquisitors. Henry wird in Ihnen nur den Engländer sehen.“ Sir Ronald erhob sich.

„Ich habe keine Wahl.“

Sarah sagte die Wahrheit. Wenn sie diesen ersten großen Auftrag vermasseln würde, wäre ihre Stellung dem Hohen Rat gegenüber noch problematischer. Und das konnte für sie fatale Folgen haben. Es gab durchaus unter den mächtigsten Vampiren welche, die ihre besondere Fähigkeit mit äußerstem Misstrauen betrachteten. Denn was Sir Ronald gesagt hatte, stimmte: jeder erlebte bei seiner Verwandlung einen Evolutionssprung, vom Menschen zum Vampir. Das beinhaltete nicht nur größere körperliche Begabungen, sondern vor allem eine geistige, wichtig für die Jagd: die Fähigkeit, aus Gedanken ein elektrisches, unsichtbares Netz zu weben und es quasi in den Kopf des Opfers zu werfen. Der Mensch wurde unverzüglich bewusstlos – und erinnerte sich später an nichts. Der Blutverlust von bis zu fünfhundert Millilitern fiel auch niemandem auf. Und sie besaß die Macht, ein ebensolches Netz auch gegenüber anderen Vampiren einzusetzen. Ihre Fürsprecher im Rat hatten darauf verwiesen, dass sie so auch eine Möglichkeit hätte, sich gegen Gebissene zur Wehr zu setzen. Darum war sie auch mit diesem Auftrag betraut worden.
 

Als sich kurz darauf die Tür öffnete, erkannte sie, dass ihre Unterhaltung mit Henry Stuart wohl noch unangenehmer werden würde, als sie es bislang gedacht hatte. Er kam nicht allein sondern wurde von seinen drei Schülern begleitet. Und bei allen Vieren erkannte sie Argwohn, aber auch ein Verhalten, dass ihr verriet, dass sie ausnahmslos militärische Ausbildung bekommen haben mussten. Allerdings trugen sie ebenfalls Kleidung des 19. Jahrhunderts, freilich auch die Haare bis über die Schultern fallend, was auf ältere Zeiten hinwies.

Sie meinte: „Ich bin ein wenig erstaunt….“

Der Meistervampir zuckte die Schultern: „Ich gehe nie allein zu einem verd...Engländer.“

„Auch, wenn es sich um eine Frau handelt.“ Das konnte die bislang schwierigste Unterhaltung werden. Nun, würde es werden, war sie doch bereits öfter vorgewarnt worden.

„Auch dann.“

„Würden Sie mir bitte Ihre Schüler vorstellen?“ Kinder wollte sie in Anbetracht der eisigen Mienen der kriegerischen Männer nicht sagen.

„Michael, Edward und Christopher.“ Er setzte sich, während seine Schüler hinter ihm stehen blieben. „Und Sie arbeiten im Auftrag des Inquisitors. Es war äußerst ungeschickt, um kein härteres Wort zu verwenden, einen Engländer nach Schottland zu schicken.“

Sarah bemühte sich um Ruhe. Nur, wenn sie selbst sachlich blieb, würde sie hier noch eine Auskunft bekommen. Hoffentlich: „Wenn Sie gestatten, würde ich einfach eine Frage stellen, die die Gemeinschaft der Vampire betrifft.“

„Nur darum unterhalte ich mich mit Ihnen. – Sie wollen meine Meinung zu den Morden wissen?“

„Ja.“

„Ich vermute, dass es sich um eine rein menschliche Angelegenheit handelt. Darum war ich ja auch zuerst dagegen, das zu melden.“

„Was hat Sie umgestimmt?“

„Falls jemand so verrückt war, Gebissene zu erschaffen, muss unsere Gemeinschaft gegen diesen vorgehen. Und das ist nun einmal die Aufgabe des Inquisitors.“

„Ich habe allen diese Frage gestellt…..“ Sie warf einen Blick auf seine Schüler. Keiner schien über dreißig zu sein, aber das war nur das Alter der Verwandlung: „Ist von Ihren Schülern einer in den kritischen Jahren?“

„Nein. Edward war der letzte….Und ich nahm ihn in der Schlacht von Culloden zu mir. Falls Sie wissen, was das war.“

Wenn sie jetzt sagen würde: „ja, da schlug der Herzog von Cumberland die aufständischen Schotten vernichtend“, wäre das sicher falsch. So meinte sie: „Ich weiß, dass Prinz Charles Stuart, genannt Bonnie Prince Charlie, die Schotten damals anführte. Und dass die Engländer unter dem Herzog von Cumberland ihnen eine vernichtende Niederlage bereiteten.“

„16. April 1746.“ Christopher klang bitter.

Henry Stuart nickte: „Ja. Wir waren fünftausend Mann. Cumberland hatte fast neuntausend. Und leider die überlegenere Artillerie. Weit über tausend Tote auf unserer Seite. Aber er ließ nach der Schlacht gegen jede Kriegsehre die Überlebenden hinrichten, ja, die Verwundeten noch auf dem Schlachtfeld umbringen. Michael und ich waren auf der Seite des Prinzen, der Jakobiten, dabei. Und Edward war mein Freund geworden. Als ich ihm während des Massakers anbot, mein Schüler zu werden, nahm er an. - Danach ließ Cumberland seine Truppen durch ganz Schottland ziehen. Es kam zu Plünderungen, Brandschatzungen und Morden, vollkommen willkürlich. Alle Clanburgen wurden zerstört, Kilt und Tartan verboten, ja, unsere Sprache. Schlächter Cumberland hat sich seinen Titel in der Tat verdient. Wir wollten ihn töten, aber Angus meinte, das würde gegen die Grundregel der Unauffälligkeit verstoßen. Nun gut. Wir halfen eben Schotten anders.“

Sie fragte besser nicht, wie. Immerhin schien Sir Angus seine Mitvampire gut zu beraten. Um ein wenig von der Geschichte abzulenken, wiederholte sie: „Sie glauben also, dass Menschen gegen Menschen vorgehen, bei dieser Mordserie.“

„So ist meine Meinung. Und anscheinend haben Sie noch nichts anderes herausbringen können.“

„Ich sammele Informationen.“

„Und geben sie weiter, natürlich. – Noch etwas?“

„Im Augenblick nicht, danke.“

Henry Stuart erhob sich unverzüglich und ging grußlos hinaus, gefolgt von seinen Schülern.
 

Kurz darauf blickte der Hausherr in das Zimmer: „Verzeihung, Lady Sarah, benötigen Sie noch etwas? Der Morgen nähert sich und ich würde vorschlagen, dass Sie mit uns trinken. Was auch immer Sie dann vorhaben – wir werden uns in unsere Zimmer zurückziehen.“

„Dies muss ich mir sparen. Ich habe einen Auftrag. – Danke, Sir Angus. Wann gibt es Trinken?“

„In wenigen Minuten. Frances holt bereits die Becher. Sie wird den Gong schlagen, wenn es bereit ist.“

„Danke. Oh, könnten Sie mir die Zeitungen der letzten Tage zur Verfügung stellen?“

„Ich dachte es mir schon.“ Er hielt einen Stoß in der Hand: „Bitte“

Allein gelassen, dachte sie kurz nach. Wie es üblich war, würde sich mit Tagesbeginn jeder Vampir in das ihm zugewiesene Zimmer zurückziehen. Manche, um zu schlafen, andere, um ihren Interessen nachzugehen, manche, um zu meditieren. Aber diese zeitliche und räumliche Trennung und Zurückgezogenheit war äußerst wichtig, gerade für einen Meister und seine Schüler, die Jahrhunderte lang gemeinsam lebten. Sie selbst würde in den ungeliebten Tag hinausgehen, sich zumindest den ersten Tatort ansehen und anschließend versuchen, mit dem leitenden Beamten zu sprechen. Aber zunächst einmal würde sie die Zeitungen lesen, was immer über diese Massenmorde dort geschrieben worden war.
 

Als sich Sir Angus, seine Kinder und alle Gäste an der langen Tafel in der Halle vor Bechern niederließen, warfen einige der Schüler neugierige Blicke auf Sarah. Diese war ein wenig unangenehm berührt, konnte allerdings die Neugier durchaus verstehen. Zum einen hatte hier kaum jemand je einen Vampir aus einer anderen Region gesehen, zum anderen war die gesamte Lage sicher ungewöhnlich.

Um die etwas peinliche Stille zu unterbrechen, meinte Catriona: „Wissen Sie eigentlich, Lady Sarah, dass Edinburgh viele Schriftsteller inspiriert hat? Burns, Scott, aber auch Bücher, die man hier nicht so erwarten würde.“ Sie nahm ihren Becher: „Es gab einen ehrenwerten Kirchenmann, der zum Verbrecher wurde – das Vorbild für Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Falls Sie Zeit finden und die Royal Mile, das ist die Strasse zwischen der Burg und Holyrood House entlanggehen, werden Sie wissen, warum hier die Grundidee zu Harry Potter liegt. – Trinken wir auf Edinburgh!“

Das war ein Trinkspruch, dem sich auch Henry und seine Schüler bedenkenlos anschließen konnten, aber auch für Lady Sarah nicht unmöglich war.
 

Aus dem Bericht des Inquisitors an den Hohen Rat:
 

Meine Einschätzung, nach den bislang erhaltenen Informationen, dass keiner der fünf Meistervampire hinter den Morden steckt, bestärkt sich.

Von den Schülern kann ich dies mit Sicherheit von denen Henry Stuarts behaupten. Die Opfer sind alle schottischer Herkunft und bei dem deutlich demonstrierten Verhältnis dieser Gruppe zu Engländern würde ich sie nur verdächtigen, wären die Opfer der Mordserie englische Touristen.

Auch bei Gordon MacGregor und seinen Schülern tendiere ich dazu, sie von der Schuld freizusprechen. Ihm ist es offensichtlich gelungen, seine eigene Leidenschaft als Begeisterung an seine Schüler weiterzugeben, sie so die kritischen Jahre überstehen zu lassen.
 

Bei den Schülern liegt ein gewisser Verdacht naturgemäß auf denjenigen, die sich noch in den kritischen Jahren befinden.

Sir Angus meinte, Frances habe die kritischen Jahre durch ihre Leidenschaft für Computer überwunden. Ob dem so ist, wird sich zeigen. Thomas dagegen ist selbst nach Einschätzung seines Meisters noch in den kritischen Jahren, was ihn natürlich nicht unbedingt zum Mörder macht.

Catriona meinte, ihre Schüler seien zu keinem Mord fähig. Dies mag für Archibald zutreffen, der schlicht nicht töten wollte und darum Vampir wurde. James sei Maler. Aber hindert ihn das daran, in den kritischen Jahren den falschen Weg zu gehen?

Bei Sir Ronald stehen die beiden Schülerinnen noch im Verdacht. Er gab nicht an, mit was sie sich nun beschäftigen. Haben sie wirklich die kritischen Jahre überwunden?
 

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Im nächsten Kapitel lernt Lady Sarah den menschlichen Ermittler kennen - und bekommt sowohl Appetit als auch neue Informationen.
 

Frohe Ostern
 

hotep

Edinburgh: der erste Tag

Auch die Menschen ermitteln in der unheimlichen Mordserie. Und der Leiter der Untersuchung ist durchaus fähig...
 

4. Edinburgh: der erste Tag
 

Sarah warf einen instinktiven Blick zu Sonne, als sie in der Princess Street aus dem Autobus stieg. Wenn sie das Licht auch nicht, wie es Menschen glaubten, zu Staub zerfallen lassen würde, so war sie doch ein Vampir, ein Jäger der Nacht, und fühlte sich in den Strahlen unwohl. Manche ihrer Art taten dies weniger, ja, lebten oft genug ein Leben unter Menschen, wie es Henry und Michael wohl in der Schlacht von Culloden und davor getan hatten, oder auch Gordon und seine Schüler auf dem Meer.

Die Menschen um sie schienen aber auch nicht sonderlich begeistert zu sein. Sie vermutete zu Recht, dass die verhängte nächtliche Ausgangssperre und die ungeklärte, unheimliche Mordserie denen aufs Gemüt schlugen.

Sie zog den Stadtplan, den ihr Neville, der älteste Schüler Sir Angus´, noch gegeben hatte, zu Rate, ehe sie quer hinüber ging, zur so genannten Royal Mile, um dieser entlang zu Hollyrood House zu folgen, dem Schloss der schottischen Könige. In dem großen Park dahinter war der erste Mord geschehen.

Waren es Menschen oder doch Gebissene, die die Morde begingen? Nun, um korrekt zu sein, waren Gebissene ja auch einmal Menschen gewesen, die von einem wahnsinnigen Vampir in die Zerrbilder seiner Art verwandelt worden waren. Die gewöhnliche Metamorphose von einem Menschen in einen Vampir durch einen Meister erfolgte unter zwei Voraussetzungen. Das künftige Kind musste vollkommenes Vertrauen haben und der Meister musste behutsam vorgehen, den Blutaustausch, sowie die geistige Krafterhöhung langsam, manchmal über Wochen vornehmen. Dazu war es zwingend erforderlich, dass der Meister selbst schon einige Jahrhunderte Erfahrung und magische Fähigkeiten besaß. Wenn ein junger, unerfahrener Vampir dagegen in den kritischen Jahren durch die Belastung des vergeblichen Kinderwunsches oder aus einem anderen Grund verrückt wurde, jagte er Menschen als Beute und entzog ihnen unverzüglich alles Blut. Sie starben dann zwar nicht, aber sie verloren ihre Seele, ihren Verstand und wurden zu den blutdurstigen Monstern, in denen die Menschen Vampire sahen…
 

Bei einem erneuten Blick auf den Stadtplan wurde sich Sarah bewusst, dass sie soeben an einem weiteren Tatort vorbeiging. Sie blieb stehen und ignorierte den Mann, der fast in sie hineinlief, als sie emporblickte.

Catriona hatte Recht gehabt: die Häuser hier waren alt und sahen wie verwunschen aus. Hier auf die Idee von Magie und Zauber zu kommen, war wohl nur zu menschlich. Sarah selbst fühlte sich eher an „ihre“ Zeit erinnert.

„Ja, hier war es“, sagte jemand grimmig neben ihr und sie wandte erstaunt den Kopf. Der dunkelhaarige Mann fuhr verächtlich fort: „Auch eine moderne Art des Tourismus: Mord-Tatorte besichtigen.“

Sie betrachtete ihn verdutzt. Er mochte Mitte bis Ende Vierzig sein und sah recht appetitlich aus – in den Augen einer Vampirin: „Verzeihung, ich verstehe Sie nicht ganz.“

„Sollten Sie wirklich nicht gehört haben, dass in diesem Haus vor vier Tagen eine ganze Familie von diesen „Vampiren“ abgeschlachtet wurde?“

„Ich habe natürlich von der Mordserie gehört. Die Zeitungen und Nachrichten waren ja voll davon.“ Warum war dieser Mensch so zornig? Waren die Opfer mit ihm verwandt?

„Sind voll davon.“

„Ich habe heute noch keine Zeitung gesehen. Zu meiner Schande, “ erklärte sie, als ihr eine Idee kam: „Immerhin wäre das mein Berufszweig. – Aber eigentlich wollte ich nach Hollyrood House.“

„Oh, Sie sind ja Engländerin. Touristin im eigentlichen Sinn.“ Er klang friedlicher, zumal er den Stadtplan in ihrer Hand entdeckte: „Dann lesen Sie mal. Heute Nacht gab es wieder zwei Tote.“

Nur zwei, wäre es ihr um ein Haar entfahren. Aber sie meinte: „Sie haben heute wohl schon die Zeitung gelesen.“

„Ich gab die Pressekonferenz.“ Und da er sah, dass sie erstarrte: „Sehr Recht. Ich habe das zweifelhafte Vergnügen, der leitende Beamte zu sein. Inspektor Kenneth Cuillin.“

„Lady Sarah Buxton. - Darum waren Sie so wütend, als Sie dachten, ich wäre aus…ja…widerlicher Neugier hier stehen geblieben.“

„Warum sind Sie es denn?“

„Catriona, eine schottische Freundin, erzählte, in dieser Straße sei sozusagen die Idee zu Harry Potter geboren worden. Ich wollte mir die Häuser ansehen.“ Sie musterte ihn: „Darf ich Ihnen eine Frage stellen, Inspektor Cuillin?“

„Zu den Morden? Dann kommen Sie normal zur nächsten Pressekonferenz um zwölf.“

„Ich könnte darauf zurückkommen. – Nein, wozu eigentlich diese Ausgangssperre? Es ist doch unlogisch. Die Morde geschehen nachts bei den Opfern zuhause.“

„Ja. Sie wurde heute Morgen auch aufgehoben. Aber nach den ersten zwei Mordfällen war nicht klar, dass die nächsten Opfer alle zu Hause getötet würden. Immerhin waren die ersten vier Toten in Hollyrood Parc. – Ich gehe jetzt dorthin. Sie wollten auch in diese Richtung?“

„Ja. – Besichtigen Sie alle Tatorte immer wieder?“

„Nein.“ Er kam an ihre Seite, so dass sie nebeneinander weitergingen: „Nur heute.“ Er wusste nicht, warum er dieser blonden Engländerin das erzählte, eigentlich nicht einmal, warum er sie angesprochen hatte. Doch, das wusste er. Er hatte geglaubt, dass sie Sensationstouristin sei. Und das hatte ihn noch bei jedem Mordschauplatz verärgert. Aber sie wirkte sehr vertrauenserweckend, obschon sie Reporterin war, ja, anziehend, auf eine sehr eigene Art. „Ich versuche vor Ort noch einmal das zu finden, was ich in den Berichten nicht finden kann.“

„Ich verstehe.“ Sie schwieg einen Moment. Immerhin hatte sie ihn kennen gelernt, das war schon einmal etwas. Aber wie sollte sie ihn unauffällig dazu bekommen, ihr mehr zu erzählen? In jedem Fall würde sie zu der Pressekonferenz gehen. „Sie suchen nach menschlichen Mördern.“

„Natürlich. Glauben Sie etwa an Vampire?“

„Ich glaube nicht daran.“ Ich weiß es, aber das musste sie nicht sagen: „Aber, was ich zu den Morden denke, wird Sie sowieso nicht interessieren, Mr. Cuillin.“

„Warum nicht? Es ist manchmal gut, eine neue Meinung zu hören. – Kommen Sie, Lady Sarah, hier, Queens Drive entlang.“

„Dort vorn ist doch das Schloss?“ fragte sie verwundert.

„Wenn wir uns doch schon über den Mord unterhalten, können Sie auch mitkommen. Der Tatort liegt hier drüben.“

„Und der andere so nah?“

„Relativ nah, ja. Sie liegen alle in der Altstadt – bis auf den ersten.“

„Und bis auf den ersten wurden alle Leichen gefunden.“

„Ja. Die ersten Morde schienen keinem Schema zu entsprechen, was sich langsam allerdings zeigt. Außer bei dem ersten wurden immer alle Leichen gefunden, darunter auch die Kinder.“ Er klang bitter.

„Das geht Ihnen nahe, nicht wahr?“

„Natürlich. Das jüngste war keine fünf.“ Und er hatte selbst zwei, die kaum dieses Alter erreicht hatten.

„Oh. Das tut mir Leid.“ Es wurde wirklich Zeit, dass diese Tötungen aufhörten. „War es heute Nacht auch…?“

„Nein. Wie ich sagte, diesmal zwei, ein älteres Ehepaar. Ein pensionierter Oberst, Sir Ralph Gordon und seine Frau. Und beide mit diesen Bisswunden. Immerhin ohne Schnitte.“

Das war ihr neu: „Schnitte? Davon stand nichts in der Zeitung.“

„Verdammt. - Verzeihung, Lady Sarah, das hätte ich nicht sagen sollen.“

Sie verstand: „Täterwissen, nicht wahr?“

„Ja.“

„Ich werde es nicht erwähnen.“

„Danke.“

„Moment. Andere Opfer hatten Schnittverletzungen? Zusätzlich zu den Bissen?“

„Nein. Entweder - oder. Aber, bitte, vergessen Sie das wieder.“ Sie wirkte wirklich sehr vertrauenserweckend. Was war nur mit ihm los? Er war glücklich verheiratet, da würde er sich doch nicht verlieben. „Kommen Sie. Hier drüben.“

Sarah blickte sich um: „Hier sind doch so viele Menschen…“ Und einige hatten an der Stelle, an der man die Tote gefunden hatte, Blumen und Kränze niedergelegt, auch einige Kreuze. Warum nur nahmen die Menschen an, das Symbol einer Religion, das seit zweitausend Jahren existierte, könnte jemanden ihres Volkes beeindrucken? Vampire gab es schon seit Jahrzehntausenden. Aber womöglich hatten sie die Erfahrung gemacht, Gebissene damit vertreiben zu können.

„Ja, es ist ein beliebtes Ausflugsziel bei Einheimischen und Touristen. Aber die Vier, die hier picknickten, taten es am Abend. Sie wollten von dem Hügel hier den Sonnenaufgang sehen. Daraus wurde wohl nichts. - Nun, was meinen Sie jetzt?“

Sie sah zu ihm auf: „Wollen Sie meine ehrliche Meinung?“

„Ja. Wie gesagt, ich rede mit meinen Kollegen, dem Staatsanwalt, dem Bürgermeister seit Tagen. Und manchmal übersieht man etwas, wenn man immer nur im selben Kreis diskutiert.“

„Ich kenne nur die Zeitungsberichte. Hier haben vier Jugendliche gesessen und zusammen gegessen. Sie wollten hier die Nacht verbringen. Ein Mädchen und drei Jungen, seit langem befreundet. Soweit ist das richtig?“

„Ja. Ein Jogger fand Mary Duncan dann in der Früh, übersät mit diesen doppelten Bissspuren und vollkommen blutleer. Von den anderen dreien fehlt jede Spur.“

„Dann passt auch das nicht ins Schema.“

„Alle anderen Leichen wurden gefunden, ja. Aber wie gesagt, auch der Tatort hier passt nicht in das Schema aller folgenden. Ich…wir vermuten, dass das hier nur die Aufwärmübung war. Ehe der Mörder, eher, die Mörder, sich an ein gewisses Ritual gewöhnt hatten.“

„Aber dann passt der Mord heute Nacht ebenfalls nicht in das Schema.“

„Es waren nur zwei, statt wie bislang vier, ja. Aber womöglich wussten sie nicht, dass die Kinder der Gordons studieren und nicht da waren.“

Nur zwei, dachte Sarah. Das bedeutete weniger Blut. Und das hieß, sie würden bald wieder zuschlagen, nicht erst nach vier Tagen. Es wurde Zeit, diesen Wahnsinn irgendwie zu beenden. Aber sie meinte laut: „Mr. Cuillin, wenn ich mir diesen Mord so betrachte, ist genau eines passiert: vier Menschen saßen hier, einer, das Mädchen, ist tot und die Jungen verschwunden. Sie meinen, dass sie auch tot sind, aber womöglich laufen sie noch herum.“ Und zwar als Gebissene, aber das konnte sie ja schlecht sagen.

„Diese Idee kam mir auch. Wir suchen sie seit Tagen, natürlich nur als wichtige Zeugen, aber es fehlt jede Spur von ihnen. Sie kamen nicht nach Hause, keine Kreditkarte wurde benutzt…Überdies: warum sollten sie sie umbringen? Sie waren befreundet, es gab nach Aussage aller Bekannten keinen Streit.“

„Dann wäre Mary wohl auch nicht blutleer.“

„Was meinen Sie?“ Jetzt wurde er sehr aufmerksam.

Sarah formulierte langsam, bemüht, nichts Unüberlegtes zu sagen. Inspektor Cuillin machte auf sie einen äußerst engagierten und fähigen Eindruck: „Angenommen, die drei Jungen lernten…jemanden kennen, der einen großen Einfluss auf sie gewann.“ Das wäre für keinen Vampir ein Problem. Die allermeisten Mitglieder ihres Volkes wirkten auf Menschen ohne Mühe fast anziehend, in jedem Fall interessant – eine deutliche Erleichterung bei der Jagd. „Nennen wir es… eine Art Anführer einer Vereinigung mit diesem blutigen Ritual.“

„Ich verstehe. Sie meinen, der forderte als eine Art ersten Treueakt den Tod ihrer Freundin. Und da sie gehorchten, warum auch immer, nahm er sie mit sich. Und sie halten sich dort bei ihm, oder ihr, verborgen, bis sie erneut ein derartiges Ritual begehen. Das würde auch den Vier-Tage-Rhythmus erklären. – Möglich, Lady Sarah. Aber von solche einer verrückten Sekte habe ich nie zuvor gehört.“

Sie nickte nur, fuhr aber fort: „Was ist Ihre Idee?“

„Wir dachten an so etwas ähnliches auch schon. Denn ein einzelner Verrückter – wie hätte er die anderen Opfer dazu bringen sollen, stillzuhalten? Es wurden keinerlei Rückstände von Drogen gefunden. Nein. Es müssen immer mehrere gewesen sein. Und da wir die Drei hier noch immer nicht tot aufgefunden haben…..Mit jedem Mord steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie es sind. – Ich muss zur Pressekonferenz. Kommen Sie mit?“

Sie besaß keinen Presseausweis, aber womöglich würde er sie mit durchbringen: „Ja, gern. Danke, Mr. Cuillin.“

„Für welche Zeitung arbeiten Sie denn?“

Gute Frage. „Ich bin freie Journalistin. Sie wissen doch, wie das ist…“

„Ja, die Zeitungen stellen kaum mehr Leute ein. Freie sind billiger, nicht wahr?“

„Ja.“

„Bei der Pressenkonferenz werden Sie sicher auch Knox kennen lernen. Das ist der Parapsychologe, der nachweisen soll, dass es wirklich echte Vampirmorde sind.“

„Wer kam denn auf die Idee?“

„Mein Chef wollte sich nicht nachsagen lassen, irgendetwas übersehen oder unterlassen zu haben.“

„Solange er nicht mich für einen Vampir hält…“ meinte Sarah mit einem gewissen Lächeln: „Ich habe eine gesunde Abneigung gegen spitzes Holz.“

Kenneth Cuillin lachte auf: „So verrückt ist nicht einmal der, jemanden, den er bei hellem Tageslicht trifft, für einen Vampir zu halten.“
 

Das hoffte Sarah, als er sie dem Parapsychologen vorstellte. Sie war nie zuvor einem begegnet, hatte nur gehört, dass solche Leute Geister vertreiben würden oder Gebissene töten konnten. Sie wollte nicht versuchen, ob er das auch bei ihr vermochte. Selbst, wenn sie einen Kampf gewinnen würde, wäre das gegen die Regel der Unauffälligkeit.

„Professor John Knox“, stellte Cuillin vor: „Und das ist Lady Sarah Buxton.“

„Angenehm.“ Der Parapsychologe bot ihr die Hand.

Sarah nahm sie, bemühte sich aber, nur kurz den Kontakt zu halten. Es war nicht notwendig, dass er spürte, dass sie kein Mensch war: „Ich bin Journalistin, “ meinte sie.

„Ja, wir gehen ja gleich zur Pressekonferenz. Interessieren Sie sich für die Morde, Lady Sarah?“

„Ich bin überzeugt, dass der Mörder bald gefunden wird“, erklärte sie prompt: „Mich interessiert nur diese…ja, geradezu Hysterie um Vampire. Ich las in der Zeitung, dass jede Menge Knoblauch verkauft wird und Unmengen Kreuze. Ein derartige Panik…“

„Ist womöglich nicht ganz ohne Grund. Glauben Sie nicht an überirdische Dinge?“

„Vampire und überirdisch?“ fragte sie sofort zurück. Übermenschlich, würde sie sich einschätzen, im Einklang mit wohl allen ihres Volkes.

„Ja. Wesen der Hölle, erschaffen, um Böses zu verbreiten. Sie haben nichts mit Menschen gemein.“

„Sie schätzen Vampire also als böse ein? Weil sie Blut trinken?“ Sie fragte aus ehrlicher Neugier.

„Weil sie töten.“

Genau das tat kein Vampir. Das ließ nur einen Schluss zu: „Sind Sie schon einmal einem echten begegnet?“

„Wenn Sie damit meinen, ob ich es beweisen kann, dass es welche gibt…Ich habe bereits einen getötet. Aber ich war allein. – Ich bin sicher, dass wir es hier mit einer ganzen Meute von Vampiren zu tun haben. Blutbäder dieses Ausmaßes gibt es nur sehr selten. Und ich bin sicher, dass sie sich in den Closes verstecken.“

„In den…was?“ Eine Meute von Vampiren…Das verletzte den Stolz einer Jägerin der Nacht. Aber ihr Auftrag war wichtiger.

„Oh, Sie sind ja nicht von hier. Die Closes nennt man die kleinen Tordurchlässe und Gässchen der Altstadt. Zum Teil liegen sie sogar unterirdisch, ein Labyrinth aus Tunneln, das lange vergessen war. In der Pestzeit 1644 wurden dort die Kranken eingesperrt.“

„Sicher kein nettes Krankenhaus.“ Wie Menschen mit Menschen umgingen, war immer wieder erstaunlich. Aber in den Closes mochten sich durchaus die Gebissenen verbergen – und der Vampir, der sie zu diesem seeelenlosen Leben verflucht hatte. Wer auch immer das war. Ein Ortsfremder? Oder einer von denen, mit denen sie heute Morgen getrunken hatte?

„Nein. Aber man hoffte wohl so, die Ansteckung zu vermeiden. – Sie glauben nicht an Geister oder Vampire, Lady Sarah?“

Kenneth Cuillin griff ein: „Wir müssen jetzt zur Pressekonferenz…“

„Ja. – Nun, Lady Sarah?“

Während sie zwischen den beiden ging, meinte sie: „Ich habe noch nie Geister gesehen, so kann ich das nicht beurteilen. Und was Vampire betrifft, so weiß ich, dass es seit dem 19. Jahrhundert in England und anderswo zu ganzen Romanserien darüber kam, oft genug, um Kritik am Adel dieser Zeit zu üben.“

„Das stimmt auch. Darum sind die Romanvampire ja immer adelig.“ Knox nickte etwas: „Zumindest damals. Aber auch ein Schriftsteller braucht Anregungen….“

„Ja.“ Sie dachte an das, was Catriona über die Dr-Jekyll-Geschichte erwähnt hatte. Und es stimmte auch: viele Vampire, sie eingeschlossen, waren adelig oder auch aus reichem Haus. Aus dem schlichten Grund, weil arme Vampire in den letzten Jahrhunderten kaum eine Chance gehabt hatten, in Ruhe und unauffällig zu leben – es sei denn, sie hatten einen ebensolchen Meister und Beschützer, wie es Sir Ronald mit seinen Kindern gezeigt hatte. „Nun, ich werde ja hören, was Sie in der Pressenkonferenz zu sagen haben.“
 

Bei der Pressekonferenz erfuhr sie allerdings nichts Neues, sah man von dem Umstand ab, dass erstaunlich viele Menschen im Raum silberne Kreuze um den Hals trugen und Knoblauch gegessen hatten. Einige, mit denen sie noch sprach, leugneten, an Vampire zu glauben, meinten jedoch, eine gewisse Vorsicht könne nicht schaden. Und Professor Knox schlug bei seinem Vortrag in die gleiche Kerbe. Als er seinen Vorschlag, die Closes zu durchsuchen, wiederholte, erwähnte der Polizeipräsident, dass dies zum Teil natürlich bereits geschehen sei, aber das Labyrinth derart unübersichtlich sei, dass sich Verbrecher dort gut verbergen könnten.

Nach der Pressekonferenz verschwand Sarah, um weder dem Polizeiinspektor noch dem Parapsychologen eine Gelegenheit zu geben, sie weiter auszufragen.
 

Aus dem Bericht des Inquisitors an den Hohen Rat:
 

Mit dem Bericht der Polizei kann ausgeschlossen werden, dass es sich um Morden von Menschen an Menschen handelt. Zu eindeutig sind die Hinweise auf das Vorgehen von Gebissenen. Und das ist beunruhigend, bedeutet es doch, dass sich wieder einmal einer der Unseren auf diesen Abweg begeben hat, nicht nur getötet, sondern seine Opfer zu einem blutrünstigen Leben ohne Seele verurteilt hat.

Die Frage bleibt: wer und warum.
 

Der zeitliche Faktor fand bislang keine genügende Beachtung.

Der Mord im Holyrood Parc an Mary Duncan und das Verschwinden ihrer drei Freunde geschah, bevor Sir Angus in gewisser Besorgnis die anderen Meister und deren „Kinder“ zu sich einlud. Sie leben gewöhnlich über ganz Schottland verteilt. Die zur Beeinflussung notwendige, tagelange Abwesenheit eines Schülers wäre seinem Meister aufgefallen. Schon aus diesem Grund kommen die anderen nicht in Betracht.

Bleiben also nur zwei Möglichkeiten: ein landesfremder Vampir oder aber einer von Sir Angus´ Schülern, also wohl Thomas oder Frances. Das Erwähnen dieser Closes macht es jedoch unwahrscheinlich, dass es sich um einen Fremden handelt. Zwar könnte dieser von diesen Tunneln gehört oder gelesen haben, aber wie sollte er sich darin so gut auskennen, dass er den ersten Durchsuchungen entrann, gerade auch mit drei Gebissenen, die ja schwer zu kontrollieren sind.

Zu dieser Kontrolle: nach dem Bericht der Polizei kann kein Zweifel daran bestehen, dass die menschlichen Opfer auf zwei verschiedene Weisen getötet wurden. Diejenigen mit den Bissspuren gewiss von den drei Gebissenen. Der Vampir selbst tötete die anderen mit Schnitten und Stichen, um so an ihr Blut zu gelangen. Mit diesem Vorrat wird er seine Gebissenen wohl die jeweiligen Tage besänftigt haben.

Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass die drei Gebissenen diesmal nicht beruhigt werden können. Es handelte sich nur um zwei Opfer. Sie werden neues Blut brauchen und bereits nächste Nacht wieder zuschlagen. Falls der Vampir sie weiterhin kontrollieren kann und will muss er also in dieser Nacht auf jeden Fall Douglas Manor verlassen.
 

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Da könnte der Inquisitor Recht haben.

Im nächsten Kapitel unterhält sich Sarah wieder mit Vampiren.
 

bye
 

hotep

Edinburgh: der erste Abend

Freut mich, dass euch die kleinen Exkursionen in die Geschichte Schottlands gefallen. Ich muss zugeben, ich habe mir Mühe mit den Recherchen gegeben.

Apeospos Recherchen: manchmal sollte man aufpassen, wem gegenüber man was sagt...
 

5. Edinburgh: Abends
 

Kenneth Cuillin betrachtete sein schreibendes Gegenüber Minuten lang nachdenklich: „Stimmt es?“ fragte er schließlich.

„Was, Inspektor?“ gab Professor Knox aufblickend zurück.

„Sie sagten zu Lady Sarah, dass Sie bereits einmal einen Vampir getötet hätten. Einen Menschen, der sich dafür hielt?“

Der Parapsychologe zuckte fast herablassend die Schultern: „Ich erwarte nicht, dass Sie mir glauben. Sie sind ein viel zu rationaler Mann.“

Der Polizist fixierte ihn ungerührt: „Ein Verbrechen ist ein Verbrechen, gleich, wer es begeht. Wenn ich die Täter zu den Massenmorden fassen kann, werde ich ihnen Handschellen anlegen, egal ob Mensch oder nicht. Und falls ich herausfinde, dass Sie wirklich jemanden getötet haben, wandern SIE hinter Gitter.“

Professor Knox ignorierte den letzten Satz lieber: „Die Massenmörder zu fassen wird kaum möglich sein, ohne meine Hilfe. Es handelt sich sicher um keine normalen Menschen.“ Damals, der Vampir, den er mit Hilfe eines Pflockes töten konnte…oh, er sah wirklich nicht wie ein Mensch aus. Rote Augen, verzerrtes Gesicht und lange, spitze Eckzähne…Und sein Schlaf war kein gewöhnlicher. Viel zu tief. Aber nur so gelang es ihm, ihn endgültig zu vernichten. Aber davon hatte dieser trockene Polizist ohne Humor keine Ahnung. Nein. Auch vom Polizeipräsidenten oder dem Bürgermeister konnte er anscheinend kaum Hilfe erwarten, obwohl sie ihn gerufen hatten. Sie hatten ihm doch zu verstehen gegeben, dass er sich bei der Pressekonferenz heute Mittag lächerlich gemacht hatte. Er war sicher, dass sich die Vampire in den Kellern und Räumen der Closes verbargen. Das war ein ideales Versteck für diese Geschöpfe der Hölle. Und nur dort waren sie zu finden und zu vernichten. Er stand auf: „Ich habe heute noch einiges zu erledigen, Inspektor. Grübeln Sie nur fleißig weiter.“ Der Parapsychologe verließ das Zimmer, nicht, ohne die Tür mit gewissem Schwung hinter sich zufallen zu lassen.

Kenneth Cuillin sah ihm fast eine Minute lang nach, ehe er sein Jackett auszog und zu seiner Schreibtischschublade griff. Er nahm ein Bündel aus Lederbändern heraus und legte es vor sich auf den Tisch, dann eine Pistole. Er musste noch mit seinem Vorgesetzten sprechen – und dann seine Pflicht tun.
 

Als Sarah nach Douglas Manor zurückkehrte, war der Nachmittag bis zur Hälfte vorangeschritten. Wie sie erwartet hatte, herrschte Stille im Haus. Alle hatten sich zurückgezogen.

Auf ihr Klopfen öffnete ihr Thomas, das jüngste „Kind“ des Hauses.

„Ich bekam die Anweisung, auf Sie zu warten, Lady Sarah“, erklärte er mit einem unbehaglichen Blick in den hellen Tag: „Sir Angus hat auch für Sie ein Zimmer bereiten lassen. Darf ich es Ihnen zeigen?“

„Ja, danke, das wäre nett. Ich muss mir einige Notizen machen.“ Sie betrachtete ihn. Er war noch in den kritischen Jahren, aber das machte ihn natürlich nicht unbedingt zu einem Verrückten, der Gebissene erschuf.

„Kommen Sie bitte die Treppe hinauf. – Darf ich Sie etwas fragen, Lady Sarah? Wie viele Vampire leben in London?“

„Zehn, die ich kenne. Aber es mag natürlich sein, dass sich auch ältere dort aufhalten, die sich zurückgezogen haben.“

„So wie der Meister von Sir Angus und den anderen? Machen das wirklich alle?“

„Ich weiß nicht, ob das alle alten Vampire tun, aber es kommt wohl sehr häufig vor. Sie sind dann der Gesellschaft und auch der Händel der Welt müde und suchen nur noch Ruhe, um ihre jeweiligen Studien zu vervollkommnen.“ Mehr wusste sie selbst nicht.

„Hier, Ihr Zimmer. – Darf ich noch einen Moment hineinkommen?“

„Ja.“ Sie nahm an, dass er noch etwas fragen wollte, aber nicht auf dem Gang reden wollte. So wartete sie, bis er die Tür hinter sich geschlossen hatte.

„Lady Sarah, ich….darf ich Sie etwas fragen, was Ihnen vielleicht eigenartig vorkommt? Danke. Ich...mir ist irgendwann aufgefallen, dass es unter den Vampiren recht viele mit Titel gibt…Sir Angus, Sir Roland, Sie…auch Mistress Catriona soll aus einer vornehmen Familie stammen, ihren Titel nur abgelegt haben. Warum?“

Den Titel abgelegt? Also hatte sie sich mit ihrer Herkunftsfamilie zerstritten? Interessant. Es war natürlich unhöflich, die Meistervampirin danach zu fragen. Jedoch lieferte deren Erwähnung, dass sich ihre beiden Schüler mit ihren Vätern überworfen hatten, einen deutlichen Hinweis, dass dies wohl auch bei Mistress Catriona der Fall gewesen war. Nun, im mittelalterlichen Schottland mochte es so manchen Grund für ein Mädchen gegeben haben, seinen Vater zu fürchten. So weit sie sich entsann, stand allein auf unmoralisches Verhalten, schon gar eine uneheliche Schwangerschaft, der Tod im Feuer. Aber Sarah antwortete sachlich auf die Frage: „Das ergab sich wohl zwangsläufig. In früheren Zeiten musste man wohlhabend sein, um als Vampir unauffällig leben zu können, oder unter dem Schutz eines reichen Meisters sein. Und Reichtum bedeutete eben lange Zeit auch Adel. Das hat nichts weiter zu besagen.“

„Sie haben Ihren Titel nicht abgelegt.“

„Nein. Das macht man nur, wenn man sich seiner Familie…nun, wenn es sehr große Probleme gab und man nichts mehr mit seiner Herkunft zu tun haben will.“ Sie sollte vorsichtig sein. Immerhin würde er Mistress Catriona noch öfter treffen.

„Also machen Sie sich nichts daraus?“

„Aus dem Titel? Nein. Er gehört eben zu meinem Namen. Darf ich Sie noch etwas fragen? Was wissen Sie über die Closes, Thomas?“

Der starrte sie an: „Die Closes? Warum?“

Unwillkürlich versuchte sie, eine harmlose Begründung zu finden: „Dieser Begriff fiel in der Pressekonferenz der Polizei…“

„Ach, ja, natürlich. Sie sind ja nicht aus Edinburgh. Closes und Wynds heißen die Gässchen, die von der Royal Mile abgehen und wie…ja, wie Fischgräten angeordnet sind. Ein ziemliches Wirrwarr und recht enge Tore. Die sind schon seit dem Mittelalter so. – Sie waren auf der Pressekonferenz? Gab es da etwas Neues?“ Er beteuerte hastig: „Nicht, dass ich an der Entscheidung von Sir Angus zweifle, die anderen herzuholen, aber….es ist schon ein wenig ungewohnt, so viele um sich zu haben. Das erinnert mich zu sehr an…“ Er brach ab.

Es wäre unhöflich gewesen, nachzuhaken, da Sarah annahm, es erinnere ihn an seine Zeit unter Menschen. Seit 1924 war er erst Vampir, hatte Sir Angus erwähnt. „Nein, es gab keine Nachrichten, dass sie jemanden verhaftet haben. Aber ich hoffe doch, dass bald der oder die Täter gefunden werden.“

„Ja, schon damit ich wieder...Na ja. Das wird Sie nicht interessieren. Wollen Sie noch etwas wissen?“

„Welches Zimmer hat eigentlich Frances? Sie hat doch einen Computer?“

„Ja, das hat sie.“ Er zuckte die Schultern: „Nicht so meine Sache. Obwohl ich zugeben muss, dass es sehr nützlich war, um an die Blutkonserven zu gelangen. – Ihr Zimmer ist nach rechts den Gang hinunter, das vorletzte auf dieser Seite. Sie können es nicht verfehlen, da summt immer dieser Computer.“

„Sie haben noch keine Interessen für sich entdeckt?“

„Doch, schon. Aber…“ Er zögerte, meinte dann: „Nun, Sir Angus weiß noch nichts davon. Ich möchte ihm erst gegenübertreten, wenn ich sicher bin.“

Natürlich. Welches „Kind“ wollte als übereilt dastehen. „Ich sage schon nichts.“

„Danke. Brauchen Sie noch etwas?“

„Nein, danke.“

Sarah setzte sich, als sie allein war, und schrieb rasch ihre Notizen, ehe sie sich auf den Weg zu Frances machte.
 

Auf ihr Klopfen meinte diese: „Kommen Sie nur herein, Lady Sarah.“

„Danke. – Können Sie durch geschlossene Türen sehen?“

„Nein. Aber nur Sie würden mich jetzt stören. - Kein Vorwurf, Lady Sarah, ich weiß, dass es Ihre Aufgabe ist, hier Informationen zu sammeln.“ Sie drehte ihren Stuhl vom Bildschirm weg: „Was möchten Sie wissen? Bitte, setzen Sie sich doch.“

„Sie interessieren sich sehr für den Computer.“

„Ja. Es ist ungemein faszinierend, wie schnell die Menschen diese Entwicklung vorangetrieben haben. Und jetzt hat man die ganze Welt hier in diesem Kasten. Wenn ich bedenke, wie mühsam die Suche nach Informationen zu meiner Jugendzeit war, zumal als Frau…“ Sie dachte kurz nach: „Aber ich denke, das werden Sie wissen. Sie sind wohl auch erst seit keinen zweihundert Jahren verwandelt, oder?“

„Das stimmt. Woran erkennen Sie das?“

„Nun, Mädchen dieser Zeit wurde gewisses Benehmen beigebracht. Auch, wie man sich setzt…Das kam mir bei Ihnen so bekannt vor.“

„Sie besitzen eine gute Beobachtungsgabe, Frances.“

„Danke. - Was möchten Sie von mir wissen?“ wiederholte sie sich.

„Was sind die Closes?“

„Die Gassen in der Altstadt, hier in Edinburgh. Sie gehen nach einem bestimmten Muster von der Royal Mile ab. Sir Angus, Neville oder Thomas können Ihnen da sicher mehr darüber sagen.“

„Ach, dann sind Sie nicht aus Edinburgh?“ Das hatte sie bislang eigentlich angenommen.

„Nein. Galashiels. Allerdings lebe ich seit …seit langem hier. Ich muss freilich gestehen, dass ich mich nie dafür interessiert habe, wie ein Reisender, ein Tourist, hier durch die Stadt zu gehen. Früher las ich in Sir Angus´ umfangreicher Bibliothek, seit einigen Jahren lese ich hier am Computer. Das Internet ist eine wirkliche Fundgrube für alle Themen. – Soll ich Ihnen die Closes nachschlagen?“

„Das geht?“

„Aber ja.“ Frances wandte sich wieder ihrem Computer zu: „Oh, da gibt es sogar Führungen durch. Mit Geistergeschichten bei Nacht und so. Sie scheinen wirklich sehr berühmt zu sein. – Wie kamen Sie darauf?“

„Es wurde in der Pressekonferenz erwähnt.“

„Ach, die Polizei? Aber was sollen die Gassen mit den Morden zu tun haben? Ich meine, da laufen doch genug Menschen durch, selbst bei Nacht, so wie sich das hier liest.“

Wusste Frances wirklich nichts von dem unterirdischen Teil? Sie sagte doch, sie würde alles in ihrem Computer finden….Aber Sarah meinte nur: „Nun, ein Labyrinth bietet wohl auch Versteckmöglichkeiten.“

„Das stimmt. Und diese verrückten Menschen müssen sich ja auch verstecken.“

„Sie gehen also davon aus, dass es Menschen sind, die die Menschen töten und ihr Blut nehmen?“

„Aber natürlich.“ Frances wandte sich abrupt um: „Lady Sarah!“ Sie klang entsetzt: „Jetzt wird mir erst klar, warum Sie hier sind. Sie wollen überprüfen, ob Sir Angus, oder ich oder Thomas oder Neville etwas mit diesen Morden zu tun haben, Gebissene erschaffen haben?“

„Nun, es könnte auch ein ortsfremder Vampir sein.“

„Ja, stimmt….Das...das erleichtert mich doch. Ich meine, Sir Angus ist ein sehr ehrenwerter Mann. Und ein guter Meister zu uns allen.“

„Das ist schön.“ Das war etwas, was ihr selbst wohl immer fehlen würde – mit ein Grund für den Argwohn gewisser Ratsmitglieder ihr gegenüber. Ein Vampir, der keinen Meister hatte, ja, keine Ahnung, wer ihn eigentlich verwandelt hatte – dafür aber eine ungewöhnliche Fähigkeit besaß. Donna Innana und vor allem Lord John Buxton hatten sich ihrer angenommen, letzterer sie förmlich adoptiert. Sie konnte sich über ihren „Vater“ wirklich nicht beschweren, aber sie hätte zu gern erfahren, wer sie warum in einen Vampir verwandelt hatte – und was zuvor gewesen war. Sie konnte sich an nichts erinnern, außer, allein durch die Londoner Nacht gewandert zu sein, bis sie Lord John gefunden hatte. Und mit gewissem Entsetzen sofort dem Hohen Rat vorgestellt hatte, als er ihre Geschichte hörte. „Neville ist auch aus Edinburgh?“

„Nein, aus Stirling, also, gebürtig. Thomas dagegen ist in dieser Stadt geboren, Sir Angus lebt hier schon sehr lange, ich glaube, seit sich sein Meister damals zurückzog und die fünf sich über Schottland verteilten. Neville war da schon bei ihm. – Also, wenn Sie mehr zu den Closes wissen wollen, fragen Sie doch einen der drei.“

Sarah verschwieg, dass sie Thomas bereits dazu gefragt hatte: „Ja, danke. – Wo ist denn Nevilles Zimmer?“

„Hier, gleich nebenan. Er wird allerdings im Keller arbeiten. – Er restauriert alte Figuren und sonstige Werke nach den original historischen Methoden. Hat Ihnen das Sir Angus nicht gesagt? Neville ist ein wahrer Künstler und manche Museen der Welt rufen ihn.“

Eigentlich war das kaum überraschend, kannte er im Zweifel doch die historischen Methoden aus eigenem Erleben. „Nein, das wusste ich nicht. Aber es klingt sehr interessant. Danke, Frances.“

„Es wird Zeit. Wenn Sie keine Fragen mehr haben, Lady Sarah, würde ich gern noch meinen Download starten, ehe ich das Abendtrinken vorbereite. Wir haben ja Gäste.“

„Download?“

„So nennt man es, wenn man sich Dateien aus dem Netz holt….Äh, ich hole mir sozusagen ein Buch hier in den Raum, aus der riesigen Bibliothek, die man Internet nennt.“

„Das klingt sehr interessant.“ Sarah warf einen Blick auf den Computer: „Ich denke, ich verstehe, was Sie daran so fasziniert. Haben Sie sich alles selbst beigebracht?“

„Ja. Fast alles. Sie müssen bedenken, dass ich schon seit Jahrzehnten dabei bin, jede Neuerung, jede Veränderung mitbekommen habe. Und Entwickler dieses Netzes und der Computer sind Menschen.“

„Natürlich. – Danke, Frances, dann halte ich Sie nicht mehr länger auf.“

Sarah verließ das Zimmer. Als sie die Tür schloss, sah sie zurück. Frances kümmerte sich bereits nicht mehr um sie, sondern drückte die Tasten. In der Tat, sie hatte ihren Lebensinhalt gefunden.
 

Beim gemeinsamen Abendtrunk erklärte der Hausherr: „Meine lieben Freunde, ich möchte euch mitteilen, dass die nächtliche Ausgangssperre aufgehoben wurde. Natürlich besagt das leider nicht, dass wir alle auf die Jagd gehen können, aber ich denke doch, dass dies darauf hinweist, dass die menschliche Polizei nun von menschlichen Tätern ausgeht. Können Sie uns etwas dazu sagen, Lady Sarah?“

„Ich habe mit dem ermittelnden Beamten gesprochen und er geht von menschlichen Tätern aus. Allerdings hat er zu seiner Unterstützung einen Parapsychologen erhalten. Und dieser geht von Vampiren aus.“ Sie formulierte behutsam: „Indes vermute ich nach seiner Erzählung, dass er von Gebissenen spricht, nicht von unsereinem.“

„Ich will heute auf die Jagd gehen.“ Michael, einer der Schüler Henry Stuarts sah fast herausfordernd zu Sarah: „Oder spricht etwas dagegen?“

„Schmeckt Ihnen das Blut nicht?“ erkundigte sich Frances fast empört.

Er hob entschuldigend die Hand: „Ich weiß nicht, wie viele Mühe Sie sich geben mussten, soviel Blut herzubekommen, meine teuere Frances. Wir sind Ihnen alle jedenfalls zu Dank verpflichtet. Aber der Verzicht auf die freie Jagd stellt für mich fast eine…nennen wir es Entartung dar. Wenn unsere….englische…Ermittlerin nichts dagegen hat, oder der Inquisitor selbst, werde ich heute jagen.“

Sarah schüttelte den Kopf: „Sie würden ja doch tun, was Sie wollen, nicht wahr?“ Heute Nacht musste der Vampir, der die Gebissenen unter Kontrolle halten wollte, dieses Haus verlassen. Michael etwa? Er war schon längst über die kritischen Jahre hinaus. Nun, keine Theorie war perfekt. Aber warum hätte er sich dann schottische Opfer suchen sollen? Zu viele Fragen, auf die sie keine Antwort hatte.

„Natürlich“, sagte er nur: „Ich habe es mit Henry bereits besprochen.“

„Wir anderen bleiben hier“, erklärte Henry Stuart: „Aber für jemanden mit Michaels Temperament ist das Herumsitzen fast unerträglich.“

Sarah beschloss, am Ende des Zufahrtsweges zum Manor abzuwarten, wer alles das Haus verlassen würde. Zu dumm, dass sie nicht allen folgen konnte, falls es mehrere waren. Aber auf jeden Fall sollte sie sich demjenigen anschließen, der sich der Altstadt von Edinburgh näherte.

Sir Angus sagte nur: „Wenn Lady Sarah – oder der Kadash selbst – keinen Einwand haben, denke ich, dass Michael auf die Jagd gehen kann. Allerdings nur er. Wir wollen kein Aufsehen erregen, ehe die Sache nicht abgeschlossen ist. Und zwanzig von uns wären mit Sicherheit in einer Stadt wie dieser nicht unauffällig.“

Alle nickten.
 

Aus dem Bericht des Inquisitors an den Hohen Rat:
 

Heute Nacht dürfte die Entscheidung fallen. Und da sowohl Inspektor Cuillin als auch Professor Knox die Closes für ein mögliches Versteck hielten, in der Altstadt auch alle Morde geschahen, wird es sich dort zuspitzen.

Wer von den möglichen verdächtigen Vampiren sich dort sehen lässt, bleibt abzuwarten. Falls es alle sind, werden die Geschehnisse wohl zeigen, wer die drei Menschen zu Gebissenen machte. Und wer damit den Tod verdient hat.

Meiner Meinung nach gibt es einen eindeutigen Hinweis, wer es war, aber es könnte auch Zufall sein. Ohne eindeutige Beweise kein Urteil. Und kein Tod.
 

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Es sieht so aus, als ob Professor Knox nicht ganz allein durch die Closes streifen wird...^^
 

bye
 

hotep

Edinburgh: die letzte Nacht

Professor Knox allein in der Unterwelt auf Vampirjagd. Ob das gut geht? Und wen hat der Inquisitor warum in Verdacht?
 


 

6.
 

The city is a nightmare, a horrible dream

Some of us will dream it forever

Look around the corner and try not to scream:

It´s me
 

Abba: Tiger
 

Sarah schmiegte sich an eine gotische Hausmauer der Altstadt, froh um den harten Druck gegen ihre Taille. Ihre Handtasche hatte sie ja nicht mitnehmen können.

Sie war Michael schon fast eine Stunde durch das nächtliche Edinburgh gefolgt. Es waren nach den Morden weniger Menschen unterwegs als gewöhnlich, da war sie sicher. Er hatte ein ganze Weile gesucht, ehe er sich einem potentiellen Opfer vor einem Lokal näherte – einer englischen Studentin wohl. Nach einem kurzen Gespräch hatte er sie überzeugt, mit ihm noch einen trinken zu gehen – nette Umschreibung, dachte Sarah, die das selbst auch schon so formuliert hatte. Allerdings hatte sie ihr Opfer stets fast unverzüglich in einer stillen Ecke durch den geistigen, elektrischen Angriff betäubt und nicht erst die Vampirzähne gezeigt, es buchstäblich in Todesangst versetzt und laufen lassen, um dann die Verfolgung aufzunehmen.

Was sollte das? Sicher, wenn er das Mädchen endlich betäuben und dann trinken würde, würde sie sich am nächsten Tag an nichts erinnern, außer an einen schrecklichen Alptraum, aber….Das war unzivilisiert!
 

Sie bemerkte, dass er endlich die geistige Macht einsetzte, die die Jäger der Nacht auszeichnete, und sein Opfer bewusstlos zu Boden fallen ließ. Sie wartete, bis er sich seinen Anteil Blut geholt hatte, ehe sie sich näherte.
 

Er richtete sich auf: „Ihnen gefällt meine Jagdmethode nicht.“ Das war eine reine Feststellung.

„Vampire jagen, weil sie von menschlichem Blut leben müssen. Eine solche Hetze ist dagegen unserer unwürdig.“

„Schotten wurden schon ganz anders gehetzt, glauben Sie mir. Und die Kleine wird aufwachen, sich an nichts erinnern. Das ist gnädiger.“

„So rächen Sie die Vergangenheit? An Menschen, die damals noch nicht einmal geboren waren?“

„Ich erwarte nicht, dass Sie das verstehen. Sie waren ja immer auf Seiten der Sieger.“

„Was macht Sie so sicher?“

Er zuckte ein wenig die Schultern: „Ich hatte mein Vergnügen heute. – Gute Jagd, Lady Sarah.“

Mit dem alten Abschiedgruß der Vampire verschwand er in der Dunkelheit.
 

Sie starrte ihm nach. Sollte sie ihm nun folgen? Ging er seine Gebissenen holen? Oder kamen Thomas oder Frances in die Altstadt? Oder ein anderer? Musste sie sie nun suchen? Sie hatte einen Fehler begangen, als sie ausschließlich Michael beobachtet hatte. Wo waren die anderen? Doch zuhause? Sie hatte zwar einen Hauptverdächtigen, aber sie war sich wirklich nicht sicher, ob er es war. Sie konnte jetzt doch kaum die gesamte Altstadt abpatroullieren? Zwar war jeder Vampir in der Lage, einen anderen zu spüren, aber…

Nun, etwas anderes blieb ihr kaum übrig, entschied sie resignierend. Sie musste sich eben bemühen, möglichst konzentriert zu bleiben, zu versuchen, einen Artgenossen selbst dann zu erspüren, wenn er sich unter ihr in dem Labyrinth aufhielt. So machte sie sich auf den Weg durch das nächtliche Edinburgh, die Royal Mile entlang, systematisch die seitlichen kleinen Closes und Wynds absuchend, bemüht, sich nichts entgehen zu lassen.
 

Ein Geräusch, mehr geahnt als gehört, selbst für das übermenschliche Gehör eines Vampirs, ließ sie plötzlich herumfahren. Das war der Klang eines Schusses gewesen, der aus einem Tordurchgang ein gutes Stück hinter ihr geklungen war. Und es hatte äußerst gedämpft geklungen. Unter der Erde?

Sie rannte los, so rasch sie es vermochte. Nur kurz darauf befand sie sich in einem kleinen Hinterhof. An einer Stelle war ein Loch in der Wand, nein, ein wohl altes Portal, das nach hinten geschwungen war. Sie trat näher. Eine Treppe führte dort ins dunkle Nichts – keine Situation, die einen Vampir abgeschreckt hätte. Überdies erkannte sie unten einen schwachen Lichtstrahl. Ein jäher, nie zuvor gefühlter Schauder, der in ihr aufstieg, ließ sie ahnen, dass sich da Gebissene befinden mochten. So sprang sie förmlich die Stufen hinunter, als sie spüren konnte, dass sich dort auch Menschen aufhielten.
 

Sie erstarrte vor dem Bild, das sich ihr bot.
 

Es war ein Raum, der wie ein kleiner Platz geformt war, aus Ziegeln gemauert. Geradeaus führte ein Gang weiter, ebenso nach rechts. Fast in der Mitte des Raumes lag Professor Knox. Der Parapsychologe hielt noch ein Kreuz in der einen Hand, ein angespitzter Holzpflock war ihm entfallen. Seine Stirnlampe war das Licht, das sie hergelockt hatte. Neben, über ihm knieten zwei Wesen, die sie als Gebissene erkannte. Es waren noch vor wenigen Tagen Menschen gewesen, aber wie sahen sie nun aus: die Augen leuchteten feuerrot, das Gesicht war verzerrt, die Fangzähne hatten sie in den regungslosen Körper geschlagen, sättigten sich an dem mittlerweile sicher Toten.

Ein drittes dieser, ja, Monster, hatte sich dagegen der anderen, wohl neuen, Beute im Raum zugewandt, die fast noch am Fuß der Treppe stand. Kenneth Cuillin hatte instinktiv Rückendeckung an der Wand gesucht, mehrfach auf die Angreifer geschossen. Natürlich vergeblich. Und der Gebissene griff soeben nach dem Inspektor.

Ohne weiter nachzudenken, schleuderte Sarah ihre geistige Macht in den Raum, mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte.

Ein Mensch würde davon lange bewusstlos werden, aber auch ein Gebissener sollte erst einmal zu Boden gehen. So war zumindest die Theorie ihrer Ausbilder gewesen.
 

Sie wartete einen Moment, ehe sie erkannte, dass sie in der Tat als Einzige in dem Raum noch stand. Es war das erste Mal gewesen, dass sie ihre Fähigkeit wirklich gegen Gebissene eingesetzt hatte. Sie wusste nicht, wie lange diese ohnmächtig bleiben würden. Professor Knox war tot, da war sie überzeugt, aber Kenneth Cuillin konnte sie noch helfen.

So trat sie zu ihm und zog ihn ein wenig auf, um ihn zur Treppe zu schleifen, an die Stufen zu lehnen. Sie wagte es nicht, ihn aufzuheben und zu tragen. Zwar hätte sie die körperliche Kraft dazu besessen, aber dann hätte sie den Gebissenen den Rücken zuwenden müssen, und das war ihr doch zu unsicher. Ihre Anspannung näherte sich fast Angst.

Sie spürte das leise Geräusch mehr, als sie es hörte, und ließ den Inspektor eilig zu Boden und starrte in den Gang ihr gegenüber. Wenn sie die Hinweise richtig gedeutet hatte, wusste sie, wer da kam. So oder so wäre es bedauerlich. Ein wahrer Vampir, der aus Menschen solche seelenlosen Monster schuf, war jedoch der unreine Abschaum des Volkes. Und hatte nach dem uralten Gesetz selbst auf sein Lebensrecht verzichtet.

„Guten Abend, Lady Sarah. Wie bedauerlich, dass Sie das kleine Siegesfest meiner…Untergebenen stören.“

„Siegesfest? Untergebenen?“ Sie starrte Thomas fassungslos an, der aus dem Gang in das matte Licht der Taschenlampe trat, und ging ihm einige Schritte entgegen, um den bewusstlosen Polizisten im Rücken zu haben, ihn so zu decken. „Die Jagd auf Menschen, ihnen ein wenig Blut abzunehmen, ist eine Notwendigkeit für einen Vampir. Aber man raubt ihnen nicht die Seele, verdammt sie so in alle Ewigkeit!“ Sie wollte fragen, warum, aber sie sparte es sich. Die Gebissenen begannen sich zu bewegen, ja, würden gleich erwachen. Das war eine Situation, in die sie lieber nicht gekommen wäre.

Auch Thomas hatte bemerkt, dass seine Gehilfen aufstehen würden: „Ich weiß nicht, wie es Ihnen gelang, sie bewusstlos zu bekommen, Lady Sarah…“ Der Titel war fast unmerklich betont: „Aber das wird Ihnen nichts nützen. Ich werde mir jetzt Ihr Blut nehmen. Das ach so vornehme Blut einer englischen Lady. Mal sehen, ob es besser schmeckt als das einer schottischen.“

Sie musste einfach versuchen, zu ihm durchzudringen. War sein Verstand durch die Anspannung der kritischen Jahre denn vollkommen verwirrt? Konnte sie ihn wieder zurückbringen? Vielleicht konnte man ihn dann von seinem Wahn heilen, ihm den Tod ersparen? Kein wahrer Vampir tötete – mit einer einzigen Ausnahme. „Kein Vampir kann das Blut eines anderen trinken! Das wäre tödlich!“

„So sagen unsere Meister. Aber ich glaube es nicht. Es ist nur, um uns daran zu hindern, selbst mächtiger zu werden. – Ah, meine Freunde, darf ich euch Lady Sarah vorstellen…? Geht zu ihr und hindert sie daran, zu fliehen, während ich sie mir heute vornehme…“

Sarah blieb regungslos stehen, als sich die Gebissenen ihr näherten, im Halbkreis hinter ihr hielten, ohne sich um den noch immer bewusstlosen Inspektor zu kümmern. Anscheinend waren sie durch das Blut des Professors gehorsam genug, im Moment zumindest. Sie wollte sich nicht vorstellen, was geschähe, würden diese drei ohne Kontrolle oben in der Altstadt wüten. Aber sie hatte ein mehr als unbehagliches Gefühl in der Wirbelsäule, als sie erkannte, dass die drei sich nur zwei Schritte von ihr postiert hatten, hinter ihr, rechts und links. Unwillkürlich versuchte sie, sie alle im Auge zu behalten, als sie Thomas antwortete: „Als Sie mich vorhin nach den Adelstiteln fragten, fiel mir auf, dass alle Opfer, außer den ersten, ein Sir oder einen anderen Adelstitel vor dem Namen hatten. Sie haben sich darauf beschränkt, nicht wahr?“ Sie musste zugeben, keine Ahnung zu haben, über was man sich mit einem Geisteskranken unterhalten sollte, der einen umbringen wollte. Aber sie ging von der menschlichen Vergangenheit aller Vampire aus: Menschen redeten gern über das, was sie getan hatten.

„Aber ja. Das haben Sie ja direkt schlau erkannt. – Soll ich Ihnen auch sagen, warum? Hat Ihnen Sir Angus …auch wieder ein Sir…gesagt, wie ich zu ihm kam?“

„Nein. Das wäre sehr unhöflich.“

Thomas lachte auf. „Darum kümmern Sie sich? Nun, ich kam 1924 zu ihm. Ich lebte in einem Haus, hier in Edinburgh. Nicht so, wie hier die Altstadt. Draußen, wo die Armen lebten, in einer Mietskaserne. Es war sehr beengt, aber Mutter konnte nicht weg. Vater war auf See geblieben und sie hatte Arbeit in einer Fabrik gefunden. Und das Haus gehörte dem Fabrikbesitzer.“

„Einem Adeligen?“

„Oh, Sie fangen ja an, zu begreifen! – Es war gut, billige Arbeitskräfte an sich zu fesseln…aber es war noch besser, sie auch billig wohnen zu lassen. Das Haus war die Hölle, heruntergekommen und weiß Gott nicht auf irgendeinem sanitären Stand. Das Gaslicht, das er eingebaut hatte, brachte dann die Explosion. Das Haus war zerstört, meine Mutter tot. Ich war schwer verletzt. – Im Krankenhaus lernte ich dann Sir Angus nennen. Und mit ihm meine Chance auf Rache.“

Sarah starrte ihn an: „Chance auf Rache? Indem Sie alle Leute töten, die irgendwie einen Adelstitel tragen?“ Sie versuchte, irgendeinen Fanatismus in seinen Augen zu erkennen, Hass, aber es war nichts zu sehen. Er stand vollkommen ruhig, ja, gelassen da. Und plötzlich begriff sie: der Hass hatte sich zu tief in ihn eingefressen. So tief, dass weder Sir Angus noch sonst jemand ihn mehr hatte erkennen können. Wie ein Wurm musste er sich in den Jungen gebohrt haben, auch in seiner Vampirzeit, immer tiefer. Leute wie Michael hatten ebenfalls in ihrer Menschenzeit gelernt, was Hass war, das hatte er zuvor bewiesen. Henry und die anderen hatten es besser verkraftet und schlugen nur noch mit Worten um sich, Michael jagte dagegen hart am Rande dessen, was unter Vampiren noch als zivilisiert galt. Aber es war doch noch ein Unterschied, Menschen im wahrsten Sinne des Wortes zu jagen, ihnen Alpträume zu verschaffen, oder sie in Gebissene zu verwandeln, buchstäblich die Seele zu rauben. Und noch einmal etwas anderes war die Last, die allein der Kadash trug: die Blutschuld am Leben der eigenen Artgenossen. Zum ersten Mal begriff sie, wie unendlich schwer diese Bürde war.

„Oh ja, das werde ich tun. Bald werde ich nicht mehr nur drei Gebissene haben, sondern mehr. Und sie werden aus immer mehr Menschen Untote machen, die nur noch meiner Kontrolle unterliegen. Und ich werde allen ach so tollen Adel ausrotten!“ Aber er lächelte sie an: „Und mit Ihnen mache ich jetzt erst einmal weiter. Leider bin ich mir sicher, dass es stimmt, und ich keinen Vampir zu einem kontrollierten Gebissenen machen kann. Aber ich werde Ihr Blut trinken, Sie leer trinken, und damit Ihrer Seele berauben. Dann sind Sie wahrhaft tot.“

Sarah sparte es sich, ihn erneut darauf hinzuweisen, dass das vollkommen anders als menschliches geartete Vampirblut in ihr ihn bereits beim ersten Schluck töten würde. Das hatte er schon zuvor nicht geglaubt. Außerdem: wie wollte er diese Menge in sich aufnehmen? Hatte er das schon bei den Morden getan, ebenso blindwütig wie eines seiner gebissenen Opfer? Sie hatte nie zuvor einen wahnsinnigen Vampir getroffen.

Sie bemühte sich mit wachsender Anspannung, die drei Gebissenen um sich nach wie vor im Auge zu behalten, als sie bemüht ruhig meinte: „Das wird nicht funktionieren. – Und es muss für Sie eine Enttäuschung gewesen sein, als Sir Angus und die anderen den Hohen Rat informierten, den Inquisitor riefen.“ Ihre Hände bewegten sich unruhig an ihrem Bauch, ihrer Hüfte. Ihr war klar, was sie tun sollte, aber sie schreckte davor zurück. Es war etwas anderes, Menschen oder die Gebissenen zu betäuben…

Thomas entging ihre Nervosität nicht: „Natürlich war das eine unangenehme Überraschung. Aber ich bemerkte bald, dass ja nicht der Inquisitor gekommen war. Der Rat hielt das hier für unbedeutend genug, nur Sie zu schicken. – Oder wollen Sie mir weiß machen, dass Sie nur zu rufen brauchen, und der Inquisitor käme? Gegen den hätte ich vielleicht wirklich keine Chance. Aber immer gegen eine aufgeblasene, arrogante Lady.“

Sarah blickte in den dunklen Tunnel hinter ihm: „Oh, Thomas, “ flüsterte sie, als sie ihre Hände vor sich übereinander legte. Er tat ihr so Leid: so jung und so wahnsinnig….

Sein nächstes Wort galt den Gebissenen: „Lasst sie nicht entkommen, wenn ich sie mir jetzt schmecken lasse. Und Sarah-Schatz: spar es dir, vergeblich zu rufen…“

„Haben Sie es denn nicht begriffen?“ fragte sie leise, bemüht, ihren instinktiven Ekel vor den Gebissenen zu unterdrücken, die sie anfassen wollten, und sich zu konzentrieren: „Der Inquisitor ist doch schon hier!“
 

Kenneth Cuillin erwachte mit ziemlichen Kopfschmerzen. Was war nur geschehen? Er hatte Professor Knox gesucht und war dem in die unterirdischen Gänge der Closes gefolgt. Er allein, ja, was an sich dumm war, aber er hatte diesen Volltrottel möglichst unauffällig zurückholen wollen, ehe dem noch etwas passierte. Sein Vorgesetzter hatte diesem Vorhaben ja auch zugestimmt…Und hier waren …war wer gewesen?

Jemand umfasste ihn und zog ihn auf.

„Geht es Ihnen gut?“

„Lady Sarah!“

„Sie müssen ein Held gewesen sein.“ Ihre Stimme zitterte.

Er sah sich verwirrt im Raum um. Professor Knox lag da und er hatte in der letzten Zeit zu viele blutleere Leichen gesehen, um nicht zu wissen, was mit diesem passiert war. Aber da waren noch drei andere Tote. Er erkannte Einschusswunden. Hatte er…?

Doch, diese drei Jungen waren aus den dunklen Gängen gekommen und hatten den Professor unverzüglich attackiert, als er selbst soeben wieder die Treppe hinunter gekommen war. Er hatte sich orientieren wollen – gegen den Willen des Professors, der etwas von: „sie sind nahe“ geredet hatte. Er hatte dann sofort zu seiner Dienstwaffe gegriffen: „Was...was machen Sie hier?“

„Ich hörte Schüsse, durch die offene Tür dort oben“, gab sie ehrlich zu: „Und irgendwie dachte ich mir, dass Sie es sind. Der Professor ist tot. Die Drei auch. Sind das…das die Freunde Mary Duncans?“

„Ja, ich denke schon.“ Er fühlte sich vollkommen schwach, ja, verwirrt. Was war nur geschehen? Er neigte doch sonst nicht gerade zu Ohnmachtsanfällen? Aber da war das Bild, das er noch vor Augen hatte, dieser Verrückte, mit blutunterlaufenen Augen und blutigem Mund, der sich ihm genähert hatte, auf den er geschossen hatte…

Sarah leckte sich rasch über die Lippen. Sein Blut war so appetitlich gewesen, wie sie es erwartet hatte. Natürlich würde er sich durch die Schocks der geistigen Attacken und den Blutverlust noch schwach fühlen, aber sie hatte ihm das Leben gerettet – und da war ein halber Liter Blut sicher kein Preis. Und sie hatte nach den nervenaufreibenden vergangenen Minuten dringend etwas zu Trinken gebraucht, um sich einigermaßen zu beruhigen. „Sie rufen Ihre Kollegen?“ Irgendwie war sie froh, im Moment nicht allein zu sein – und das hatte nichts mit dem belebenden Trunk zu tun, den er ihr ohne Wissen spendiert hatte.

„Ja.“ Der nüchterne Polizist kam wieder zum Vorschein, als er seine Waffe aufnahm und in das Halfter steckte: „Vier Tote. Aber wenn damit diese Mordserie ein für alle Mal ein Ende findet…Warum nur haben sie Knox angegriffen?“

„Vielleicht ging er einfach vor Ihnen?“ schlug sie vor, da sie nicht direkt danach fragen wollte, was passiert war. An je weniger sich Kenneth Cuillin erinnerte, umso besser.

Er griff in seine Jackentasche: „Ich suchte ihn. Ich hatte, zu Recht, angenommen, dass dieser Vollidiot sich selbst und noch dazu allein auf die Fahndung nach den Killern machen wollte. Nach Rücksprache mit meinem Vorgesetzten kamen wir überein, dass ich ihn einzeln suchen sollte, um kein Aufsehen zu erregen, und ihn wieder zurückhole. Ich fand ihn hier unten, aber er wollte nicht aufgeben. Ich begleitete ihn ein gutes Stück durch diese Gänge und versuchte, ihn zu überzeugen, dass man mit einem Kreuz nicht gegen drei Mörder ankommt. Hier ging ich die Treppe empor, um mich zu orientieren, nun, und um ihn dann einfach zu zwingen, mit mir in Sicherheit zu gehen. Als ich zurückkehrte, hatten sie schon den Professor in der Mangel. Sein Kreuz war vollkommen wirkungslos. Und ich dachte auch schon, meine Schüsse…- Hier unten funktioniert das Handy nicht. Kommen Sie, gehen wir hoch.“ Er wollte sie nicht allein in einem dunklen Keller mit vier Leichen lassen. Sie sah blass aus und hatte nur langsam wieder ihre Stimme vom Zittern befreien können. Sicher war es das erste Mal, dass sie solche Toten sah.

„Können Sie mich raushalten?“ fragte sie, als ihr plötzlich klar wurde, dass sie vor der menschlichen Polizei Aussagen machen müsste. Das wäre unangenehm.

„Warum? Sie wären eine wichtige Zeugin.“

„Wofür? Dass ich Sie bewusstlos gefunden habe?“

„Hm…“

„Sie haben versucht, den Professor zu beschützen, wenn auch vergeblich. Und Sie haben selbst den Angriff überlebt. Das ist doch offensichtlich.“

„Ja.“ Er sah sich um. Dass die Kugeln in drei der Toten aus seiner Dienstwaffe stammten, würde die Untersuchung sicher bestätigen. Sie mussten vollkommen verrückt geworden sein. An ihren Mündern hing noch immer Blut. Und der arme Knox lag da, eindeutig ohne einen Tropfen Lebenssaft… „Ich denke schon, dass es offensichtlich ist“, meinte er langsam. „Kommen Sie.“

Sarah warf noch einen raschen Blick zurück, als sie ihm folgte. Die drei Gebissenen waren wieder zu Menschen geworden, in dem Moment, in dem sie den wirklichen Tod gestorben waren. Und das Häufchen Asche dort hinten würde in dem geringen Luftzug in den Gängen endgültig verweht sein, bis die anderen Polizisten hier waren. Die Bedingung der Unauffälligkeit war erfüllt.
 

***************************
 

Diese Nacht dürften weder Sarah noch der Insektor je vergessen, hat sie das Erlebte doch recht mitgenommen.

Im nächsten Kapitel erfahrt ihr, was geschehen ist, bevor Mr. Cuillin aufwachte - und was der Hohe Rat meint.
 

bye
 

hotep

Rom, Hügel des Palatin

Sarah hat sich in Edinburgh recht gut geschlagen, hofft sie. Denn ihre Stellung gerade gegenüber dem Hohen Rat ist zwiespältig.
 

6. Rom, Hügel des Palatin
 

Lady Sarah warf einen kurzen Blick hinüber, wo die Ruinen des Circus Maximus selbst um diese Nachtzeit vom Autoverkehr umrahmt wurden, als sie die Via di Cerchi in Rom entlangging. Einige andere, wenn auch menschliche, Spaziergänger waren ebenfalls unterwegs. So achtete sie sorgfältig darauf, von niemandem beobachtet zu werden, als sie sich auf einen kleinen, fast zugewachsenen Weg nach rechts wandte und den Palatin emporstieg. Ihr Ziel war allerdings nicht das dort oben liegende Ausgrabungsgelände des Hauses des Augustus, sondern eine Höhle in dem Hügel, der Treffpunkt des Hohen Rates, wenn er sich in Rom aufhielt.

Leider hatten vor einigen Jahren Archäologen bei Sanierungsarbeiten am Augustuspalast einen Teil der Höhle gefunden, eine sechzehn Meter tiefe Grotte, die mit Mosaiken und Muscheln geschmückt war. Natürlich hatten die Menschen sich an die römische Gründungslegende erinnert, und dies für das Heiligtum gehalten, in dem die Romgründer Romulus und Remus verehrt wurden.

Noch war ein Teil der Höhlen unentdeckt, aber es war abzuwarten, wann die Archäologen weiter vordringen würden. So hatte der Hohe Rat, soweit sie wusste, beschlossen, seine Treffen nicht mehr in Rom abzuhalten, wenn sie auf diesem Kontinent stattfinden würden. Ein anderer Ort war allerdings noch nicht festgelegt worden. Das hatte Zeit.
 

Sarah war nervös. Immerhin sollte sie hier und jetzt Bericht erstatten, und damit praktisch selbst über ihr weiteres Schicksal entscheiden. Sie schob den schweren Stein beiseite, der überwachsen den Eingang zu der Höhle verbarg. Für Menschen war er zu schwer und so war bislang noch niemand auf die Idee gekommen, ihn zu beseitigen. Dahinter zeigte sich ein mannshoher, schmaler Spalt. Sie schob sich hinein und zerrte ein wenig mühsam den Fels wieder davor, ehe sie in das enge Dunkel weiterschritt.

Nur Minuten später erreichte sie eine Grotte, die ringsumher von Kerzen erleuchtet war. Auf der gegenüberliegenden Seite standen miteinander redend zwölf alte und mächtige Vampire, die sich aber umdrehten, als sie sie kommen spürten.

Sie verneigte sich etwas, bemüht, dass ihre Stimme nicht ihre Anspannung verriet: „Gute Jagd dem Hohen Rat.“

„Gute Jagd“, antwortete einer, der Sprecher des Rates. Sein Name war Amunnefer. Donna Innana nickte ihrer Schülerin freundlich zu, überließ das Reden aber dem Ägypter: „Dann ist die Mordserie in Edinburgh aufgeklärt?“

„Ja.“ Sie schluckte ein wenig, ehe sie bemüht sachlich begann. Ihre Notizen hatte sie auf dem Flug nach Rom noch einmal durchgelesen. Am Ende schloss sie:

„Die Gebissenen wollten nach mir fassen und so schickte ich erneut den geistigen Angriff aus, diesmal allerdings auch gegen Thomas gerichtet. Als sie alle am Boden lagen, nahm ich die alte Pistole mit den Silberkugeln, die mir der Kadash freundlicherweise geliehen hatte und…und erschoss damit die drei Jugendlichen, wenn man das so sagen kann. Sie starben den eigentlichen Tod und wurden wieder zu Menschen.“ Sie verschwieg die Tatsache, dass sie gezögert hatte ebenso wie ihre Verwunderung, dass keine Spuren ihrer Kugeln zurückgeblieben waren. Das gehörte nicht zu einem sachlichen Bericht und sie wollte sich im letzten Moment nicht noch Ärger einhandeln. „Dann erwachte Thomas. Ich…noch ehe er vollkommen wach war, setzte ich meine Fähigkeit der Beeinflussung ein. Er sah in mir nur ein Menschenmädchen – und biss mich. Er…er wurde vergiftet und wurde zu Asche.“ Ein gruseliger Anblick, den sie wohl nie vergessen würde. „Bis die Polizei kam, war von ihm nichts mehr zu finden. Die drei Menschen waren ja auch wieder welche, so dass die Bedingung der Unauffälligkeit erfüllt wurde.“
 

Ein wenig unruhig betrachtete Sarah den Hohen Rat. Hoffentlich waren sie mit ihrer Arbeit als Inquisitor auf Probe in Edinburgh zufrieden, hatte sie ihre Fürsprecher nicht ernüchtert.

Der Sprecher des Rates nickte etwas: „Wir danken für deinen Bericht, Sarah. War Sir Angus sehr enttäuscht?“

„Ja, Ammunnefer. Er begriff nicht, warum er in Thomas nicht das drohende Unheil, den verzweifelten Rachewunsch erkannt hatte. Aber ich fürchte, das war gar nicht möglich. Selbst, als er zu mir sagte, dass er Rache wolle, war kein Fanatismus, kein Hass zu erkennen. Ich vermute, Sir Angus wird keinen weiteren Schüler nehmen. Zumindest nicht für eine sehr lange Zeit.“ Der schottische Meistervampir war förmlich zusammengebrochen, als sie ihm berichtet hatte, was vorgefallen war.

„Die anderen Vampire sind zu ihren Wohnsitzen zurückgekehrt?“

„Ja.“ Und Inspektor Cuillin hatte um seine Versetzung aus Edinburgh gebeten. Er hatte ihr gesagt, dass er zu Interpol gehen wolle. Ein Schreibtischjob sei wohl besser für seine Nerven. Sie vermutete, dass er noch lange nicht das Bild aus dem Kopf bekommen würde, wie die Gebissenen über Professor Knox hergefallen waren, der eine dann auf ihn zugekommen war. Und das war auch kaum etwas, mit dem er zu einem Psychologen gehen konnte oder wollte. Aber das würde den Hohen Rat sicher nicht interessieren.

„Du hast gute Arbeit geleistet, Sarah. – Oder hat ein anderes Mitglied des Hohen Rates noch eine Frage an sie?“

„Ich habe eine Frage.“

Sarah wandte unbehaglich den Kopf. Sie kannte die tiefe, dunkle Stimme, den schwarzhäutigen Mann, der aus den Schatten trat: „Ja, Kadash?“ fragte sie jedoch höflich.

„Als du die bewusstlosen Gebissenen mit den Silberkugeln aus meiner Pistole erschossen hast: was hast du da gefühlt?“

„Mitleid“, antwortete sie ehrlich. Man log den Inquisitor nicht an.

Als das Raunen des Rates vorbei war, fuhr er fort: „Warum?“

„Sie waren Menschen und wurden zu Gebissenen, ohne es zu wollen. Sie waren Opfer, ebenso wie die, die getötet wurden.“

„Und als du Thomas veranlasst hast, dich zu beißen? Du wusstest ja, dass er an deinem Blut stirbt.“

Unwillkürlich versuchte sie sich zu verteidigen. Es war ihr Auftrag gewesen, aber ein Vampir tötete eben nicht: „Ich warnte ihn, aber er wollte nicht hören, konnte es wohl auch nicht. – Bedauern, dass es so kommen musste. Ich meine, er war einer von uns….“ Sie wusste nicht, wie sie das noch erklären sollte.

„So ist es gut.“ Er sah zum Rat: „Nach all den Jahrtausenden, in denen ich der Kadash war, kann ich mich nun zurückziehen. Kein Vampir, auch nicht der Inquisitor, tötet ohne Bedauern oder Reue – oder er wäre nicht besser als die, die er jagen soll. Sarah, du wirst viel lernen müssen in den nächsten Jahren, Jahrzehnten, aber du hast die besten Voraussetzungen, die ich je bei einem Vampir sah. So soll es sein, dass du nun diese schwere Aufgabe übernimmst, Kind.“

Sie schluckte etwas. Aus irgendeinem Grund musste sie plötzlich an den schottischen Polizeiinspektor denken: „Haben Sie…hatten Sie Leute unter Vampiren und Menschen, die Sie ansprechen konnten?“

„Ja.“ Er reichte ihr eine Liste, als habe er nur auf diese Frage gewartet: „Meine Waffe besitzt du bereits.“

„Danke. - Darf ich später Sie noch fragen…?“

„Nein. Ich werde mich zurückziehen. Nach all den langen Jahren bin ich nun frei. – Und jeder muss es selbst lernen. Aber ich bin sicher, Sie werden es schaffen, Inquisitor.“ Mit dieser höflichen Anrede wandte er sich um und verschwand in der Dunkelheit der Grotte, selbst für die Augen der anderen Vampire schien er mit den Schatten zu verschmelzen.
 

„Nun gut“, sagte ein Ratsmitglied und Sarah drehte sich um.

Sie wusste, dass Ikol einer derjenigen war, die schon früh auf ihren Tod gedrängt hatten. Nur der Fürsprache Lord Johns, Donna Innanas und des Kadash selbst hatte sie es zu verdanken, noch am Leben zu sein. Alle drei hatten darauf hingewiesen, dass ihre Fähigkeit, auch Vampire und Gebissene bewusstlos werden zu lassen, ja, Vampire geistig beeinflussen zu können, womöglich ein ebensolcher evolutionärer Sprung für einen Vampir war, wie die Fähigkeit, Menschen bewusstlos werden zu lassen, für einen Menschen, der zum Vampir wurde. Und dass dies für das gesamte Volk durchaus nutzbringend sein könnte, vor allem, wenn sie der neue Kadash wäre. So war ihr der Auftrag in Edinburgh auf Probe anvertraut worden.

„Dann, Inquisitor, haben wir einen neuen Auftrag für Sie. In Mexiko soll es eine Sekte geben, die nach dem alten Vorbild der Blutopfer stattfinden lässt. Der Leiter erscheint nur bei Nacht. – Die mexikanischen Vampire sind beunruhigt.“

„Ich verstehe.“

„In Mexiko-City wird Sie der Älteste abholen und weitere Informationen für Sie haben.“

„Danke.“

„Wir erwarten hier Ihren Bericht. Gute Jagd, Kadash.“

Sarah verneigte sich höflich ein wenig vor dem Hohen Rat, auch zu höflich, ihr Erstaunen zu zeigen, mit welcher Selbstverständlichkeit ein Vampir, der noch vor zwei Wochen ihren Tod gefordert hatte, sie nun mit diesem Titel ansprach: „Gute Jagd dem Hohen Rat.“
 

Zwei Tage später war der Inquisitor in Mexiko-City.
 

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Was Lady Sarah dort, außer Geschichte und Geografie, erfährt, bringt sie auf eine Spur, die ihre eigene ungeklärte Vergangenheit berühren könnte. Aber das ist schon eine andere Geschichte - wer will kann sie nächsten Samstag hier lesen.

Denn der Weg des Inquisitors hat gerade erst begonnen.
 

bye
 

hotep

Mexiko-City

Sarah hat einen neuen Auftrag bekommen - und anscheinend ohne weitere Probleme den Titel und die Macht des Inquisitors. Oder?
 

8. Mexiko-City
 

Als Lady Sarah Buxton mittags aus dem Flugzeug stieg, traf sie die Wärme fast wie ein Schlag. Natürlich hatte sie gewusst, dass es in Mexiko wärmer als in London war, aber sie hatte doch angenommen, dass die Höhenlage der 25-Millionenstadt für Kühle sorgen würde. Immerhin war die größte Hauptstadt der Welt von hohen Bergen und Vulkanen umgeben. Dann jedoch erkannte sie, dass es weniger die Temperatur war, die sie so getroffen hatte, sondern die enorme Luftverschmutzung, die das gesamte Tal erfüllte.

Überdies hatte sie unerwartete Probleme bekommen. Menschen achteten seit neuestem bei Flugzeugen sehr auf Sicherheit und sowohl die Pistole, als auch die Silberkugeln, mit denen sie gegen Gebissene vorgehen, nun, diese töten. konnte, wären auffällig gewesen. So hatte sie sich die Silberkugeln an einer Angelschnur aufgefädelt um den Hals gehängt, wenn auch über dem Shirt. Der Butler der Buxtons war handwerklich äußerst begabt und hatte ihr dies so eingerichtet. Die Pistole war im Koffer verstaut – zusammen mit einer Bescheinigung, dass sie antik sei. Nun, sie stammte in der Tat aus dem 16. Jahrhundert. Und dies war akzeptiert worden.
 

Sie sah sich im Flughafen kurz um, ehe sie eine junge, schwarzhaarige Frau mit grauen Augen entdeckte, die ein Schild empor hielt: Amigos de la noche. Freunde der Nacht. Sie trat näher.

„Verzeihung“, sagte sie. Ihr Spanisch war nicht sonderlich gut, das wusste sie selbst. „Warten Sie auf mich?“

Die junge Frau wollte sichtlich schon verneinen, ehe ihr Blick auf die Plakette des Inquisitors in Sarahs Hand fiel: „Ich…ich verstehe nicht ganz….Mir wurde gesagt, ich solle einen Senor abholen...“

„Das ist schon in Ordnung. Würden Sie mich zu Don Pakal bringen?“

„Ja, natürlich. Ich bin Juanita Bajez. Ich bin Don Pakals Kind.“

„Mein Name ist Lady Sarah Buxton. Ich habe einen Auftrag hier.“

„Natürlich. Verzeihen Sie meine Unhöflichkeit. Ich…wir sind davon ausgegangen, dass der Inquisitor selbst herkommen würde. Aber natürlich hat er Schüler oder Mitarbeiter…“

Sarah schwieg dazu und folgte der jungen Vampirin.
 

Juanita führte den Gast zu einem Auto. Sarah war erstaunt: „Sie können Auto fahren?“

„Oh ja. Als einziges der „Kinder“ Don Pakals. Darum erhalte ich auch diese Aufträge. Es ist angenehm, so rasch reisen zu können. Überdies macht es mir wenig aus, bei Tage unterwegs zu sein.“

„Ich bin neugierig…“ Sarah setzte sich. Sie war in London bereits mit Autos gefahren, mit Bussen und Taxis, aber nie zuvor hatte ein Vampir am Steuer gesessen. Was zu etwas anderem führte. Wie war es zu früheren Zeiten, ehe es Autos und Flugzeuge gab, dem Inquisitor möglich gewesen, über die gesamte Erde zu reisen? Zu schade, dass sie ihn nicht mehr fragen konnte. Oder auch nur durfte. Er hatte sich zurückgezogen. Und alles, was sie nun lernen konnte, lag allein in ihr – und womöglich der Liste der Mitarbeiter, die er ihr noch gegeben hatte.

Sie beobachtete ihre Fahrerin eine Weile, ehe sie beschloss, dass diese trotz des chaotisch erscheinenden Verkehrs wohl sicher fuhr, und lieber das verwirrend quirlige Leben der mexikanischen Hauptstadt betrachtete. Moderne Hochhäuser, viele Bauten aus der Zeit der spanischen Kolonisation, arm und reich dicht beisammen.

„Darf ich Sie etwas fragen? Ich möchte nicht unhöflich sein. Pakal…Don Pakal ist schon ein älterer Vampir?“

„Natürlich. Er ist der älteste der Vampire in Mexiko, der sich noch nicht zurückgezogen hat. – Hat man Ihnen das nicht gesagt?“

Nur indirekt. Aber Pakal war kein spanischer Name und so war zu vermuten, dass der älteste Vampir in Mexiko, der sich noch nicht zurückgezogen hatte, aus einem Volk der Urbevölkerung stammte. „Ich bekomme einen Auftrag, aber leider wenig…Nachrichten.“

„Oh. Das ist dann nicht immer einfach.“

„Nein.“ Mehr wollte Sarah nicht sagen, während sie versuchte, sich die mexikanische Geschichte in Erinnerung zu rufen, die sie auf dem langen Flug hierher ebenso studiert hatte, wie die spanische Sprache, die sie einst gelernt hatte.
 

In einem vornehmen Stadtviertel bog Juanita bei der Auffahrt einer Villa ein. Sarah erkannte, dass die beiden Wächter am Tor ebenfalls Vampire waren. Nun, bei fünfundzwanzig Millionen Einwohnern vertrug Mexiko City sicher einige ihrer Art, die dort jagten.

Juanita hielt vor dem Haus und stieg aus: „Kommen Sie bitte…“ Sie ging um das Auto, um die Beifahrertür zu öffnen, aber Sarah hatte bereits begriffen und stieg allein mit ihrer Reisetasche aus.

Die Mexikanerin lächelte erfreut und wandte sich um.
 

Das Haus war wohlhabend eingerichtet, erkannte Sarah, aber das war bei so alten Vampiren die Regel. In den langen Jahrhunderten ihres Lebens hatten sie sich Möglichkeiten schaffen können, Geldanlagen

Juanita öffnete eine Tür. „Don Pakal, Lady Sarah Buxton im Auftrag des Inquisitors…“

„Im Auftrag…?“

Sarah hörte noch die Verwunderung in der Stimme des Mannes, ehe sie das Arbeitszimmer betrat und sich höflich vor dem älteren Vampir verneigte. Juanita schloss die Tür von außen.

Er war eindeutig indianischer Abstammung und wirkte wie Mitte Dreißig, aber das war sicher ein Irrtum. Seine Kleidung entsprach der des letzten Jahrhunderts, ein eng anliegender, schwarzer Anzug mit einem blütenweißen Hemd darunter. Er musterte sie erstaunt, ehe sein Blick auf die Plakette in ihrer Hand fiel: „Das Zeichen des Inquisitors. Verzeihen Sie meine Überraschung, Lady Sarah. Sollen wir englisch reden?“

„Das wäre sehr freundlich“, erwiderte sie allerdings auf Spanisch: „Ich fürchte, meine Kenntnis Ihrer Sprache ist nicht perfekt.“

„Oh, aber recht gut. Sie haben gewiss einige Jahre Spanisch gelernt, wenn natürlich auch das Spanisch Europas. Bitte, setzen Sie sich. Dann reden wir spanisch, um Sie daran zu gewöhnen. Denn Meister Cacau spricht kein Englisch.“ Don Pakal wartete, bis sein Besuch Platz genommen hatte, ehe er langsam sagte: „Ich verstehe, dass sich der Inquisitor nicht um jeden Zwischenfall kümmern kann, zumindest, solange er ihn nicht als besorgniserregend einstuft. Sie werden Bericht erstatten? Natürlich. – Kennen Sie die Lage hier?“

„Mir wurde gesagt, dass sich anscheinend eine Art Sekte gebildet hat, die Blutopfer nach alten Vorbildern durchführt. Sind es Gebissene?“

„Vielleicht. Ich erkläre es Ihnen. – Wie Sie vielleicht wissen, bin ich seit dem Rückzug meines Meisters der älteste aller Vampire Mexikos. Ich trage damit auch die Verantwortung gegenüber dem Hohen Rat, gerade, was die Regel der Unauffälligkeit betrifft. Vor vier Nächten kam vollkommen überraschend mein Meister zu mir. Maestro Cacau, wie er sich seit langem nennt. War das schon besorgniserregend, so war es sein Bericht noch mehr. Er hatte bei einer Meditationsübung eine junge Menschenfrau gefunden, die am Rande der Erschöpfung war und viel Blut verloren hatte. Bevor sie in Ohnmacht fiel, warnte sie ihn noch vor Vampiren.“

Sarah nickte ein wenig. Die Regel der Unauffälligkeit war eine der Hauptregeln ihres Volkes. Kein Wunder, dass selbst ein zurückgezogen lebender Meister seine „Kinder“ warnen wollte. „Wo ist sie nun?“

„Er hat sie bei sich. Er nahm an, dass der Inquisitor mit ihr sprechen wollte. Sie erholt sich wohl langsam, aber ihr Bericht, was passiert ist, klingt sehr danach, als ob uns da entweder ein Mensch imitiert oder aber einer von uns abtrünnig geworden ist. – Juanita wird Sie dorthin fahren, wo Sie der Meister erwartet. Selbstverständlich würde niemand von uns ihm zu nahe treten, er hat sich zurückgezogen.“

„Selbstverständlich.“

„Verzeihung, ich wollte Sie nicht beleidigen, Lady Sarah. Es ist…eine ungewohnte Situation. Und seit dem Rückzug meines Meisters vor mittlerweile fast fünfhundert Jahren habe ich so etwas noch nie gehört. Er übrigens auch nicht.“

Sie erinnerte sich ihrer Flugzeuglektüre: „Vor fünfhundert Jahren drangen doch die Spanier hier ein?“

„So kann man es nennen. 1522 fiel Tenochtitlan und wurde als neue Hauptstadt wieder gegründet. Mein ursprüngliches Volk, die Maya, wurde 1541 vollkommen unterjocht…“ Ein Lächeln überflog sein Gesicht: „Nein, nicht alle Maya. Ein kleiner Stamm auf einer Insel im See von Peten Itza, leistete noch bis 1697 Widerstand. – Nun, Maestro Cacau übernahm es noch, unser Volk durch die Wirren jener Zeit zu leiten, ehe er sich von uns verabschiedete.“

Sarah unterdrückte gerade noch ihre unhöfliche Frage, seit wann Pakal denn Vampir sei – oder gar der Meister Cacau. „Ich bin mir bewusst, dass zurückgezogen lebende Mitglieder unseres Volkes nicht belästigt werden sollten. Aber dies scheint eine wirklich eigenartige Situation zu sein. Don Pakal, gibt es noch irgendetwas, das ich über Maestro Cacau wissen sollte, um ihn nicht unwissentlich zu beleidigen?“

„Ich denke, falls Sie dies tun, hat er Verständnis dafür. Sie sind nach den Maßstäben unseres Volkes, damit meine ich die Vampire, noch jung. Ich vermute, dass Sie noch keine zweihundert Jahre seit Ihrer Verwandlung erlebt haben.“ Weiter darauf herumzureiten wäre äußerst unhöflich – und dass musste im Allgemeinen und bei einer Mitarbeiterin des Inquisitors im Besonderen nicht sein. „Allerdings vermute ich, dass Sie gewisse Fähigkeiten besitzen, da Sie sonst keinen derartigen Auftrag bekommen hätten.“

„Danke. – Eine Frage, Don Pakal, wenn Sie gestatten: Cacau…das ist doch auch das englische Wort für Schokolade?“

Der Maya-Vampir lächelte und zeigte dabei die Fangzähne: „Aber ja. Wussten Sie nicht, dass die Kakao-Bohnen und – pflanzen hier in Mexiko wachsen, hier entstanden sind? Sie waren kostbar und wurden sogar bei allen Völkern als Währung benutzt. Schokolade ist das aztekische Wort für bitteres Wasser. Xocoatl: xococ – würzig, bitter und atl – Wasser. Dieses Getränk war vornehmlich den Adligen vorbehalten, und war des Weiteren von großer kultischer Bedeutung. Besonders für uns Mayas, von denen die Azteken diesen Brauch übernommen hatten. Bei den Mayas wuchs ein Baum, der „kakau“ genannt wird. Die Speise der Götter. – Noch heute ist Kakao hier in Mexiko ein wichtiger Exportschlager, aber auch Gegenstand des täglichen Lebens der Menschen.“

„Dann ist Meister Cacau auch ein Maya. – Oh, perdon, Don Pakal…“

„Nein, ich kann die Frage nachfühlen. Aber ich werde nicht weiter auf meinen Meister eingehen, das verstehen Sie sicher. – Er ist kein Maya.“

„Danke. Was muss ich noch über die Gegend wissen, wohin mich Juanita bringen wird?“

„Sie wird Sie in Richtung Oaxaca bringen. Das ist ein Hochland, mit vielen Tälern, trocken. Je nach Feuchtigkeit wachsen Pinien oder Kakteen. Die Bevölkerung sind hauptsächlich Zapoteken und Mixteken, aber da kann Ihnen Juanita auf der Fahrt einiges erzählen. Das ist ihre Heimat. Es sind rund fünfhundert Kilometer. Ich würde daher vorschlagen, dass Sie bald aufbrechen...Sie werden allerdings gewiss zuerst noch jagen wollen.“

„Nein, danke. Das ist nicht nötig. Ich habe bereits im Flugzeug getrunken.“ Es war das erste Mal gewesen, dass sie nicht auf festem Boden gejagt hatte, aber sie hatte der Gelegenheit nicht widerstehen können, als sie der jungen Frau allein vor der Flugzeugtoilette gegenüberstand. Diese hatte dann angenommen, in Ohnmacht gefallen zu sein. Ein zufällig mitfliegender Arzt hatte Blässe und eine gewisse Schwäche diagnostiziert, das aber auf die Aufregung des ersten Fluges zurückgeführt. Die zwei verblassenden dunkelroten Flecke an der Halsschlagader hatte er entweder nicht bemerkt oder für irrelevant gehalten.

Don Pakal nickte etwas: „Sie verstehen Ihre Sache, Lady Sarah. – Dann kommen Sie.“ Sie erhob sich und folgte ihm vor die Tür, wo Juanita wartete. „Mein Kind, du kannst Lady Sarah unverzüglich nach Oaxaca fahren. Das Auto ist voll...getankt?“

„Ja, Don Pakal. Ich wusste ja, dass diese Fahrt bevorsteht.“

„Erzähle ihr ein wenig von der Provinz. Wie lange werdet ihr brauchen?“

Juanita zuckte die Schultern: „Das hängt vom Verkehr ab. Wir haben jetzt vier Uhr nachmittags. Aber ich würde sagen, wenn wir an der Stelle sind, an der Maestro Cacau uns erwarten will, ist es sicher Nacht.“

„Gut.“ Don Pakal sah zu seinem Gast: „Der Meister schätzt das Tageslicht nicht sehr.“

„Das ist natürlich nur seine Sache“, beteuerte Sarah rasch.

Der Maya-Vampir nickte ein wenig: „Dann wünsche ich eine gute Reise.“ Sie schien sehr höflich zu sein, zu wissen, wie respektvoll man mit älteren Vampiren umgehen sollte, schon gar, wenn sie sich zurückgezogen hatten. Ob sie wohl ein „Kind“ des Inquisitors war? Aber das würde er lieber nicht fragen.
 

Eine ganze Weile herrschte zwischen den beiden Frauen im Auto Schweigen. Erst, als sie die Bergkette im Südosten von Mexiko City erreicht hatten, deutete Juanita seitwärts: „Das dort ist der Popocatepetl. Sie haben vielleicht von ihm gehört.“

„Ja, er ist ein Vulkan, nicht wahr?“

„Ja.“

„Oaxaca ist eine Provinz und ein Ort. Fahren wir direkt in die Stadt?“

„Nein. – Interessiert Sie das wirklich?“

„Ja. Ich lerne gern dazu.“

Juanita lächelte ein wenig: „Irgendwie…nun, ich habe mit einem mächtigen, finsteren Vampir gerechnet, nicht mit jemandem, der fast so alt ist…als Vampir…wie ich.“ Sie dachte kurz nach, ehe sie brav wie ein Schulmädchen aufsagte: „Der Bundesstaat Oaxaca liegt gute acht Fahrstunden von Mexiko-City entfernt in einem Hochtal, auf einer Höhe von etwas über tausendfünfhundert Metern und ist umgeben von der Sierra Madre del Sur. Die Sierra Madre del Sur, in der sich wirklich so gut wie keine ebenen Flächen befinden, grenzt im Süden an den Isthmus von Tehuantepec, im Norden reicht sie bis zum Vulkangürtel. Sie besteht aus tiefen und schmalen Tälern, die von zum größten Teil über 2000 Metern hohen Gebirgskämme umschlossen werden. Es gibt nur wenige Straßen, welche die Berge überqueren. - Wie Sie aus dieser Beschreibung ersehen können, Lady Sarah, ist außer dem Tourismus an der Pazifikküste kaum mit Industrie zu rechnen. Oaxaca ist die fünftgrößte Provinz Mexikos und mit eine der ärmsten.“

„Also leben die Leute nur von der Landwirtschaft? Das ist im Gebirge doch sicher schwierig.“

„Ja. Hauptprodukte sind Mais und Gemüse. Weiterhin werden Erdnüsse, Zuckerrohr, Kaffee, Ananas, Bananen und Chilis angebaut. In den Tälern rund um Oaxaca wird angeblich der beste Mezcal gebrannt…das ist ein Schnaps. Aber die Menschen leben hier schon sehr lange und sind an diese Bedingungen gewöhnt.“

„Don Pakal sagte, hier würden Zapoteken und Mixteken leben. Das sind Völker der Ureinwohner.“

„Ja. Soll ich Ihnen auch etwas darüber erzählen?“

„Ja, gern. Dies ist ja wohl Ihre Heimat?“

„Zapoteken und Mixteken stellen die Hauptbevölkerung, das ist wahr. Aber alles in allem leben hier insgesamt achtzehn, wenn nicht mehr, Bevölkerungsgruppen – ohne die Weißen, selbstverständlich - die weit über fünfzig Dialekte sprechen. Auch die Sitten sind vollkommen unterschiedlich. Allerdings sind es nur wenige, wie Zapoteken, Mixteken, Nahua …ach, ich sollte Sie nicht so zuschütten...nun, diese wenigen stammen von den Kulturen ab, die es hier vor Kolumbus gab. Überrascht es Sie, wenn ich Ihnen sage, dass es hier heftige Demonstrationen gegen die Feiern zur „Entdeckung durch Kolumbus“ gab?“

„Nicht wirklich“, gab Sarah zu, die sich nur zu gut an die Bitterkeit der Schotten erinnerte: „Die Spanier waren ja auch nicht gerade…hm…“

„Und die Franzosen.“

„Verzeihung…die Franzosen?“

„Sie kennen die Geschichte Mexikos im 19. Jahrhundert nicht, natürlich. Kaiser Napoleon der Dritte von Frankreich wollte hier Einfluss haben und setzte Maximilian von Österreich als Kaiser von Mexiko ein. Benito Juarez, ein Zapoteke, der zuvor schon gewählter Präsident gewesen war, führte den Aufstand dagegen an. Zum Ende wurde Maximilian erschossen und Juarez wurde erneut Präsident von Mexiko.“

„Und da Juarez Zapoteke war…“ meinte Sarah langsam: „Waren die Franzosen gegen dieses Volk noch härter?“

„Ja.“ Juanita klang bitter: „Mein Vater war ein Franzose. Das war alles, was meine Mutter nach dieser Nacht noch sagen konnte. Nicht, wer von all den Männern es war. Das war 1862.“

Sarah schwieg. Das tut mir Leid, war keine Antwort. Überdies war es ungewöhnlich, einem fremden Vampir sein Leben vor der Verwandlung zu erzählen.

Juanita wusste dies: „Mutter ging dann nach Mexiko-City. Sie…nun, im Dorf war sie wohl unmöglich geworden. Nach ihrem Tod traf ich Don Pakal.“

Also war Juanita kürzer Vampir als sie selbst, wohl noch in den kritischen Jahren. „Und das war wohl Ihr Glück.“

„Ja, denn ab da gehöre ich wohin, habe eine Familie. – Und ich muss zugeben, dass ich stolz darauf bin, bereits durch die kritischen Jahre gekommen zu sein. Jeder Vampir in Mexiko-City wendet sich an mich, wenn er von hier nach da will und das schnell. Don Pakal hat mir nun erlaubt, einen Flugzeugführerschein zu machen.“

„Oh. Das….das finde ich mutig von Ihnen. Ich fliege schon als Passagier nicht gern.“

„Ich denke, dass das noch aufregender ist als Autofahren. Nein, nicht aufregender…verantwortungsvoller.“
 

Das folgende Gespräch drehte sich immer wieder um Landmarken, während die Zeit und die Kilometer verrannen. Sarah bemerkte durchaus, dass die Gegend karstig war, immer wieder öde Steinberge mit Kakteen auftauchten, entfernt lagen kleine Dörfer, umgeben von Feldern. Die Nacht war schon hereingebrochen, aber das tat der Sicht von Vampiren keinen Abbruch. Immer wieder bog Juanita nun auf kleinere Strassen, immer einsamer wurde die Landschaft. Nun, eigentlich war das keine Strasse mehr, die sie jetzt fuhren, und Sarah musste sich festhalten.

Juanita bremste: „Dort ist der Berg. Und hier die drei Steine. Hier soll ich Sie absetzen...nun, eigentlich den Inquisitor, aber das ist Ihre Sache.“

„Danke, Juanita. Ich wünsche Ihnen eine gute Rückfahrt und eine gute Jagd.“ Sie öffnete die Tür.

„Danke, Lady Sarah. Gute Jagd!“

Der uralte Abschiedsgruß der Vampire war das Letzte, das Sarah hörte, ehe sie die Tür zuschlug und sich in der Dunkelheit umsah. Während die mexikanische Vampirin wendete, spürte sie dort in der Nacht etwas, das sie so nur bei Ratsmitgliedern oder dem früheren Inquisitor erlebt hatte: magische Macht. Dort war ein uralter, mächtiger Vampir, der sie betrachtete, ohne, dass sie ihn hätte sehen können. So neigte sie höflich den Kopf.

„Maestro Cacau, buenas noches.“ Meister Cacau: gute Nacht

Aus der Dunkelheit klang eine tiefe Stimme, fast ein wenig amüsiert: „Buena caza, chamaca.“ Gute Jagd, Mädchen.
 

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Im nächsten Kapitel lernt Lady Sarah einen zurückgezogenen Vampir kennen und trifft das menschliche Opfer....
 

bye
 

hotep

In der Provinz Oaxaca, die erste Nacht

Freut mich, dass euch Meister Cacau gefällt.
 

8. In der Provinz Oaxaca, die erste Nacht
 

Sarah wusste nicht, wer der Meistervampir dort in den Schatten war, sie empfand jedoch unwillkürlich Ehrfurcht vor solch einem uralten, mächtigen Wesen. Aber sein Gruß: gute Jagd, Mädchen, war freundlich gewesen. So meinte sie:

„Ich…habe einen Auftrag, Maestro Cacau.“ Ihre Hand glitt in die Tasche, um die Plakette des Inquisitors vorzuzeigen, als der alte Vampir aus der Nacht trat.

„Ich verstehe, Kadash.“

Sie sah ihn verblüfft an: „Sie…wissen…?“ Überdies sah er vollkommen anders aus, als sie es erwartet hatte. Seine Haut war zwar so dunkel, dass sie ihm einen indignen Ursprung zugetraut hätte, aber er trug einen brustlangen, weißen Bart und lange weiße Haare. Sie hatte noch nie einen Indianer mit Bart gesehen. Ansonsten war er nur mit einer Leinenhose bekleidet – und das bei dem kühlen Wind.

„Der bisherige Kadash ist ein alter Freund von mir gewesen. Und ich bin sicher, dass nur sein Rückzug ihn davon abhalten könnte, mich zu einem solchen Anlass zu besuchen. Darum bin ich auch überzeugt, dass Sie der neue Inquisitor sind. – Kommen Sie, Kadash. Ich werde Ihnen Bericht erstatten.“

„Danke.“ Sarah war ein wenig verwirrt. Dieser mächtige, uralte Vampir hatte keinerlei Zweifel an ihrer Aufgabe oder eher an ihr? „Maestro Cacau.“

„Ich verstehe. Sie haben die schwere Aufgabe erst vor kurzem übernommen. Nun, ich bin sicher, dass weder der Hohe Rat, geschweige denn mein alter Freund zu wenig Lebenserfahrung besitzen, um in Ihnen nicht das Potential zu erkennen. Kommen Sie, begleiten Sie mich durch die Nacht.“
 

Sarah folgte wortlos, ein wenig erschreckt fast.

Nach einer Weile meinte der Meistervampir: „Sie sagten zu mir Meister Cacau. Hat Ihnen das Palak gesagt?

„Ja.“

„Auch, dass dies nicht mein wahrer Name ist?“

„Er erwähnte, dass Sie sich lange so nennen.“

„Cacau ist ein Mayaname. Aber als die Maya Yukatan besiedelten war ich schon lange dort. Als die Azteken eine alte Ruinenstadt fanden und sie Tenochtitlan nannten, der Ort, wo die Menschen Götter werden, war ich schon alt. Ich war bei der Gründung dieser Stadt dabei. Vor fast fünftausend Jahren wurde der Maisanbau hier gegründet…ich war dabei. Was ich damit sagen will ist, dass ich meinen ursprünglichen Namen vergessen habe. Ich nannte mich immer, wie es in dieser Zeit sinnvoll war. Menschen nannten mich allerdings oft den Sehenden.“

Sie war überrascht, dass er ihr dies erzählte, erkundigte sich aber: „Ein Priestertitel?“

„In der Tat, Kadash.“ Das enthielt eine klare Anerkennung. „Gewisse...Fähigkeiten unseres Volkes waren hilfreich. Hier, den Hang hinauf.“

Sarah sah in der Nacht ausgezeichnet, aber sie war Bergtouren nicht unbedingt gewohnt. Da sie sich allerdings vor diesem uralten Vampir keine Blöße geben wollte, bemühte sie sich, ihm möglichst schnell und lautlos zu folgen. Er hatte den Kadash, nein, ihren Vorgänger gekannt? War dieser auch Jahrtausende alt gewesen? Wie sollte sie ohne diese, sich doch nur langsam entwickelnde Macht, die Rolle des Ermittlers und Richters ausfüllen können? Das erinnerte sie daran, dass sie hier eine Aufgabe hatte: „Wer ist die junge Frau, die Sie gefunden haben? Ein Mensch?“

„Ja. Ihr Name ist Louisa Mendez. Sie stammt allerdings aus dem Gebiet, das sich im Moment Vereinigte Staaten nennt.“

Für einen Augenblick stieg in Sarah die unhöfliche Frage auf, wie viele Namen er für das Gebiet schon miterlebt hatte, aber sie unterdrückte sie. Sie war ihm gegenüber Jahrtausende jünger, seine Macht war beeindruckend, da sollte sie sich wirklich an die wichtigsten Höflichkeitsregeln ihres Volkes halten: „Sind dort alles Amerikaner? Nicht, dass es für einen Vampir einen Unterschied macht, aber die Ursache könnte dort liegen.“

„Das ist Ihre Sache. – Soweit ich weiß, sind es hauptsächlich Amerikaner und einige Mexikaner, aber Louisa wird Ihnen sicher noch einmal Bericht erstatten. Jedenfalls befinden sich dort einige Personen, die sich nur bei Nacht sehen lassen, rote Augen haben, und Blut verlangen.“

Gebissene? Dann musste es dort auch einen Vampir geben, der sie erschaffen hatte. Nur wozu? Und wozu in dieser...ja, Einöde? In Mexiko City würden doch selbst Gebissene kaum auffallen, zumal wenn sie sich auf Obdachlose beschränken würden. „Darum informierten Sie Don Pakal.“

„Ich habe mich zurückgezogen. Aber deswegen bin ich nicht blind geworden. Oder habe verlernt, meine Kinder zu schützen.“ Maestro Cacau blieb stehen und drehte sich etwas zu ihr: „Können Sie hier etwas spüren?“

Sarah warf ihm einen raschen Blick zu, ehe sie nachdachte. Er hatte sich in dieses karstige Bergland zurückgezogen, brauchte also einen Wohnort. Und den hatte er gewiss abgeschirmt, zumal er dort im Moment auch Louisa hatte. Soweit sie wusste, besaßen Vampire, die sich aus dem aktiven Leben zurückzogen, in der Regel ein enormes Alter und auch die erarbeitete magische Macht, um sich zu decken, selbst gegen andere Vampire. Und, wenn sie es sich so recht überlegte, spürte sie dort vorne bei den beiden großen Felsen eine ähnliche Ausstrahlung wie von dem Meistervampir selbst ausging: „Sie haben dort einen Bann als Schutz gelegt.“

Maestro Cacau nickte, denn in dieser Antwort hatte keine Frage gelegen. „Ich bitte um Verzeihung, Kadash. Sie sehen so jung aus, dass ich der Versuchung einer kleinen Probe nicht widerstehen konnte. – Kommen Sie.“

Zu Sarahs gewisser Überraschung erschien zwischen den Felsen ein roter Vorhang, der zuvor nicht zu erkennen gewesen war. Maestro Cacau schob ihn beiseite. Dahinter öffnete sich eine kleine, wohnlich eingerichtete Höhle, in die er eintrat. Mit gewissem Zögern folgte sie ihm. Das war das Zuhause eines zurückgezogenen Vampirs und es galt als extrem unhöflich, diesen auch nur zu stören.

Er kniete neben einem Lager aus Fellen und Decken nieder, wo eine junge Frau von höchstens zwanzig Jahren lag, die ihn matt anlächelte: „Padre…“ Sie hatte die Beine hochgelagert, um den Körper zu entlasten. Neben ihr stand eine Tonkaraffe mit Wasser. Der alte Meistervampir war wohl eine der Personen, die am Besten wussten, wie man mit hohen Blutverlusten umgehen musste.

Sarah stutzte denn auch nicht deswegen. Padre? Das war doch eigentlich die Anrede für einen Priester: Vater?

Maestro Cacau kniete neben seiner Patientin nieder: „Louisa, dass ist hier jemand von einer…internationalen Organisation. Lady Sarah soll Ihren Fall überprüfen.“

Sie sah zu der ihr Unbekannten und suchte merklich mühsam nach höflichen Worten: „Danke, dass Sie so schnell etwas erreichen konnten, Padre. – Lady Sarah? Ich...ich bin Louisa Mendez.“

Sarah ließ sich erst auf den Wink des Meistervampirs nieder, der ihre Zurückhaltung zu schätzen wusste: „Miss Mendez, geht es Ihnen so gut, dass Sie mir erzählen können, was passiert ist?“

Die junge Frau nickte, sichtlich erleichtert: „Oh ja, danke. Ich…ich bin so froh, dass mich der Eremit fand. Ich habe solche Angst vor…vor ihnen…“

Das war wohl verständlich, wenn diese „sie“ ihr Blut wollten – ohne sie zuvor betäubt zu haben. Und Maestro Cacau hatte sich ihr gegenüber wohl als Einsiedler ausgegeben, um seine ungewöhnliche Wohnung zu erklären und so die Regel der Unauffälligkeit zu wahren. „Jetzt sind Sie in Sicherheit“, erklärte Sarah beruhigend. Sie brauchte die Aussage der einzigen Zeugin, um diesen Fall lösen zu können.

Louisa atmete durch: „Ich stamme aus Albuquerque, New Mexico, das ist USA. Ich…nun ja, wie soll ich das nennen. Ich war auf der Suche nach etwas…einer Religion. Meine Freundin Maria nahm mich dann mit zu einem Prediger aus Mexiko. Er redete davon, dass viele Latinos nichts mit der katholischen Kirche anfangen könnten und…nun, ich will Sie nicht mit der Bekehrung langweilen, Lady Sarah. Er predigte so…überzeugend. Und einige von uns folgten ihm hier nach Mexiko. Er sagte, dass er hier eine Gemeinschaft aufbauen wolle. Wir sollten arbeiten, auf dem Feld, und ganz einfach, ohne Technik, wie es früher gewesen war. Dafür mussten wir etwas bezahlen.“

Interessante Geschäftsidee, dachte Sarah. Er ließ die Leute dafür bezahlen, dass sie für ihn arbeiteten. Aber das ging sie eigentlich nichts an: „Eine religiöse Gemeinschaft, also?“

„Ja, auf dem Grund der alten Religionen. Er…er, der Meister, hat sie alle untersucht und herausgefunden, dass sie alle die gleichen Wurzeln haben…. Es ist eine Hacienda, von einer Mauer umgeben. Und dort leben wir, arbeiten wir. Jeden Abend kommt der Meister und predigt, führt uns weiter….“ Sie brach ab: „Auch die Wachen. Es sind sechs dort und ihr Anführer, Don Fernando. Alles schien so klar.“

Wachen? Bei einer religiösen Gruppe?„Aber dann geschah etwas?“

„Nein…“ Lousia schloss die Augen: „Es war ja nicht plötzlich, Lady Sarah. Es war so langsam….Eines Abends, bald nach unserer Ankunft, rief uns der Meister zu einem Blutopfer auf. Jedem wurde der Arm ein wenig geritzt und das Blut gesammelt. Er sagte, das sei ein Opfer für die alten Götter. Er wollte sie erwecken. Das geschah jeden Abend. Ich weiß auch nicht, warum es mir auffiel…..“

„Das Blutopfer?“ Louisa lieferte nicht gerade einen sachlichen Bericht ab, aber sie war müde, offenbar fast buchstäblich zu Tode verängstigt, und hatte wohl auch nie gelernt, wie man eine Tatsache objektiv bewertete.

„Nein, die Wachen. Sie waren zunächst immer am Tage patrouilliert. Der Meister hatte gesagt, dass es hier Banditen, ja, Terroristen gäbe, und deswegen Schutz nötig sei. Und dann war einer immer nur noch in der Nacht zu sehen. Er hatte sich verändert. Seine Augen leuchteten rot und sein Gesicht war so verzerrt. Ich hatte Angst. Aber Don Fernando, den ich fragte, sagte nur, dass ich mich wohl in der Dunkelheit getäuscht hätte. Menschen fürchten sich in der Nacht, meinte er. Und so glaubte ich ihm.“

Der Wächter war zu einem Gebissenen geworden, dachte Sarah. Also war dort in der Hacienda ein Vampir, der ihn verwandelt hatte. Und die Erschaffung von Gebissenen war gegen jede Regel der Vampire – Grund genug für ein Todesurteil: „Was war mit den anderen Wachen?“

„Auch sie, einer nach dem anderen, waren nicht mehr am Tage zu sehen, aber ich stellte fest, dass mich Don Fernando beobachtete, und ließ mir nichts anmerken. Ich …ich dachte irgendwie doch immer noch, dass der Meister wisse, was wir tun, was Don Fernando tut. Der Meister predigte uns jeden Abend, Vertrauen in die alten Götter zu haben, gerade, weil viele von uns eben keine Maya oder andere Ureinwohner seien, müssten wir uns jedoch ihr Vertrauen erarbeiten. – Meine Freundin, Maria, hatte mich doch zu ihm gebracht. Und sie konnte das Geld nicht mehr bezahlen, dass er von uns als Unterhalt wollte. So bot er ihr an, ein wahres Opfer für die Götter zu vollbringen, und nahm sie mit in das Haus, das Herrenhaus. Normalerweise dürfen …dürfen die Arbeiter dort nicht hinein. Als Maria zurückkam, war sie sehr schwach. Sie war blass und musste gestützt werden. Sie wollte nur ins Bett. Aber an ihrem Hals erkannte ich zwei Löcher, wie von einem Biss. Bis zum Morgen war das allerdings verschwunden und es ging ihr besser.“

„Und Sie vermuteten einen Vampir?“ Sarah wusste, dass es ein Vampir gewesen sein musste, denn nur dann würde das Opfer überleben – und die Wunde so rasch heilen. Gebissene töteten im Blutrausch. Warum hatte er aus dieser Maria keine Gebissene gemacht wie die Wachen? War der Vampir der Meister oder dieser Don Fernando? Beide? Oder arbeiteten da ein Mensch und ein Vampir zusammen?

Louisa nickte: „Oh, sicher. Das…ich habe es doch im Kino gesehen. Und die Menge Blut, die jeden Abend gesammelt wurde, wuchs doch.“

Mit der Anzahl der Wachen, die zu Gebissenen wurden, um die unter Kontrolle halten zu können, sicher. „Sie sagen immer: der Meister. Hat er denn keinen Namen?“ Oder wagte sie nur nicht, ihn auszusprechen?

„Er…nein…er hat ihn uns nie gesagt.“

Louisa Mendez war jung und Sarah vermutete, dass sie keine besonders gute Ausbildung erhalten hatte. Vielleicht hatte sie darum den Sinn ihres Lebens gesucht – und war auf diesen ominösen Meister gestoßen. Nun, sie selbst war wohl die Letzte, die sie darum verurteilen konnte. Sie hatte keine Erinnerung an ihr Leben als Mensch, und wer wusste schon, wie sie zu einem Vampir geworden war. Womöglich war auch sie auf solch eine Geschichte hereingefallen. Jedenfalls hatte Louisa sichtlich noch immer Angst: „Was geschah mit Ihnen?“

„Der Meister rief mich bei einer der Abenddienste zu sich und fragte mich, ob ich auch ein solches Opfer bringen wollte, wie Maria. Ich bejahte. Man kann dem Meister doch nicht widersprechen, zumal Maria wieder so gesund war, dass sie auf dem Feld arbeiten konnte. Sie…sie brachten mich in ein Zimmer.“ Louisa öffnete die Augen und starrte Sarah mit jäher Panik an: „Zunächst war es so….wissenschaftlich. Der Meister selbst hielt meine Hand. Er nahm Blut ab. Einen halben Liter und ich fühlte mich sehr schwach. Dann ging er und löschte das Licht. Ich bekam Angst, aber da war auf einmal jemand im Raum. Und dann wurde ich bewusstlos. Als ich erwachte, tastete ich sofort nach meinem Hals. Es waren zwei Wunden.“

Unwillkürlich fasste Sarah tröstend nach ihrer Hand: „Und daraufhin waren Sie überzeugt, dass es dort einen echten Vampir gibt und flüchteten? In Ihrem Zustand?“ Sie musste mindestens einen Liter Blut verloren haben.

„Ich wusste doch, dass ich es gleich tun musste, weil mir jetzt niemand eine Flucht zutraute.“ Louisa begann zu weinen. „Ich kletterte über die Mauer und rannte durch die Nacht, so sicher, dass ich verfolgt wurde, so müde…“

„Schon gut, Louisa“, sagte Sarah eilig. Es war kein Wunder, dass die geschockte junge Frau panische Angst vor den Monstern dort hatte: „Und dann trafen Sie den…Padre hier?“

„Ja. Er war auf einmal da und fing mich auf. Dann erwachte ich hier.“

„Danke. Ruhen Sie sich etwas aus. Es war sicher schwer, das zu erzählen.“ Da die junge Frau gehorchte, erhob sich Sarah nachdenklich.
 

Bericht des Inquisitors an den Hohen Rat
 

Nach der Erzählung Louisas ist von zwei getrennten Verbrechen auszugehen. Das eine ist die Gründung einer wie auch immer gearteten Sekte, mit dem Ziel Menschen auszubeuten und an ihr Geld zu kommen. Die geht Vampire nichts an, ist eher eine Sache der mexikanischen Polizei. Die andere Tat ist allerdings, dass dort offenbar jemand unseres Volkes zumindest aus den Wachen Gebissene erschaffen hat – ein todeswürdiges Vorgehen. Da der so genannte Meister Blutopfer bringen lässt, ist bis auf Weiteres davon auszugehen, dass er entweder selbst der Vampir ist und für sich und die Gebissenen das Blut der Menschen benötigt, oder aber, dass er diesen unterstützt.

In diesem Fall wäre es möglich, dass der Anführer der Wachen, Don Fernando, ein Vampir ist.

Dabei stellen sich mehrere Fragen: Hat Don Fernando, falls er der Vampir ist, den so genannten Meister dazu gebracht, die Blutopfer zu bringen? Der Einfluss, den ein Vampir auf Menschen nehmen kann, ist uns allen wohlbekannt.

Hat gar der Meister einen Vampir beeinflussen können? Dieser Fall wäre einmalig und müsste dazu führen, dass der Meister, obwohl er ein Mensch ist, ebenfalls getötet werden muss.

Gibt es eine dritte Person, der der gesuchte Vampir ist, und den Meister und Don Fernando beeinflusst?

Die Antwort auf all diese Fragen muss in dieser Hacienda zu finden sein.
 

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Sarah plant also einen Undercover-Einsatz. Ob das bei ihrer mangelnden Erfahrung so eine gute Idee ist?
 

bye
 

hotep

In der Provinz Oaxaca: der erste Tag

Eine Anfängerin undercover? Lady Sarah steht allerdings unter hohem Druck. Ein bisschen Glück würde sicher nicht schaden...
 

9. In der Provinz Oaxaca: der erste Tag
 

Sarah trat vor die Höhle und blickte nachdenklich in die Nacht. Sie wollte nicht länger als notwenig den Rückzugsraum des Meistervampirs stören.

Dieser kam nach einigen beruhigenden Worten für Louisa zu ihr: „Haben Sie Ihre Entscheidung getroffen, Kadash?“

„Ja. Ich werde unter einem Vorwand zu dieser Hacienda gehen. Dort liegt die Antwort.“

„Einfach so?“

Sie konnte den Unterton nicht deuten, erwiderte aber ehrlich: „Ich bin mir bewusst, dass ich die Pistole nicht mitnehmen kann, um nicht aufzufallen, ehe ich weiß, was dort geschieht. Aber ich habe die Silberkugeln um den Hals. – Überdies bin ich auch gegen Gebissene und einen Vampir nicht ganz hilflos.“ Sie gab sich ruhiger, als sie sich fühlte. Immerhin hatte sie nie zuvor eine derartige Aufgabe gelöst – geschweige denn, dafür eine Ausbildung erhalten.

„Perdon, Kadash. Das wollte ich damit nicht unterstellen. Aber dennoch, welchen Vorwand wollen Sie benutzen? Es wäre möglich, dass der….unwürdige Vampir seine Gebissenen auf die Menschen hetzt und so weitere erschafft. Deren schiere Anzahl könnte dann ein Problem darstellen, selbst für jemanden mit ungewöhnlichen Fähigkeiten.“

„Ich bin LADY Sarah.“ Sie lächelte etwas: „Die meisten verbinden mit diesem Titel auch Reichtum. Wenn dieser „Meister“ hinter dem Geld junger Frauen her ist, könnte ich ein potentielles Opfer sein.“

Maestro Cacau neigte ein wenig den Kopf: „In der Tat. Aber ein Vampir erkennt in der Regel einen anderen - obwohl ich mir fast sicher bin, dass Sie nicht sehr auffallend wirken, zumindest auf jüngere als mich.“

„Ich kann es außerdem beeinflussen.“ Mehr wollte sie über ihre ungewöhnlichen Fähigkeiten nicht preisgeben. Immerhin hatte ihr das schon Ärger mit dem Hohen Rat eingetragen. Wer wusste, wie Meister Cacau darauf reagieren würde. „Gibt es hier in der Gegend öfter englische Touristen?“

„Eigentlich weniger. Ich zog mich hier in die Einsamkeit zurück. Nur dort drüben….“ Er deutete auf einen entfernteren Berg: „Führt eine Strasse entlang. Meist fahren dort Wagen von Einheimischen, diese großen, für den Transport von Ernten. Aber manchmal reiten dort auch Fremde. Sie nennen es Trail.“

„Zu Pferd durch die Einsamkeit Mexikos?“ Und da er den Kopf wiegte, es sich offenbar nicht vorstellen konnte oder wollte: „Eine Frage hätte ich, Maestro Cacau: diese alte Religion, von der der „Meister“ spricht: ich weiß, dass bei den Azteken und Maya und wohl auch anderen Menschenopfer stattfanden. Spielte Blut wirklich eine solch große Rolle?“

„Ja. Blut war die Nahrung der Götter. Es gab Unterschiede in den Völkern, aber gemeinsam war der Glaube, dass die Götter ohne Nahrung zu schwach würden. Ohne Opfer kein neuer Tag, das Ende der Welt. - Es gab sogar Zeiten, in denen selbst die Opfer glaubten, mit ihrem Tod die Welt zu retten und so selbst zu einem Gott zu werden und der durchaus schrecklichen Unterwelt zu entkommen.“

Was nicht unbedingt bedeutete, dass es sich bei dem „Meister“ um einen Vampir handelte. Und dennoch – wie hing das alles zusammen? Sie sah erneut in die Nacht: „Wie weit ist diese Hacienda entfernt?“

„Erkennen Sie drüben diese drei kleinen Bergspitzen? Wenn Sie rechts davon an dem großen Säulenkaktus vorbeiblicken, liegt dort ein kleines Tal. Darin. Zu Fuß benötigt ein Mensch sicher sechs Stunden.“

Sie würde weniger brauchen: „Dann warte ich auf den Sonnenaufgang.“

„Sie machen mich neugierig.“ Denn in der Regel bedeutete ein Wüstenspaziergang im hellen Sonnenlicht auch und gerade für einen Vampir die Gefahr eines Sonnenbrandes oder gar Hitzschlags. „Oh, ich verstehe. Sie wollen dann um Hilfe bitten? Vorgeblich als Mensch, der sich in der Wüste verlaufen hat?“

„Ja. Und die leichten Verbrennungen werden meine Behauptung unterstützen.“

„Sie gehen sehr umsichtig vor, Kadash.“

Das Lob eines so alten Vampirs war natürlich schmeichelhaft und so lächelte Sarah mehr als erfreut: „Danke. – Was haben Sie mit Louisa vor?“

„Sie wird noch ein, zwei Tage benötigen, um den Blutverlust überwunden zu haben. Ich nehme jedoch keine Schüler mehr auf.“ Und das bedeutete, er würde sie laufen lassen, ohne ihr zu zeigen, dass sie Gast eines Vampirs gewesen war. Zurückfinden würde sie sowieso nicht mehr.

„Natürlich.“ Schließlich hatte er sich zurückgezogen. Sie nahm ihre Reisetasche auf, die sie zuvor vor der Höhle abgelegt hatte: „Darf ich Ihnen dies einstweilen anvertrauen?“ Sie reichte ihm die Pistole. „Es besteht die Möglichkeit, dass sie mich mehr oder weniger unauffällig überprüfen. Eine derartige Waffe könnte den unwürdigen Vampir aufschrecken.“ Die Tasche würde sie sowieso hier zurücklassen, aber es mochte nötig sein, dass Meister Cacau ihr die Pistole brachte.

„Ja.“ Er nahm sie: „Ich muss zugeben, dass ich mich an diese…Dinge nie gewöhnen konnte. Ein Messer, ja. Aber Waffen, die aus Distanz töten…Verzeihen Sie, Kadash. Ich wollte Sie nicht beleidigen. Ich bin mir darüber im Klaren, wie bedauerlich notwendig diese Tätigkeit immer wieder ist. So selten es auch vorkommt.“

Sarah wollte ihm fast schon sagen, dass das für sie der zweite Fall in weniger als zwei Wochen war, als sie stutzte. Es stimmte. Jeder wusste, dass der Inquisitor eine Notwendigkeit war, aber jeder, auch die mächtigen Vampire des Hohen Rates, erwähnten, dass es sehr selten vorkomme. Warum dann gleich zweimal in so kurzer Zeit? Reiner Zufall? Oder war das hier eine Prüfung für sie? Immerhin hatte Cacau gesagt, dass er mit dem bisherigen Kadash befreundet wäre. Dann sollte sie sich wirklich nicht blamieren oder als Anfängerin darstellen. „Ich hoffe, dass es bereits morgen Abend vorbei ist.“

Der alte Vampir nickte nur.

„Ich…wie kann ich Ihnen Nachricht senden, falls ich die Pistole gegen Gebissene benötige?“

„Wenn Sie die Kette aus Silber auf ein Fensterbrett legen oder durch einen Fensterladen schieben, werde ich davon wissen.“

Sie war erstaunt, aber sie wagte nicht, einen solchen Meistervampir nach seinen Fähigkeiten zu befragen.
 

Als Sarah in das Tal der Hacienda einbog, war sie nicht überrascht, vor sich eine hell leuchtende, weiße Mauer zu entdecken, die das Landgut abschirmte. Schon allein, um die Gärten oder Felder vor dem Wind und dem Sand zu schützen, war dies notwendig. Sie rieb sich ein wenig über das Gesicht. Die Haut spannte und sie war sicher, dass sie rot geworden war. Sie war solch eine intensive Sonneneinstrahlung nicht gewohnt, zumal in der Mittagshitze. Allerdings würde das bedeuten, dass auch die Menschen Siesta halten würden, zumindest nicht alle arbeiten würden. Sie hoffte so, den Ersten, der ihr begegnete, beeinflussen zu können, zumal die Gebissenen mit Sicherheit nicht in der Sonne erscheinen würden.

Durch das offene Tor konnte sie auf der gegenüberliegenden Seite des Hofes das weiße Herrenhaus erkennen. Davor waren unter der Veranda Tische und Bänke aufgestellt. Links vom Eingang begannen wohl die Gärten, während rechts ein anderes Haus war, eine Stallung oder die Gebäude, in denen die Menschen schliefen.
 

Sie warf unwillkürlich noch einen Blick zurück auf den Berg, wo die Strasse lief, als sie durch das offene Tor der Hacienda ging: „Hallo?“ Jetzt gab es kein Zurück mehr – aber das hatte es für sie auch nie gegeben. Versagte sie, enttäuschte sie den Hohen Rat….Nein. Daran wollte sie, durfte sie nicht denken.

Eine junge Frau in dem gleichen weißen Gewand, wie es Louisa Mendez getragen hatte, legte ihr Tuch weg, mit dem sie die Tische geputzt hatte und kam über den Hof heran: „Äh…Buenos diaz?“

„Haben Sie ein Telefon?“

„Sie sprechen englisch?“ Die dunkelhaarige Frau wechselte sofort die Sprache – wohl auch eine Amerikanerin: „Was ist passiert? Sie sehen müde aus…?“

„Mein...mein Pferd ist durchgegangen und hat mich dann irgendwo abgeworfen…Mein Name ist Lady Sarah. Lady Sarah Buxton.“ Sie bemühte sich, auf die Menschenfrau freundlich zu wirken, ihr Vertrauen zu gewinnen, etwas, das gewöhnlich keinem Vampir schwer fiel.

„Oh, eine Engländerin? Ich bin Monica. Ein Telefon...ja, das gibt es, allerdings dort im Haupthaus und da dürfen wir ohne Erlaubnis des Meisters nicht hin. Aber kommen Sie. Sie sehen müde aus, haben wohl auch einen Sonnenbrand. Hier. Ich bringe Sie in mein Zimmer und besorge Ihnen Wasser. Dann sage ich Don Fernando Bescheid.“

„Das...das ist der Besitzer dieser Hacienda?“

„Nein. Das ist der Meister. Don Fernando ist für die Sicherheit hier zuständig. Und er kümmert sich auch um alles…Weltliche. Der Meister lebt nur für die Religion.“

Sarah ließ sich führen. Bei Monica erkannte sie das, was sie auch schon bei Louisa, wenn auch deutlich schwächer vernommen hatte: wenn die Frauen “Meister“ sagten, klang das fast wie eine Fanfare. Der Mann schien zu wissen, wie man Leute beeinflussen konnte. Don Fernando...hm. Nun, er war auf ihrer Liste eines möglichen Vampirs und so ließ sie sich in einem kleinen Zimmer ein Bett schieben, mit einem Laken zudecken, feuchte Tücher über die Augen legen. Zum einen war es wirklich angenehm nach der Wüstenwanderung und zum zweiten würde sie so schwächer erscheinen. Überdies musste sie sich konzentrieren, um einem womöglich Abtrünnigen ihres Volkes nicht zu zeigen, wer und was sie war. Jeder Vampir erkannte die Ausstrahlung eines anderen Jägers – auch, wenn sie selbst diese unterdrücken konnte. Das war keine alltägliche Fähigkeit.

„Hier, Wasser, Sarah.“ Während sie trank, fuhr Monica fort: „Waren Sie denn ganz allein unterwegs? Zu Pferd?“

„Ja, mein…mein Vater schenkte mir diese Reise…Ich wollte doch nur nach Oaxaca.“ Hoffentlich würde die Menschenfrau das weitergeben. Sie wollte doch als reiches, etwas dummes Mädchen durchgehen, in der Hoffnung, dass der Meister oder der Vampir an ihr interessiert wären.

„Das war recht leichtsinnig. – Geht es Ihnen besser? Ich gehe dann zu Don Fernando.“

„Ja, danke. Ich...ich möchte ja nur telefonieren.“

„Ich sage es ihm.“
 

Sarah blieb ruhig liegen, auch, als sie hörte, dass jemand den kleinen Raum betrat und spürte, dass es sich um einen Vampir handeln musste. „Ich bin ein Mensch“, dachte sie und versuchte dies auszustrahlen. Sie wusste, dass sie andere ihres Volkes beeinflussen konnte und hoffte, dass dies auch hier der Fall sei. „Ich bin nur ein Mensch, dazu erschöpft und ein wenig ängstlich. Nur ein Mensch.“

„Buenos diaz, Lady Sarah“, sagte ein Mann in stark akzentuiertem Englisch: „Mein Name ist Fernando, Don Fernando. Monica sagte, Sie hatten einen Unfall?“

„Äh…ja…mit meinem Pferd…“ Sie nahm das feuchte Tuch von den Augen und setzte sich auf, bemüht, noch erschöpft zu wirken: „Ich...darf ich telefonieren?“ Der dunkelhaarige Mann mit fast schwarzen Augen schien um die Dreißig zu sein, aber das war natürlich nur das Alter, in dem er verwandelt worden war.

„Natürlich, heute Abend, wenn der Meister erscheint. Im Moment sollten Sie sich ausruhen. Sie sehen aus, als ob Sie stundenlang durch die Gegend gelaufen sind.“

„Ja..“ Sie wusste ja selbst, dass ihr Gesicht rot von der Sonne war. „Der Meister?“

„Dies hier ist die Hacienda einer religiösen Gruppe. Unsere Menschen...Mitglieder pflegen Nächstenliebe, wie Sie natürlich bemerkt haben.“

Unsere Menschen…Ein dezenter Versprecher, dachte sie unwillkürlich. „Ja, ich bin…Monica, heißt sie? ...auch dankbar. Ihnen natürlich auch, Don Fernando.“

Er musterte sie forschend: „Sie sind allein unterwegs?“

„Ja. Ich weiß, dass das dumm war…nun, jetzt weiß ich es. Aber ich reite schon so lange, auch Jagden, und irgendwie….“ Was sollte sie noch sagen, erklären, um ihre Tarnung aufrecht zu erhalten? Sie wusste, dass sie nervös war, aber das war in diesem Fall wohl auch gut so, würde ihre Glaubwürdigkeit stärken.

„Interessante Kette haben Sie.“

Sie fasste an die Silberkugeln, die sie an einer Angelschnur aufgereiht hatte: „Äh, ja, das sind silberne Perlen.“

„Haben Sie diese Kette schon länger?“

„Nein.“ Sie erlaubte es sich, Irritation zu zeigen: „Das ist nur Modeschmuck….Nichts Kostbares…“

„Nun, reines Silber.“

„Äh...ja?“ Verdammt, dachte sie sehr undamenhaft. Sie hatte vergessen, dass jeder Vampir Silber erkannte – schließlich war es lästig, brannte ein wenig auf der Haut der meisten. Darum trug sie es ja auch über dem Shirt. „Möglich.“ Sie fasste an sie: „Aber dafür war sie dann billig. Kennen Sie sich mit Schmuck aus?“

„Nein. Nur zufällig mit Silber.“ Don Fernando betrachtete sie: „Nun gut, ruhen Sie sich aus. Ich werde mit dem Meister über Sie sprechen. Wie gesagt, dies ist eine religiöse Gemeinschaft. Und wenn der Meister Sie hier nicht will, muss ich Sie bitten, zu gehen.“

„Ja, schon klar. Ich möchte ja nur telefonieren….“ Ein Mann wie ein Rasiermesser, dachte sie plötzlich. Donna Inanna hatte diesen Ausdruck einmal verwendet, aber sie wusste nicht mehr, über wen sie das gesagt hatte. Eines war klar: die Menschen würden diesen Don Fernando sicher fürchten. Und so ließ sie ihren Kopf sinken: „Ich wollte nicht fromme Menschen stören...“

„Ihr Pferd ist weggelaufen?“

„Ja. Ich…es warf mich ab und ich…ich wurde wohl bewusstlos. Ich weiß nicht, wohin es ist.“

„Wo haben Sie es denn gemietet?“

„Bei einer Juanita Bajez in Mexiko City, “ erwiderte Sarah prompt.

„So lange waren Sie schon allein unterwegs? Dann ist es erstaunlich, dass Ihnen erst hier ein Unfall zustieß. Sie müssen eine gute Reiterin sein. Oh, Sie erwähnten ja etwas von Jagd.“

„Ja.“

„Engländer jagen Füchse.“

„Ja. Deswegen…“

„Gut. Ich lasse Sie dann allein. Entweder der Meister weist mich an, Sie wegzuschicken, oder er erlaubt Ihnen zu telefonieren oder er möchte sich mit Ihnen unterhalten.“

Er ging ohne weiteres Wort und Sarah erlaubte sich ein Aufatmen. Hoffentlich hatte er ihr die Geschichte abgekauft. Er war misstrauisch. Und er war ein Vampir. Hatte er die Gebissenen erschaffen? Oder doch der Meister? Gab es hier zwei Vampire? Aber was sollte das alles?

Eigentlich gab es nur eine Möglichkeit. Don Fernando hatte gesagt, er werde mit dem Meister über sie sprechen. Und der Meister befand sich im Haupthaus. Sie musste diesem Gespräch zuhören.

Nur – wie? Vor den Gebissenen war sie in der Sonne sicher, aber auch Menschen, wohlmeinend oder nicht, konnten ihr Schwierigkeiten bereiten. Langsam stand sie auf und rief sich das in Erinnerung, was sie von der Hacienda hatte sehen können. Nahe am Tor war der Garten mit Gemüse. Monica hatte die Tische geputzt, würde damit aber sicher fertig sein. Wo war sie nun? Rechts neben dem Portal an der Mauer befanden sich die Räume der anderen Menschen. In einem davon war sie in diesem Moment selbst. Das Haupthaus stand dem Tor gegenüber…

Die Mauer. Wenn man dort oben langgehen könnte? Dann müsste sie zwar aufpassen, von unten nicht gesehen zu werden, aber einen Versuch war es doch wert.

Sie erhob sich und ging zur Tür. Alles schien ruhig. Die anderen Menschen schliefen wohl. Sie konnte sie als Beute wahrnehmen. Aber das war hier weniger von Interesse. So trat sie lautlos auf die Veranda und sah sich eilig um. Wo war Don Fernando, wo Monica? Sie erkannte das weiße Gewand der freundlichen Frau im Garten und konnte den Vampir spüren – im Haupthaus. Er war tatsächlich sofort zum Berichten gegangen. Wer war der Meister, dass er ein Mitglied ihres Volkes derart kontrollieren konnte?

Ein Stück entfernt entdeckte sie Stufen, die auf die Mauer führten. Also konnte man dort oben gehen, patrouillieren, wie sie es erhofft hatte. Eilig huschte sie empor, bemüht, jede geistige Regung um sich wahrzunehmen.

Oben duckte sie sich hinter den Schutzwall, ehe sie weiterlief. Hoffentlich konnte sie wirklich zuhören, hoffentlich entdeckte sie niemand, hoffentlich versiebte sie ihren Auftrag nicht.

War er ein echter Auftrag oder doch nur eine Prüfung?

Immerhin war Meister Cacau mit dem ehemaligen Kadash befreundet gewesen – und ihr war schon einiges an diesem Auftrag eigenartig vorgekommen.

In jedem Fall durfte sie nicht versagen.
 

Die Fensterläden des Haupthauses waren geschlossen und sie konnte nichts erkennen. Das einzige Hilfsmittel, das sie besaß, war das Gefühl der Gegenwart des anderen Vampirs, den sie dort wahrnehmen konnte. Sie blieb auf der Mauer, in Deckung, kauern und versuchte zu hören, zu erkennen, wo Don Fernando war.

Stimmen.

Leider konnte sie nichts verstehen. Aber sich ohne Sichtschutz vorzubeugen wäre womöglich auch fatal. Was sollte sie nur tun?

Da bemerkte sie, dass sich die Stimmen näherten.

„…du ihr?“ fragte jemand.

„Sie war in der Wüste“, erklärte Don Fernando. „Und ich nehme an, dass kein Bundesagent mit einer derart haarsträubend dünnen Story hier herkommen würde.“

Er hatte in ihr keinen Vampir, schon gar nicht den Kadash vermutet, wurde Sarah klar, sondern eine US-Polizistin, oder auch eine mexikanische.

„Lady Sarah….wohl vermögend?“

„Sie sagte, sie reite auf Jagden und ihr Vater habe ihr diese Reise geschenkt…“

„Hm. Ich werde mich mit ihr unterhalten, nett wie ich bin.“

„Und wieder neues Geld in die Kasse bringen.“

„Natürlich. So lautet doch die Anweisung, mein Lieber, nicht wahr? Geld für mich, Blut für dich.“ Der Meister klang ein wenig spöttisch, wurde aber ernst: „Was mich daran erinnert: durch die Tatsache, dass du die sechs Wachen umgewandelt hast, brauchen wir nun mehr Blut als vorgesehen war. Das war töricht.“

„Ich brauche die sechs. Du hast immerhin sechsundzwanzig Menschen...nun, fünfundzwanzig, das schaffen selbst sechs Gebissene nur mit Mühe, sie alle zu töten.“ Trotz der sachlichen Aussage schwang Unmut in der Stimme des Vampirs.

„Ich hätte nicht gedacht, dass das für sie ein Problem ist.“

„Nur in dem gesetzten Zeitrahmen. Keiner soll doch entkommen.“

„Natürlich. Wie einst auf der Marie Celeste…alle tot und ein Rätsel. – Na schön. Dann werde ich heute Abend wieder zur Blutspende aufrufen. Und….ja, ich denke, Tony hatte kein Geld mehr.“

„Wie …bedauerlich. Er wird mir schmecken.“

„Er soll noch arbeiten können. Noch brauchen wir sie, damit sie ihren eigenen Lebensunterhalt sichern, noch haben wir nicht alles Geld.“

„Wenn du alles hast, übernehme ich.“

„Wie immer.“

„Wie immer. Der Plan läuft doch gut.“
 

Sarah begriff plötzlich, dass er ans Fenster getreten war, wohl den Fensterladen öffnen wollte, und beeilte sich, ungesehen zurückzulaufen, bemüht, dass er sie nicht ebenso wahrnehmen konnte, wie sie ihn. Die neuen Informationen mussten überdacht werden.

Denn in einem war sie nun sicher: das war keine Prüfung für sie – das war ein großes Problem für ihr Volk.
 

************************************
 

Sie sollte wirklich gut nachdenken, jetzt, aber auch später, denn im Moment hat sie sechs Gebissene und ein bis zwei Abtrünnige am Hals - nicht nur bildlich gesprochen. Der nächste Abend wird zeigen, was passiert, wenn Sarah den Meister trifft.
 

bye
 

hotep

In der Provinz Oaxaca: die zweite Nacht, Teil 1

Sarah gibt ihr Bestes: ob das reicht?
 

11. In der Provinz Oaxaca: die zweite Nacht
 

Sarah erreichte Monicas Zimmer, guten Gewissens annehmend, dass sie weder Mensch noch Vampir bemerkt hatte. Zögernd blieb sie stehen. Sie sollte sich wieder hinlegen, das harmlose Menschenmädchen spielen.

Aber sechs Gebissene und ein Vampir, dazu die Menschen, die sicher auf Befehl ihres „Meisters“ auch gegen sie vorgehen würden…

Das konnte riskant werden. Zwar besaß sie die Fähigkeit, jeden von ihnen mit dem unsichtbaren Gedankenangriff bewusstlos zu machen, aber sie hatte keine Ahnung, ob das auch funktionieren würde, wären es weit über dreißig Personen. In Edinburgh waren es nur drei Gebissene und ein Vampir gewesen. Das war keine Prüfung, kein Zeitvertreib, das war Wirklichkeit - und womöglich stand ihr eigenes Leben auf dem Spiel.
 

Sie zog sich kurz entschlossen die Silberkette über den Kopf und legte sie auf die Fensterbank. Meister Cacau hatte gesagt, wenn sie dies täte, würde er ihr die Pistole zukommen lassen.

Wie er dies wohl wahrnehmen wollte? Über welche Fähigkeiten verfügte ein derartiger, zurückgezogener Meistervampir eigentlich? Und wann zog man sich zurück? Seltsamerweise hatten weder Lord John noch Donna Innana mit ihr darüber gesprochen. War dies etwa etwas, war nur ein Meister mit seinem Schüler teilen durfte? Oder wussten es selbst die Mitglieder des Hohen Rates nicht? War das bei jedem anders? So viele Fragen, dachte sie mit gewissem Seufzen. Und sie war so jung und ahnungslos – allerdings mit der Verantwortung des Kadash.

Sie setzte sich auf das Bett.

„Warum nur ich?“ fragte sie sich. „Nur wegen meiner Fähigkeit? Oder weil ich keinen Meister in dem Sinne hatte, quasi ein hergelaufener Vampir bin? Und so auch keinen Schutz habe? Nun, Donna Innana und „Vater“, Lord John?“

Sie riss sich zusammen. Selbstmitleid würde ihr kaum helfen, diesen Fall zu lösen, die Gebissenen zu töten - und den Vampir, der sie erschaffen hatte. Und sie war sicher, nur so auch weiterhin mit der Unterstützung des Hohen Rates rechnen zu können. Sie musste sich zwingen, ihre Furcht zu unterdrücken, vor Don Fernando, dem unbekannten Meister, den Gebissenen, dem Rat. Nur sachliches Überlegen würde sinnvolle Resultate bringen.
 

Don Fernando war mit Sicherheit nicht verrückt. Er wusste genau, was er tat und warum – und er sollte auch wissen, was das für die unglücklichen Menschen bedeutete, die er so verwandelt hatte. Er hatte ihnen die Seele geraubt, und nichts und niemand konnte sie ihnen wieder zurückgeben. Flüchtig dachte sie daran, dass unter Menschen im Augenblick Vampirromane Mode waren, wie zuvor Zauberer oder Drachen. Allerdings bezeichneten die Menschen Vampire als Wesen der Hölle, ohne Seele – was nun eindeutig nicht zutraf. Ebenso wie Menschen konnte ein Mitglied ihres Volk frei und bewusst entscheiden, war es tun wollte. Und mit der daraus resultierenden vollen Verantwortung dafür.
 

Sie blickte auf, als sie die Präsenz eines anderen Vampirs spüren konnte – aber nur einen Schatten sah, der durch das Fenster hereinglitt. Sie lächelte unwillkürlich, als sie erkannte, dass die Pistole auf dem Bett neben ihr lag: „Muchas gracias, Maestro Cacau“, bedankte sie sich höflich.

„Buena caza, Kadash“, vergalt der Schatten dies mit dem alten Abschiedsgruß, ehe er sich buchstäblich in Luft auflöste.

Irgendwann würde sie hoffentlich wirklich mehr über die Fähigkeiten der zurückgezogenen Meister erfahren. Aber dazu müsste sie wohl älter werden. Mit leichtem Seufzen stand sie auf und holte die Kette zurück, um einige der Kugeln abzulösen, ehe sie sich erneut umlegte. Don Fernando hatte sie bei ihr gesehen und es wäre bestimmt töricht, nun ohne sie zu erscheinen. Dann schichtete sie die Kugeln in das Magazin der Pistole des Inquisitors. Zum ersten Mal wurde ihr bewusst, dass es für eine so alte Waffe sicher ungewöhnlich war, mehrere Kugeln aufnehmen zu können, noch dazu ohne Pulver. Wie funktionierte sie eigentlich? So viele Geheimnisse….

Sie schob sie sich am Rücken in den Bund der Hose, breitete sorgfältig das Shirt darüber aus, ehe sie sich seitlich auf das Bett legte. Sie musste wirklich gründlich nachdenken.
 

Der Meister und Don Fernando hatten miteinander gesprochen. Nach dem, was sie dort belauscht hatte, währte die Zusammenarbeit bereits länger. Und sie hatten das wohl schon öfter so durchgezogen, Menschen erst um Geld, dann um ihr Blut gebracht. Und jedes Mal hatte Don Fernando Gebissene erschaffen, die die Menschen umbrachten, alle Zeugen beseitigten. Sie hatte wenig Zweifel, was anschließend aus den Gebissenen geworden war. Sie waren auf Dauer schwer zu kontrollieren. Und sie waren mit Silber oder auch einem Pflock zu töten. Während ihres Tagesschlafes waren sie überdies wehrlos.

Aber da war der Satz dieses ominösen Meisters: „So lautet die Anweisung….“

Es gab anscheinend jemanden, der diese beiden zusammengebracht hatte, ja, von ihrem Verbrechen profitierte. Das musste sie im Auge behalten, später, wenn die akute Gefahr, die von den Gebissenen ausging, beseitigt war.

Jetzt war erst einmal wichtig, dass sie herausfand, was der Meister war, ob Mensch oder Vampir. Dann müsste sie heute Abend die Gebissenen töten. Und auch die Vampire, die sich hier befanden. So war es ihre Pflicht als Inquisitor.

Was allerdings sollte sie mit dem Meister tun, wenn der wirklich ein Mensch war? Schandtaten, die Menschen an Menschen begingen, waren für den Kadash unwichtig, ja, Sache der örtlichen Polizei. Vielleicht sollte sie dann Don Pakal davon in Kenntnis setzen, damit dieser anonym der mexikanischen Polizei einen Hinweis geben konnte.

Andererseits: der Meister arbeitete mit einem Vampir zusammen, vermutlich im Auftrag eines Unbekannten. Ließ sie ihn am Leben, würde der Mann oder die Frau im Hintergrund – und da war sie sicher, dass es sich um einen Vampir handeln musste – ihn weiterbenutzen und einen neuen Vampir dazu schieben. Was zum nächsten Punkt führte: wenn der Unbekannte Vampire beauftragen konnte, musste es sich um einen Meistervampir mit Schülern handeln. Eigentlich undenkbar.

Wohin verirrten sich nur ihre Gedanken?

Sie sollte lieber einen Plan machen, welche Fragen sie dem Meister stellen wollte – und welche Konsequenzen sie als Ermittlungsrichter und Henker in Personalunion ziehen musste. Nein, das Leben des Inquisitors war nicht leicht. Und sie begriff, warum ihr Vorgänger nach Jahrtausenden so froh gewesen war, diese Bürde ablegen zu können.
 

Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als Monica zu ihr kam: „Geht es besser, Mylady?“

„Oh, das…das sollten Sie nicht sagen, Monica.“ Sarah spürte, wie sie rot wurde – auch eine ungewöhnliche Eigenschaft eines Vampirs.

„Sie sind doch eine Lady?“

„Ja. Aber das sagen nur die….naja...die Angestellten. Sagen Sie Lady Sarah.“

„Ich bin Amerikanerin.“ Monica lächelte: „Da weiß man das natürlich nicht. Aber Lady kling irgendwie so toll.“

„Nun ja…Ich habe das eben von meinem Vater.“ Sarah wollte nicht zugeben, dass sie diesen Titel erhalten hatte, als Lord John Buxton sie adoptiert hatte. Von vorher wusste sie weder ihren Namen noch ihren Rang noch sonst etwas, ja, nicht einmal, wer sie in einen Vampir verwandelt hatte. Allerdings hatte Lord John gemeint, sie hätte offensichtlich eine gute Ausbildung als Mädchen aus höheren Kreisen zu Beginn des 19. Jahrhunderts genossen. Mehr hatte er nicht in Erfahrung bringen können.

Monica nickte eifrig: „Wir essen jetzt im Hof, dann wird der Meister zu uns kommen und uns weiter erleuchten. Ich werde fragen, ob Sie mit uns essen dürfen.“

„Das wäre nett….“ Sarah brach ab, als sie erkannte, dass Don Fernando zur Tür hereinkam: „Darf ich telefonieren?“ fragte sie ihn prompt.

„Der Meister wünscht Sie zu sprechen. Danach sehen wir weiter. Auch zum Thema Essen. – Kommen Sie.“

Da Monica nur den Kopf senkte, erhob sich die Vampirin und folgte ihrem abtrünnigen Artgenossen in die Dämmerung, erneut bemüht, jede derartige Ausstrahlung zu unterdrücken. Sie war nur ein Mensch, noch dazu ängstlich. Und diese Furcht musste sie nicht spielen. Sie war wirklich froh, dass sie den metallischen Druck der Pistole am Kreuz spürte, als sie auf der Mauer der Hacienda jenseits des mit Feuern erleuchteten Hofes, sechs Gebissene entdeckte. Das würde gefährlich werden, selbst für sie. Denn sie musste zusätzlich an die Menschen denken – und die Regel der Unauffälligkeit.
 

Das Haupthaus des Gutes war nicht sonderlich gut eingerichtet. Sie betrachtete Möbel, die wohl für ahnungslose Menschen erfolgreich so taten, als ob sie über hundert Jahre alt wären, aber sie erkannte nur zu deutlich, dass es Fälschungen waren. Nun gut, dieser ganze religiöse Zirkel war eine Fälschung. Denn sie nahm nach dem belauschten Gespräch keine Sekunde an, dass der Meister ehrbare Absichten mit Monica und den anderen hegte.

Don Fernando öffnete eine Tür: „Lady Sarah, Maestro.“

„Oh, lassen Sie sie herein.“

Sie erkannte die Stimme wieder. So folgte sie dem Wink des Sicherheitsschefs und betrat ein wenig nervös den Raum.

Ein dunkelhaariger, menschlicher Mann stand dort am Fenster, der sich umdrehte und sie musterte.
 

Er!

…war alles, was sie in diesem Moment dachte.
 

Im nächsten Augenblick hatte sie sich wieder unter Kontrolle, blickte aber schwer atmend zu Boden, bemüht, ihre Überraschung, ja, ihren Schock zu verbergen. Kaum zuvor war sie einem anderen Wesen, sei es Mensch oder Vampir begegnet, das eine solche Wirkung auf andere ausüben konnte – nur ein Ratsmitglied, nun, insbesondere der Kadash, der ehemalige Kadash, aber auch Meister Cacau. Seine Gegenwart erschlug förmlich, ließ keinen anderen Gedanken als an ihn zu. Nur die Tatsache, dass auch sie selbst ähnliches bewirken konnte, ließ ihren Kopf klar bleiben. Aber sie sagte bemüht: „Ich...ich danke Ihnen für Ihre Gastfreundschaft.“ Wenn sie sich nicht beeindruckt zeigte, würde er doch sicher misstrauisch werden.

„Schon gut, liebes Kind. – Bitte, setzen Sie sich doch. Don Fernando sagte, Sie hätten einen Unfall erlitten. Hat sich Monica gut um Sie gekümmert?“ Sein Englisch das der USA, Südstaaten, wenn sie hätte raten müssen. Und seine Stimme klang leise, beruhigend, ja, fast einschmeichelnd. Wie alt er wohl war? Zwischen Vierzig und Fünfzig, als Mensch, hätte sie geschätzt.

„Oh ja, danke, vielen Dank.“ Das gab es doch fast gar nicht. Das war ein Mensch – und sie fühlte sich in seiner Gegenwart so unbedeutend, klein, wie sie es zuvor nur bei dem Kadash oder auch Meister Cacau erlebt hatte.

Das hier war ein Mensch? Doch, entschied sie. Nichts an ihm zeigte einen Vampir – aber nun war klar, warum er diese religiöse Rolle so spielen konnte. Oder handelte es sich um einen Vampir, der ihr selbst ähnlich war? Verbarg auch er seine Jägerqualitäten und beeinflusste seine Umgebung? Daran hatte sie noch gar nicht gedacht, wohl, weil sie nie zuvor davon gehört hatte – aber das hatte wohl auch niemand von ihr selbst.

„Hat Ihnen Don Fernando oder Monica erzählt, dass es sich um eine besondere Hacienda handelt?“

„Don Fernando sagte, dies sei die Hacienda einer religiösen Gruppe. Ich...es tut mir Leid, ich wollte nicht stören. - Aber da mich mein Pferd abgeworfen hatte….“ Sie brach ab. Sie musste ihm Fragen stellen, sonst kam sie hier doch nicht weiter. Nur, wie? „Ich meine, wer rechnet auch damit…“

„Natürlich, liebes Kind. Don Fernando sagte ja, dass Ihr Vater Ihnen diese Abenteuerreise geschenkt hat. Sicher dachte er nicht, dass sie so abenteuerlich wird. Aber Hauptsache, Ihnen ist nichts geschehen. Morgen geht es Ihnen sicher so gut, dass Sie wieder abreisen können.“

„Ja, natürlich….Wenn ich nur telefonieren dürfte, dann könnte ich mir ein Taxi aus Oaxaca kommen lassen.“

„Das wäre recht teuer.“

„Oh, das macht nichts.“ Sie wollte das reiche, etwas dumme Mädchen weiterspielen, so gut es eben ging. „Selbstverständlich bezahle ich auch für die Übernachtung hier.“

„Nun, ich nehme Spenden immer gern an, natürlich für die Gemeinschaft. – Hat Ihnen Monica gesagt, welche Religion wir besitzen?“

„Nein.“

„Was wissen Sie denn über die alten Religionen Mexikos?“

„Sie meinen, so…Maya und Azteken? Na ja, sie bauten Pyramiden und machten Menschenopfer…“

Der Meister verzog ein wenig schmerzlich das Gesicht, meinte aber nur: „Ja, diese Vorurteile sind weit verbreitet.“

Vorurteile, dachte Sarah. Immerhin hatte Maestro Cacau auch davon gesprochen, dass das Blut die Nahrung der Götter gewesen sei. Ohne Opfer kein Morgen. „Es gab keine Menschenopfer?“ hakte sie nach. Im Zweifel glaubte sie eher Cacau, der dabei gewesen war.

„Oh, das will ich nicht leugnen, später, als die Spanier schon hier waren, aber ich glaube nicht, dass dies die ursprünglichen Religionen waren. Ich denke, dass es zunächst nur um Blut ging. Und seien wir ehrlich, Lady Sarah, welches höhere Gut kann ein Mensch opfern?“

Sein Leben, hätte sie um ein Haar gesagt, nickte aber nur.

„Dass die Spanier die in ihren Augen sicher barbarischen Opfer verboten, verstehe ich. Aber das war ja auch gefälscht. Meiner Meinung nach lautete der ursprüngliche Glaube nur, dass jemand z.B. einen Arm ausstreckt, sich schneidet und einige, wenige Bluttropfen vergießt. Dafür erhielten die Menschen Sonne, Ernten. Und die Götter bekamen zu trinken. Ein faires Geschäft für beide Seiten. Interessiert Sie das?“

„Ja, irgendwie bedeutet Blut Leben, da haben Sie recht“, antwortete die Vampirin.

Er vernahm die absolute Ehrlichkeit in dieser Antwort und fuhr geschmeichelt fort: „Das ist schön.“ So setzte er sich bequemer hin und begann seinen Vortrag, wie er ihn sicher schon hundert Mal gehalten hatte.

Während Sarah zum einen zuhörte, ein wenig fasziniert, wie glaubwürdig er war, bemühte sie sich zum anderen, draußen zu erfühlen, wo sich die Gebissenen und wo Don Fernando aufhielten. So oder so waren diese Sieben ihre Zielpersonen. Was aber sollte sie nur mit dem Menschenmann vor ihr machen? Seine Überzeugungs- ja, Verführungskünste Menschen gegenüber gingen sie nichts an. Andererseits: er hatte bereits mit einem Vampir zusammengearbeitet und würde es wohl auch wieder tun.

„Haben Sie noch eine Frage, meine Liebe?“

Sie überlegte rasch, wie wohl ein Mensch darauf reagieren würde und meinte langsam: „Das…das kling alles so glaubwürdig. Aber ein Blutopfer…ich denke, ich würde mich ein wenig davor fürchten…“

„Oh, das taten alle, mich eingeschlossen, beim ersten Mal.“

Moment, dachte sie: war er doch ein Vampiropfer?

„Aber das vergeht rasch. Sicher, man fühlt sich zunächst ein wenig schwach, aber das ist auch alles. Haben Sie schon einmal Blut gespendet, Lady Sarah?“

„Nein“, antwortete sie wahrheitsgemäß.

„Nun, das wäre so ähnlich. Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Ich rufe Don Fernando. Er ist unser ausgewiesener Fachmann für Blutspenden.“

DAS glaubte sie unbesehen. „Und dann soll ich auch…Blut spenden? Nun ja, doch…als Dank, sozusagen, für meine Rettung hier?“

„Oh ja, das ist nett. Sie können auch gern ein paar Tage länger bleiben, um zu erkennen, wie glücklich die Menschen hier leben. Allerdings müsste ich in diesem Fall auch auf einer Geldzahlung für die Unkosten bestehen.“

„Natürlich, das verstehe ich…“ Sie klang verlegen.

Der Meister, der diese Reaktionen von einigen zukünftigen Anhängern kannte, lächelte: „Ihre Unruhe legt sich sicher bald, mein liebes Kind. Also wären Sie mit einer kleinen Blutspende einverstanden.“

„Ja.“ Wenn ein Vampir einen anderen biss, war das sein Todesurteil. Das Vampirblut war hochgiftig für seinesgleichen. Sie würde es sich auf diese Art ersparen, Don Fernando so beeinflussen zu müssen, sie als Opfer zu sehen. Draußen, auf der Mauer vor dem Haupthaus, konnte sie Gebissene erspüren. Leider war diese Fähigkeit deutlich räumlich begrenzt, aber sie wusste seit Edinburgh immerhin, wie sich die Gegenwart dieser armen, seelenlosen Geschöpfe anfühlte, kannte den instinktiven Ekel davor.

Da der Meister das Zimmer verließ, erhob sie sich rasch. Sicher würde er nicht lange brauchen, Don Fernando zu finden. Hoffentlich würde der erste Teil ihres Planes funktionieren. Es handelte sich um sechs Gebissene. Je weniger es waren, desto weniger Gefahr ging von ihnen für die Menschen hier aus – und nicht zuletzt für sie selbst. Während sie an das Fenster trat, dieses und den Laden lautlos einen Spalt öffnete, dabei bemüht in Deckung bleibend, um nicht vom Hof aus gesehen zu werden, zog ihre Rechte bereits die Pistole aus dem Hosenbund. Lord John hatte ihr schon im 19. Jahrhundert für die Schnepfenjagd im schottischen Hochland das Schiessen beigebracht – ein deutlicher Vorteil für ihre jetzige Aufgabe.

Das, wenn auch abgedunkelte, Licht im Arbeitszimmer blendete sie ein wenig, aber die Augen des Nachtjägers erkannten auf der Mauer, keine vierzehn Schritte von ihr entfernt, drei Gebissene, die dort noch immer starr nebeneinander standen, die roten Augen auf das Treiben und die Menschen im Hof gerichtet. Sie hob die Waffe. Immerhin wusste sie bereits aus der in Schottland erworbenen Erfahrung, dass die Schüsse lautlos werden würden.
 

Hastig schloss sie Fensterladen und Fenster. Was nun? Sie verspürte keine Reue, soeben drei Wesen getötet zu haben, wusste sie doch, dass diese nun ihren Frieden gefunden hatten, nicht mehr willenlose, blutdurstige Diener Fernandos sein mussten. Sie hatte das Bild der drei Gebissenen in Edinburgh vor Augen, die sich mit ihrem Tod wieder in Menschen verwandelt hatten.

Sie hörte in diesem Moment, dass die beiden zurückkamen und wollte eilig die Pistole wieder in ihren Hosenbund stecken – nur, um zu erkennen, dass der Lauf zu heiß dafür war. In gewisser Panik legte sie sie einfach auf den Schreibtisch des Hausherrn, in der Hoffnung, in dem allgemeinen Chaos dort würde sie so lange unauffällig bleiben, bis sie sie erneut einsetzen konnte.

„Was zum…!“ erklang die Stimme Don Fernandos direkt vor der Tür.

Sie ließ sich eilig wieder in den Sessel gleiten, auf dem sie zuvor gesessen hatte, bemühte sich um ein ruhiges, ja neugieriges Gesicht, auch, wenn in ihrem Kopf ein Chaos tobte. Hatte er etwa bemerkt, dass drei seiner Gebissenen zurückverwandelt, nun, getötet worden waren? War ein Vampir mit seinen Sklaven derart verbunden? Davon hatte sie nie gehört, aber nun gut, wer kannte sich da auch aus. Dann würde ihre Situation sehr gefährlich werden.

„Was ist denn?“ drängte der Meister: „Komm schon, Lady Sarah wartet, und sie hat sich, wie schon gesagt, bereit erklärt…“

„Ja, ja. – Etwas stimmt nicht, etwas ist geschehen….“

„Deinen Gefühlen kannst du später nachgehen“, zischte der Hausherr: „Jetzt hat das Vorrang.“ Er öffnete die Tür: „So, meine liebe Lady, ich hoffe, dass es nicht zu lange gedauert hat. Don Fernando wird Ihnen gleich zeigen, wie schmerzlos das Ganze ist…“

„Äh…ja…?“ Sie sah zu dem eintretenden Vampir – und erschrak zutiefst. Dieser beachtete sie gar nicht, sondern sein Blick fiel unverzüglich auf ihre Waffe auf dem Schreibtisch. Er war nicht ohne Grund Sicherheitschef, musste sie ihm zubilligen. Und sie hatte einen möglicherweise fatalen Fehler begangen.

Der Meister hatte dagegen nur ihre jähe Furcht gesehen: „Oh, keine Angst, meine Liebe. Es ist gleich vorbei.“

„In der Tat, Verräter!“ Don Fernando klang eisig.

Im nächsten Moment spürte Sarah einen Druck in ihrem Kopf, wie sie ihn nur selten, bei gemeinsamen Jagden mit Lord John Buxton oder Donna Innana gespürt hatte. Sie erfasste, dass der Vampir gegen sie die unsichtbare Macht der Nachtjäger eingesetzt hatte. Nicht, dass dies gegen sie wirken würde, aber er wollte sie anscheinend außer Gefecht haben. Da sie wusste, wie Menschen auf diesen Angriff reagierten, bemühte sie sich um eine gute Imitation der Ohnmacht. Würde er nun ihr Blut trinken, würde er daran sterben.

Der Meister wandte sich irritiert um: „Verräter? Meinst du etwa mich?“

In diesem Moment hatte ihn Don Fernando bereits an der Kehle: „Mich mit schönen Worten einlullen, dabei meine Gebissenen töten…Hast du wirklich geglaubt, ich würde das nicht mitbekommen? Sag schon, ehe ich dir den Hals umdrehe: wolltest du dich damit einschmeicheln? Zeigen, wie viel besser als ich du bist?“

„Ich…ich verstehe nicht…Was soll der Unsinn?“ keuchte der so Bedrohte: „Wir sind Partner…keiner hat Vorrang!“

„Mensch!“ fauchte der Vampir: „Du hast deine Nützlichkeit soeben überschätzt!“

Sarah konnte nur knapp ein Zusammenzucken verhindern, als ihre übermenschlich guten Ohren das leise Knacken eines Genicks vernahmen. Don Fernando schien nicht sehr viel von Partnerschaft zu halten, wenn er das Gefühl hatte, reingelegt worden zu sein. Und anscheinend war er sicher, dass der ominöse Auftraggeber eher auf den Menschen als auf den Vampir verzichten würde. In ihren Augen war das eindeutig ein Hinweis darauf, dass auch der Drahtzieher einer ihres Volkes sein musste.

Und was hatte er nun mit ihr vor? Doch ihr Blut trinken? Das wäre seine letzte Tat. Sie bemühte sich, ruhig zu atmen...nun, so zu tun, als ob, als sie spüren konnte, dass der abtrünnige Vampir sich nun ihr zuwandte.

„Hasta la vista, lady“, sagte er leise, als er sich über sie neigte.
 

********************************
 

Da haben wohl einige Leute einige Fehler begangen.

Sarah ist mehr als ahnunglos, gerade, was das Leben der Vampire angeht. Und welcher Narr schickt schon einen Lehrling los, das Gesetz durchzusetzen? Oder plante da jemand sehr schlau?
 

bye
 

hotep

In der Provinz Oaxaca: die zweite Nacht, Teil 2

Sarah hatte bislang Glück - ob das anhält?
 

11. In der Provinz Oaxaca: die zweite Nacht, Teil 2
 

The city is a jungle you better take care

Never walk alone after midnight

If you don´t believe it, you better beware

Of me

Abba: Tiger
 

Sarah öffnete die Augen, als sie spürte, dass Don Fernando seine Fangzähne aus ihrem Hals löste. Er starrte sie erschreckt an und umklammerte die eigene Kehle, als ob er verhindern könnte, dass er ihr Blut bereits geschluckt hatte – das Blut einer Artgenossin war tödliches Gift. Sie richtete sich auf. Unwillkürlich taumelte er zurück. Ihr war nicht ganz klar, ob das durch den Schock verursacht wurde, eine Vampirin vor sich zu sehen, oder bereits durch die beginnende Auflösung.

„Perque…?“ keuchte er.

„Warum ich dich nicht warnte? Du hast verwerflicherweise Gebissene erschaffen. Ich habe bereits die Hälfte von ihnen getötet.“

Don Fernando brach langsam in die Knie. Sein Blick glitt zu dem toten Meister, als er begriff, dass er den fälschlicherweise ermordet hatte: „Quien estais…?“ Wer sind Sie?

„Yo soy la Kadash.“ Es hatte nicht in ihrer Absicht gelegen, ihm diese Erkenntnis zu ersparen. Zu Leid taten ihr die Gebissenen, die Menschen, die diese beiden diesmal und schon früher der Seele beraubt oder getötet hatten. Sie rieb sich unwillkürlich ein wenig über die Bissspur in ihrem Hals. Breits in fünfzehn Minuten wäre diese verschwunden.

„Aber er hatte gesagt…ahnungslos…“

Das waren die letzten, spanischen Worte, die der Vampir hervorbrachte, ehe seine Auflösung einsetzte. Seine Haut wurde grau, rissig, wie ausgetrocknete Erde. Keine Minute später war von ihm nur noch ein Häufchen Staub übrig, das der leichte Zug, den der Nachtwind in den Raum trug, verteilte.
 

Sarah hörte, dass unvermittelt draußen Schreie klangen. Menschen waren dort anscheinend in Panik. Sie sprang hektisch auf.

Natürlich. Wie hatte sie vergessen können, dass mit dem Tod des Vampirs die restlichen Gebissenen ohne Kontrolle waren. Eilig nahm sie ihre Pistole und schob sie wieder in den Hosenbund, ehe sie hinunter in das Erdgeschoss lief, wo die Haustür offen stand. Als sie annahm, in Sichtweite der anderen zu sein, bemühte sie sich jedoch schwach, taumelnd zu erscheinen, während sie bereits nach den Gebissenen Ausschau hielt. Sie musste die Menschen schützen – unter der Regel der Unauffälligkeit.
 

„Wo ist der Meister?!“ schrie ein Mann, der mit zwei Frauen ins Haupthaus gerannt kam: „Wo ist Don Fernando? Die...die Wachen drehen durch!“

Sarah erkannte Monica, die zu ihr eilte: „Lady Sarah! Was ist…? Oh, Sie wurden ja auch….“ Sie starrte ihren Hals an.

„Der Meister ist tot.“ Die Vampirin bemühte sich, matt und geschockt zu klingen: „Don Fernando hat ihn…ihm den Hals gebrochen. Was ist nur passiert?“

„Das wissen wir nicht. Drei der Wachen…sie…sie versuchen uns zu fangen! Sie sind anscheinend völlig durchgedreht. Sie haben so rote Augen…“

„Dann müssen wir hier weg!“ Sie musste die Menschen von der Hacienda schicken – zum einen in Sicherheit, und zum anderen, damit niemand von denen mitbekam, dass sie die Gebissenen umbrachte.

„Aber der Meister…“ sagte der Mann und spurtete bereits die Treppe hinauf: „Ich muss ihn retten!“

Dazu war es zu spät, dachte Sarah, aber sie blickte zu Monica: „Wir müssen von dieser Hacienda weg. Vielleicht war etwas in dem Trinkwasser….“

Das klang für die verwirrte Frau glaubhaft: „Ja. Kommen Sie, ich helfe Ihnen. Sie werden sich schwach fühlen...“

„Das geht schon. Wo sind die anderen? Ich meine, die Gläubigen? Warnen Sie sie, ja?“ Sie bemühte sich, ihre Manipulationsfähigkeiten gegen Monica und die andere Frau einzusetzen, zur Flucht zu drängen. Je eher die Menschen aus der Bahn waren, umso eher konnte sie selbst sich unauffällig um die Gebissenen kümmern. Der Mann, der nach oben gelaufen war, würde ja hoffentlich bald wiederkommen.

Da die beiden Menschenfrauen tatsächlich das Haupthaus verließen und den anderen zuschrieen, dass sie zum Tor rennen sollten, folgte sie ihnen langsamer, bemüht, auch den anderen Menschen den Impuls von Flucht und das Bild des offenen Tores zu vermitteln. Als sie plötzlich nur wenige Meter neben sich einen Gebissenen erkannte, der gerade dabei war, seine Zähne in einen sich verzweifelt wehrenden Mann zu schlagen, änderte sie jedoch die Form ihrer Gedanken und schlug mit dem unsichtbaren Gedankennetz eines besonders talentierten Vampirs zu. Der Mensch und dessen Angreifer stürzten besinnungslos zu Boden.

Sarah rannte eilig hin und kniete nieder, zerrte den Mann aus den Armen des Gebissenen, ehe sie sich rasch umsah und in der Deckung des Bewusstlosen ihre Waffe zog. Das war einmal ebenfalls ein Mensch gewesen, dachte sie bitter beim Anblick des verzerrten Gesichts, der roten Augen. Und die einzige Möglichkeit, wenigstens im Tode wieder einer zu werden, war, dass sie ihn ermordete. Seine Seele war verloren, aber immerhin würde er als er selbst sterben. So drückte sie voller Mitgefühl ab.

„Sarah, kommen Sie!“ schrie jemand, wohl Monica.

„Ich helfe nur dem Mann hier…“ gab sie zurück, als sie ihn aufzog, bei weitem mühsamer scheinend, als es wirklich der Fall gewesen wäre. Die Körperkräfte eines Vampirs übertrafen die eines Menschen doch deutlich: „Hallo? Können Sie rennen? Wir müssen hier weg!“

Die Angst, die der Mann zuvor ausgestanden hatte, und ihre Gedankenmanipulation taten das ihre und er stand auf und lief, wenn auch taumelnd, Richtung Tor.

Monica packte ihn, um ihn zu stützen: „Jetzt kommen Sie schon, Sarah!“

„Gehen Sie nur und helfen Sie den anderen .Ich komme schon zurecht.“

Nette Menschen konnten wirklich lästig sein. Wo waren nur die letzten beiden Gebissenen? Vorher waren sie noch im Hof gewesen, aber jetzt…? Die meisten Menschen hatten die Hacienda verlassen, nun alle wohl, bis auf den einen Mann, der nach seinem eigenen Meister hatte sehen wollen. Wo steckte der jetzt? Sie sah sich um und versuchte, die Gebissenen zu erspüren.

Verflixt, dachte sie dann. Natürlich. Da sie jetzt ohne Kontrolle waren, aber sicher unbezähmbaren Durst verspürten, waren sie dorthin gegangen, wo sie Don Fernando als letztes bemerkt hatten. Er hatte bislang für ihr Futter gesorgt. Sie drehte sich um und rannte zurück in das Haupthaus, die Treppe empor.

Da waren sie, sie konnte den unwillkürlichen Ekel bereits spüren.

So lief sie weiter, in das Arbeitszimmer. Dem Menschen konnte sie nur mehr indirekt helfen, das war ihr klar, als sie seine weit aufgerissenen Augen sah, die verkrampfte, regungslose Körperhaltung – und die beiden Gebissenen, die sich über ihn hergemacht hatten.
 

Nur drei Sekunden später lagen vier tote Menschen in dem Raum. Sarah atmete durch. Schade, dass dieser Mann nicht zu retten gewesen war, aber immerhin war so die Bedingung der Unauffälligkeit erfüllt. Und die Gebissenen hatten nun ihren Frieden gefunden…

Jetzt musste sie nur noch zusehen, dass sie keinem der anderen Menschen in die Hände lief und selbst verschwand. Wenn die anderen später der Polizei von ihr berichten würden, und diese sie in London aufsuchen würde, müsste sie eben angeben, dass sie in Panik in die Nacht gelaufen war, und nur noch Mexiko hatte verlassen wollen. Es war taktisch unklug gewesen, ihren eigenen Namen anzugeben. Das würde sie in Zukunft bei solchen Aktionen lieber nicht tun.

Sie drehte sich um und ging.
 

Sarah erreichte die Gegend, in der Maestro Cacau lebte, ohne noch einem Menschen zu begegnen.

Der alte Meistervampir erwartete sie bereits: „Gute Jagd, Inquisitor.“

„Buena caza, Maestro Cacau.“

„Sie haben den Auftrag erfüllt.“

„Ja.“ Sie konnte nicht verhindern, dass sich ihre Müdigkeit in ihrer Stimme niederschlug.

Meister Cacau nickte jedoch nur: „Es ist für niemanden einfach, die Blutschuld zu tragen, Kadash. Umso dankbarer sind Ihnen alle unseres Volkes. – Darf ich Sie zur Straße begleiten?“

„Gern, danke. Und darf ich Sie etwas fragen, Maestro?“ Da er den Kopf neigte: „Vielleicht wissen Sie es, Sie erwähnten ja, dass Sie mit...mit meinem Vorgänger befreundet wären. Was ist eigentlich mit dieser Pistole? Sie soll aus dem 16. Jahrhundert stammen, aber sie benötigt ja kein Schwarzpulver?“

„Hat man Ihnen nicht einmal das gesagt? Nun, soweit er mir erzählte, ließ er sie im 16. Jahrhundert umwandeln. Nur äußerlich. Ich mag Distanzwaffen nicht, wie ich bereits erwähnte, aber, soweit ich weiß, ist im Inneren eine Art Mechanismus, der die Silberkugel abschießt, ähnlich wie ein Bogen, nur viel stärker.“

„Eine Armbrust?“

„Ich weiß nicht, was das ist.“

„Perdon, Maestro.“ Natürlich, warum hatte sie nicht daran gedacht, dass der Kadash ja auch schon vor dem 16. Jahrhundert eine Waffe gegen Gebissene benötigt hatte? Pfeile und Bogen gab es schon sehr lange. Warum sollte also nicht ihr Vorgänger oder dessen diese weiterentwickelt haben? Unauffällig, lautlos – und tödlich. Zudem konnte sie den Gegebenheiten der jeweiligen Zeitläufe angepasst werden.

Der mexikanische Meistervampir betrachtete sie kurz, ehe er sich erkundigte: „Möchten Sie noch etwas wissen?“

„In welchem Alter zieht sich ein Vampir zurück?“ entfuhr es ihr prompt.

Er nickte: „Das kann Ihnen niemand sagen, weil es nicht vom Alter abhängt. - Ist Mahabarati noch immer im Rat?“

„Ja.“ Diese Frage bestätigte ihre eigene Vermutung, dass auch er einst im Hohen Rat gewesen war.

„Sie ist das Beispiel für hohes Alter und nicht Zurückziehen. Nun, wenn sie einsam in der Bibliothek lebt, kommt das wohl dem Zurückziehen schon sehr nahe. Vermutlich hat sie darum noch nicht das Bedürfnis. – Aber Sie möchten sicher eine andere Erklärung. Wie Sie sicher wissen, meditiert jeder Vampir im Laufe des Tages, denkt nach, versenkt sich in sich. Je öfter man dies tut und je länger man übt…irgendwann gelangt man zu seinen magischen Fähigkeiten. Das bedeuten in der Regel erwachen zwei Befähigungen: zum einen die Möglichkeit, Bannkreise zu erschaffen, die einen gegenüber Menschen und anderen Vampiren, die diese Fähigkeit noch nicht entwickelt haben, zu verbergen. Zum anderen sinkt der Appetit. Wie Sie sich sicher vorstellen können, kann ich in dieser Einöde nur selten auf die Jagd gehen. Wenn sich diese beiden Begabungen entwickelt haben und der jeweilige Vampir der Händel der Welt müde ist, außerdem seine Schüler selbstständig sind, wird er sich zurückziehen.“

Das klang sehr logisch, aber…. „Sie müssen nicht mehr oft jagen?“

„Nein. Und es wird immer seltener. Haben Sie sich nie gefragt, warum Sie uralte Vampire nicht mehr finden?“

„Sie jagen gar nicht mehr?“

„Richtig. In der Zurückgezogenheit entwickelt man die Magie weiter. Irgendwann erreicht man einen Punkt, der noch weit vor mir liegt, an dem man eins wird mit seiner Umgebung, mit der Natur. Dann können andere Vampire und Menschen an einem vorbeigehen, ohne dass sie den Meditierenden wahrnehmen. Das ist die Endstufe der Entwicklung eines Vampirs: eines zu werden mit allem Leben, nur noch davon und damit zu existieren.“

„Das klingt irgendwie schön“, murmelte Sarah: „Aber bis dahin ist es sicher ein sehr langer Weg.“

„In der Tat. Aber unser Volk hat ja praktisch die Ewigkeit vor sich.“ Meister Cacau betrachtete erneut die junge Inquisitorin, ehe er langsam meinte: „Ich muss zugeben, dass ich etwas verwundert bin. Trotz Ihrer unbestreitbaren Fähigkeiten hat der Hohe Rat Sie ausgewählt, obwohl Ihre Ausbildung ….nun, ich möchte Ihren Meister nicht beleidigen…“

„Ich habe keinen.“

„Wie bitte?“ Er war erschüttert.

Sarah seufzte. Aber er war so freundlich zu ihr und womöglich konnte er ihr noch mehr erklären: „Lord John fand mich eines Tages in London. Das war 1838. Ich war ein Vampir, aber hatte keine Ahnung, was das eigentlich sei oder wie ich es geworden war. Er nahm mich auf und informierte den Hohen Rat. Sie…sie suchten nach einem möglichen Meister, fanden aber niemanden. Dafür bekam der Rat mit, dass ich über…gewisse Fähigkeiten verfüge. Einige Ratsmitglieder rieten dazu, mich zu töten, damit ich nicht außer Kontrolle geraten würde. Donna Innana und Lord John überzeugten sie dann, dass sie mich ausbilden würden. Und vor einigen Wochen schlug mich der Kadash als Nachfolger vor. Nachdem ich die erste Aufgabe in Edinburgh gut gelöst hatte, ernannten sie mich offiziell. Und sandten mich hierher.“

„Ich bin sicher, Donna Inanna und Lord John gaben sich alle Mühe. Aber natürlich ist das Verhältnis eines Meisters zu seinem Schüler ein wenig anders, intimer. Andererseits verstehe ich auch, dass mein alter Freund Sie vorschlug. Sie verfügen über Fähigkeiten, die dem Jäger der Jäger eine Hilfe sind. Und Sie sind wohl bereits in so jungen Jahren die Einsamkeit gewohnt.“

„Der Jäger der Jäger….“

„Nun, das sind Sie doch. Dort oben ist die Straße. Ich bin sicher, Sie werden einen Menschen dazu bringen können, Sie mitzunehmen. Allerdings ist nicht viel Verkehr.“

„Das macht nichts. Und früher oder später werden die Menschen der Hacienda auch andere finden, die Polizei rufen. Dann wird hier einige Unruhe entstehen.“

„Nur vorübergehend. Danach werde ich meinen Gast entlassen. Auch sie wird nie mehr zurückfinden. Die Regel der Unauffälligkeit bleibt gewahrt.“

„Danke, Maestro Cacau.“ Er hatte ihr viel erklärt. Noch mehr zu erfragen wäre wohl wirklich zu unhöflich gewesen.

„Ich möchte Ihnen noch eine Frage stellen, Kadash. Können Sie mir sagen, wer im Hohen Rat dafür stimmte, Sie zu töten? Ich vermute, Amunnefer nicht.“

„Nein, der Ratssprecher war eher neutral. Ikol und einige andere.“

„Ikol. Nun ja. – Oh, auch ich war einst Ratsmitglied.“

„Das dachte ich mir.“ Sie lächelte ein wenig. „Aber niemand will mehr meinen Tod.“

„Natürlich nicht. Die Berufung zum Inquisitor muss ja einstimmig erfolgen. Ich vermute, dass die Möglichkeit, Ihre Fähigkeiten zum Wohle aller einzusetzen auch Ikol und die anderen überzeugt haben. Und sie werden und können eine solche Entscheidung nicht ohne sehr guten Grund revidieren – den Sie ihnen nie liefern werden, davon bin ich überzeugt. Sie erstatten nun dem Hohen Rat Bericht?“

„Ja. Ich werde von Mexiko City den nächsten Flug nach Rom nehmen.“

„Dann gute Jagd, Kadash.“ Er blieb stehen. Sie hatten die Straße erreicht.

„Buena caza, Meister Cacau.“
 

Sie blickte sich nicht um, als sie allein weiter in die Nacht ging, sicher, dass er unverzüglich ihren Augen wieder entzogen sein würde.

Den ersten Autofahrer, der an ihr vorbeikam, stoppte sie durch den Gedankenangriff. Nach einer kleinen Erfrischung brachte sie ihn dazu, sie nach Mexiko City zu fahren. Noch spät am nächsten Tag wunderte sich der Mann über seine ungewöhnliche Schwäche – und darüber, wie er sich derart hatte verfahren können.
 

Sarah trat ein wenig nervös in der Grotte in Rom vor den Hohen Rat, neigte aber nur diplomatisch grüssend den Kopf. Sie war der Kadash. Gerade die Höflichkeit Meister Cacaus hatte ihr dies eigentlich bewusst gemacht.

Der Ratssprecher der Zwölf nickte: „Gute Jagd, Inquisitor. Wie war es in Mexiko?“

„Gute Jagd dem Hohen Rat.“ Sie holte ein wenig Atem. Amunnefer, der Sprecher, sah sie nicht unfreundlich an. Und soweit sie wusste, war er eher einer der Vampire gewesen, die sich zu ihren Gunsten ausgesprochen hatten. So sah sie ihn an, als sie sachlich Bericht erstattete – ohne ihre Mutmaßung zu erwähnen, dass es jemand im Hintergrund des „Meisters“ und Don Fernandos gegeben hatte. Sie nahm nicht an, dass sie mit wilden Verdächtigungen einen sehr positiven Eindruck hinterlassen würde.

Amunnefer nickte und sah in die Runde: „Hat noch jemand eine Frage an den Kadash?“

Die anderen elf schüttelten die Köpfe, ehe Donna Innana meinte:

„Wir sollten Lady Sarah noch unser neues Mitglied vorstellen. - Magog ist das neue Ratsmitglied für Ihren Vorgänger.“

„Gute Jagd, Magog“, murmelte Sarah höflich. Magog war dunkelhaarig, mit fast olivenfarbener Haut. Er lächelte ihr flüchtig zu. Neben ihm saß Ikol. Er wirkte wie immer fast strahlend, durch seine hellen Haare, seine fast schneeweiße Haut. Sie entsann sich nur zu gut, dass auch Ikol einer der Vampire gewesen war, die sich dagegen ausgesprochen hatten, dass sie nur eine Ausbildung erhielt, eher auf ihren Tod drängten. Aber er schien sich wie alle anderen mit ihrer Berufung abgefunden zu haben, wirkte jetzt nur sachlich.

„Wir haben zuvor gerade Magog den Weg zum nächsten Ratstreffen in neun Jahren erklärt“, meinte Innana: „Ich vermute, Sie wissen, Lady Sarah, wo unser Treffpunkt in der Nähe des Göbekli Tepe ist?“

„Sie haben es mir erklärt.“ Am Göbekli Tepe, mitten in der Türkei, hatten Menschen den ältesten Tempel ausgegraben, der je gefunden wurde, noch aus einer Zeit, als ihre Vorfahren Jäger und Sammler gewesen waren. Donna Innana interessierte sich stets für derartige Ausgrabungen, mit Vorliebe allerdings im Zweistromland, war das doch ehemals ihre Heimat gewesen und sie hatte viel Zeit darauf verwendet, Sprache und Kulturen solange zu bewahren, bis die Menschen sich wieder daran erinnern konnten.

„Die Menschen bauten dort einst Tempel für uns. Ich finde, wie es sich auch mächtigeren Wesen gegenüber gehört.“ Ikol nickte: „Darauf sind die ach so klugen Archäologen allerdings noch nicht gekommen.“

„Sie brauchen eben Zeit“, verteidigte Innana prompt ihren Lieblingsberuf, sah aber wieder zu Sarah: „Sie sollten dann ebenfalls dort sein, Kadash.“

„Das ist dann das reguläre Treffen in zehn Jahren. Falls etwas dazwischen geschieht…?“ Die junge Inquisitorin wollte lieber nichts von ihren Besorgnissen erwähnen.

„Erhalten wir und Sie auch Nachricht,“ erklärte Amunnefer sofort: „ Umgekehrt, falls Sie etwas erfahren sollten, können Sie jederzeit eine Nachricht mit Hilfe der Tauben an den Rat schicken, die Sie inzwischen bei Lord John erhalten haben. Jede dieser Tauben ist auf ein bestimmtes Ratsmitglied geprägt und wird es finden.“

„Das dauert aber“, stellte Magog fest: „Oder irre ich mich? Lady Sarah lebt in England – ich dagegen in Südostasien.“

„Es sind besondere Tauben“, meinte Mahabarati, ein weibliches Ratsmitglied. Wenn sich Sarah richtig entsann, entstammte sie einer fast fünftausend Jahre alten Induskultur, hatte sich aber noch nicht zurückgezogen. Und hatte Maestro Cacau nicht etwas von einer Bibliothek erwähnt, die sie besäße? „So läuft das schon seit Jahrtausenden. Auf einen Tag mehr oder weniger kommt es doch bei unserer Lebensspanne nicht an.“

Möglich, dachte die junge Inquisitorin. Aber gab es da doch jemanden, der genau darauf gesetzt hatte? Sie musste unbedingt eine andere Meinung einholen – und sicher nicht die eines Vampirs.

Amunnefer nickte: „Dann hebe ich unsere Sitzung auf. Wir werden uns in neun Jahren in dem unterirdischen Tempel im Hethiter…in der Türkei treffen.“

Der Rat traf sich nur alle zehn Jahre, dachte Sarah. Warum war er dennoch ausgerechnet jetzt in Rom gewesen? Sie bemerkte, dass Donna Innana zu ihr kam, und stellte ihre Frage einfach. Immerhin war die mesopotamische Meistervampirin ihre Lehrerin.

„Das hat natürlich mit Ihnen zu tun, Sarah. – Wir hatten die reguläre Ratssitzung in Rom, als der…der Kadash, Ihr verehrter Vorgänger, Sie als Nachfolgerin vorschlug. Wie Sie wissen hatte es bereits bei einer früheren Ratssitzung durchaus kontroverse Diskussionen um…um Ihre Person gegeben. Und dann dieser Vorschlag….Der Hohe Rat beschloss, meine Ausbildung und die Lord Johns zu überprüfen, Sie zu beobachten. Und solange hier zu bleiben. Da Sie durchaus fähig schienen, wurde Ihnen der Auftrag in Edinburgh als neuer Inquisitor zur Probe erteilt. Da Sie dies und auch den Fall in Mexiko erledigt haben, besteht keine Notwendigkeit mehr, sich in Rom aufzuhalten. Ich vermute, sie sind alle erfreut, nach zwei Jahren wieder nach Hause zu kommen.“

„Sie bleiben bei Rom, Donna Innana?“

„Nein. Der ehemalige Kadash ist dabei, sein Haus hier zu verkaufen, und ist bereits in seine Heimat zurückgekehrt. Er stammte aus Australien. So werde ich auch in mein Zweistromland gehen.“

„Dort ist es recht gefährlich….“

„Meine Liebe, ich meine Inquisitor: die Sorge sollte mich ehren, aber ich bin in der Lage, allein auf mich aufzupassen.“

„Ich bitte um Verzeihung, Donna Innana.“

„Schon gut. Möchten Sie vor Ihrem Weiterflug noch bei mir übernachten? Wir werden uns dann doch nur noch zu den Ratsversammlungen sehen.“

„Ja, gern.“
 

********************************
 

Sarah hat einen argen Verdacht und will sich Hilfe suchen. Im innersten Kreis der Vampire wird sie allerdings wohl kaum Unterstützung finden.

Das nächste Kapitel heist: Rom, Brüssel, London - der Kadash auf Reisen und Inspektor Cuillin bekommt einen Tipp...
 

bye
 

hotep

Rom, Brüssel, London

Lady Sarah hat ihre ersten beiden Fälle als Kadash gelöst - und einen neuen Verdacht. Ob er berechtigt ist, wird sich zeigen.
 

12. Rom, Brüssel, London
 

Sarah ließ sich mit einem erleichterten Seufzer auf das Bett sinken. Sie hatte den Bericht an den Hohen Rat abgegeben und Donna Innana hatte ihr liebenswürdigerweise angeboten, noch einen Tag bei ihr zu verbringen, ehe sie zurück nach London fliegen würde. Die Meistervampirin wohnte in einem Landhaus aus dem vierzehnten Jahrhundert nahe bei Rom, das eigentlich dem vorherigen Kadash gehörte. Dieser wollte es nun offenbar verkaufen und daher Donna Innana in das Zweistromland zurückkehren, vielleicht, um sich wieder um die archäologischen Belange dort kümmern.

Nach dem langen Flug zurück von Mexiko war ein wenig Anpassung an die europäische Zeit sicher nicht schlecht.
 

Sie verschränkte die Hände hinter dem Kopf und sah zu der Decke auf.

Der Einfall, der ihr schon in Mexiko gekommen war, hatte sie während des gesamten Fluges nicht losgelassen. Waren diese Zwischenfälle mit Gebissenen kein Zufall?

Jahrelang passierte nichts, jeder Vampir wusste, dass der Inquisitor nur selten etwas zu tun bekam – und sie hatte schon zwei Aufträge erhalten. Und der alte Kadash hatte sich nach Jahrtausenden zurückgezogen. Hing das irgendwie zusammen?

Wieso?

Thomas, in Edinburgh, hatte nur einen, wenn auch sehr tiefen, Groll gegen Adelige gehegt und er war in den kritischen Jahren gewesen – das klang nach einem Vorfall, wie er bedauerlicherweise immer wieder ab und an vorkam, der Grund, warum das Amt des Inquisitors geschaffen worden war.

Aber Don Fernando und der so genannte Meister – das hatte sich so angehört, als ob es jemanden im Hintergrund geben würde. Aber wen und warum? Ein Mensch war fast auszuschließen. Kein Vampir würde sich auf Dauer von einem Menschen beauftragen lassen, überdies war die unterschiedliche Lebenserwartung ein sicheres Hindernis. Also ein Vampir, der Menschen und andere Vampire beeinflussen konnte, ja, benutzte? Dann müsste es sich um einen älteren Vampir handeln, gar einen Meistervampir. Aber was wollte der mit Gebissenen?

Oder besser: mit Menschen?

Der so genannte Meister in Mexiko hatte sich die Menschen ja nur zum Geldverdienen besorgt – und als Blutkonserve für den verbündeten Vampir…

.

Hu.

Sarah stand auf. Wohin verirrten sich ihre Gedanken? Nein. Ein Meistervampir mit Schülern wäre fast undenkbar. Warum kam sie nicht gleich auf ein Mitglied des Hohen Rates?

Überdies: was sollte er mit Menschen, wiederholte sie sich. War sie schon so in ihrer neuen Arbeit versenkt, dass sie Verschwörungen sah, wo gar keine existierten?

Sie sollte wohl nicht direkt nach London fliegen, sondern einen kleinen Umweg machen. Zum Glück kannte sie jemanden, den sie, wenn auch unter einem Vorwand fragen konnte.
 

Sie griff zum Haustelefon. Sofort meldete sich die Hausangestellte.

„Pronto, Maria. Mi dica?“

Italienisch war nicht gerade Sarahs Sprache, wenn sie auch wusste, was Maria meinte. So erwiderte sie auf Englisch: „Wäre es Ihnen möglich, Maria, meinen Flug umzubuchen? Ich möchte morgen lieber nach Brüssel fliegen. Und suchen Sie mir die Telefonnummer von Europol…nein, Interpol heraus. Danke.“

„Si, Lady Sarah.“

Sarah legte auf. Hoffentlich hatte Inspektor Cuillin schon in Brüssel zu arbeiten begonnen. Nun, sonst müsste sie ihn wohl in Edinburgh anrufen. Ein Handy wäre wohl wirklich keine schlechte Idee. Da wäre sie unabhängig – und konnte auch verhindern, dass jemand zuhörte.

Sie zwang sich, die düsteren Gedanken abzuschütteln.
 

Als sie zum Abendtrunk in das Speisezimmer trat, lächelte die Gastgeberin: „Ihr Becher steht schon bereit, Sarah. Ein wenig ausgeruht?“

„Ja, danke. Der Zeitunterschied ist doch enorm.“ Sie setzte sich. Noch vor hundert Jahren hatte eine derartige Gelegenheit bedeutet, dass der Hausherr einen Bauern „eingeladen“ hatte, der gemeinsam als Trank benutzt worden wäre. Heutzutage hatten Menschen Blutbanken erfunden. So manch Blutspender kam nicht auf die Idee nachzufragen, wer da eigentlich wofür das Blut einsammelte. Natürlich musste das Serum verdünnt werden, aber das war eine doch deutlich unauffälligere Art. „Dieses Haus wird verkauft?“

„Ja. Der…nun, Ihr Vorgänger benötigt es ja nicht mehr hier. Da er aber aus Australien stammte, hielt er es für besser, an einigen der Versammlungsorte Häuser zu besitzen. Das könnten Sie auch in Erwägung ziehen, wobei diese Flugzeuge ja heutzutage ein rascheres Reisen ermöglichen. Gute Jagd!“ Sie nahm ihren Becher.

„Gute Jagd, Donna Innana.“ Sarah trank ebenfalls: „Ich werde jetzt erst einmal nach London zurückkehren. Hoffentlich passiert nichts mehr, einstweilen.“ Sie wollte nicht einmal ihrer Lehrerin gegenüber etwas von ihren unausgegorenen Ideen erzählen. Zum einen, weil sie sich eine Blamage ersparen wollte, zum anderen aus einem Grund, der ihr selbst kaum bewusst war: durch die Höflichkeit, die Maestro Cacau gegenüber gezeigt hatte, war ihr in Wahrheit klar geworden, in welches Amt sie hineinwachsen sollte und musste – und selbst ein Mitglied des Hohen Rates schuldete dem Kadash Höflichkeit. Dessen sollte sie sich würdig zeigen.

Die Meistervampirin stellte ihren Becher ab und zuckte ein wenig nachlässig die Schultern: „Zwei derartige Aufträge nacheinander sind doch recht ungewöhnlich. Aber das kann passieren.“

„Ja, vermutlich.“ Es wäre wohl besser und auch höflicher, sich den Interessen der Gastgeberin zuzuwenden: „Sie kehren in den Irak zurück, nein, Mesopotamien.“ Es war sicher angebracht, den alten Namen zu benutzen, zumal das ja ein größeres Gebiet umfasste.

„Ja, mein Zweistromland.“ Donna Innana lehnte sich zurück und schloss die Augen, ehe sie ein wenig träumerisch meinte: „Ich liebe dieses Land. Seit Tausenden von Jahren durchfließen die beiden Ströme das Land. Wir drei sahen große Reiche kommen und gehen, mächtige Herrscher und großartige Städte. Aber die Namen der Menschen und Könige sind zum Großteil verschwunden, die Mauern zu Staub zerfallen, die Kanäle verdorrt.“ Sie blickte lächelnd auf: „Schwärme ich schon wieder? Ich war sehr froh, dass vor über hundert Jahren die Menschen begannen, das Erbe der Vergangenheit auszugraben, und bereits einiges davon zum Leben erwecken konnten.“

„Ich weiß. - Haben Sie schon eine Ahnung, wo Sie leben wollen?“

„Wollen Sie mich einmal besuchen, Sarah? Das wäre nett. Ich werde mich sicher in der Gegend des Grabungsfeldes Niffur niederlassen, dort wird schließlich mein liebes Nippur ausgegraben. Ah, der Zikkurat des Enlil… Genaueres werde ich allerdings erst vor Ort sehen können, “ brach sie ab. Sie wusste selbst, dass sie stundenlang über Mesopotamien reden konnte.

„Natürlich. Ich würde mir gern einmal Ihre Heimat ansehen. Sie haben davon soviel erzählt.“ Sarah lächelte. Für sie waren es schöne Märchen gewesen, für ihre Lehrerin allerdings Erinnerungen, die sie mit niemandem teilte.

„Ach ja, früher…“ Die Meistervampirin seufzte etwas: „Es war schwer zu sehen, dass sich dort, wo Gärten und Felder angelegt wurden, die Wüste ausbreitete. Aber ich hoffe auf die Zukunft. Und Sie warten auf den nächsten Auftrag?“

„Oh, ich werde erst einmal einiges lernen. Ich habe festgestellt, dass ich doch recht wenig weiß. Ich hoffe, Lord John wird mir seine Büchersammlung zur Verfügung stellen.“ Das war die Wahrheit. Selbst, wenn Inspektor Cuillin ihre Theorie als lachhaft verwerfen würde, müsste sie sich viel mehr Wissen über die Vampirwelt zulegen. Und da ihr Adoptivvater diesbezüglich viel Material gesammelt hatte, war dies eine nahe liegende Möglichkeit.

„Aber sicher. Stimmt, er hat eine recht umfangreiche Sammlung. Ein Bücherwurm ist Ihr Vater. Er hat darum ja auch die Berufung in den Hohen Rat abgelehnt, was zugegeben Seltenheitswert hat. Ich mag ihn.“ Donna Innana zwinkerte etwas: „Und er hat damit ganz schön Aufsehen erregt.“

Lord John hatte einen Ruf in den Hohen Rat abgelehnt? Das war Sarah neu, aber sie beschloss, wenn, dann ihren Adoptivvater dazu selbst zu fragen. So trank sie einen weiteren Schluck: „Ich fliege morgen, mit einem kleinen Umweg, nach London. Ich will noch einen Bekannten besuchen.“

„Ja. Grüssen Sie Lord John von mir. Er wird stolz auf Sie sein.“

„Ich hoffe.“ Sarah wusste, dass ihr Vater unter Umständen mehr Wert auf das Wie ihrer Auftragserfüllung legen würde – und da waren die menschlichen Toten.

Donna Innana bemerkte die unwillkürlich Besorgnis und wollte ihre ehemalige Schülerin trösten: „Er hat nicht gerade viele Kinder, um das mal so auszudrücken. Er war schon immer äußerst wählerisch. Darum waren wir ja auch alle so überrascht, als er….Verzeihung, ich will Sie nicht kränken, Sarah.“ Das war wohl eher unklug gewesen.

Die junge Inquisitorin lächelte ein wenig traurig: „Schon gut. Es entspricht ja den Tatsachen.“

„Sie fühlen sich manchmal immer noch einsam, nicht wahr? Weder Lord John noch ich können die Lücke eines wahren Meisters schließen.“

„Die Einsamkeit des Jäger der Jäger….“ murmelte Sarah in plötzlicher Erinnerung an die Worte Maestro Cacaus.

Donna Innana erstarrte etwas: „Wer hat Ihnen diesen Ausdruck gesagt?“

Ihr Gast wollte den netten mexikanischen Meistervampir nicht verraten: „Ist es nicht so? Vampire sind die Jäger der Nacht. Und der Einzige, nun, die Einzige, die sie ihrerseits jagen darf, bin ich.“

„Ja.“ Ein tiefes Durchatmen: „Ich gelange immer mehr zu der Überzeugung, dass der…der ehemalige Kadash recht hatte, Sie vorzuschlagen. – Dieser Ausdruck ist die alte Form des Inquisitors. Das Wort „Kadash“ wird von den meisten Vampiren ungern verwendet. So sprach man bis in das 14. Jahrhundert vom „Jäger der Jäger“, ehe der Begriff „Inquisitor“ üblich wurde. – Nun, wie Sie wissen, macht es mir oder auch den andere Ratsmitgliedern nichts aus, „Kadash“ zu sagen. Es ist etwas anderes, ob man eine….doch recht unheimliche Person kennt oder nur Gerüchte darüber hört.“

Sarah hob lächelnd ihren Becher: „Ich bin kaum als unheimlich zu bezeichnen, Donna Innana. Gute Jagd!“

„Gute Jagd, Inquisitor.“ Und „unheimlich“ war schließlich ein äußerst dehnbarer Begriff.
 

Lady Sarah traf Kenneth Cuillin in einem Cafe am Boulevard Anspach oder Anspaachlaan, nahe am Stadtzentrum der belgischen Hauptstadt. Sie war ein wenig verwundert gewesen, alles zweisprachig zu sehen, ehe ihr eingefallen war, dass ganz Belgien aus dem französischsprachigen Wallonien und dem niederländisch sprechenden Flandern zusammengesetzt war – was schon oft zu Problemen geführt hatte.

Der schottische Polizeiinspektor betrachtete sie freundlich:

„Sie sehen gut aus, Lady Sarah, direkt braun Waren Sie in Urlaub? Bitte, setzen Sie sich. Ich habe mir erlaubt, für Sie einen Tee zu bestellen. Ah, da kommt er ja auch schon mit meinem Kaffee.“

„Ich war in Mexiko, ja.“ Sie lächelte ein wenig. Sah man den leichten Sonnenbrand noch immer? Aber sie nahm Platz und nickte der Bedienung dankend zu: „Danke, für den Tee und für das Kompliment, Mr. Cuillin. Haben Sie sich schon eingewöhnt?“

„Das ist kaum möglich. Ich arbeite erst seit zwei Tagen hier. Darum war ich über Ihren Anruf sehr überrascht.“

„Das war dann Glück. Ich...ich wollte mit Ihnen sprechen. Sie haben auf mich in Edinburgh einen sehr sachlichen, logischen Eindruck gemacht, und ich bräuchte jemanden, der mein…nennen wir es Szenario einer Geschichte durchdenkt.“

„Eine Geschichte.“ Cuillin lächelte ein wenig. Er kannte sie als Journalistin und nahm an, dass sie an einer Story dran war.

„Angenommen…“ Sie hatte sich auf dem Flug überlegt, wie sie das sagen sollte: „Nehmen wir eine Stadt wie das alte Rom. Ein Senat regiert. Aus welchem Grund sollte einer der Senatoren versuchen, sich….Anhänger zu verschaffen?“ Zu viele „offizielle“ Schüler würden auffallen, aber sie hatte war auf die Idee gekommen, dass die Menschen, die der mexikanische „Meister“ zusammengesucht hatte, womöglich als potentielle Vampire ausgesucht werden sollten, unter Umgehung der offiziellen Begrenzung der Schülerzahl auf drei, maximal fünf.

„Nun, um Macht zu erhalten, “ erwiderte der Inspektor sofort.

„Die hat er doch als Mitglied des Senates.“ Oder als Meistervampir über seine genehmigten Schüler.

„Aber nur gemeinsam mit den anderen. Das ist dann begrenzt.“

„Hm. Und wie bekommt man mehr Anhänger?“ murmelte sie. Sie konnte ihm ja schlecht erzählen, dass sie „Blutspender“ meinte. So war sie ein wenig verwundert, eine prompte Antwort zu bekommen:

„Mit Geld.“ Er lächelte: „Lady Sarah, da ich nicht annehme, dass Sie einen Roman schreiben wollen - wollen Sie mir nicht sagen, was wirklich los ist?“

Er hatte Recht. Mit nur halben Andeutungen würde er ihr kaum weiter helfen können. Allerdings musste sie aufpassen, was sie ihm wie mitteilte. „Ich war in Mexiko.“ Sie atmete durch: „Ich traf dort eine junge Frau, die für eine…Sekte arbeitete. Um was es bei dieser Sekte genau ging, sei dahingestellt. Jedenfalls war alles darauf ausgelegt, dass die Mitglieder dieser Sekte ihr gesamtes Geld dem „Meister“ gaben.“

„Das ist so üblich bei denen.“ Aber Kenneth Cuillin lehnte sich unwillkürlich ein wenig vor, um aufmerksamer zuzuhören.

„Mag sein. – Und am Schluss sollte keiner der Menschen überleben. Das.…das wurde zum Glück verhindert. Aber etwas, das da jemand sagte, ließ in mir den Verdacht aufsteigen, dass das schon öfter so durchgezogen wurde – mit Erfolg.“

„Also gab es schon öfter Tote bei Sekten? Ja, ich habe schon von gemeinsamen Selbstmorden gehört. Aber was hat das mit Ihrer Theorie zum römischen Senat zu tun?“

„Angenommen, diese Sektentode hängen zusammen….“ Nun ja, das klang jetzt auch für sie in Beziehung mit dem alten Rom ziemlich albern. Aber immerhin schien er sie ernst zu nehmen – und ihren etwas missglückten Beginn zu entschuldigen.

Kenneth Cuillin nickte. Er glaubte nicht, dass sie ihm schon alles erzählt hatte, aber anscheinend hielt sie die Sache für wichtig genug, ihn in Brüssel aufzusuchen: „Dann fragt sich, wer dahinter steckt, genauer, wer auf diese Idee kam. Eine interessante Theorie, Lady Sarah. Wie sollten die Menschen in Mexiko sterben?“

„Sie…“ Wie sollte sie das umschreiben: „Sie sollten den alten mexikanischen Göttern geopfert werden, Blutopfer, sozusagen.“

Der Inspektor trank einen Schluck Kaffee, ehe er meinte: „Dann werde ich mal nachsehen, ob es mehrere Sektenopfer in den letzten Jahren gab, die Göttern geopfert wurden, ja?“

Sie starrte ihn ehrlich verblüfft an: „Oh, das geht?“

Er musste lächeln: „Aber ja. Ich habe doch Zugriff auf den Interpol-Computer.“

„Ich werde mich wohl doch einmal mit Computern anfreunden müssen…“ Das klang praktisch. Und sie hatte durchaus nicht vergessen, dass Frances in Edinburgh von einer riesigen Bibliothek gesprochen hatte.

Jetzt lag die sichtbare Überraschung auf Seiten des Polizisten: „Sagen Sie nicht, Sie haben keinen.“

„Nein, bislang konnte ich …“ Na ja. Sie bevorzugte das Schreiben mit Feder und Tinte und hatte sich nur mit den praktischen Füllfederhaltern anfreunden können. Kugelschreiber, fand sie, ruinierten ihre Schrift. So zuckte sie nur die Schultern.

Cuillin lachte: „Das nenne ich mal eine Seltenheit. – Gut. Ich werde nachsehen. Wie lange sind Sie in Brüssel?“

„Geben Sie mir Ihre Handynummer? Ich fliege in zwei Stunden nach London.“

„Geben Sie mir Ihre, dann rufe ich Sie an, sobald ich etwas habe.“

„Ich...ich kaufe mir ein neues, da habe ich die Nummer noch nicht. Dann gebe ich sie Ihnen gern.“ Sie hatte das Gefühl, sich gerade genug blamiert zu haben, nach der Sache mit dem Computer. Sie sollte wohl wirklich einmal mit der Zeit gehen. Hatte das etwa der alte Kadash nicht getan oder nicht tun können? Und hoffte, sein Nachfolger käme auf die richtige Idee? Unsinn, rief sie sich zur Ordnung. Noch war ja nicht einmal gesagt, ob da wirklich eine Gemeinsamkeit bestand, geschweige denn, eine Verschwörung lief.
 

Als sie das viktorianische Haus in London betrat, das ihr „Vater“, Lord John Buxton, besaß, eilte ihr in der Halle der Butler entgegen, in der Kleidung, die vor über hundert Jahren für diesen Berufsstand üblich gewesen war: „Oh, Mylady, warum haben Sie nicht angerufen, wann Sie kommen? Oder nein, ich sollte ja nun Inquisitor sagen.“

„Lassen Sie es nur bei Mylady, Thomas. Ist mein Vater da?“

„Ja, Mylady. Er ist im Arbeitszimmer.“ Er nahm ihr die Tasche ab: „Hatten Sie gute Jagd oder soll ich Ihnen etwas aus dem Vorrat besorgen?“ Er war der einzige wahre Schüler Lord Johns, aber für ihn war Sarah, wie auch sein Meister, jemand, den er umsorgen konnte.

„Danke, ich jagte auf dem Flughafen.“ Sie wandte sich ab, um in das Arbeitszimmer des Hausherrn zu gelangen.

Wie eigentlich immer lehnte Lord John in einem breiten Sessel an seinem Schreibtisch und las, blickte aber auf: „Sarah, willkommen zu Hause. Hattest du Erfolg, mein Kind? Ich meine, Kadash?“ Er trug eine schwarze Hose und ein blütenweißes Hemd, darüber allerdings seinen dunklen Hausmantel, den er nur ablegte, falls er Gäste erwartete.

„Ja.“ Sie setzte sich ihm gegenüber.

Er betrachtete sie: „Die Nacht ist noch nicht weit fortgeschritten, du scheinst getrunken zu haben…und doch wirkst du müde. Machst du dir so viele Gedanken um deine Berufung?“

Sie lächelte, eigentlich nicht überrascht: „Auch. Du kennst mich gut. – Sag, wärst du dagegen, wenn ich mir einen Computer zulege? Ich sah bei dem Auftrag in Edinburgh, wie nützlich das sein kann.“

„Nein, tu nur, was du meinst. Du bist nun der Inquisitor.“

„Ja. Dazu wollte ich dich auch etwas fragen.“ Sie wies auf die Papiere: „Du beschäftigst dich seit Jahrhunderten mit den Sitten der Vampire. Deine Bibliothek dürfte umfassend sein.“

„Du schmeichelst mir. Ich weiß, dass die Bibliothek des Hohen Rates weit größer ist. Aber ich komme nur sehr selten dorthin. Sie liegt, wie du sicher weißt, im afrikanischen Rift Valley. Ich denke, im Augenblick hütet Mahabarati die Sammlung. Auch ein Ratsmitglied.“

„Ja, ich habe sie kennen gelernt.“ Das war also die Bibliothek, die Meister Cacau erwähnt hatte. Nun, da hatte die Inderin sicher viel zu lesen und zu betreuen. „Was ich dich fragen wollte: ich bin der Inquisitor. Der Rat erteilt mir Aufträge und ich ermittele und entscheide selbstständig.“

„Ja.“ Aber das klang abwartend. Er wusste, dass der zweite Teil der Frage sie eher betreffen würde.

Sarah zögerte auch kaum merklich, ehe sie herausplatzte: „Wie sieht es aus, wenn ich selbst etwas eigenartig finde?“

Lord John verschränkte die Hände und musterte seine Adoptivtochter: „Willst du eine sachliche Antwort oder die deines Vaters?“

„Macht das einen Unterschied?“ fragte sie verblüfft zurück.

„Leider. - Nun, der Kadash hat das Recht, selbst zu entscheiden, wann er gegen wen ermitteln will. Allerdings bleibt die Verantwortung gegenüber dem Rat bestehen. Ich denke, es wäre in solch einem Fall korrekt, dem Rat die Beweise vorzulegen und diesen entscheiden zu lassen. Und meine Meinung: Sarah, wenn du nach so kurzer Zeit als Inquisitor schon anfängst, Gespenster zu sehen, ist das nicht gut. Überlege dir, ob du die Belastung weiter tragen kannst. Ich denke nicht, dass ein Rücktritt nicht angenommen werden würde.“

„Nein. Das ist es nicht.“ Sie musste sich zwingen, sachlich zu bleiben. Er meinte es aber gut mit ihr, hatte es schon immer getan: „Ich…ich habe in Mexiko eine Spur gefunden, der ich folgen will. Und es mag sein, dass mich diese Spur sehr weit führt.“

„Sehr weit.“ Der Londoner Meistervampir erhob sich: „Das klingt so, als ob ich mir Sorgen machen sollte. Du weißt, dass deine Stellung nicht unumstritten ist. Du hast nie einen Meister gehabt, in dem Sinn. Gut, ich habe dich gelehrt, Donna Innana hat es getan, aber das ist etwas anderes als das Verhältnis eines Schülers zu seinem Meister, der ihn verwandelt hat. Es gibt sicher nach wie vor Vampire, die dich gern fallen sehen würden.“

„Ja, dessen bin ich mir bewusst.“

„Sarah….“ Er ging um seinen Schreibtisch herum und blieb vor ihr stehen: „Ich weiß, man soll den Inquisitor nicht fragen, was er ausforscht, aber….kannst du mir sagen, dass deine Ermittlungen für das Volk der Vampire nützlich sind?“

Sie sah zu ihm auf, berührt über die sichtbare Besorgnis in seinem Gesicht: „Wenn meine Befürchtung stimmt: unbedingt. Sollte sich jedoch herausstellen, dass ich mir das nur eingebildet habe, werde ich unverzüglich mit den Nachforschungen aufhören.“

Lord John musterte sie: „So schüchtern du oft bist – in dieser Sache klingst du deiner selbst äußerst sicher. In diesem Fall werde ich dir helfen. Wenn du Fragen hast, frage. Oh. Und versuche jemanden zu finden, der dir diesen Computer erklären kann. Ich habe davon keine Ahnung und ich fürchte, Thomas auch nicht, so vielseitig er auch sonst ist. – Er hat jetzt Fernsehen im Kaminzimmer installiert.“ Nun, genauer gesagt, hatte sein „Kind“ ihn gefragt, ob er etwas dagegen hätte, dort einen Fernseher installiert zu bekommen. Lord John hatte zugestimmt, in dunkler Erinnerung an einen großen schwarzen Kasten – und war über das Ergebnis eine Art Kinoleinwand an die Wand geschraubt zu sehen, sehr überrascht gewesen.

„Das ist sicher nicht schlecht.“ Sie musste lachen. Thomas neigte dazu, alles im Haus selbst erledigen zu wollen. Offiziell, damit kein Mensch merkte, dass hier drei Vampire wohnten, aber sowohl John als auch Sarah wussten, dass er der felsenfesten Überzeugung war, niemand könne es besser als er selbst. Er war seit dem großen Brand von London 1666 Vampir und er liebte die Rolle des Butlers seines Meisters. Vielleicht ein Widerschein der Tatsache, dass er einst am Hofe Charles des Zweiten gedient hatte. „Oh… ich werde mir auch noch ein Handy zulegen.“

Lord John seufzte: „Und ich war stolz auf mich, dass ich lernte, mit einem gewöhnlichen Telefon umzugehen. Aber mach, was du für richtig hältst. Wann immer ich dich mit Geld oder Wissen unterstützen kann, werde ich es tun, mein Kind.“

Sarah spürte wieder dieses warme Gefühl, das sie immer umfing, wenn er diese Anrede verwendete. Er hatte sie aufgenommen, ausgebildet, alles getan, was ein Meister für seinen Schüler tun würde –und das, obwohl sie nicht durch ihn zu einem Vampir geworden war. Zuerst hatte sie es doch immer gehofft, aber das war schon Jahrzehnte her. Inzwischen wusste sie, dass sie wohl nie erfahren würde, was damals geschehen war. „Danke, Vater. – Ich möchte mich zurückziehen. Der Zeitunterschied zu Mexiko macht mir noch immer ein wenig zu schaffen.“

„Natürlich. Erhole dich gut.“

Sie stand auf: „Fernsehen, also?“

„Im Kaminzimmer. Ich fürchte nur, nach einem ersten Blick, wir haben nichts versäumt, das nicht zu besitzen.“

„Hauptsache, Thomas ist glücklich.“

„Da hast du Recht.“

Sarah verließ das Arbeitzimmer und ging empor in die beiden Zimmer, die sie im ersten Stock bewohnte. Ehe sie sich in ihr Schlafzimmer zurückzog, setzte sie sich allerdings an ihren eigenen Schreibtisch im so genannten Morgenzimmer und suchte eine Nummer in Edinburgh, wählte.

„Lady Sarah Buxton. Gute Jagd, Frances. Ich habe eine Frage an Sie zum Thema Computer. Wäre es möglich, dass Sie so freundlich wären, mit mir einen kaufen zu gehen, oder ihn mit gar zu erklären? – Ja, natürlich, Fragen Sie Sir Angus.“ Sie wartete fast fünf Minuten lang, ehe ihre Gesprächspartnerin wieder am Telefon war. „Oh, das freut mich. Ich werde Sie dann vom Zug abholen. Vielen Dank.“
 

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Im nächsten Kapitel geht es um Computer- und Handyeinkäufe, einen Zornesausbruch Inspektor Cuillins und unerwarteten Besuch
 

bye
 

hotep

London

Sarah erwartete Frances vor Morgengrauen am King´s Cross Bahnhof. Als die schottische Vampirin den Nachtzug verließ, sah sie sich kurz um, lächelte dann und kam heran.

„Lady Sarah…“

„Frances, ich freue mich, dass Sie kommen konnten.“

„Oh, das klang verlockend, einen neuen Computer kaufen zu dürfen.“ Sie erwähnte wohl besser nichts davon, dass Sir Angus, ihr Meister, zusätzlich gemeint hatte, man solle einer Mitarbeiterin des Inquisitors ruhig einen Gefallen tun. „Ich müsste natürlich wissen, was Sie später damit anfangen wollen – und was Sie bislang für einen Telefonanschluß haben.“

„Das werden Sie wohl mit Thomas besprechen müssen, unserem Butler. Der kümmert sich um alles, was Strom führt. – Kommen Sie.“

„Danke.“ Frances folgte Sarah hinaus zur U-Bahnstation. „Äh….natürlich müssten Sie mir auch in etwa den finanziellen Rahmen sagen.“ Sie wollte schließlich nicht, dass sich ihre englische Artgenossin beleidigt fühlte.

„Ich denke, dass das schon reichen wird.“

Frances schwieg dazu, aber sie verstand, als sie das Haus der Buxtons sah. Auch hier war sicher sehr altes Geld mit im Spiel, wie bei ihrem eigenem Meister, Sir Angus.

Sarah sah zu ihr: „Darf ich Ihnen Thomas vorstellen? Er ist unser Butler. Thomas, Frances Douglas.“

„Gute Jagd, Miss Douglas. Darf ich Ihnen Ihr Zimmer zeigen?“

„Gern. – Danach besprechen wir das mit dem Computer, Lady Sarah?“

„Ja. Thomas, Sie sollten dabei sein, wegen der Strom- und Telefonanschlüsse.“

„Sehr wohl, Mylady. – Darf ich, Miss Douglas?“

Frances war ein wenig irritiert, ließ ihn dann aber ihren Koffer tragen. Zuhause war sie für alle Haushaltspflichten zuständig.

Sarah sah ihnen kurz nach, wie sie die Treppe empor gingen, ehe sie am Arbeitszimmer des Hausherrn klopfte.

„Komm nur herein, mein Kind.“

„Verzeih, wenn ich dich noch störe…“

„Schon gut. Es ist zwar nach Sonnenaufgang, aber so müde bin ich doch noch nicht. Miss Douglas ist eingetroffen?“ Seine Lordschaft würde nie die Höflichkeit gegenüber Besuchern außer Acht lassen: „Ich werde sie dann noch begrüßen.“ Vorsorglich streifte er seinen Hausmantel ab. Er wäre nicht einmal zu seiner Menschenzeit unaufmerksam zu Gästen gewesen.

„Ja. Wir werden uns gleich an die Arbeit machen. Ich möchte dich allerdings noch schnell etwas fragen. Was bedeutet der Begriff Jäger der Jäger?“

Er starrte sie an, sagte dann: „Wo hast du denn das her? Nun, es ist ein Ehrentitel des Kadash. Nicht jedes, sondern genauso genommen nur deines direkten Vorgängers. Er wurde ihm vor über dreitausend Jahren durch den Hohen Rat verliehen. Und er ging damit sicher nicht hausieren.“

Da er sie so fragend ansah, meinte sie: „Das fiel in einem Gespräch mit Donna Innana. Die Einsamkeit des Jägers der Jäger…“

„Oh, Donna Innana, ich verstehe. Sie hat ja lange Jahrhunderte mit ihm in einem Haus gelebt. Sie waren bis zu seinem Rückzug sehr eng befreundet, da ja weder sie noch er Schüler angenommen hatten. Vielleicht empfand sie den Begriff der Einsamkeit…als unpassend. Als Vorwurf gegen sich.“

„Das wäre möglich, ja. Sie wirkte doch ein wenig betroffen. Danke, Vater. – Ich denke, Frances kommt bereits wieder die Treppe hinunter.“

Lord John erhob sich: „Dann begrüße ich sie noch, ehe ich mich in mein Zimmer zurückziehe. Geht ihr dann diesen Computer einkaufen?“

„Ja, sobald sie und Thomas wissen, was hier im Haus mit dem Strom ist.“

„Das überlasse ich ganz euch. Du hast ja deine Karte.“

„Ja.“ Sie vermutete, dass er bei diesen Kreditkarten eines der ersten Mitglieder gewesen war. Er meinte, es sei ungemein praktisch, und nach ihren Ausflügen nach Mexiko und Italien musste sie zugeben, dass es das war – zumal das Konto ihres Vaters ihr zur freien Verfügung stand. Sie hatte es noch nie ausgenutzt, aber sie vermutete, dass seine Ersparnisse recht umfangreich waren.
 

So standen drei Vampire nach kurzer Diskussion gleich nach der Öffnung in einem Elektronikladen und Frances suchte unter den Angeboten. Ein junger, männlicher Verkäufer, der die scheinbar nur wenig ältere Dame irrtümlich für eine Anfängerin hielt, wurde rasch eines Besseren belehrt und empfahl merklich höflicher einige Computer. Schließlich fand einer Gnade vor den Augen der Schottin, aber sie wandte sich freundlich um:

„Lady Sarah, ich würde Ihnen diesen hier empfehlen. Und natürlich dort an der Theke noch Ihren Internetanschluss zu bestellen. Je schneller, desto besser, für Ihre Zwecke, will mir scheinen.“

„Ja, danke.“ Ihre Zwecke? Aber dann fiel Sarah ein, dass Frances sie ja für eine Mitarbeiterin des Kadash hielt. Umso besser, dann brauchte sie nicht viel erläutern, was sie da eigentlich tat oder tun wollte. „Wie lange dauert es, bis so ein Anschluss installiert wird?“

„Ich fürchte, sicher eine Woche.“

„Dann habe ich Zeit, den Computer kennen zu lernen, von Ihnen zu lernen.“

„Das sicher. – Ich werde ihn zunächst einmal installieren, also, vorbereiten. Dann können wir uns heute Abend an die Arbeit machen.“

„Ja, einverstanden.“ Und da der Verkäufer den Computer hilfsbereit zur Kasse trug, so nicht mehr zuhören konnte: „Nach der Jagd.“

„Das ist nett.“ Frances war nie zuvor in London gewesen und hätte nicht gewusst, wo man unauffällig auf die Jagd gehen konnte. Mit einer einheimischen Vampirin wäre dies einfacher.

„Gut. Dann bestellen wir noch diesen Anschluss. – Oh, und ich brauche noch ein Handy.“

„Da kenne ich mich aus, Mylady“, erklärte Thomas sofort: „Aber das können wir gemeinsam mit dem Internetanschluss klären. Da gibt es dann bessere Rabatte, soweit ich weiß.“ Er handelte überaus gern und gut – wie so mancher menschliche Handwerker im Haus der Buxtons in den letzten Jahrhunderten seufzend bestätigt hätte.

„Das überlasse ich ganz Ihnen.“ Sie würde nur bezahlen, was die beiden Spezialisten kauften.
 

Zurück im Haus der Buxtons zog sich Sarah auf ihre Zimmer zurück, während Frances bereits begann, den gekauften Computer auszupacken und zu installieren, was auch immer dies im Einzelnen bedeuten mochte. Wozu man wohl diesen Scanner benötigte, der angeblich auch noch ein Drucker war?

Seltsamerweise waren die Gedanken der jungen Inquisitorin nicht gerade lange bei dieser wohl recht hilfreichen, Maschine sondern bei einem ganz anderen Punkt.

Jäger der Jäger.

Ein Ehrentitel ihres Vorgängers.

Warum war Donna Innana dann so schockiert gewesen, als sie ihn beiläufig erwähnt hatte? Sie selbst hatte diesen Ausdruck von Maestro Cacau gehört, der auch dazu gemeint hatte, dass dieser einsam sei. Sie hatte das allgemein auf das Amt des Kadash bezogen, aber das war wohl falsch gewesen.

Auch Maestro Cacau war im Rat gewesen, wie Donna Innana, beide waren mit ihrem Vorgänger befreundet. Hatte das irgendetwas miteinander zu tun? Innana hatte sogar ja anscheinend Jahrhunderte in seinem Haus gelebt. Mehr als Freundschaft war bei Vampiren auszuschließen – aber da entstand doch sicher eine recht enge Beziehung. Hm.

Sie war ihre Ausbilderin gewesen, gemeinsam mit Lord John….hatte sie womöglich sie, Sarah, dem Kadash empfohlen, da sie über diese besonderen Fähigkeiten verfügte? Und war deswegen so peinlich berührt gewesen, weil sie angenommen hatte, sie hätte davon erfahren? Immerhin hatte sich der Vorschlag des damaligen Inquisitors einigen Ratsmitgliedern alles andere als willkommen dargestellt – und wäre dieser von Donna Innana gekommen, wäre es leichter gewesen, ihn abzulehnen. Überdies, wie hatte Vater gesagt: weder Innana noch der ehemalige Inquisitor hätten je Schüler angenommen? Aber warum hatte sich Donna Innana dann bereit erklärt, sie auszubilden? Weil sie Lord John einen Gefallen tun wollte, der ja auch nur Thomas als „Kind“ aufgenommen hatte? Oder wegen dieser Fähigkeiten, die kein anderer Vampir besaß?

Ihre eigene unbekannte Vergangenheit würde sie wohl kaum je ganz ruhen lassen, erkannte Sarah seufzend. Und das, wo sie sich doch weitaus wichtigeren Problemen gegenüber sah. Sie setzte sich auf und betrachtete ihr neu erworbenes Handy, ehe sie ihr Notizbuch suchte und eine Nummer wählte.

„Inspektor Cuillin, ich bin es, Sarah Buxton. Guten Tag.“

„Ah, Sie haben Ihr neues Handy. Schön. Ich speichere Ihre Nummer. Gut, dass Sie anrufen. Ich bin etwas böse auf Sie.“

„Warum?“ Sie war ehrlich erstaunt. In seiner Stimme lag ungewohnte Schärfe.

„Ich habe recherchiert. In der Tat sind in einigen Ländern bereits derartige Sektenmorde vorgekommen. Immer im Namen irgendeines lokalen, manchmal uralten Gottes, der in allen dieser Fälle Blutopfer wollte.“ Er schien Luft zu holen, ehe er deutlich lauter fortfuhr: „Verdammt, Lady Sarah: Was Sie da haben, ist ein Hinweis auf einen Massenmord. Sie können nicht der Polizei Informationen vorenthalten, die Sie wissen.“

„Aber ich weiß doch nichts, Mr. Cuillin“, beteuerte Sarah, der Wahrheit gemäß. „Ich wusste ja nicht einmal, ob meine vage Vermutung den Tatsachen entsprach, dass das schon öfter passiert ist. Ich habe nur diesen einen mit angehörten Halbsatz, den ich Ihnen bereits sagte und wilde Vermutungen, die ich auf dem Rückflug von Mexiko anstellte.“ Sie atmete durch: „Und ich kann Ihnen versprechen, dass ich Ihnen alles sage, was zu einer Verhaftung führen kann. Ich bin wirklich nicht daran interessiert, dass da Verrückte herumlaufen und Menschen erst um ihr Geld und dann ihr Blut bringen.“

„Ich werde Ihnen einmal glauben.“ Er klang beruhigter.

„Ich bin immerhin nach Brüssel gekommen…“ wandte sie ein.

„Ja, das spricht für Sie. Aber ich muss zugeben, dass mir das Szenario überhaupt nicht passt. Ich werde mit meinem Chef darüber reden. Vielleicht bekomme ich die Erlaubnis, selbst weiter zu recherchieren, vielleicht auch ein Kollege.“

„Sie wären mir lieber“, erklärte Lady Sarah prompt.

„Danke“, meinte der Inspektor unwillkürlich: „Sie hören von mir.“

„Danke.“ Sie hätte ihm um ein Haar Gute Jagd gewünscht: „Wenn ich etwas herausfinde, das für Sie für eine Verhaftung nützlich ist, werde ich es Ihnen sagen.“

„Das ist ein Wort. Auf Wiederhören.“

Sarah legte auf.

Hu, daran hatte sie zuvor gar nicht gedacht. Aber Kenneth Cuillin war ein fähiger, engagierter Polizist – natürlich würde er bei einer solchen Sache auch selbst ermitteln wollen. Womöglich wäre das gar nicht schlecht. Es würde doch anderes an die Sache herangehen als sie selbst. Und wer wusste schon, ob sich der Vampir, der möglicherweise dahinter steckte, nicht nur gegen den Inquisitor vorgesehen hatte – und nicht mit menschlicher Polizei rechnete? So oder so wäre eine Zusammenarbeit sicher nicht nur möglich sondern äußerst sinnvoll.
 

Als Thomas höflich an Sarahs Tür klopfte, war er ein wenig zerknirscht. Sie merkte es: „Was ist passiert?“

„Ich habe bedauerlicherweise zuviel geredet, Mylady.“

Das konnte sie sich zwar kaum vorstellen, fragte aber: „Nun?“

„Ich hatte nicht angenommen, dass Miss Douglas nicht über die Stellung Eurer Ladyschaft informiert wäre…“

„Und Sie haben ihr gesagt, dass ich der Inquisitor bin?“

„Ja.“

„Schade, aber nicht zu ändern. War sie sehr überrascht?“

„Ja. Und, würde ich sagen, fast erschrocken.“

„Dann werde ich erst noch mit ihr reden, ehe ich mit ihr auf die Jagd gehe. Ist sie noch beim Computer?“

„Ja. Ich werde die Damen dann bei Seiner Lordschaft entschuldigen. – Er wollte heute auch jagen, “ fuhr er erklärend fort. Es geschah durchaus, dass Lord John Tage das Haus nicht verließ.

„Danke, Thomas.“ Sarah ging hinunter und ohne anzuklopfen in das Zimmer.

Frances fuhr fast erschrocken herum: „Ich...ich bin noch nicht fertig.“ Das klang schon mehr als entschuldigend.

Sarah lächelte darum auch: „Natürlich nicht. Sie erwähnten ja, dass das Zeit in Anspruch nimmt. Gehen wir jagen? Danach würde ich gerne anfangen zu lernen.“ Und jetzt der unangenehmere Teil: „Thomas hat Ihnen erzählt, dass ich der Kadash sei?“

Frances zuckte ein wenig zusammen. Diesen alten – und durchaus beängstigenden - Ausdruck verwendete Sir Angus eigentlich nie: „Ja.“

Sie wirkte tatsächlich eingeschüchtert. Etwas zerknirscht meinte Sarah: „Wollen Sie mich etwas dazu fragen?“

„Darf ich? Sie…Sie sehen so jung aus, aber das ist natürlich immer nur das Alter der Verwandlung. In Edinburgh sagten Sie mir jedoch, dass Sie Anfang des 19. Jahrhunderts Mensch gewesen sind. Ich dachte…ich dachte, der Inquisitor sei ein mächtiger Vampir. Ich meine…oh, entschuldigen Sie….“ Frances wäre am liebsten im Erdboden versunken.

„Nun, mein Vorgänger war ein sehr alter und mächtiger Vampir, der sich jetzt zurückgezogen hat. Aber ich verfüge über gewisse Fähigkeiten, die…“ Sie brach ab.

„Die kein anderer besitzt?“ ergänzte die Schottin nach einer Pause: „Danke. Ich verstehe, dass Sie nicht darüber reden wollen oder auch dürfen, Lady Sarah. Lassen Sie es mich so ausdrücken: ich wäre froh, diese Fähigkeiten nie in Aktion zu sehen.“

„Ja, danke.“ Die Gastgeberin lächelte wieder etwas: „Dann fahren wir ein wenig U-Bahn. Kennen Sie die „London Dungeons“?“

„Ja, das gibt es in Edinburgh auch. Dort werden, sehr realistisch, glaube ich, Pest und Hinrichtungen und so etwas nachgestellt. Für Menschen der heutigen Zeit wohl sehr gruselig und erheiternd. Sie haben das schließlich nie selbst erleben müssen.“

„Ich meinte auch nicht, dass wir in dieses merkwürdige Etablissement gehen“, entschuldigte sich Sarah: „Aber wenn die Menschen dort hinauskommen, achten sie oft nicht mehr auf ihre Umgebung und sind leichte Beute. Überdies: wenn doch jemandem etwas auffällt und er sagt, wo er vorher war, wird ihm niemand glauben. - Aber wir können auch gern woanders hingehen. Wir müssen nur außerhalb der Kameras bleiben.“

„Kameras?“

„Fast ganz London – also, die Innere Stadt - wird zum Schutz gegen Überfälle von Kameras erfasst.“

„Oh. Aber Sie wissen, wo sie sind.“

„Natürlich. Das hat die Jagd ein wenig erschwert, aber man kann ja auch weiter hinaus fahren – oder eben aufpassen.“

„Natürlich. Gut. Dann gehen wir, Inquisitor…“

„Sagen Sie Sarah.“

„Danke.“
 

Drei Stunden später waren die beiden Vampirinnen zurück – fast gleichzeitig mit Lord John. Dieser nickte: „Gute Jagd, meine Damen. Nun, wie ich sehe, hattet ihr sie bereits.“

„Gute Jagd, Lord John.“ Frances lächelte: „Auch Sie.“

„Dann machen Sie sich nun mit Sarah an diesem Computer an die Arbeit, Miss Douglas?“

„Ja. – In ungefähr sechs Tagen soll der Internetanschluss frei geschaltet werden. Bis dahin werde ich versuchen, Lady Sarah möglichst viel zu erklären.“

„Danke. – Ich bin mir für so etwas zu alt. Meine Lederfolianten haben einen…sagen wir, angenehmeren Geruch. Aber es ist schön, muss ich zugeben, wenn Vampire mit der Zeit gehen.“ Er neigte ein wenig höflich den Kopf, ehe er sich in sein Arbeitszimmer zurückzog.

Frances sah zu ihrer Gastgeberin: „Dann kommen Sie.“

„Ja. Ich fürchte, Sie werden bei mir bei Null anfangen dürfen.“

„Das macht ja nichts. Wir haben einige Nächte Zeit. Und außerdem – es ist eigentlich wie eine Bibliothek.“

„Ja, das erwähnten Sie schon in Edinburgh.“

„Gut. Dann zeige ich Ihnen zunächst die Hardware…das ist alles, was man sehen und anfassen kann, ehe wir weitergehen.“

„Danke. Das überlasse ich ganz Ihnen, Frances. Sie sind die Spezialistin.“
 

Zwei Abende später klingelte es bei den Buxtons. Sarah hörte, wie Thomas höflich die Gäste begrüßte – und sie erkannte zumindest eine Stimme.

„Entschuldigen Sie mich bitte, Frances. Wir scheinen hohen Besuch zu haben.“

„Natürlich.“

Während Sarah in die Vorhalle trat, sah sie, dass sie sich nicht getäuscht hatte: Ikol, ein Mitglied des Hohen Rates, und ein weiteres. Kai, hieß er, was in seiner Heimatsprache, dem Keltischen, Metall bedeuten sollte, wenn sie sich recht entsann. „Gute Jagd“, grüsste sie höflich: „ Willkommen in London.“

„Danke, Inquisitor“, erwiderte Kai prompt, während Ikol sagte:

„Auch Ihnen gute Jagd, Lady Sarah. Allerdings führt uns unser Weg zu Lord John. – Nichts gegen Sie persönlich, aber es ist keine Angelegenheit für den Kadash sondern für einen Wissenschaftler.“

„Natürlich.“ Sie mochte Ikol nicht sonderlich, aber sie konnte ihm beim schlechtesten Willen keine Unhöflichkeit ihr gegenüber verwerfen – nachdem er akzeptiert hatte, dass sie am Leben bleiben sollte.

„Lord Johns umfangreiche Bibliothek…“ ergänzte Kai mit entschuldigendem Lächeln: „Ikol meinte, er könne mir weiterhelfen.“

„Ich hoffe.“ Der Hausherr war in die Halle gekommen, wie immer in schwarzer Hose und weißem Hemd mit Rüschen am Hals, wie es zu Beginn des 19. Jahrhunderts üblich gewesen war: „Gute Jagd den Mitgliedern des Hohen Rates. – Bitte, folgen Sie mir in mein Arbeitszimmer. Ich vermute, Sie kamen heute noch nicht zur Jagd? - Sarah, wärst du als Dame des Hauses so freundlich, unseren Gästen eine Erfrischung zu besorgen?“ Solch hohen und wertgeschätzten Gästen gegenüber wäre es doch fast unhöflich gewesen, das Essen vom Butler servieren zu lassen, die Stellung der Haustochter als Inquisitor hin oder her.

„In der Tat, das wäre nett.“ Kai nickte: „Wir sind heute erst aus Deutschland hergeflogen. Dort war eine große Keltenausstellung. Nun ja…“ Er zuckte ein wenig die Schultern: „Aber sie werden immer besser. – Wie Sie wissen, Lord John, bin ich ja Schmied, an allen Waffen interessiert…“ Die drei gingen in das Arbeitszimmer des Hausherrn.

Sarah zuckte fast ebenfalls die Schultern. Stimmt, das hatte ihr Donna Innana einmal erzählt Kai war ein Waffennarr. Er sammelte alles, was es in Richtung Dolche, Schwerter und ähnlichem je gegeben hatte – und baute es möglichst originalgetreu nach. So drehte sie sich zum Butler um: „Ich hoffe, wir haben noch Blutvorräte?“

„Ja. Wie Sie wissen, arbeitet ja Belena dort….“

„Ja.“ Sie war eine Vampirin, eine alte Bekannte Lord Johns. Er hatte einmal scherzhaft gemeint, er kannte sie schon, als er noch kein Lord war. Und sie versorgte seit langer Zeit die Vampire Londons mit Blutkonserven – früher in Form von Menschen, heute in Plastiktüten. Sarah gab zu, dass dies wohl auch für die Menschen angenehmer war. Allerdings hatte das der Vampirin den Spitznamen „Blutbank-Belena“ eingetragen. „Dann holen wir etwas für unsere Gäste.“

„Natürlich, Mylady.“
 

Als Sarah mit dem Tablett, auf dem drei Becher mit Blut standen, wieder in die Halle kam, klingelte es erneut. Sie fuhr fast zusammen. Besucher waren so häufig nicht – und dann gleich zwei an einem Abend?

Thomas eilte an ihr vorbei: „Ich öffne schon, Mylady….“ Er tat dies und starrte ein wenig verwundert den großen, eindeutig menschlichen, Mann im Anzug an, der vor der Tür stand, sich nun höflich ein wenig verneigte:

„Guten Abend. Mein Name ist Kenneth Cuillin. Ist Lady Sarah zu sprechen?“
 

*************************
 

Die oberste Regel ist die der Unauffälligkeit?

Und jetzt, Sarah?
 

bye
 

hotep

London: Besucher in der Nacht

Sarah ist ein bisschen in der Klemme, da habt ihr recht. Aber sie hat eben noch viel zu lernen...
 

14. London: Besucher in der Nacht
 

„Inspektor Cuillin!“ Sarah war erschrocken und bemühte sich, hastig und genau nachzudenken. Hoffentlich bemerkte er nicht, was sie da in den drei Bechern buchstäblich auf dem Silbertablett vor sich trug. Das konnte fatal werden, noch dazu mit zwei Ratsmitgliedern im Haus. Zum Glück kaschierte Thomas ihm wohl etwas die Sicht, auch, wenn er sie sicher entdeckt hatte. So blieb sie vor der Tür des Arbeitszimmers stehen und rief nur zum offenen Eingang: „Guten Abend. Einen kleinen Moment, bitte. Ich bringe nur noch meinem Vater und seinen Gästen eine Erfrischung. – Thomas, begleiten Sie Inspektor Cuillin bitte in das Kaminzimmer?“

Der Butler verneigte sich ein wenig – ob vor der Lady oder dem Besuch ließ er dabei taktvoll unentschieden: „Sehr wohl, Mylady. Wenn Sie mir folgen würden, Inspektor?“ Er wartete allerdings, bis Sarah die Tür zum Arbeitszimmer des Hausherrn wieder hinter sich geschlossen hatte, ehe er sich umdrehte.

Dieser tat das Gewünschte und ging hinter Thomas durch die große Halle. Recht viktorianisch, dachte er unwillkürlich, alles altmodisch eingerichtet – und wahrscheinlich wirklich so alt wie das Haus. Wie sich eine junge Frau wie Sarah hier wohl fühlen mochte? Im nächsten Moment revidierte er seine Ansicht, als der Butler vor ihm die Tür öffnete und er den modernen Flachbildschirmfernseher dort an der Wand entdeckte. Echtes Feuer brannte dagegen altertümlich im Kamin.

„Nehmen Sie Platz“, meinte Thomas höflich: „Ihre Ladyschaft wird sofort zu Ihnen kommen. Darf ich Ihnen inzwischen einen Tee anbieten?“ Er hatte in seiner Küche stets einen Vorrat für allfällige menschliche Besucher, wie Handwerker oder Postboten. Schließlich wäre Lord John nicht angetan, würde man Gäste unfreundlich behandeln – oder gar Menschen Blut aufdrängen.

„Danke, nein.“ Der Inspektor hörte, wie hinter ihm die Tür geschlossen wurde, und blickte sich unwillkürlich rasch im Raum um. Eine Fernsehzeitung lag neben der Fernbedienung auf einem Tischchen, im Regal an der Wand standen Bücher in Ledereinbänden, manche davon in ihm unbekannten Schriftzeichen. Alles war aufgeräumt – nun, der Butler schien seine Arbeit zu verstehen.
 

Sarah hatte unterdessen das Arbeitszimmer betreten, wo sich Lord John und seine beiden Gäste auf den Ledersesseln vor dem Kamin niedergelassen hatten. Sie stellte das Tablett auf dem Tischchen ab, ehe sie abbittend zum Hausherrn blickte:

„Darf ich mich entschuldigen? Es kam unerwartet ein Freund aus Brüssel…“

Lord John verstand die Andeutung, hatte sie ihm doch ein wenig von Inspektor Cuillin erzählt – und verstand auch, dass sie in ihrer doch manchmal recht zwiespältigen Lage nicht gerade vor Ratsmitgliedern ausposaunen wollte, dass sie zu einem menschlichen Polizisten Kontakt hatte. „Natürlich, mein Kind. Deine Freunde sind willkommen in meinem Haus.“

„Ein Freund?“ fragte Ikol prompt.

Sie lächelte ein wenig traurig: „Selbst ich habe Freunde…“

„Verzeihen Sie“, beteuerte der eilig: „Ich …ich wollte Sie nicht beleidigen.“

„Im Gegenteil“, ergänzte Kai: „Ich finde es schön für Sie, dass Ihre Freunde nicht zurückzuckten, als sie von Ihrer Berufung erfahren haben. Bei mir waren einige schon weg, als ich nur Ratsmitglied wurde….“

„Ich musste lernen, dass auch Vampire bedauerlicherweise nicht perfekt sind“, meinte Ikol: „Wie sie sich noch verbessern können, dafür ist Lady Sarah ja durchaus ein Beispiel.“

„Danke“, murmelte sie unwillkürlich, unangenehm berührt, dass er noch immer auf ihren besonderen Fähigkeiten herumritt: „Ich wünsche Ihnen noch eine angenehme Nacht. – Vater…“

Sie zog sich höflich zurück. Warum um alles auf der Welt war er hier nach London gekommen? So lauteten auch ihre ersten Worte, als sie das Kaminzimmer betrat:

„Welch unerwartete Überraschung, Inspektor.“

Er drehte sich um: „Unerwartet, Lady Sarah? Nach dem, was Sie mir in Brüssel erzählt hatten und ich noch so herausfand?“

„Nun, sagen wir, ich bin ein wenig erstaunt, dass Sie meine Adresse fanden, aber natürlich….Computer. Bitte, setzen Sie sich. Haben Sie denn etwas so Wichtiges herausgefunden, dass Sie den Weg nach London auf sich nahmen?“

„Es ist eine Dienstreise. - Warum so überrascht? Die mexikanischen Kollegen waren sowieso auf der Suche nach Ihnen.“

„Oh.“ Sie hatte es sich doch gedacht. Nun, da musste sie aufpassen, was sie ihm erzählte. Kenneth Cuillin war alles andere als ein Trottel. Am besten blieb sie bei der Wahrheit, so gut es ging. „Wegen dieser Hacienda?“

„Natürlich. Haben Sie erwartet, dass bei sieben Toten nicht nachgefragt wird?“

„Sieben?“ Sie war ehrlich erstaunt, ehe sie bedachte, dass kein Mensch eine Spur von Don Fernando hatte finden können.

Dem Inspektor war ihre Überraschung nicht entgangen: „Wie viele dachten Sie denn?“

„Sechs?“ Das war keine Lüge, nur eine Frage: „Sie wollen sicher alles wissen, oder?“

„Ja, zumal Sie doch etwas von einem Gespräch erzählten, dass Sie mithörten.“

Er hatte bestimmt von der mexikanischen Polizei die Aussage von Monica und den anderen bekommen. Das musste sie berücksichtigen: „Ich ….nun ja, ich hatte einen etwas peinlichen Reitunfall und lief auf der Suche nach einem Telefon durch das Tal. So kam ich zu dieser Hacienda. Eine Frau namens Monica war sehr freundlich, meinte jedoch, sie wisse nicht, ob ich telefonieren dürfe. Das Telefon sei im Haupthaus und der Meister hätte verboten, dass dort jemand hingehe. Sie werde aber mit Don Fernando reden, der sich um die weltlichen Sachen kümmere. Der kam dann auch zu mir und meinte, er würde mit dem Meister reden. Da wurde mir schon klar, dass es sich wohl um eine Sekte handelte, aber ehrlich gesagt war mir das zu diesem Zeitpunkt relativ gleich.“ Sarah zuckte ein wenig die Schultern: „Jeder soll doch nach seiner Facon selig werden.“

„Und Sie konnten mit dem Meister sprechen?“

„Ja, allerdings erst abends.“ Jetzt musste sie aufpassen: „Als mich Don Fernando zu ihm brachte, ließ er mich vor der Tür warten. Ich hörte nur Stimmen, aber nicht, was sie sagten. Dann jedoch öffnete er ein wenig die Tür und ich hörte noch wie jemand, also, der Meister meinte: …noch haben wir nicht alles Geld. Und Don Fernando antwortete: Wenn du alles hast, übernehme ich. Wie immer, bestätigte der Meister und Don Fernando sagte: Wie immer. Der Plan läuft doch gut“ Sarah nickte. Das war nur knapp an der Wahrheit vorbei: „Zu diesem Zeitpunkt dachte ich mir freilich nichts dabei, erst auf dem Rückflug von Mexiko, als ich zur Ruhe kam.“

„Aber Sie unterhielten sich später mit dem Meister?“

„Ja. Er…nun, er versuchte, mir seine Sekte schmackhaft zu machen. Und ich muss zugeben, dass es ihm um ein Haar gelungen wäre. Er war so überzeugend, solch eine Persönlichkeit, wie ich sie noch nie erlebt habe.“ Sie senkte den Kopf. Was konnte sie noch ohne Gefahr erzählen – und bei allem anderen: wie?

„Ich habe die Aussagen der anderen bekommen. Er scheint wirklich sehr beeindruckend gewesen zu sein. Sie brauchen sich nicht schämen, Lady Sarah. Was geschah dann?“

Sie durfte nicht lügen – aber die Wahrheit konnte sie ihm auch nicht sagen. Nun gut, nur eine modifizierte: „Don Fernando kam zur Tür herein. Sein Blick fiel auf den Schreibtisch des Meisters, dann sagte er, also, der Meister, zu mir: Don Fernando wird Ihnen zeigen, wie schmerzlos das ist…Ich glaube, das bezog sich auf seine Idee, alle Jünger sollten Blut spenden. Jedenfalls ergänzte er noch: es ist gleich vorbei. Don Fernando kam inzwischen nahe zu ihm und meinte: In der Tat, Verräter. Und dann…“ Sarah atmete durch. Den nächsten Dialog sollte sie besser auslassen. „Er packte ihn am Hals und….Es gab so ein ganz eigenartiges Geräusch. Ich habe es nie zuvor gehört, aber ich wusste, dass er ihm das Genick gebrochen hatte.“ Sie sah auf: „Halten Sie mich für einen Feigling, Inspektor, wenn ich Ihnen sage, dass ich zusammenzuckte und mich ein Schauder überlief?“

„Ich denke, dass das vollkommen normal ist, wenn man gerade einen Mord mit angesehen hat. Was geschah dann? Dieser Don Fernando ist ja spurlos verschwunden. Sie sind wohl die Letzte, die ihn noch gesehen hat.“

Da sie ihn getötet hatte, sicher, aber das war auch ein Punkt, der ihn nichts anging. „Ich kann Ihnen nur versichern, dass ich keine Ahnung habe, wohin er verschwand. Er hielt mich wohl für bewusstlos, als er den Meister umbrachte.“ Das war die Wahrheit. Sie empfand es als schwierig, jemanden anlügen zu müssen, der es gut mit ihr meinte. Aber das oberste Gebot für alle Vampire war die Regel der Unauffälligkeit und das galt sicher zweimal für den Inquisitor. „Als ich wieder einigermaßen klar denken konnte, war ich neben dem toten Meister allein im Raum. Draußen schrieen andere Menschen, in dem Hof, meine ich.“ Das stimmte und jetzt konnte sie wieder bei der Wahrheit bleiben: „Ich rannte die Treppe hinunter. Monica, eine andere Frau und ein Mann kamen mir durch die offene Haustür entgegen und erzählten, dass die Wachen durchgedreht wären, sie angreifen würden. Ich meinte, wir sollten hier weg, schleunigst verschwinden….Aber der Mann sagte, dass er noch nach dem Meister sehen wollte und lief die Treppe empor. Wir drei gingen dagegen in den Hof. Ich….ich half einer Frau gegen den Angreifer, der sich abwandte, und Monica übernahm sie. Und dann half ich noch einem anderen Mann.“

Das stimmte mit den Aussagen der anderen beiden Frauen überein, aber das verschwieg ihr der Inspektor: „Warum sind Sie nicht wie die anderen hinausgelaufen?“

„Wegen des einen Mannes. Mir fiel ein – ich gebe zu, das klingt ziemlich dämlich – dass der Meister ja tot wäre. Das musste er doch auch gesehen haben. Wo blieb er? Ich vermutete zu diesem Zeitpunkt, dass er die…die Leiche bergen wollte. Aber er sollte doch ebenso von dieser Hacienda weg wie ich oder die anderen. So rannte ich zurück in das Arbeitszimmer.“ Sie sollte besser nicht erzählen, was sie da genau sah, geschweige denn, getan hatte. Eine Kurzfassung würde es auch tun. „Er lag neben dem Meister am Boden. Und zwei der Wachen.“

„Waren sie alle schon tot?“

„Ich…ich denke ja. Aber ich habe sie nicht angefasst. Das war dann doch ein bisschen viel. Ich lief einfach los, aus dem Tor. Von den anderen Menschen sah ich niemanden mehr, bis ich die Strasse erreichte. Ein LKW-Fahrer war dann so nett, mich nach Mexiko-City mitzunehmen. Und ich nahm das nächste Flugzeug.“

„Sie dachten nicht an die Polizei?“

„Nein. Ich kam erst im Flugzeug wieder einigermaßen zur Ruhe. Und da dachte ich nach. – Das war dann ja auch der Grund, warum ich Sie in Brüssel aufsuchte.“

„Ja. – Ihnen ist klar, falls dieser Don Fernando aufgegriffen wird, wird es zu einer Anklage gegen ihn kommen. Da sind Sie dann die Hauptzeugin.“

„Ja, das ist mir inzwischen klar.“ Immerhin konnte sie sicher sein, dass der nie gefangen werden würde: „Ich werde in diesem Fall auch meine Aussage wiederholen.“

„Gut. Ich schreibe die Niederschrift Ihrer jetzigen Aussage in meinem Hotel und bringe Sie Ihnen morgen zur Unterschrift vorbei.“

„Danke. Darf ich Ihnen jetzt auch eine Frage stellen?“

„Hm? Oh, wo die anderen Sekten waren, die solche Blutopfer verlangten?“

„Ja. Und wann.“

„Immerhin scheint dieser Meister nur ein altes Muster aufgenommen zu haben. Die ersten Hinweise dieser Art stammen aus den Dreißigern des letzten Jahrhunderts, Indien, zu Ehren der Göttin Kali. Dann gab es einen Vorfall im damaligen Rhodesien in den Vierzigern. Aber dann geschah lange nichts – oder die Polizei bekam es nicht mit. Erst 1985 passierte erneut ein derartiger Sektenmord in Brasilien. Und dann in den letzten zwanzig Jahren waren es vier, zumeist in Süd- und Mittelamerika, aber auch einer in Indonesien. Das waren dann wohl dieser Meister und Don Fernando. Wie alt war der Meister, sagten Sie?“

„Äh, ich sagte gar nichts dazu, weil ich ihn nicht abschätzen konnte. Anfang Vierzig oder Ende Fünfzig, sicher. Aber vielleicht auch jünger…Tut mir Leid.“

„Wenn er früh angefangen hat, warum nicht. Schade, dass niemand seinen Namen sagen kann. Die mexikanischen Kollegen haben seine Bankkonten, genauer, das Bankkonto der „Gemeinschaft der Gläubigen des Blutes“ überprüfen lassen. Er hat das Geld seiner Jünger nicht lange auf diesem mexikanischen Konto gelassen, sondern gleich weiter überwiesen.“

„Und an wen?“

„Ein Nummernkonto auf den Bahamas. Und das ist etwas, wo wir nicht weiterkommen. Die Banken dort nehmen das Bankgeheimnis sehr wörtlich. Wer ein Nummernkonto eröffnet, muss sich nicht einmal ausweisen. Die USA sind zwar wegen Steuer- und Terrorfahndung dauernd dran, dass sie das ändern sollen, aber noch haben sie es nicht getan.“

Sarah nickte: „Also war der Meister sehr vorsichtig.“

„Ich denke, sonst hätte er es nicht so durchziehen können. Aber ich sorge dafür, dass die Polizei von Nassau ein Auge auf das Nummernkonto hält. Wer dort abheben will, dürfte Don Fernando sein. Und bei mehrfachem Mord hört auch auf den Bahamas der Spaß auf.“

„Zu Recht. Danke, Mr. Cuillin. Halten Sie mich ein wenig auf dem Laufenden?“

„Ein wenig. Ich kann mir nicht erlauben, Dienstgeheimnisse in der Zeitung lesen.“

„Das ist keine Story für mich. Das ist mir passiert, wissen Sie.“

„Ich verstehe, Lady Sarah. Danke für Ihre Aussage. Jetzt werde ich Sie nicht länger aufhalten.“

Sie hoffte inständig, dass die Ratsmitglieder nicht ausgerechnet diesen Moment wählen würden, um Lord John zu verlassen, als sie den Polizisten zur Tür begleitete: „Wann werden Sie morgen kommen?“

„Sagen wir, um elf?“

„Ja, gut. Bis morgen, Inspektor.“
 

Frances sah fragend auf, als sie hereinkam: „Ärger, Sarah?“

„Nein. Ich hätte daran denken müssen, dass die menschliche Polizei nicht schläft. – Eine Frage, Frances. Sie haben sich doch schon in andere Computer…wie nennt man das? In die Blutbank und so?“

„Eingehackt? Ja.“

„Wäre das – nur theoretisch – bei jedem System möglich?“

„Theoretisch ja. Praktisch gibt es natürlich Sicherungen.“

„Banken sind sicher sehr gesichert.“

„Ja.“ Frances legte den Kopf schief: „Vielleicht sagen Sie mir, was Sie suchen, Inquisitor. Und ich werde sehen, was ich tun kann. Ich verspreche Ihnen auch, dass nicht einmal Sir Angus etwas darüber erfahren wird.“

„Auch, wenn das womöglich Ärger bedeutet?“

„Im Auftrag des Kadash? – Bei meinem Blut und dem aller Vampire“

Das war der bindendste Schwur, den ein Vampir nur aussprechen konnte. Die junge Inquisitorin war beeindruckt: „Danke. Dann erzähle ich Ihnen einmal die Angelegenheit.“

Eine halbe Stunde später war Sarah klar, dass sich Frances weniger für Sektenmorde als das Problem interessierte, wie man die Geldströme verfolgen könnte.

„Der Besitzer eines Nummernkontos...hm. Natürlich kennt ihn die Bank auch nicht, wenn er sich nicht ausweisen muss. Vielleicht hat er das nur dort als Altersvorsorge eingezahlt, aber das glaube ich nicht. Er muss einfach auch Ausgaben für die Hacienda gehabt haben: Strom, Wasser, Kaufpreis... Sind die von dem mexikanischen Konto weggegangen?“

„Ja, vermutlich. Wenngleich ich doch annehme, dass Wasser und Strom dort selbst hergestellt wurden. Es war ja mitten in der Einöde.“

„Ich werde darüber nachdenken. Ohne Internetanschluss komme ich hier so nicht weiter. Hoffentlich sind die Menschen schnell und schalten ihn in drei Tagen wirklich frei. Bis dahin werde ich mir so einiges überlegen. Schließlich werden Sie keinen Wert darauf legen, dass meine Hackversuche zu Ihnen nachverfolgt werden können.“

„Sicher nicht. Gibt es da Mittel?“

„Es gibt immer Wege, Lady Sarah.“ Frances lächelte, sichtlich schon in Gedanken: „Dann würde ich mich jetzt einmal zurückziehen und nachdenken. Die Nacht ist zwar noch nicht vorüber, aber…“

„Natürlich. Danke für Ihre Hilfe, Frances.“
 

Die beiden Vampirinnen verließen das Zimmer. Als sie in die Halle traten, taten dies auf der anderen Seite auch soeben Lord John und seine beiden Gäste. Alle neigten höflich die Köpfe.

„Ah, meine Damen, “ meinte der Hausherr freundlich: „Gute Jagd.“

„Gute Jagd“, gab Frances zurück, ein wenig erstaunt, dass die ihr unbekannten Vampire sie interessiert betrachteten.

Sarah bemerkte es. Sie müsste da wohl noch etwas erklären – später, wenn die Ratsmitglieder gegangen waren. Ganz sicher prüften die beiden, ob sie ein Vampir war. Das hätte peinlich werden können, in der Tat, wären die beiden Kenneth Cuillin begegnet. Sie würde da irgendwie künftig besser aufpassen müssen. Nur wie? So meinte sie formgewandt: „Ich hoffe, die Bibliothek meines Vaters konnte Ihnen weiterhelfen.“

„Oh, ja, danke, Lady Sarah.“ Kai war ehrlich erfreut: „Ich glaube, umfangreicher ist nur die des Rates selbst. Und was dieses Gebiet betrifft, nicht einmal das.“

„Sie machen Komplimente, mein Freund.“ Lord John klang geschmeichelt: „Ich habe nur eben schon mit Sammeln begonnen, als ich auf diese Insel kam.“

„Was vor meiner Zeit war.“ Der Kelte lachte ein wenig: „Danke jedenfalls für das Rezept. Ich werde es in meiner privaten Schmiede ein wenig ausprobieren. Aber derart rot leuchtende Bronze scheint mir im Moment wirklich eine Herausforderung zu sein. Gute Jagd, Lord John, Lady Sarah…“ Er neigte vor Frances als ihm Unbekannter nur den Kopf.

Ikol tat das Gleiche: „Gute Jagd.“

Als die Ratsmitglieder gegangen waren und der Hausherr hinter ihnen die Tür schloss, fragte Sarah: „Kai kam, um sich ein Rezept für Bronze zu holen? Ich dachte, er sei sowieso der Spezialist für Schmiedesachen.“

„In der Tat. Aber es gibt auch Dinge, die vor seiner Zeit erfunden wurden – und manchmal auch bereits wieder vergessen wurden.“ Lord John nickte ein wenig.

Sarah fiel wieder ein, dass er die Berufung in den Hohen Rat abgelehnt hatte. Er war älter als Kai – und damit sicher auch mächtiger in der Magie. Warum nur hatte er diese Ehre und diese Macht abgelehnt? Um abzulenken meinte sie nur: „Ich bin froh, dass du ihm helfen konntest. – Morgen Vormittag kommt Inspektor Cuillin noch einmal, er will dann meine Aussage unterschreiben lassen. Wegen der Sache in Mexiko war natürlich auch die menschliche Polizei alarmiert.“

„Das ist selbstverständlich allein deine Sache. - Kommt ihr mit dem Computer voran?“

„Ja, danke. Lady Sarah stellt sich recht geschickt an, “ erwiderte Frances nicht nur höflich sondern ehrlich. Sie hatte es schlimmer befürchtet. Die meisten Vampire wehrten sich gegen die moderne Technik und sie war froh gewesen, bei dem, wenn auch unfreiwilligen, Treffen in Edinburgh mit Gordon MacGregor und dessen Schülern Mitglieder ihres Volkes getroffen zu haben, die sich der Entwicklung angepasst hatten, ja, sie für ihre Zwecke nutzten: Schifffahrt, Meeresbiologie, Tauchen….Und der neue Inquisitor und ihr Vater schienen ebenfalls aufgeschlossen zu sein. „Ich darf mich zurückziehen, Lord John?“

„Selbstverständlich, liebe Frances. Fühlen Sie sich wie zuhause.“ Und da die Schottin die Treppe emporging: „Was hast du noch vor, Sarah?“

„Magst du mir eine Geschichte erzählen?“

Frances lächelte ein wenig. Eine Geschichte erzählen…wie oft hatte sie ihren Meister schon darum gebeten: Dinge von früher, über Vampire. Es war eine recht gemütliche Sache – natürlich auch lehrreich, aber vor allem gab es das Gefühl, eine Familie zu sein. Es war nett, wenn der Inquisitor ähnlich dachte. Dann jedoch schloss sie ihre Zimmertür. Es gab viel, worüber sie nachdenken musste, wollte sie sich nicht blamieren.

Lord John dagegen war ein wenig erstaunt und sah rasch zum Treppenhaus, ehe er die Tür zu seinem Arbeitszimmer öffnete: „Komm und setz dich an den Kamin.“

Sarah gehorchte.

Als er ihr gegenüber Platz genommen hatte, meinte er: „Du neigst seit langen Jahren nicht mehr zu Märchenerzählungen. Was willst du über wen wissen?“

„Donna Innana erwähnte, du hast die Berufung in den Hohen Rat abgelehnt. Kai ist jünger als du, und ich vermute, auch weniger mächtig in der Magie. Was hat dich dazu bewogen?“

„Also nicht der Kadash sondern Sarah?“ Er lächelte etwas: „Natürlich muss ich mich vor dir nicht rechtfertigen.“

„Verzeih, das…wenn das so geklungen haben sollte, tut es mit Leid. Und wenn du nicht darüber reden willst, lass es. Bitte. Ich habe mich nur gewundert.“

„Verständlich. Es dürfte nicht oft vorkommen. Die gute Innana plaudert allerdings. Es wird gut, wenn sie wieder nach Hause kann und sich um die Ausgrabungen kümmert. – Es ist aber eine etwas längere Geschichte, ich warne dich.“

Sarah lächelte und kuschelte sich bequem auf den Sessel.
 

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Im nächsten Kapitel berichtet Lord John aus seiner Vergangenheit, Sarah versucht, gegenüber Mr. Cuillin ihre Fehler wieder gut zu machen und Frances ermittelt...
 

bye
 

hotep

Lord Johns Geschichte

15. Lord Johns Geschichte
 

Lord John betrachtete seine Adoptivtochter, die sich erwartungsvoll in dem Sessel zusammenrollte. Manchmal erinnerte sie ihn wirklich noch an ein Kind, besondere Fähigkeiten hin, Inquisitor her. Wieder stieg in ihm die Sorge auf, ob ihr diese Lebensaufgabe, zumal zu solch einem frühen Zeitpunkt, nicht schaden würde. Aber es war nun einmal passiert.
 

„Warum ich die Berufung in den Rat ablehnte, hat viel mit meinem Leben zuvor zu tun, Sarah“, eröffnete er: „Wie ich sagte: eine längere Geschichte, denn sie beginnt, als ich noch ein Mensch war. Es war die anfangende Bronzezeit, wie man das gegenwärtig nennt. Ich wanderte damals mit einem Freund aus dem Gebiet in den Alpen, das augenblicklich Schweiz heißt, nach Nordwesten. Seinen Namen brauche ich dir nicht sagen. Wir waren beide jung, gute Kämpfer und auf der Suche nach Abenteuern. Nun, die fanden wir auch mehr als genug. Nach einigen Jahren gelangten wir in das heutige England. Es gab damals schon ein weit verzweigtes Handelsnetz und viele Häuptlinge benötigten gute Krieger…Nun gut. Wir erreichten eine riesige Baustelle, das heutige Stonehenge. Heute nennen es die Ausgräber Stufe 2, glaube ich. Der Eingang wurde damals verbreitert, so dass er nun genau in der Richtung des Mittsommersonnenaufgangs und des Wintersonnenuntergangs dieser Zeit lag. Wichtig war außerdem eine Straße, die über dreitausend Schritte zum Fluss Avon führte. Der Bauleiter war ein faszinierender Mann. Heute würde man ihn einen Druiden nennen, auch, wenn es den Orden damals natürlich noch nicht gab. Er wusste ungemein viel über alles. Und er war ein Vampir. Während mein Freund als Bogenschütze in den Dienst des örtlichen Herrschers trat, wurde ich sein Lehrling. Erst langsam entdeckte ich, dass er viel mehr wusste, als es einem Menschen zukam, aber das war mir gleich. Ich hatte schon immer lernen wollen, mehr erfahren wollen und der Kampf war nur Mittel zum Zweck gewesen, eine Gelegenheit, für den Lebensunterhalt zu sorgen. Als mich mein Meister eines Tages darauf ansprach, ob ich nicht auch Vampir werden wollte, wusste ich sein Vertrauen zu schätzen. Ich nahm an, zumal zu fast der gleichen Zeit mein Freund eine schwere Knieverletzung erhielt, die ihn für den weiteren Kriegsdienst untauglich werden ließen. Ihm wurde jedoch ein kleines Stück Land bei dem heutigen Amesbury zugewiesen, er heiratete und bekam einen Sohn. Das machte mir endgültig klar, dass das nicht das Leben war, das ich für mich ersehnte. So verwandelte mein Meister mich in einen Vampir – und mein Freund starb mit ungefähr vierzig Jahren. Ich war sehr traurig. Über meinen Meister gelang es mir, den Herrscher zu beeinflussen, zumal mein Freund diesem auch das Leben gerettet hatte. So wurde er mit vielen und überaus reichen Grabbeigaben beerdigt. Pfeilspitzen, Armschienen, Gold…Nun, wenn du darüber mehr wissen willst: er wurde 1992 wieder ausgegraben und als Bogenschütze von Amesbury bekannt.“

Lord John atmete tief durch: „Das war der Zeitpunkt, an dem ich mich eigentlich endgültig für ein Leben im Rahmen der Wissenschaft entschied. Leider waren die Zeitläufe einem derartigen Entschluss nicht sonderlich günstig. Immer wieder kamen Invasoren auf die Insel, Römer, Angelsachsen. Und immer wieder musste ich zum Schwert statt zur Feder greifen, um mich und meine Rechte zu schützen. Um das Jahr Tausend, nach heutiger Zeitrechnung herum, zog sich mein Meister zurück. Unser Meister, denn auch Belena war seine Schülerin.“ Er sah zu seiner Zuhörerin und Sarah lächelte:

„Blutbank-Belena. Du erwähntest, dass du sie schon kanntest, ehe du Lord wurdest.“

„Diesen Titel bekam ich 1068 von William dem Eroberer.“

„Obwohl er in dir ja einen Angelsachsen vermutete?“

„Wir hatten…einen kleinen Disput und ich gewann ein Gottesurteil gegen einen normannischen Ritter.“ Lord John zuckte ein wenig die Schultern. „Danach bemühte ich mich allerdings wieder aus der Politik zu bleiben. Das war auch in den nachfolgenden Jahrhunderten einfach zu gefährlich – und gegen die Regel der Unauffälligkeit. Ich trat immer wieder auf, weil ich es als Adeliger musste, aber oft genug hielten sie mich dann für meinen eigenen Sohn. Obendrein immer wieder gab es Kriege, Schlachten. – Erst im 18. und 19. Jahrhundert wurde es deutlich besser, konnte man sich…nennen wir es vom Kriegsdienst freikaufen. Und ich sah mich endlich in der Lage, ungestört von politischen und religiösen Wirren, meine Studien weiter zu betreiben. Es hat durchaus Zeiten gegeben, in denen mich meine Bücherei praktisch auf den Scheiterhaufen gebracht hätte. An Schüler hatte ich auch darum eigentlich nie gedacht, bis ich 1654 Thomas kennen lernte. Er kam als Schützling des Königs zu mir. Und ich muss zugeben, dass er der fürsorglichste Mensch war, der mir je untergekommen war. Er hätte schon damals alles für mich getan.“ Er lächelte unwillkürlich etwas.

Sarah tat es ebenso: „Er sah dich und verehrte dich.“

„Nein, nein. Er arbeitete für mich jahrelang als Kammerdiener, das schließt Verehrung doch wirklich aus, zumal er bald wusste, was ich war. Er selbst wollte allerdings kein Vampir werden, und ich respektierte das selbstverständlich. Aber als wir 1666 einmal doch am Hofe waren, brannte London. Und er…er wurde bei einer Rettungsaktion schwer verletzt und bat mich, ihn in einen Vampir zu verwandeln. Ich war froh, ihn nicht zu verlieren, das gebe ich zu, und so tat ich, was er wollte.“

Sie nickte. Darum sah Thomas auch wie ein menschlicher Mann mit Mitte Fünfzig aus. Und dass Lord John nur zu froh gewesen war, ihn nicht zu verlieren, war verständlich. „Aber, als dein Kind, müsste er dann nicht ebenfalls Lord sein?“

„Er hat das Recht auf die Anrede The Honourable Thomas Buxton, ja. Lord ist ja schon vergeben.“ Er zwinkerte etwas: „Aber wer sieht das schon so eng. Du hattest jedoch eine andere Frage gestellt. – Ich führte ihn in unsere Welt ein, half ihm durch die kritischen Jahre, bis er eigentlich selbstständig hätte sein können. Als, 1812, glaube ich war es, der Hohe Rat dann mit der Berufung an mich herantrat, war ich natürlich geschmeichelt. Aber diese Berufung bedeutet auch eine neue Verpflichtung, bedeutet Verantwortung. Und ich war mir zu alt dafür, wieder von vorne zu beginnen. Ich bin nun schon über viertausendfünfhundert Jahre Vampir und meine Sehnsucht mich zurückzuziehen wird immer stärker.“

Sarah musste daran denken, dass Maestro Cacau gesagt hatte, dass Vampire in dieser Phase Bannkreise errichten könnten: „Dann wärst du schon in der Lage, dich zu verbergen?“

Lord John war ein wenig überrascht, hatten sie darüber doch kaum gesprochen, da dies auch ein Gebiet war, das ihm selbst neu und unbekannt war, meinte jedoch: „Ja.“ Mit einem Lächeln fügte er hinzu: „Und ich muss zugeben, dass ich nur fünfzig Jahre später meinen Rückzug um einiges verschob, als ich dich fand. Soviel zum Thema: ich übernehme keine Verantwortung mehr, beginne nichts Neues.“

„Oh, ich bin dir sehr dankbar dafür.“ Sarah lächelte erneut.

„Das freut mich. Nun, weißt du jetzt mehr?“

„Ja, danke.“

Der Lord blickte in das Feuer: „Erzählst du mir, was dieser Inspektor hier wollte?“

„Ich habe in Mexiko unter meinem eigenem Namen agiert. Da wollte natürlich die menschliche Polizei auch meine Aussage haben. Es war ungeschickt vor mir und ich werde zusehen, dass das nicht mehr passiert. Überdies: Kenneth Cuillin war auch in Edinburgh dabei. Er könnte misstrauisch werden, wenn ich dauernd in Fälle von Blutsaugern verwickelt bin. Dumm ist er sicher nicht.“

„Ja. Die Regel der Unauffälligkeit. – Und deine…hm…Spur, die dich sehr weit führen wird?“

„Ich hoffe, dass mir Frances weiterhelfen kann. Mr. Cuillin brachte neue Informationen.“

Jetzt sah er sie doch an, noch die Reflexe der Flammen in den grauen Augen: „Pass auf dich auf, mein Kind.“

„Ich hoffe.“ Sie seufzte: „Aber ich habe nun einmal diese Aufgabe übernommen und ich will sie auch ordnungsgemäß ausführen.“

„Das ehrt dich. Aber erlaube deinem Vater dennoch, sich Sorgen zu machen.“

„Das ist lieb von dir. – Die Sonne geht auf. Um elf wird Kenneth Cuillin kommen.“

„Dann ruh dich ein wenig aus. Ich werde mich in mein Zimmer zurückziehen.“
 

Sarah öffnete selbst, als es um elf klingelte: „Guten Morgen, Inspektor.“ Sie sollte den Fehler korrigieren, den sie begangen hatte, zumindest, was die Regel der Unauffälligkeit betraf. So fuhr sie fort, als sie sich im Kaminzimmer setzten: „Haben Sie die Aussage?“

„Ja, hier.“

Sie unterschrieb: „Ich hoffe, das war das letzte Mal, dass ich mit irgendwelchen Blutsekten konfrontiert wurde. – Wobei Sie ja an der Mexikosache sozusagen Schuld waren.“

„Danke.“ Er nahm die Blätter: „Warum ich?“ Das klang ehrlich interessiert.

„Als ich auf dieser Hacienda von Monica erfuhr, dass es sich um ein Gemeinschaft von Gläubigen handelte und sie etwas von Blutspenden erwähnte, fiel mir ein, dass wir in Edinburgh doch auch von einer Sekte mit Blut ausgegangen waren. Darum wurde ich ja eigentlich auch misstrauisch, ja, wollte den Meister sehen. Ohne die Morde in Schottland wäre ich doch nie drauf gekommen, dass es sich um, ja, um ein Verbrechen handeln könnte.“

„Das ist wahr. – Nun, ich hoffe auch, dass Sie sich nicht mehr um so etwas kümmern müssen. Aber Sie tun es, nicht wahr? Kommen Sie, Lady Sarah, ich bin sicher, dass Sie die Sache in Mexiko und die ähnlichen Fälle nicht ruhen lassen. Aber der Meister ist tot und dieser Don Fernando auf der Flucht. Er wird das kaum noch einmal so aufziehen, zumal sein Partner nicht mehr da ist.“

„Ja, das denke ich auch. Aber dennoch beunruhigt mich schlicht die Tatsache, dass so etwas möglich war, ohne, dass es jemandem auffiel. Und, dass es da wohl jemanden gab, der die beiden zusammenbrachte.“

„Den zu finden, daran arbeiten meine mexikanischen Kollegen und im Übrigen auch meine Wenigkeit.“

Sie lächelte: „Dann werden Sie ihn auch finden.“

„Sie schmeicheln mir. Wie gesagt, das Bankkonto auf den Bahamas bringt uns kaum weiter. Und niemand konnte den Namen dieses Meisters sagen oder den Nachnamen von Don Fernando.“

„Vorausgesetzt, dass das überhaupt der richtige Name war.“ Stimmt, dachte sie plötzlich. Als Vampir musste Don Fernando doch einen Meister gehabt haben. Wer das wohl war? Verfügte der Rat diesbezüglich über Aufzeichnungen? Sie würde ihren Vater fragen.

„Ja, vorausgesetzt, dass…Tun Sie mir einen Gefallen, Lady Sarah? Ich kann Ihnen ja nicht verbieten, selbst Nachforschungen anzustellen. Aber zum einen: gehen Sie kein Risiko ein. Sie hatten in Mexiko Glück. Und zu zweiten: sagen Sie mir Bescheid.“

„Nett, dass Sie sich um mich sorgen. Ich will kein Risiko eingehen, wirklich nicht. Und ich habe Ihnen ja schon versprochen, dass ich Ihnen alles sage, was ich herausfinde, das zu einer Verhaftung führen kann.“

Kenneth Cuillin sah sie genau an: „Sie versprechen mir beides? Ich habe nämlich den Verdacht, dass Sie bei weitem nicht so schüchtern sind wie Sie aussehen.“

„Oh, ich fürchte, ich bin es, da können Sie meinen Vater fragen.“ Er hatte einen sehr guten Instinkt, das musste sie ihm lassen. „Und ich kann Ihnen wirklich versprechen, dass ich mich nicht Hals über Kopf in eine Abenteuer stürze…eigentlich habe ich es gar nicht vor.“

„Sie haben meine Handynummer.“

„Und ich werde sie benutzen. Danke, dass Sie sich so Sorgen um mich machen.“ Da er aufstand, folgte sie diesem Beispiel: „Fliegen Sie zurück?“

„Ja. Ich habe da einen sehr mysteriösen Fall….“

„Dann hoffe ich, dass Ihnen die mexikanischen Kollegen weiterhelfen können.“

„Das hoffe ich auch.“
 

Drei Tage später war der Internetzugang freigeschaltet und Frances stürzte sich mit Begeisterung in die Ermittlungen. Es war schon drei Uhr nachts, als sie aufsah: „Lady Sarah?“

„Haben Sie etwas?“ Die junge Inquisitorin stand neben ihr: „Und?“

„Ich weiß nicht, ob es Ihnen weiterhilft. Aber auf das Konto, das dieser Meister besaß ging ganz zu Anfang eine hohe Summe Dollar ein. Ich vermute fast, der Kaufpreis der Hacienda.“

„Von wem kam das Geld? - Aber ich fürchte, das wird die Polizei auch herausgefunden haben….“

„Vielleicht“, gab die Schottin zu: „Von einer Firma GenLab Inc. Ich habe nachgesehen. Sie sind in den USA. Und das Konto, von dem aus der Kaufpreis überwiesen wurde, ist identisch mit dem Konto, auf das der Meister seine Einnahmen zahlte.“

„Das auf den Bahamas?“

„Ja. – Soll ich Ihnen das ausdrucken?“

„Ja, danke.“ Sarah dachte nach, sah aber auf, als Lord John hereinkam: „Hast du etwas gefunden, Vater?“

„Ja, aber das wird dich nicht freuen. – Es existieren Aufzeichnungen, welcher Meister welche Schüler hat. Aber nur bis um das Jahr 1500 christlicher Zeitrechnung herum. Da beschloss der Hohe Rat, dass es überflüssig sei, die anderen Meistervampire vor Ort die Kontrolle übernehmen könnten. – Verzeihen Sie, liebe Frances, ich wollte nicht unhöflich sein. Gute Jagd.“

„Auch Ihnen gute Jagd, Lord John.“ Die Schottin lächelte. Es war ein sehr zuvorkommender Gastgeber: „Ich denke, ich habe etwas gefunden. – Lady Sarah, soll ich versuchen, herauszufinden, wer hinter dieser amerikanischen Firma steckt?“

„Wenn das geht?“ meinte Sarah: „Nur zu gern.“

„Das wird schwer“, erklärte der Hausherr: „Nun, nicht die Namen, aber weiterzukommen. In den USA existieren, wie in Großbritannien, keinerlei Vorschriften, dass man sich anzumelden hat. Es sind dann nur Namen, aber nicht, wo sie wohnen oder ähnliches.“

„Aber immerhin diese.“ Frances sah wieder zum Bildschirm: „Und dann kann man sie ja mal ausgoogeln.“

„Was bitte?“

„Äh, im Internet suchen, welche Informationen über sie öffentlich zugänglich sind.“

Lord John nickte etwas: „Die Moderne hat durchaus ihre Vorteile, will mir scheinen. Was stellt diese Firma denn her?“

„Genetik…sie forschen daran. Anscheinend, wie man Erbkrankheiten bei Menschen verhindern kann und so etwas.“ Frances sah allerdings zur Inquisitorin: „Ich kann mir nur nicht vorstellen, was das mit Vampiren zu tun haben soll. Ich meine, Vampir zu sein ist eine Weiterentwicklung des Menschen, keine Krankheit.“

„Genau das ist das Problem, das wir herausfinden müssen.“ Sarah dachte nach: „Suchen Sie nur weiter. Wenn wir wissen, wer dahinter steckt, werden wir bei den Leuten weitersuchen. Und ich werde morgen früh mit Kenneth Cuillin telefonieren. Womöglich ist auch die menschliche Polizei auf diese Firma aufmerksam geworden. Dann könnte er dort weitermachen.“

„Du verlässt dich sehr auf ihn, mein Kind. Hoffentlich bekommt er nicht mit, mit wem er es zu tun hat, “ warnte Lord John.

„Ich weiß. Aber genau, weil er ein Mensch ist, könnte er unsere Chance sein, den Vampir zu finden, der Don Fernando und den Meister zusammenbrachte. Womöglich hat sich der gegen den Inquisitor vorgesehen – aber nicht gegen Interpol.“

„Das überlasse ich natürlich dir. Aber denke an die Regel der Unauffälligkeit.“

„Ich bemühe mich.“ Sie lächelte ein wenig schüchtern.

Der Lord schüttelte nur noch den Kopf.
 

„GenLabInc…“ Inspektor Cuillin konnte eine gewisse Bewunderung nicht unterdrücken: „Sie haben es aber rasch herausgefunden. Leider ist es nicht verboten, ein Konto auf den Bahamas zu haben. Oder jemandem Geld zu überweisen. Ich bin sicher, sie haben eine sehr gute Begründung, warum sie diesem Meister so viel Geld überweisen haben.“

„Sicher. Aber ich dachte, man könnte sie fragen, wie der richtige Name ihres Geschäftspartners war.“

„Das habe ich bereits getan, aber noch keine Antwort erhalten. Überdies ist er tot. Und damit eine wahrhaft kalte Spur.“

„Leider.“

„Sie werden mir kaum verraten wollen, wie Sie auf diese Firma kamen?“

„Nein. Aber ich bin an ihr sehr interessiert.“

„Nur wegen der Überweisung?“

„Nein. Sollte es Ihnen entgangen sein?“

„Wenn Sie es mir sagen…?“

„Sie erwähnten, dass 1985 ein Sektenmord in Brasilien stattfand, der erste nach langer Zeit. Und diese Firma wurde 1983 gegründet. Übrigens recht früh für eine Genetikfirma.“

„Ja. Aber ich habe sie überprüft. Sie forschen seit Jahren an Erbkrankheiten, sind angesehen in Wirtschaft und an den Universitäten. Sie haben nicht mal Steuern hinterzogen.“ Der Polizist schien zu lächeln: „An Ihnen ist eine Kriminalistin verloren gegangen, Sarah.“

„Danke. Ein Lob von Ihnen schätze ich sehr.“

„Vorsicht!“ Er lachte jetzt wirklich: „Wenn das meine Frau hört…“

„Oh, das…das meinte ich nicht.“ Sie hatte das Gefühl, glühend rot zu werden.

„Schon gut, verzeihen Sie. - Haben Sie noch etwas?“

„Nein. Nichts Handfestes. Ich werde zusehen, dass ich diese Firma anders…überprüfe.“

„Und wie?“

„Von zwei Seiten. Mehr sage ich lieber nicht, sonst meldet sich Ihr Polizei-Gewissen.“

„Oh. Gut.“ Er schätzte sie inzwischen hoch genug ein, um nur zu ergänzen: „ Falls ich etwas über den wahren Namen des Meisters erfahren, sage ich es Ihnen. Das geht.“

„Aber nicht alles?“

„Lady Sarah….“

„Schon gut. – Auf Wiederhören.“ Sie legte auf und suchte den Zettel, den ihr ihr Vorgänger gegeben hatte: die Liste mit seinen Kontaktpersonen, die einzige Hilfe, die er ihr neben der geheimnisvollen Dienstwaffe überlassen hatte. Sie suchte einen Namen mit der Angabe Los Angelos, ehe sie einen Blick auf die Uhr warf. Doch, das könnte zeitlich passen. Hoffentlich würde ihr die Vampirin auch helfen. Sie wählte: „Guten Abend. Ich möchte gern Miss Leana Damir sprechen.“

„Kann ich Ihnen auch behilflich sein? Miss Leana…“

„Sagen Sie ihr, der Kadash möchte sie sprechen.“

„Was soll…?“

„Sie weiß, um was es geht. Und wenn Sie ihr das nicht ausrichten, bin ich sicher, dass Sie morgen einen neuen Job brauchen.“ Die, offenbar menschliche, Sekretärin zögerte. So fuhr Sarah aus doch mittlerweile jahrhundertelanger Erfahrung mit Arbeitnehmern fort: „Ich werde ungeduldig.“

„Moment.“

Keine Minute später meldete sich die Vampirin, die einen exklusiven Nachtclub betrieb: „Hier ist Leanna…Kadash?“

Sie war hörbar überrascht. Hatte sich der bisherige Inquisitor bei ihr anders gemeldet? Dann durfte sie sich keine Blöße geben: „In der Tat. Wie Sie wissen, hat sich mein Vorgänger zurückgezogen.“

„Eine Frau? Verzeihen Sie, Inquisitor...das kommt nur überraschend. Ich wollte weder Sie noch den Hohen Rat beleidigen…“

„Können Sie etwas für mich überprüfen?“

„Selbstverständlich.“ Jeder Zweifel an der Identität des Anrufers war für Leanna ausgeschlossen. Kein Vampir würde sich als Kadash ausgeben, hätte er nicht das Amt der Blutschuld übertragen bekommen.

„Die Firma GenLabInc. Sagt die Ihnen etwas?“

„Ich kenne sie nur als wichtige Genetikfirma. Brauchen Sie etwas Spezielles?“

„Je mehr Informationen Sie mir beschaffen können desto besser, vor allem über die Leute an der Spitze.“

„So schnell wie möglich?“

„Ja. Und natürlich nichts, was man sowieso im Internet lesen kann.“ Das würde Frances ohnedies finden.

„Ich verstehe, Kadash. Ich werde mich bemühen, dass ich heute Nacht schon etwas in Erfahrung bringe. Wie kann ich Sie erreichen? Ich sehe, dass Sie Ihre Nummer unterdrücken.“

„Ich rufe Sie wieder an.“

„Wie Sie wünschen. - Ich bin sicher, dass Sie ein würdige Nachfolgerin sind.“

„Danke.“ Sarah legte auf, ein wenig überrascht. Anscheinend hatte sie ihre Unsicherheit sehr gut hinter der Nüchternheit versteckt.

Dann würde sie hoffentlich mit Frances und Leanna mehr über diese Firma herausfinden – und vielleicht sogar, ob da ein Vampir mit im Vorstand saß. Denn zumindest letzteres würde Kenneth Cuillin nie ermitteln können.
 

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Eine Genetikfirma? Vampire und Interpol? Das könnte noch Verwicklungen bringen.

Im nächsten Kapitel erfahrt ihr, wie Sarah zu Lord John kam - und neue Ermittlungsergebnisse.
 

bye
 

hotep

Lord John und Lady Sarah

Wie kam Sarah eigentlich zu ihrem Adoptivvater?
 

17. Lord John und Lady Sarah
 

Mit Beginn der Abenddämmerung setzte sich Frances wieder an den Computer und suchte nach weiteren Informationen, als der Hausherr eintrat.

„Gute Jagd“, grüßte er höflich.

„Gute Jagd, Lord John.“

„Mir ist etwas eingefallen, meine liebe Frances, das Ihnen womöglich hilfreich sein könnte.“

„Das ist nett. Was meinen Sie?“ Sie wusste, dass der Londoner Meistervampir älter und damit mächtiger als ihr eigener Meister war. Und er war wirklich sehr zuvorkommend.

„Wenn Sie diese Vorstandsmitglieder der GenLabInc…ausgooglen, wie Sie es nannten, versuchen Sie herauszufinden, wo sie geboren sind. Gewöhnlich geht man in den USA in der Nähe des Geburts- oder Wohnortes auf die High School. Dann könnten Sie auch Bilder sehen Diese sind in den Jahresabschlussbüchern enthalten. So, wie Sie das sagten, werden diese gewiss auch…in das Internet gebracht.“

„Das ist eine sehr gute Idee, Lord John. – Und wenn jemand so nicht aufzufinden ist, könnte er ein Vampir sein.“

„Könnte. Es wäre natürlich womöglich auch nur ein Zufall. – Gute Jagd, Sarah.“

„Danke, auch euch beiden.“ Die junge Inquisitorin war hereingekommen: „Ich hoffe, Sie finden etwas, Frances.“

„Konnte der Kontakt in Los Angelos nichts herausfinden?“

„Schon, aber nichts, was uns weiterhelfen würde. Und ich konnte ja auch nicht zuviel verraten. Diese Firma scheint, das hat auch Inspektor Cuillin gesagt, sehr angesehen zu sein. Sie haben viele Preise gewonnen. Aber das mutet alles vollkommen harmlos an. Ich fürchte, Frances, dass es an Ihnen hängt.“

Die Schottin lachte etwas: „Wenn mir je jemand zuvor gesagt hätte, an meiner PC-Leidenschaft hängt eine Ermittlung des Kadash….Verzeihen Sie, Lady Sarah.“

„Nein, ich verstehe es ja. Dann bleibt wohl nur zu warten. Morgen werde ich wieder in Brüssel anrufen. – Oh, Frances, wenn Sie eine Chance sehen, versuchen Sie herauszufinden, was die wichtigsten Leute dieser Firma vorher machten. Also, vor 1983.“

„Sie suchen einen Vampir.“

„Ja.“ Sarah setzte sich in einen Sessel: „Ich würde gern mit Ihnen jagen, aber ich fürchte, das hier hat einfach Vorrang.“

„Ich verstehe. Und noch benötige ich nicht dringend Blut, um meinen Kopf zu bewahren.“

„Oh, meine Damen – wir haben durchaus noch etwas im Keller.“ Der Hausherr lächelte: „Ich schicke Thomas her.“
 

Als er sich wieder in sein Arbeitszimmer setzte, lehnte er den Kopf zurück an seinen Sessel. Arme Sarah, dachte er. Solch eine Aufgabe – und ausgerechnet sie. Hoffentlich, hoffentlich, hat sie sich nicht in etwas verrannt, das ihr wirklich buchstäblich den Kopf kosten kann.

Er schloss die Augen, als das Bild an ihre erste Begegnung in ihm aufstieg, in einer nebeligen Novembernacht im Londoner Stadtteil Whitechapel.
 

Er war gern in diesem Viertel gewesen, hatte dort gejagt – zumindest bis dieser Jack the Ripper sich 1888 die gleiche Gegend ausgesucht hatte. Dann war es ihm unter seiner Würde erschienen, mit diesem Verbrecher auch nur entfernt in Verbindung gebracht werden zu können. Aber damals, im November 1838 war das Gedränge des Arme-Leute-Viertels für einen Gentleman durchaus gefährlich: Überfälle von Arbeitslosen hatte es auf ihn ebenso gegeben wie mehr oder weniger dreiste Angebote der Straßenmädchen. Beides natürlich erfolglos, aber das hatte den Reiz ausgemacht. Er war der Jäger, nicht der Gejagte.

Das glaubte er zumindest bis zu dieser Novembernacht.

Er war eine kleine Strasse entlang gewandert, auf der Suche nach Beute, als er die geistige Macht gespürt hatte, mit der ein Vampir auf der Jagd seinen Fang bewusstlos schlug. Ein wenig überrascht hatte er in einen Hof geblickt. Ein junges Mädchen kniete neben einem bewegungslosen Menschen, offensichtlich bei der Mahlzeit. Er hatte nicht gewusst, woher sie ihn bemerkt hatte, aber ihr Kopf ruckte empor. Er erkannte noch ihren blutverschmierten Mund – und die Panik in ihren Augen, ehe er selbst besinnungslos wurde.

Das war seine erste Begegnung mit Sarah gewesen. Und als er wieder erwachte, war ihm klar gewesen, dass dies beleibe kein gewöhnlicher Vampir war. Ihre Jagdmethode wirkte selbst bei einem Meistervampir wie ihm – und er kannte niemanden in London, der eine derartige Schülerin besaß. Überdies waren ihre Tischmanieren beklagenswert roh – und er würde wohl nie die Angst vergessen, die er da in ihren Augen gesehen hatte.

Nächtelang war er danach durch Whitechapel gestreift, auf der Suche nach ihr. Er wusste zu diesem Zeitpunkt nichts über diese Unbekannte – aber ihm war klar, dass sie in der Lage war, ihn bewusstlos zu machen. Sie war ein Jäger der Jäger der Nacht, so eigenartig das auch klang. Bislang hatte nur der Kadash, der derzeitige Kadash, diesen Ehrentitel erhalten, und dies nicht ohne Grund.

Als er sie fand, lehnte sie an einer Hauswand, sichtlich auf der Suche nach Beute.

„Bitte haben Sie keine Angst“, sagte er.

Sie fuhr herum – und erkannte ihn.

Er begriff, dass sie sich sogleich wieder verteidigen wollte und ergänzte hastig: „Ich bin einer wie Sie.“ Fast sofort spürte er, wie der schon bereits wieder fast unerträglich gewordene Druck im Kopf nachließ, sein Gehirn freigegeben wurde.

Fragend sah sie ihn an: „Wie ich?“

„Hat Ihnen das Ihr Meister nicht beigebracht?“

„Meister? Ich gehe in keine Lehre…?“

Das hatte ihn mehr erschüttert als alles andere: „Armes Kind…Sie wollen mir doch nicht erzählen, dass Sie seit Nächten durch London streifen, nur um Ihren Durst zu stillen und völlig einsam sind?“

Wieder war sie verwirrt gewesen: „Meinen Durst? Dann….doch, Sie wissen, dass ich verrückt werde?“

„Nein. Das sind Sie nicht.“ Er fügte nicht hinzu, dass sie es werden könnte. Wozu dieses verschreckte junge Ding zusätzlich verängstigen. „Sie sind nur ein Wesen meiner Art.“

„Ich bin ein Mensch!“ Das klang verzweifelt.

„Nein. Und ich bin mir sogar sicher, dass Sie etwas ganz Besonderes sind. – Seit wann sind Sie denn allein?“

„Ich weiß es nicht.“

„Keine Erinnerung an Ihre Verwandlung? Ihre Meister?“ Er drängte sie fast, aber es war einfach unfassbar.

„Was für eine Verwandlung…?“

„Erinnern Sie sich an Ihren Namen?“ Eines war ihm damals jedenfalls schon klar: zumindest als Mensch musste sie eine gewisse Erziehung, Ausbildung erhalten haben. Sie war verschreckt, ängstlich, aber ihre Körpersprache war die einer vornehmen jungen Dame, ihre Ausdrucksweise ebenso.

Sie musterte ihn, ehe sie langsam sagte: „Ich kenne Sie nicht. Aber…wissen Sie, was ich bin?“

„Ja. Und ich kann Ihnen helfen, damit umzugehen. Aber dazu müssten Sie mir vertrauen.“

„Ich weiß meinen Namen nicht“, bekannte sie, um hinzuzufügen: „Aber wer sind Sie? Adelig?“ Sie konnte es an seiner Kleidung abschätzen.

„Lord John Buxton. Kommen Sie mit mir und ich schwöre Ihnen bei meinem Blut und dem Blut aller Vampire, dass Sie in Sicherheit sind.“

„Vampire?“ Sie wich ängstlich zurück, ahnungslos, dass dies der bindendste Schwur war, den ein Wesen ihrer Art aussprechen konnte.

„Sie trinken auch Blut.“

Sie rieb sich unwillkürlich über den Mund: „Ich muss…..Ich weiß, dass das ein Verbrechen ist, dass ich wohl nach Bedlam gehöre…Aber ich trinke nicht viel!“

Sie hatte anscheinend instinktiv nie mehr getrunken, als nötig und möglich, hatte niemanden getötet. Das war ein eindeutiger Beweis, dass sie keine Gebissene sondern ein wahrer Vampir war. So lächelte er beruhigend:

„Nein. Sie werden nicht verrückt. Sie sind ein Jäger der Nacht. Und kein Mensch, wer auch immer Ihnen das eingeredet hat.“ Später würde er ihr erzählen, dass sie verwandelt wurde. Jetzt war es erst einmal wichtig, sie zu beruhigen. Und er schwor sich, er würde herausfinden, wer es gewesen war, der ein Menschenmädchen verwandelt hatte – und sie ahnungslos und ohne Erinnerung in London allein gelassen hatte. Solch ein Verbrechen an einem jungen Vampir war ihm noch nie untergekommen. Das musste er auch dem Hohen Rat berichten, zumal ihre Fähigkeiten anscheinend auch die gewöhnlichen überstiegen.

„Kein Mensch….“ flüsterte sie: „Was…was haben Sie mit mir vor, Mylord?“

„Ich werde versuchen, Ihnen die Welt zu erklären, in der Sie sich zurechtfinden müssen. Als meine Schülerin, mein Kind.“

Sie hatte ihn aus großen, blauen Augen angesehen: „Ich kenne Sie nicht, aber etwas in mir sagt, dass ich Ihnen vertrauen kann. Ich hoffe, das stimmt, Mylord.“

„So brauchen Sie mich nicht anzureden. Kommen Sie, gehen wir und nehmen uns eine Kutsche zu mir nach Hause. Dort können Sie in Ruhe den Tag verschlafen. Und morgen Nacht reden wir weiter.“

Sie nickte: „Ja, der Tag….Die Sonne ist lästig, nicht wahr?“

„Ja. – Darf ich Sie Sarah nennen?“

„Es klingt nicht schlecht….Warum?“

„Ich kannte einmal eine Frau, die so hieß. Und ein wenig sehen Sie ihr ähnlich.“ Eine Menschenfrau, die er vor fast achtzehnhundert Jahren einem römischen Legionär abgewonnen hatte, ungewöhnlich blond für eine ihres Volkes.

„Danke, Lord John….“ Aber das klang immer noch zögernd.

Plötzlich wusste er, wie er sie überzeugen konnte, dass es harmloser war, mit ihm mitzugehen, als allein im nächtlichen London: „Sie haben noch nicht getrunken, heute Nacht? Gehen wir gemeinsam auf die Jagd?“

Sie starrte ihn vollkommen erschüttert an: „Das…das sagen Sie so…einfach?“

„Es ist vollkommen gebräuchlich. Menschen gehen einkaufen und wir gehen jagen. Komm, Sarah, mein Kind.“ Er spürte, wie sie zögernd seine Hand nahm, und führte sie mit sich.
 

Jetzt, nach weit mehr als hundert Jahren, bereute er immer noch nicht, dass er sie aufgenommen hatte. Manchmal war in ihm eine Ahnung aufgestiegen, was damals passiert sein könnte, aber er hatte weder Beweise oder auch nur einen Hinweis. Donna Innana war so freundlich gewesen, ihm im Hohen Rat zu helfen und nicht zuletzt der Kadash selbst. Beide hatten die besorgten Ratsmitglieder darauf hingewiesen, dass man jemanden nicht verurteilen konnte, nur, weil er über mehr Fähigkeiten verfügte als sie selbst. Und da sich der Inquisitor geweigert hatte, die Blutschuld zu übernehmen, hatte der Rat Sarah auf Probe leben lassen, ja nun auf Vorschlag des bisherigen Kadash in eben dieses Amt berufen. Vielleicht würde sie nie erfahren, wer sie verwandelt hatte – und sie war doch kaum über die kritischen Jahre hinaus. Sie würde noch einige Zeit einer gewissen seelischen Betreuung bedürfen…

Tja. Sein Rückzug nach Exmoor würde wohl noch etwas auf sich warten lassen.
 

Sarah sah auf, als Frances die Blätter aus dem Drucker nahm. So lange hatte sie schweigend in einem Sessel gelehnt, nur bisweilen an dem Becher Blut genippt.

Die Schottin drehte sich um. „Die meisten der GenLabInc sind definitiv Menschen. Ich fand ihre Spuren, wie Lord John erwähnte, an ihren High Schools oder auch den Universitäten. Zwei fand ich allerdings nicht, so dass ich weitersuchte. Eines davon ist der Finanzvorstand, das andere ein Wissenschaftler.“

„Konnten Sie sie weiterverfolgen?“

„Einen überhaupt nicht. Dafür fand ich bei dem Finanzvorstand etwas Interessantes, als ich nach dem Namen suchte. Es gibt natürlich weltweit einige Treffer…“ Frances brach ab. Es würde die Inquisitorin kaum interessieren, wie viele Seiten sie überprüft hatte: „Sein Name ist Loki Blacksmith, immerhin ungewöhnlich genug, dass es nicht zu viele davon gab. Allerdings lebte ein Mann dieses Namens in den Vierziger Jahren in Rhodesien. Dort gab es einen ziemlichen Skandal, da er in der britischen Armee war und unehrenhaft entlassen werden sollte, weil er seine Soldaten mehr als schikanierte, um sie angeblich zu verbessern. Er verschwand dann anscheinend spurlos. Um mehr darüber zu erfahren, müsste man wohl die Zeitungen von damals ansehen.“

„Rhodesien.“ Sarah nickte. Laut Inspektor Cuillin hatte es da auch eine Blutsekte gegeben. War das die Spur? „War er in den Dreißiger Jahren in Indien? In Zusammenhang mit der Göttin Kali?“

„Dazu habe ich noch nichts gefunden. Ich könnte aber suchen. Vermutlich dann auch in der britischen Armee. Vielleicht ist er der Vater des jetzigen Finanzvorstandes gewesen.“

„Vielleicht. Loki Blacksmith, also? – Ich werde am Vormittag in die Bibliothek des Kriegsministeriums gehen. – Nein, Verteidigungsministerium nennt man es ja heute. Dort sind die Rollen mit Namenslisten der Soldaten aufbewahrt. Vielleicht findet sich dort ein weiterer Hinweis auf ihn. Denn entweder ist es der Vater oder aber er selbst. Der Name ist zu ungewöhnlich. Nun, nicht Blacksmith aber doch Loki. – Wie man wohl an die damaligen Zeitungen kommt? Ich werde einmal dort anrufen. Vielleicht hebt die Times oder sonst wer alles auf.“

„Und wenn diese Menschen Sie fragen, wozu Sie das benötigen?“

„Ich will ein Buch schreiben…“ Sarah zuckte ein wenig die Schultern: „Sie wissen doch, Frances, dass Menschen uns fast alles glauben. – Wie heißt denn der Wissenschaftler, zu dem Sie noch nichts gefunden haben?“

„Dr. Alec Miller.“

„Ein ziemlich gewöhnlicher Name – was die Suche nicht einfacher macht.“

„Ja. Aber ich habe schon einige Universitäten nach ihm durchsucht, gegoogelt….Ich meine, er hat einen Doktortitel, er muss etwas veröffentlicht haben.“

„Dann suchen Sie weiter?“

„Ja, bei beiden.“
 

Lord John übernahm es, die Soldatenlisten zu durchforschen. Er meinte, dass man ihm eher abnehmen würde, für eine Beerdigung nach alten Kriegskameraden seines Vaters zu suchen, während Sarah sich über die Mikroverfilmungen der alten Zeitungen hermachte.

Beide kehrten erst gegen Abend zurück.

Thomas begrüßte sie: „Guten Abend, Mylord, Mylady…Miss Frances ist noch rasch auf Jagd. Ich soll Ihnen ausrichten, dass sie etwas gefunden habe. Wünschen Sie Blut aus dem Vorrat oder gehen auch Sie noch jagen?“

„Nein, danke. Ich habe bereits in der Bibliothek getrunken.“ Lord John hatte dem Hals der Bibliothekarin nicht widerstehen können. Heutzutage besaßen die jungen Damen oft nicht mehr die samtene Haut wie in der viktorianischen Zeit – was, wie er gern zugab, in seinen Augen der Höhepunkt der Damenwelt gewesen war.

„Auch ich hatte gute Jagd.“ Sarah sah seitwärts: „Hast du etwas gefunden?“

„Ja. Aber ich denke, ich warte, bis Miss Frances da ist. Sie wird damit ja weitermachen wollen.“

„Das stimmt, natürlich.“

„Oh, Verzeihung, Mylord: eine Taube kam für Sie heute, mit einem Brief. Ich habe ihn auf Ihren Schreibtisch gelegt.“

„Das Siegel des Hohen Rates?“ fragte Lord John sofort.

„Nein. Ein Privatsiegel.“

„Danke, Thomas. Noch etwas?“

„Inspektor Cuillin rief für Mylady an. Als ich sagte, dass Sie in der Times wären, schien er beruhigt.“

Sarah seufzte: „Will er mich bewachen? Was meinte er sonst noch?“ Er hatte sicher angenommen, dass sie dort arbeitete. Immerhin hielt er sie ja für eine Journalistin.

„Bedauerlicherweise nichts, Mylady.“

„Ich werde ihn rasch anrufen. – Wenn Miss Frances kommt, sagen Sie mir Bescheid, Thomas.“

„Ja, Mylady.“ Der Butler sah zum Hausherrn: „Ihnen auch, nehme ich an“

„Danke, ja.“
 

Lord John öffnete ein wenig neugierig den Brief, als er das Siegel Innanas erkannte. Sarah hatte ihm erzählt, dass sich die Ratsvampirin in ihr Heimatland zurückziehen wollte, wenn auch nicht aus dem Rat ausscheiden. Hatte sie es sich nun anders überlegt?

„Ich fliege nach Australien, mein alter Freund. Sie ahnen sicher, warum. Bitte bewahren Sie darüber weiterhin Schweigen, auch unserer kleinen Freundin gegenüber.“

Innana hatte es also ohne ihren langjährigen Lebensgefährten nicht ausgehalten und wollte diesen nun suchen. Ob sie den ehemaligen Inquisitor finden würde? Lord John nahm es fast an, war diese tiefe Freundschaft doch beidseitig. So würde er sich finden lassen. Warum allerdings dachte Innana, dass Sarah nichts von dieser engen Beziehung mitbekommen haben würde? Dumm war sein Kind doch wirklich nicht. Andererseits – manche im Hohen Rat hatten bis heute keine Ahnung.
 

Sarah rief dagegen über ihr Handy in Brüssel an: „Sie hatten Sehnsucht nach mir, Inspektor?“

„Ich wollte wissen, ob Sie etwas Neues herausgefunden haben.“

„Kann man leider so nicht sagen.“ Nun, nichts, das unter Menschen zu einer Verhaftung führen könnte, und nur das hatte sie ihm versprochen. Den Bericht ihres Vaters hatte sie ja noch nicht erhalten.

„Aber Sie suchen immer noch bei dieser Gen-Firma?“

„Haben Sie eine andere Spur?“

„Sie erinnern sich doch, dass ich die Firma nach dem wahren Namen des Meisters fragte?“

„Und wie lautet er?“

„Diese Kleinigkeit haben sie vergessen zu erwähnen. Es kam ein bitterböser Brief ihrer Anwälte, wegen Einmischung in ihre Geschäfte, dass sie Bruch von Vertragsgeheimnissen begehen sollten…Kurz, ich habe ein recht unangenehmes Gespräch mit meinem Chef hinter mir.“

„Oh, das tut mir Leid. Aber warum ist das so wichtig, was diese Firma auf einen harmlosen Brief hin schreibt? Ich dachte außerdem, es würde auch sie interessieren, dass ein Geschäftspartner tot ist?“

„Das war wohl zu naiv von uns beiden gedacht. Jedenfalls darf ich erst wieder mich an diese Firma wenden, wenn ich ihnen ein Fehlverhalten gegen ein Gesetz nachweisen kann.“

„Gute Anwälte“, meinte Sarah sarkastisch: „Aber ist nicht allein diese Reaktion schon verdächtig?“

Inspektor Cuillin zögerte, ehe er bedachtsam erwiderte: „Sie dürfen mir gegenüber das so ausdrücken. Wenn ich Ihnen das sage, wäre es schon zuviel.“

„Oh. Diese Firma hat wohl Einfluss?“

„Scheint so. Darum dachte ich, Sie hätten womöglich etwas anderes gefunden.“

„Leider nein. – Ich muss allerdings zugeben, dass mich dieser Brief ärgert. Halten die Sie denn törichterweise für so geistesarm, um da nicht darüber zu stolpern?“

Der Polizeibeamte lachte: „Oh, Sarah, wenn Sie wüssten, wie gut es nach so einem Gespräch tut, wenn einem einer ein Kompliment macht.“

Das konnte sie sich vorstellen. Er hatte zu Beginn des Telefonates doch ein wenig betroffen geklungen: „Ich sage Ihnen, sobald ich mehr weiß, ja?“

„Danke.“

Sie legte auf. Das war ja eine mehr als eigenartige Reaktion. Hatten die was zu verbergen? Oder war das nur ein Abwehrreflex gegenüber einer polizeilichen Anfrage? Aber eigentlich sollten sie doch wirklich daran interessiert sein, den Tod eines Geschäftspartners aufzuklären. Äußerst eigenartig. Nun, sie würde sich erst einmal anhören, was ihr Vater und Frances so herausgefunden hatten. Vielleicht ergab sich aus den drei heutigen Ermittlungen ein neues Bild. Und vielleicht sogar eines, das Inspektor Cuillin ebenso helfen würde, wie dem Inquisitor.
 

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Da hat jemand wohl überreagiert - was durchaus ein Fehler gewesen sein könnte. Aber das zeigt das nächste Kapitel....
 

bye
 

hotep
 


 

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London: Teamwork

Ein guter Ermittler braucht auch gute Mitarbeiter um Erfolge zu haben.
 


 

18. London
 

Als Frances zurückkehrte, meldete Thomas dies Sarah und Lord John, die sich daraufhin beide in das Zimmer begaben, wo sich die junge Schottin bereits wieder an die Arbeit machen wollte.

„Gute Jagd“, grüsste die Inquisitorin. „Setzen wir uns dort auf die Sessel an den Kamin, dann erzählt jeder, was er herausgefunden hat. – Magst du beginnen, Vater?“

„Gern.“ Lord John ließ sich nieder: „Ich habe ja in den Listen der Armeeangehörigen nach einem Loki Blacksmith gesucht. Wie die liebe Miss Frances bereits herausfand, existierte jemand dieses Namens in den Vierziger Jahren in Rhodesien. Er wurde unehrenhaft entlassen. Danach hieß niemand mehr so. Also suchte ich nach den Truppen in den Dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts. Würde es dich sehr wundern, mein Kind, wenn in Indien dort ein Loki Blacksmith im Rang eines Captains erscheint?“

„Nein. Dort gab es einen Zwischenfall.“ Sarah bemerkte, dass die beiden sie ansahen und erläuterte: „Sowohl in Rhodesien als auch in Indien gab es zu dieser Zeit Morde an Sektenangehörigen – diese starben alle durch Blutverluste.“

„So etwas habe ich mit fast schon gedacht“, meinte Lord John langsam: „Du suchst einen Vampir, der Menschen zu Gebissenen macht, um sie schlussendlich zu töten? Und das seit fast hundert Jahren?“

„Der Vampire und Menschen zusammenbringt, einige der Menschen zu Gebissenen macht um damit die anderen zu töten, sobald er ihr Geld vollständig genommen hat. Dann sterben wohl auch die Gebissenen.“

„Das ist….“ Frances holte Luft: „Solche Vampire gibt es doch gar nicht! Verzeihung, Inquisitor, aber…Das klingt so unglaublich.“

„Jetzt verstehe ich, warum du meintest, du hättest eine Spur, die dich weit führen könnte.“ Der Londoner Meistervampir nickte: „Dann wird dich mein nächstes Ergebnis kaum freuen.“

„Noch einmal Loki Blacksmith? Nur früher?“ fragte Sarah sofort.

„Ja. – In den Listen erscheint kein Geburtstag, aber der Name an sich ist ungewöhnlich. Bei dem Loki Blacksmith von 1896 könnte es sich auch um den Vater des anderen handeln.“

„1896?“ Die junge Inquisitorin nickte etwas: „Davor nicht?“

„Nein, und ich bin bis 1800 zurückgegangen. Was ist an diesem Jahr so besonders?“

„Das weiß ich nicht. Aber wenn das das erste Erscheinungsdatum des Unbekannten ist, muss zu diesem Zeitpunkt etwas Eigenartiges vorgefallen sein.“

„Oder ein Jahr zuvor.“ Frances stand plötzlich beunruhigt auf und suchte in den Ausdrucken, die sich auf dem Boden neben dem Schreibtisch stapelten: „Ich war auf der Suche nach allem, was mit einem Loki zusammenhängen könnte. Da gab es viel, ich meine, das war ein germanischer Gott, aber als Vorname doch recht selten. In Russland 1895, genau. Hier. Ein Mann, wohl ein Arzt, namens Loki Schemat, wurde dort angeklagt wegen Vivisektionen. Das heißt, er hat Tiere, dann sogar Menschen lebendig …seziert. Schemat bedeutet ebenso wie Blacksmith Schmied. Darum habe ich das ausgedruckt.“

„Mehr über ihn haben Sie nicht?“ erkundigte sich Sarah. „Das klingt sehr interessant.“

„Es war auf einer Seite über Vivisektionen“, entschuldigte sich die Schottin prompt: „Es heißt nur weiter, dass er verhaftet wurde, aber es ihm gelang zu entkommen. Die beiden Polizisten wurden tot und blutleer aufgefunden.“

Die drei Vampire blickten sich an.

„Der Finanzvorstand der Genfirma hat zumindest sehr interessante Vorfahren – falls es sich unglaublicherweise um einen Menschen handeln sollte“, erklärte Lord John: „Aber das nehme ich immer weniger an. Ich muss nur zugeben, dass ich noch nie von einem Vampir dieses Namens hörte – was natürlich nicht allzu viel besagt, aber wenn er noch ein recht junger Vampir wäre, hätte er allein in dieser Lebensspanne bereits viel Unheil angerichtet. Und sein Meister hat das wohl entweder nicht mitbekommen oder jedoch gar geduldet.“

„Und dass er selbst ein Meister wäre?“ fragte Sarah, die an Don Fernando dachte: „Und seine Schüler bei derartigen…Aufgaben mit einsetzt?“

„Das wäre vollständig gegen die Regeln“, erwiderte Lord John unverzüglich: „Dann wäre nicht nur er selbst dem Inquisitor verfallen, sondern auch seine Schüler. Kein verantwortungsvoller Meister würde dieses Risiko für seine Kinder eingehen.“

„Verzeihen Sie, Mylord“, warf Frances fast schüchtern ein: „Aber wenn er ein verantwortungsvoller Vampir wäre, gäbe es keine Gebissenen und keine Massenmorde an Menschen.“

„Da haben Sie allerdings Recht, meine Teure. – Sarah, was hast du in der Zeitung herausgebracht?“

„Ich suchte nach Loki Blacksmith in Rhodesien. Es muss ein ziemlicher Skandal gewesen sein. Er wollte wohl….sagen wir, die Menschen, die ihm unterstellt waren, auf diverse Weise verbessern. Gegen das harte Training hätte die Armee nichts einzuwenden gehabt, aber er neigte anscheinend dazu, die Frauen seiner Untergebenen als…Zuchtmaterial zu betrachten. Er suchte immer Paare zusammen und befahl ihnen…nun ja, Kinder zu bekommen. Das brachte sie Menschen gegen ihn auf.“

„Vivisektion, Zuchtwahl und jetzt eine Genfirma?“ Frances schüttelte den Kopf: „Der scheint nach den kritischen Jahren sein Interesse auf die Verbesserung von Menschen gelegt zu haben. Ungewöhnlich.“ Um nicht zu sagen, geradezu abartig für einen Vampir.

„Wir brauchen ein Bild“, erklärte Sarah: „Irgendwo in diesem Internet muss es ein Bild von ihm geben. Er ist doch Finanzvorstand, da geht er doch sicher auch auf Bälle, Wohltätigkeitsveranstaltungen. Vielleicht, dass er bei so etwas einmal in einer Zeitung erschien? Oder im fernsehen?“

„Ich werde suchen, Lady Sarah. – Oh, und ich habe Dr. Alec Miller gefunden. Er schrieb seine Doktorarbeit unter seinem richtigen Namen: Alexander Martin Miller, darum fand ich ihn zunächst nicht. Er wurde in Houston geboren, lebt seit 1989 in Los Angelos. Seine Arbeit drehte sich hauptsächlich um die Verhinderung von Erbkrankheiten bei Menschen, durch Veränderungen der Gene. Er ist seither bei GenLabInc angestellt. – Er scheint ein Mensch zu sein.“

„Das klingt nach einem gewöhnlichen Werdegang…..“ murmelte Sarah. „Ein Bild von ihm?“

„Habe ich, also, den Link dazu.“ Die Schottin ging an den Computer und suchte eilig: „Hier das ist aus seiner Studienkartei. Er spielte damals in der Footballmannschaft. Und er besaß ein Stipendium.“

„Das ist nicht ungewöhnlich bei amerikanischen Studenten.“ Lord John stellte sich hinter sie: „Nein. Ich denke nicht, dass er ein Vampir ist – zu diesem Zeitpunkt zumindest. Loki ist da sicher die heißere Spur. - Sarah, hat dein Polizist nichts herausgebracht?“

„Mein...Oh, nein. Inspektor Cuillin hat Ärger bekommen, nur weil er GenLab fragte, wie der Meister, mit dem sie ja anscheinend Geldgeschäfte hatten, hieß.“

„Was ungewöhnlich ist. Also hat jemand in höheren Rängen bei ihnen etwas zu verbergen. So hoch, dass er die Firmenanwälte einsetzen kann. Dieser Finanzvorstand….Loki. Ja, Loki….“ Er erstarrte etwas.

Sarah war dies nicht entgangen:„Was meinst, du, Vater?“

Der Meistervampir sah zu ihr: „Mir kam gerade eine eigenartige Idee. Aber ich muss gut darüber nachdenken – und mich einmal in meine Bibliothek versenken. – Ein Foto wäre wirklich ein sehr handfester Beweis, mit dem du weitersuchen könntest.“ Er nickte und verließ den Raum.
 

Sarah dachte gut nach, ehe sie in ihr Zimmer zurückging und Inspektor Cuillin anrief, unbekümmert über die Uhrzeit.

„Der leitende Wissenschaftler von Genlab heißt Dr. Alec Miller“, meinte sie zur Begrüßung: „Er wurde in Houston geboren, lebt seit 1889, ich meine, 1989 in Los Angelos. Seine Doktor-Arbeit schrieb er unter dem Namen Alexander Martin Miller. Es könnte interessant sein, ob es vor 1989 in Houston oder nach 1989 in Los Angelos Mordfälle gab, die mit Blut zu tun hatten.“

Er schien jäh hellwach: „Sie geben nicht auf, Lady Sarah. Ich weiß nicht, ob mich das freut oder mich um Sie besorgt macht.“

„Sagen Sie, dass Sie das freut, wenn ich Recht habe.“

„Wie kommen Sie darauf?“

Sie konnte kaum der Wahrheit entsprechend antworten: weil ich annehme, dass der Finanzvorstand ihn zumindest beeinflusst, wenn nicht gar zu einem Vampir gemacht hat. Sie wusste von einigen, die heutzutage Laborarbeit vorzogen, da man dort ohne Sonnenlicht auskam. So meinte sie: „Er hat immerhin seinen Namen, wenn auch dezent, verändert.“

„Ich werde mal sehen, was die Datenbank hergibt. Immerhin hat Houston nichts mit GenLabInc zu tun, da wird nicht einmal mein Chef etwas dagegen haben. Er hält mich für übereifrig…“

„Sagen Sie mir, wenn Sie etwas in Erfahrung gebracht haben?“

„Wenn ich kann.“

„Schon gut, keine Amtsgeheimnisse. Aber ich will es ja auch nicht in die Zeitung setzen. Es dient mehr meiner…ja, der Befriedigung meiner persönlichen Neugier.“

„Also sprach der Inquisitor.“

Ihr wurde kalt: „Was meinen Sie?“ Sie konnte es kaum aussprechen. Er war doch ein Mensch, woher…?

„Oh, nur ein Scherz. Sie erinnern mich an mich an einen. Oder einen Jagdhund. – Aufgeben ist nicht Ihre Sache, oder?“

„Nein.“ Das sollte nur ein Scherz sein, dachte sie. Wusste er, ahnte er auch nur, wie nahe er an der Wahrheit war?

„Ich werde morgen...nein, heute früh sehen, was ich tun kann. Und jetzt sollten Sie auch mal schlafen.“

„Das werde ich tun. Danke, Mr. Cuillin.“
 

Aber sie war ein Jäger der Nacht und so klopfte sie höflich am Arbeitszimmer ihres Vaters.

„Komm nur herein, Sarah.“

„Danke.“ Sie sah, dass er alte handschriftliche Aufzeichnungen vor sich liegen hatte – seine eigenen. „Du suchst?“

„Das sagte ich. Und ich habe eine Idee, wer sich hinter Loki Blacksmith verbirgt.“

„Und?“

„Das werde ich dir mitteilen, wenn ich sicher bin. – Aber falls ich Recht habe, wird dich das nicht freuen. Denn, lass es mich so ausdrücken: du bist nie mit zum Fischen gegangen, sonst wüsstest du, dass ein großer Fisch manchmal auch die Schnur zerreißen und entkommen kann.“

Sie starrte ihn an: „So schlimm?“

„Ja.“

„Kai?“

Er schien sehr überrascht: „Wie kommst du auf ihn?“

„Er ist Mitglied im Hohen Rat, er war kürzlich hier und interessiert sich sehr für Metall. Du erwähntest, dass er Schmied sei. Und Blacksmith oder Schemat bedeutet Schmied.“

Der Londoner Meistervampir lehnte sich mit einem Lächeln zurück: „In der Tat, mein Kind. Du bist der Inquisitor. – Setz dich doch.“

„Danke.“ Aber sie ließ ihn nicht aus den Augen, zu gespannt, was er meinte.

Er schob unwillkürlich die Blätter zusammen und beiseite: „Kai ist schon lange Vampir, nun seit etwas über zweitausend Jahren und besitzt durchaus erhebliche magische Fähigkeiten. Zu seiner Zeit war das ein guter Grund, Schmied zu werden. Metall, Eisenverhüttung umgab damals etwas Geheimnisvolles. Diese Leidenschaft behielt er bei, auch, als er verwandelt wurde. Als im 19. Jahrhundert die Stahlproduktion in Fabriken begann, war er begeistert. Er gründete ein Stahlunternehmen, das heute weiterhin existiert. – Er wurde reich. Aber schon aus diesem Grund war es unmöglich, dass er jahrelang abwesend war, um in der britischen Armee zu dienen. Er lebt heute noch in Deutschland und Österreich, wie vor hundert Jahren. – Nein. Ich denke, dass er es nicht sein kann. Aber es gibt ein anderes Mitglied des Hohen Rates, das eine Schmiedeausbildung erhielt, wenn auch noch in der Bronzezeit. Nach den kritischen Jahren beschäftigte er sich ebenfalls viel mit Metallen, Metallurgie. Aber das war…“ Lord John sah auf seine Aufzeichnungen, ohne sie zu lesen: „Lass es mich so ausdrücken. Ich kenne ihn seit Jahrtausenden. Ich war nie sein Freund, nie sein Gegner. Er war auf einigen langweiligen Empfängen mein Gesprächspartner. Und ich war mir schon immer sicher, dass er einen deutlichen Schwachpunkt hatte. Nun, in meinen Augen. Er hält Vampire nicht nur für besser ausgestattet, weiter entwickelt als Menschen – was wir ohne Zweifel sind – sondern für…ja, die Krone der Schöpfung. Das Endglied der Entwicklung, wenn du verstehst, was ich meine.“

„Ich denke schon“, sagte Sarah etwas ratlos, stand aber auf, um zum Kaminfeuer zu gehen. Wie immer, wenn sie aufgeregt war, oder nachdenken wollte, streckte sie unwillkürlich die Hände über das Feuer – für einen Vampir eine vollkommen sinnlose Geste, wärmten die Flammen doch nicht. „Er nimmt an, besser als ein Vampir geht nicht. Aber was führt dich zu dem Gedanken, dass er versuchen könnte, Menschen zu verbessern? Dieser Loki Blacksmith zielt doch eindeutig darauf ab.“

„Was macht dich so sicher, dass es sich nicht nur um eine Vorstufe handelt?“

Sie fuhr herum: „Du meinst, er könnte auch versuchen, seine Schüler, seine...seine Kinder zu verändern?“

„Menschen sind in seinen Augen wohl einfacher zu bekommendes Versuchsmaterial.“

„Wer….und warum…?“

„Warum? Ich dachte, das hätte ich gerade gesagt.“

Sie bemerkte, dass er wollte, dass sie selbst darauf kam und dachte erneut nach, rieb sich unwillkürlich die Hände über dem Feuer: „Er hält Vampire für die Krone der Schöpfung, das Endglied der Entwicklung. Im 19. Jahrhundert gab es Charles Darwin mit seiner Theorie über die Entstehung der Arten. Das könnte ihn dazu inspiriert haben, anzunehmen, dass man auch noch Vampire verbessern könnte, wenn auch künstlich. Und so versuchte er es zunächst an Menschen. Für einen Vampir spielen die hundert Jahre, die seit seinen ersten Versuchen verstrichen sind, keine so große Rolle. Nimmt er etwa an, unserem Volk dadurch nützlich zu sein? Aber es ist dennoch ein Verstoß gegen alle Regeln.“

„Das ist es in der Tat. Und ein Fall für den Inquisitor. – Ich denke, du hast nur noch eine Kleinigkeit übersehen.“

„Du willst mir nicht sagen, wen du im Verdacht hast?“

„Sarah, du bist der Kadash. Und es ziemt sich nicht, dem vorzugreifen.“

Sie seufzte unwillkürlich, dachte aber noch einmal nach. Ein Mitglied des Hohen Rates, Schmied aus der Bronzezeit? Also fielen die Frauen schon einmal weg. Amunnefer, der Sprecher?

Eine Aussage kam ihr plötzlich ins Gedächnis – und sie verstand ihren Vater: „Loki ist nur ein Anagramm. - Er…er sagte einmal, dass es Menschen ziemen würde, Vampiren Tempel zu bauen…..“

„Klingt ganz nach ihm. – Du weißt, wen ich meine.“ Er stand auf: „Weißt du auch, warum er ausgerechnet in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert mit diesem….Unsinn begann?“

„Nein.“ Sie drehte sich um: „Du meinst nicht, Darwin?“

„Ich meine dich, mein Kind.“

„Was…?“ begann sie verwirrt, als sie begriff und nur fortfuhr: „Ich verstehe. Weil ich über…na ja…neue Fähigkeiten verfüge, nahm er an, dass er sich geirrt hatte, Vampire eben nicht die Krone der Schöpfung seien, sondern noch verbesserungsfähig? Aber…wäre es dann nicht…..“ Sie musste sich zusammennehmen, um das sachlich auszusprechen: „Wäre es dann nicht sinnvoller gewesen, er hätte mich für seine Experimente genommen?“

„Sinnvoller vielleicht. Aber es war noch nie ganz einfach, an dich heranzukommen. Zum einen warst du entweder bei mir oder Donna Innana, und damit dem früheren Kadash. Selbst für ein Mitglied des Hohen Rates ist es schwer, an uns vorbeizukommen. Zum Zweiten: auch du selbst bist ja nicht ganz wehrlos, dezent ausgedrückt. Immerhin warst du in der Lage, mich zu einem Zeitpunkt bewusstlos zu machen, an dem du noch keinerlei Ausbildung besaßest. Und das erwähnte ich bereits bei deiner Vorstellung vor dem Rat.“

Sarah nickte, drehte sich aber um, als es klopfte.

Lord John tat dies ebenfalls: „Ja?“

Frances öffnete die Tür: „Verzeihen Sie, Lord John, Lady Sarah, aber ich habe ein Bild gefunden. Es ist nicht sehr gut, aber nach der Unterschrift ist Mr. Blacksmith, Vorstand der GenLabInc. abgebildet.“

„Danke, Frances, gut gemacht.“ Die junge Inquisitorin kam heran: „Dann werden wir gleich sehen, ob du richtig liegst, Vater.“

„Wir richtig liegen“, korrigierte Lord John prompt, schloss sich aber den beiden Damen an.
 

Frances hatte das Bild ausgedruckt, aber es noch auf dem Bildschirm belassen.

Sarah sah darauf, dann zu ihrem Vater. Auch dieser starrte auf das Gerät. Und sie wusste in diesem Moment, dass sie Recht hatten, den Täter gefunden hatten – und es vermutlich unmöglich sein würde, Ikol der Morde auch nur anzuklagen.
 

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Und nun, Sarah?
 

bye
 

hotep

Im Naturschutzgebiet Exmoor

Zehn Tage nach der Erkenntnis, dass Ratsmitglied Ikol wohl hinter den Sektenmorden steckte, spazierten Lord John und Lady Sarah nachts durch das Naturschutzgebiet des Exmoores. Frances war nach Edinburgh zurückgekehrt, mit dem Versprechen, sich regelmäßig über das Internet zu melden und gern weiterzuhelfen, wenn es möglich wäre. Aber sie war das „Kind“ des schottischen Meistervampirs und gehörte zu ihm. Überdies hätte Sarah auch nicht gewusst, wie Frances ihr weiterhin behilflich sein konnte. Auch von Inspektor Cuillin hatte sie nichts mehr gehört.

Ihre Nervosität und Unruhe waren so groß geworden, dass ihr Vater ihr diese kleine Reise vorgeschlagen hatte.

„Aber Ikol…“ war ihr Einwand gewesen.

„Aber Ikol. Du hast, wir haben in den letzten Tagen nur sehr wenig über anderes nachgedacht. Und manchmal ist es gut, Abstand zu gewinnen.“

So waren sie nun unter dem vollen Mond die Einzigen, die das Naturschutzgebiet nachts zu würdigen wussten.

Auf einem Hügel blieb Lord John stehen: „Wenn ich mich eines Tages zurückziehen werde“, meinte er: „Dann sicher hierher. Ich liebe diese Landschaft.“

„Klingt es sehr egoistisch wenn ich sage, ich hoffe, dass dieser Tag noch fern ist?“

„Ich lasse dich nicht im Stich, mein Kind. Sicher nicht.“

„Ich weiß. Entschuldige.“

„Gut.“ Der Londoner Meistervampir blickte über das Land zu seinen Füssen: „Hast du dir je Gedanken darüber gemacht, welche Landschaft du am meisten liebst?“

„Nein. Aber dazu bin ich wohl nicht alt genug.“

„Oh, nicht zum Zurückziehen. Nur so…Manche lieben das Meer, andere das Gebirge, wieder andere die Wüste – manche auch die Stadt.“

Sarah dachte nach: „Auch das könnte ich nicht sagen. Vielleicht habe ich einfach die Landschaft noch nicht gesehen, die mir so gefällt.“ Sie bemerkte, dass er den Kopf hob: „Was ist?“

„Besuch.“ Er drehte sich um.

Auch sie spürte nun die Anwesenheit eines anderen Vampirs – und ganz sicher mindestens mit der Macht ihres Vaters. Hatten sie unbeabsichtigt einen Zurückgezogenen gestört? Aber – das war mehr als einer. Dann erkannte sie die Ausstrahlungen und war noch überraschter.

Auch Lord John hatte die Näherkommenden erfasst – und seine Verblüffung war womöglich noch größer. So sagte er: „Gute Jagd! Es muss etwas Wichtiges sein, wenn Sie den Weg von Australien hierher machen…“

Donna Innana und der ehemalige Kadash lösten sich aus der Dunkelheit.

„Gute Jagd!“ antwortete dieser: „Ihnen, Inquisitor, und Ihnen, Lord John. In der Tat ist es wichtig. Sie können mich Wombat nennen – selbstverständlich nicht mein richtiger Name. Es ist bei meinem ursprünglichen Volk nicht üblich, den zu sagen.“

„Natürlich“, meinte Sarah sofort, gleichzeitig mit ihrem Adoptivvater. Beide waren mehr als neugierig, was die Zwei hergeführt hatte.

Donna Innana sah zu ihrem Begleiter, ehe sie bat: „Mein lieber John, wären Sie so freundlich, mich ein wenig zu begleiten?“

Also war das ein Gespräch des ehemaligen Kadash mit seiner Nachfolgerin? Das hätte ihn interessiert, wenn es ihn auch nichts anging. Aber Lord John hob wortlos die Hand und bot ihr zwei Finger. Sie legte ihre darauf und ließ sich wegführen, in einer Art, die Sarah an das Mittelalter erinnerte. Manche Sitten nahm man doch für dauernd an.

Sie blickte jedoch zu dem uralten Vampir. Es ziemte sich sicher nicht, zu fragen, was los war.

„Kommen Sie, Inquisitor“, forderte dieser sie auf und ging ein Stück weiter, wo sich Felsen aus dem Hügel erhoben. Dort ließ er sich nieder. „Setzen Sie sich, bitte. – Es ist nicht sehr einfach, darüber zu reden, dass ist es wohl nie, wenn man einen Fehler eingestehen muss. Donna Innana hat jedoch recht: ehe ich mich vollkommen zurückziehe, sollten Sie es wissen.“

Einen Fehler? Hatte er etwa auch schon etwas mit Ikol zu tun gehabt? Sarah verdrängte rasch diesen Gedanken. Ihr Vater hatte wohl Recht: sie dachte nur noch an diesen.

Der Mann, der sich im Moment Wombat nennen ließ, interpretierte ihren Blick anders: „Auch ich bin ein durchschnittliches Wesen – und ich beging und begehe Fehler. Leider wiegen die Fehler des Kadash besonders schwer. Nun, ich war in London, auf der Fährte eines Vampirs, den ich verdächtigte, Gebissene zu erschaffen. Es handelte sich nicht um einen Ratsauftrag. Man schrieb in England das Jahr 1838.“

Sarah spannte sich unwillkürlich an. Das war das Jahr, in dem Lord John sie ohne Erinnerung aufgefunden hatte. Hing das damit zusammen?

Der australische Meistervampir sah in die Nacht: „Ich verlor ihn im Gewirr der Strassen, zumal ich sehr vorsichtig sein musste, um ihn nicht auf mich aufmerksam zu machen. Plötzlich spürte ich …nun, Sie kennen mittlerweile sicher dieses unangenehme Gefühl, wenn sich Gebissene in der Nähe befinden. Ich folgte diesem Gespür zu einem Hinterhof. Drei Gebissene hielten eine junge Frau, wohl eher ein Mädchen, auf dem Boden und stillten ihren Durst an ihr. Ich nahm die Waffe des Inquisitors – mein erster Fehler dieser Nacht.“ Er blickte seitwärts: „Können Sie sich vorstellen, warum?“

„So waren sie erlöst, aber konnten Ihnen nicht mehr sagen, wer sie zu Gebissenen machte“, erwiderte sie unverzüglich. Die meisten Gebissenen waren zwar nicht nur seelenlos und blutrünstig, sondern auch demzufolge ohne jeden Verstand, aber manchmal wehrten sich Menschen gegen dieses Schicksal. Und einen Versuch wäre es wert gewesen. Nur, warum war das so wichtig geworden?

„Das stimmt durchaus. Ich erschoss sie. Sie verwandelten sich zurück in Menschen, starben – und ich beging den zweiten Fehler dieser Nacht. Ich habe in meinem Leben schon viele Menschen gesehen, die von Gebissenen attackiert und getötet wurden. Dies war nur ein weiterer – und so blickte ich das Mädchen weder genauer an, geschweige denn, überprüfte, ob sie wirklich tot war.“

„Und…?“ Sarah brachte es kaum heraus. Sollte….

Wombat nickte: „Sie ahnen wohl schon, worauf das hinausläuft. Lord John kam nur wenige Wochen später und beantragte eine Sondersitzung des Hohen Rates. Ich erkannte in Ihnen, Sarah, das Mädchen, das von den Gebissenen überfallen worden war. Ich kann Ihnen versichern, dass ich noch nie in meinem gesamten Leben so erschreckt war - und so schnell nachgedacht habe. John sprach von Ihren besonderen Fähigkeiten – und das bedeutete, dass bereits einige Ratsmitglieder Ihren Tod forderten. Was sollte, was konnte ich dazu sagen? Ihre Fähigkeiten sind in der Tat weitergehender als die eines anderen Vampirs. Lag das etwa daran, dass die Gebissenen Ihr Blut nicht vollständig trinken konnten, da ich sie getötet hatte? War das der Weg, wie man an solche Fähigkeiten gelangte? Oder lag es daran, dass vielleicht zuerst der wahre Vampir Ihr Blut trank und Sie dann seinen Gebissenen überließ? Oder hatten Sie diese Fähigkeit schon zuvor als Mensch besessen und war es reiner Zufall, dass Sie nun ein Vampir waren? Sehr viele Fragen. Zu viele. Denn mir war zu diesem Zeitpunkt bewusst, dass es sicher den einen oder anderen unseres Volkes geben würde, der versuchen würde, auf ebensolche Art einen Schüler mit Ihren Fähigkeiten zu erschaffen. Überdies: was hätte ich Ihnen selbst erzählen sollen? Sie waren noch sehr verwirrt, fast überfordert mit dem neuen Dasein als Vampir. Ich wusste Sie bei John in guten Händen. So schwieg ich. Aber ich weigerte mich gegenüber dem Hohen Rat, die Blutschuld für Sie auf mich zu nehmen.“ Er sah zu ihr und bemerkte, dass sie zwischen Zorn und Verständnis schwankte: „Sarah, bitte verurteilen Sie mich nicht nach dem, was Sie heute wissen. Glauben Sie wirklich, es hätte Ihnen damals geholfen, wenn ich Ihnen berichtet hätte, dass es Gebissene waren…?“

„Ich fürchte, nein“, gab sie ehrlich zu: „Aber….wer hatte die erschaffen? War das vielleicht derjenige, der mich verwandelt hat? Ich meine, der Vampir, den Sie in London eigentlich jagen wollten?“ Gab es doch noch eine Möglichkeit, herauszufinden, wer sie davor gewesen war? Wo ihre Herkunft lag? Ihre menschlichen Wurzeln?

„Ich weiß nicht, wer diese drei Gebissenen erschuf. Und ich möchte auch keine Vermutungen aussprechen, jemandem womöglich Unrecht tun, zumal ich seither nichts mehr bei ihm erkennen konnte, das diesen Verdacht bestätigt hätte. – Immerhin gelang es mir, den Rat zu überzeugen, dass man Ihnen eine Chance geben musste, Ihre neuartigen Fähigkeiten zum Wohle des Volkes einzusetzen. Und Sie haben mich auch nicht enttäuscht.“

„Äh...danke…“ Was sollte sie dazu schon sagen. Ihre Hoffnung, das Rätsel ihrer Vergangenheit je gelüftet zu bekommen, war nun wohl endgültig dahin. Ihr Handy enthob sie der weiteren Antwort: „Bitte, entschuldigen Sie…“ Sie stand auf. Diese Nummer hatten nur Inspektor Cuillin und ihr Butler. Wenn einer der beiden versuchte, sie mitten in der Nacht zu erreichen, war sicher etwas Wichtiges geschehen. Sie ging ein Stück abseits, während sie sich bereits meldete.

„Ah“, meinte der schottische Polizeiinspektor: „Tut mir Leid, dass ich Sie mitten in der Nacht störe, Lady Sarah, aber ich habe soeben Neuigkeiten erfahren.“

„Gute, hoffe ich.“

„Ja. Dr. Alec Miller wurde vom FBI in Los Angeles festgenommen, in Zusammenhang mit einem Mord in Houston. Es wird Sie kaum wundern, dass die Leiche der ermordeten Studentin blutleer war.“

Dr. Miller war der Chefwissenschaftler der GenLabInc. Und eigentlich hatte sie ihn für einen Menschen gehalten. „Sicher, dass er es war?“

„Ja. Sie konnten nur die Fingerabdrücke und anderes vom Tatort niemandem zuordnen, der die Studentin kannte. Als ich sie auf Dr. Miller aufmerksam machte, überprüften sie ihn – mit vollem Erfolg. Allerdings gibt er an, dass ihn Blacksmith, der Finanzvorstand, gedeckt hatte, ihm dann geholfen habe. Und der habe ihn auch zu diesem Mord gebracht. Das ist vermutlich eine reine Schutzbehauptung.“

„Vermutlich.“ Nun, Blacksmith war Ikol und ein Vampir dieses Alters war durchaus in der Lage, einen Menschen zu beeinflussen: „Und was ist mit Blacksmith?“

„Sie wollten ihn erst einmal wegen Vertuschung anklagen, aber er muss es geahnt haben und hat die USA verlassen. Jetzt wird international die Fahndung ausgeschrieben – wegen der Verbindung zu dem Mord in Houston.“

„Das ist doch schon einmal etwas.“ Ratsmitglied Ikol war also vor Menschen auf der Flucht? Wie…hm, ja, geradezu peinlich.

„Ja. Danke, Sarah, Sie haben immerhin mitgeholfen, einen Mord aufzuklären.“

„Gern geschehen“, meinte sie automatisch: „Danke für den Anruf, Inspektor.“

„Sie haben nichts Neues?“

„Nein. Ich fürchte, auch ich habe meine Grenzen…“

„Natürlich.“ Kenneth Cuillin lächelte, das hörte sie an seiner Stimme.

„Gute Jagd, Inspektor...ich meine, gute Nacht.“

Er schien den Fauxpas nicht bemerkt zu haben: „Gute Nacht, Lady Sarah.“

Als sie ihr Handy wegschob, erkannte sie, dass die drei Meistervampire sie ansahen. Lord John und Donna Innana waren unverzüglich umgedreht, als das Gespräch der beiden Kadash beendet schien.

„Blacksmith?“ fragte Lord John neugierig.

Sie schüttelte den Kopf: „Die Polizei in USA hat Dr. Miller verhaftet, wegen Mordes an einer Studentin vor Jahren. Sie wurde blutleer gefunden. Er meinte, Blacksmith habe ihn dazu angestiftet, aber der ist verschwunden.“ Sie wollte vor den anderen beiden nicht erwähnen, dass es sich um ein Ratsmitglied handelte. So war sie mehr als überrascht, als Wombat nüchtern feststellte:

„Ikol, also?“

Sie starrte ihn fassungslos an: „Sie wissen…?“

„Loki Blacksmith, ja. Ikol hat allerdings zu meiner Zeit nichts offen unternommen, dass den Inquisitor hätte auf den Plan rufen müssen. Und ein Verdacht, ein geäußerter Halbsatz zu Gebissenen, ist kein Beweis. Da Sie allerdings den gleichen Honigtopf umschwirren…. Können Sie ihm ein Vergehen gegen die Vampirregeln beweisen?“

Sarah war fast erschüttert zu hören, dass er wohl auch schon Verdachtsmomente gegen Ikol gesammelt hatte: „Ich habe den Verdacht, dass er Menschen und Vampire zusammenbringt, um durch vorgetäuschte Sekten, und dem Selbstmord der Mitglieder, Geld für diese Genfirma zu beschaffen. Schon früher hat er versucht, durch Vivisektionen, Zuchtauswahl und anderes Menschen zu …verbessern. Von Vampiren bei diesen Versuchen weiß ich nichts.“

„Was immer er mit Menschen tut, ist seine Sache – und die der menschlichen Polizei“, erwiderte der ehemalige Kadash direkt: „Aber was meinen Sie mit: er bringt Menschen und Vampire zusammen? Verzeihen Sie, Inquisitor, ich weiß, dass mich das eigentlich nichts mehr angeht, aber ich denke, ich kann für mich und Innana sprechen: niemand wird von uns je darüber erfahren. Nur: ich habe schon einige Zeit mit der Beobachtung dieses Ratsmitgliedes verbracht. Vielleicht kann ich Ihnen helfen.“

„Diese Sache in Mexiko?“ fragte Donna Innana dagegen: „Gab es weitere Zwischenfälle?“

Sarah fiel ein, dass ihr Vorgänger da ja schon nicht mehr zugehört hatte – und Donna Innana hatte über Ratsangelegenheiten sicher geschwiegen - und berichtete ihm rasch, was sie dort im Gespräch zwischen dem „Meister“ und Don Fernando mitgehört hatte, wie Frances und die menschliche Polizei auf die Firma GenLabInc gekommen waren. „Aber alles, was ich beweisen kann ist, dass Ikol Loki Blacksmith ist, mit seinen Verbrechen seit hundert Jahren an Menschen, – und jetzt, mit Dr. Miller, dass er in diesem Fall einen Menschen dazu gebracht hat, einen anderen zu töten.“

„Nun, er brachte auch diesen „Meister“ dazu, seinesgleichen zu morden, da haben Sie sicher Recht“, meinte Donna Innana mit einem Seitenblick zu Lord John: „Aber Menschen sind, mögen wir auch alle aus ihnen hervorgegangen sein, eben doch nur Menschen. Und das darf der Kadash nicht ahnden. Anders sieht es freilich mit den Gebissenen aus – und da trafen Sie ja in Mexiko einige, die dieser Don Fernando erschuf. Es war korrekt, dass Sie ihn töteten.“

„Don Fernando.“ Wombat wandte sich um und sah in die Nacht, sichtlich in Gedanken. So herrschte Schweigen, bis er sich umdrehte: „Inquisitor, Fernando heißt ein Schüler Ikols. Und er war der Vampir, den ich 1838 in London suchte.“

Sarah wurde kalt vor Entsetzen. Sie hatte womöglich ihren eigenen Meister getötet? Das galt unter Vampiren als großes Verbrechen, ja, undenkbar.

Der ehemalige Kadash wusste es ebenso wie die anderen beiden, und meinte fast sanft: „Das Amt des Inquisitors ist das Amt der Blutschuld. Und es ist oft schwer, diese Aufgabe zu erfüllen. Nur wenige sind je dazu in der Lage.“ Er legte die Hand auf ihre Schulter: „Er hat Gebissene erschaffen und Sie taten Ihre Pflicht. Nun, wenn ich Ihr weiteres Vorgehen betrachte, weit mehr als dies. Sie müssen die Gemeinschaft aller Vampire schützen. Das ist die alleinige Aufgabe des Kadash. – Überdies: falls es Fernando war, der Sie biss, und dafür fehlt zumindest bislang jeder Beweis, so hatte er nie vor, Sie in einen Vampir zu verwandeln, sondern stillte seinen Durst an Ihnen, um Sie dann Gebissenen zu überlassen. Das allein ist ein todeswürdiges Verbrechen.“

Lord John holte tief Atem: „Sarah?“

„Ja, danke…ich…es geht schon.“ Sie nahm sich zusammen. Wombat hatte Recht. Es war nicht sicher – und selbst wenn es Fernando gewesen war, war er nicht ihr Meister, sie nicht sein „Kind“. Die Zuneigung und die Ausbildung, die ihr der Londoner Meistervampir in den letzten Jahrzehnten, Jahrhunderten hatte zukommen lassen, war das, was für sie zählte. John Buxton war ihr Vater und so galt ihm ihr beruhigendes Lächeln. Sie spürte, dass ihr Vorgänger seine Hand wegnahm und sah zu ihm: „Sie haben Recht. Es gibt keinen Beweis. Allerdings: es ist doch unvorstellbar, dass Ratsmitglied Ikol nicht wusste, dass einer seiner Schüler Gebissene erschafft, nicht wahr?“

„Nun, es wäre möglich“, antwortete Donna Innana: „Wenn auch unwahrscheinlich. Allerdings stelle ich eine andere Frage: Ikol war im Rat anwesend, als Sarah den Auftrag erhielt, nach Mexiko zu gehen. Warum hat er Fernando, sein eigenes Kind, und diesen Menschen nicht gewarnt?“

„Er hat Sarah unterschätzt“, meinte Lord John sofort: „Verzeih, wenn ich das so sage, mein Kind, aber es war erst der zweite Auftrag. Und, die Anklage kam immerhin von einem zurückgezogenen Meistervampir. Hätte Ikol vorgeschlagen, sie zu ignorieren, wäre womöglich jemand misstrauisch geworden.“

„In der Tat“, ergänzte der ehemalige Kadash: „Und mein alter Freund Cacau, aber auch der restliche Rat, wären stutzig geworden, wäre auf einmal diese Sekte nicht mehr da. Ikol musste das Risiko eingehen, Fernando zu verlieren – wobei ich John zustimme. Er hat den neuen Inquisitor sicher unterschätzt. Das wird allerdings nicht mehr vorkommen. Er kann sich bestimmt denken, dass seine…hm…Schwierigkeiten mit der menschlichen Polizei auf den Kadash zurückgehen.“

„Da bin ich anderer Meinung“, warf Donna Innana ein: „Bedenke, dass du selbst nie mit der menschlichen Polizei zusammengearbeitet hast, nun, nicht auf diese Art und in solchem Ausmaß.“

„Und es auch nie erwähnt habe, ja. – Verzeihung, Inquisitor. Wir sprechen über Sie und nicht mit Ihnen.“

Sarah war wieder erstaunt, wie höflich der so alte und mächtige Vampir zu ihr war, erwiderte aber: „Ich habe im Moment auch nichts zu sagen. Ich denke nach.“

„Sie wollen Ikol? Er ist ein alter, starker Vampir – eine direkte Konfrontation würden Sie kaum überstehen, zumal er vermutlich Schüler hat. Und niemand vom Rat würde Ihnen helfen, solange Sie keine Beweise dafür haben, dass er seine Schüler anleitet, Gebissene zu erschaffen.“

War das der Punkt gewesen, an dem er am Ende seiner Amtszeit gestanden hatte? „Dessen bin ich mir bewusst. Aber, ich fasse einmal zusammen. Ikol ist seit Jahrhunderten der Meinung, dass Vampire die Krone der Schöpfung sind, perfekte Wesen. Ich darf Sie, Donna Innana, an seine Aussage erinnern, dass es nur zu Recht sei, wenn Menschen Vampiren Tempel erbauen. Einen seiner Schüler haben Sie, Wombat, bereits 1838 im Verdacht, Gebissene zu erschaffen. Es gelingt Ihnen jedoch nicht, eine Verbindung zwischen den Gebissenen und Fernando herzustellen. Warum auch immer…“ Sie nahm sich zusammen. Sie musste sachlich bleiben. Überzeugte sie diese drei, konnte sie womöglich auch den Hohen Rat insgesamt überzeugen: „Lord John fand mich als Vampir und stellte mich dem Rat vor. Mitsamt meinen…Fähigkeiten. In diesem Moment muss Ikol davon ausgegangen sein, dass man auch Vampire noch steigern kann. Seit diesem Zeitpunkt forschte er wohl in verschiedenen Ländern auf verschiedene Arten unter dem Namen Loki Schemat oder Blacksmith daran, wie man Menschen verbessern könnte. Das können wir...kann ich beweisen. Ich vermute auch, aber da fehlt der Beweis, dass er ebenso bemüht war, meine Fähigkeiten seinen Schülern, zumindest Fernando, zu vermitteln. In den letzten Jahren brachte die Gentechnik einige Fortschritte und so war es nahe liegend für ihn, auch in diesem Bereich Untersuchungen anstellen zu lassen. Durch den Mord, den vertuschten Mord, band er Dr. Miller an sich, ohne ihn zu einem Vampir zu machen. Meine Fragen lauten nun: wo ist er und wie kann man beweisen, dass er zumindest Fernando dazu brachte, Gebissene zu erschaffen?“

„Das Letztere dürfte klar sein“, meinte Lord John: „Kinder und ein Meistervampir…Wo er ist? Tja.“

„Er hat seit Urzeiten eine Rückzugsmöglichkeit in Sibirien, beim heutigen Blagoweschtschensk am Amur, “ erklärte Donna Innana. „Allerdings ist es besonders schwierig, ihn dort aufzusuchen, war es schon immer. Zum einen die politische Lage, zum anderen ist es wohl recht abgelegen.“

„Und es nützt alles nichts vor dem Hohen Rat, ohne Beweise.“ Wombat sah zu Sarah: „Aber das wissen Sie auch. Was haben Sie vor? Zu ihm zu gehen und ihn mit Ihren Vermutungen zu konfrontieren, wird kaum Erfolg versprechend sein – eher tödlich. Für eine Anklage vor dem Hohen Rat reicht dagegen Ihr Wissen nur bedingt aus. Fernando ist tot und er würde sicher behaupten, dass dieser allein gehandelt hat. Dieser Dr. Miller ebenfalls…das sei nur eine Schutzbehauptung.“

„Ich weiß. Hat er noch andere Schüler?“ Und da alle drei Meistervampire die Schultern zuckten: „Ist nicht allein das schon verdächtig, wenn er sie so verbirgt? Gut, ein Verdacht ist kein Beweis.“ Sie blickte zu Boden. Eigentlich sah sie nur einen Weg – aber sie wusste weder, wie das der Rat sehen würde, noch, wie das ausgehen würde. Doch Wombat hatte Recht. Die Last der Verantwortung eines Kadash wog schwer. „Ich werde zunächst mit Kai sprechen. Er war mit Ikol bei Va...bei Lord John., nachdem sie gemeinsam in Deutschland gewesen waren. Womöglich kann er etwas dazu sagen.“

„Er könnte Ikol warnen. Immerhin sind Sie der Inquisitor, meine Liebe.“ Donna Innana dachte nach: „Nun, Kai ist relativ neu im Rat und ich kenne ihn nicht so gut.“

„Kai ist Kelte“, erklärte Lord John: „Ausgesprochen zauberkundig und ein sehr guter Schmied. Ich halte ihn nicht für jemanden, der gegen die Interessen unseres Volkes verstoßen würde.“

„Wenn ich einen Vorschlag machen darf…“ Wombat bemerkte, dass ihn die anderen drei unverzüglich interessiert ansahen. „Lady Sarah fliegt mit mir nach Sibirien. Ich werde …falls Sie erlauben, Inquisitor, die Rückendeckung übernehmen. John und Innana dagegen besuchen Kai. Wenn sich Ikol seit Neuestem einen Freund gesucht hat, was ich allerdings bezweifele, könnte Kai etwas wissen, in der Tat. Dieses kleine Telefon, das Lady Sarah besitzt, könnte hilfreich sein, diese Informationen zu übermitteln.“

„Oh je.“ Der englische Meistervampir lächelte: „Dann muss ich mir erst eines kaufen, oder, mein Kind?“

Sarah nickte etwas: „Ich fürchte. - Sie wollen wirklich mit mir gehen, Wombat?“

„Ich sehe doch, dass Sie nicht von der Konfrontation abzuhalten sind. Und Ikol ist niemand, den man herausfordert, ohne etwas in der Hinterhand zu haben. In diesem Fall meine Weinigkeit. Vor meiner Magie muss auch er sich in Acht nehmen. - Sie wollen ihn nicht einfach töten?“

„Ich will Antworten. Im schlimmsten Fall muss ich feststellen, dass ich sein Geständnis habe – und es nie werde beweisen können.“

„Genau darum werde ich mitkommen.“

Sarah war überrascht, ehe sie begriff: weil sie zum einen entschlossen war, Antworten zu bekommen, zu anderen sich jedoch an die Regeln halten wollte, hatte sie einen, nein, wohl drei der mächtigsten Vampire auf ihrer Seite. „Danke.“
 

*************************
 

Das klingt schon einmal nach einer guten Hilfe.

Im nächsten Kapitel erfährt Sarah endlich mehr über Geschichte und Macht des Kadash, während Thomas einkuafen gehen darf.
 

bye
 

hotep

London: Das Amt des Kadash

Sarah wird sich also nicht allein Ikol stellen müssen. Aber endlich eine gewisse Aufklärung zu erhalten, hat durchaus auch Schattenseiten:
 


 

20. London: Das Amt des Kadash
 

Zurück in London schien Thomas nicht sonderlich überrascht, dass sie zu viert in das Haus der Buxtons kamen, zumal, als er hörte, dass Reisen geplant waren. Er saß nur Minuten später mit Lord John, Sarah, Donna Innana und dem ehemaligen Kadash im Arbeitszimmer des Hausherrn vor dem Kamin, deutlicher Hinweis, dass er den Butler nur spielte.

Der Gastgeber sah auf: „Ich werde mit Fürst Igor sprechen. Er weiß immer, welche Bedingungen es gibt, um in sein ehemaliges Heimatland einreisen zu können. Und ich vermute einmal, er kann für dich, Sarah, und Sie,…Wombat…entsprechende Papiere besorgen.“ Igor Orlow pflegte stets gute Kontakte, sei es zu den menschlichen Exilrussen oder den Mitarbeitern der Botschaft.

Thomas nickte: „Eine sehr gute Idee, Mylord. Ich werde dann gleich, sobald Sie wissen, wie lange das mit dem Visum dauert, in einige Reisebüros gehen und eine möglichst günstige Flugroute buchen.“ Er sah seitwärts: „Mylady, bitte denken Sie daran, dass es dort wohl schon schneit, wenn Sie Ihren Koffer packen.“

„Danke, Thomas.“ Sarah lächelte. Er konnte einfach seine fürsorgliche Seite ebenso wenig unterdrücken wie seinen Spaß am Handeln. Vampire blieben, das hatte sie in den letzten Fällen nur zu gut gesehen, auch nach ihrer Verwandlung im Kern ihrer Seele die, die sie schon zuvor als Menschen gewesen waren.

Lord John sah in die Runde: „Innana, Wombat, Sie sind selbstredend meine Gäste, bis wir abreisen. Darf ich mich dann entschuldigen? Die Nacht ist zwar noch nicht weit fortgeschritten, aber Fürst Igor wohnt in Maidenhead.“ Er würde ein Taxi benötigen.

„Selbstverständlich, mein lieber John, “ erwiderte Innana: „Igor Orlow….er wohnte einmal in Nowgorod, nicht wahr? Ich entsinne mich, dass er Interesse an den Ausgrabungen in Troja zeigte, im 19. Jahrhundert.“

„Ja. Aber nach der Oktoberrevolution zog er es vor, nach England zu gehen. Er war bei der Verhaftung des Zaren und seiner Familie anwesend und…nun, er fand es unzivilisiert.“ Lord John erhob sich: „Er will erst wieder nach Nowgorod zurückziehen, wenn es wieder einen Zaren gibt. Ich fürchte allerdings, da wird er etwas warten müssen.“ Er verneigte sich ein wenig gegen seine „Kinder“ und seine Gäste, ehe er sein Arbeitszimmer verließ.

Auch Thomas stand auf: „Ich darf mich ebenfalls entschuldigen, Mylady, M´am, Sir…“ Er hatte schließlich noch zu arbeiten. Ein so großes Haus putzte sich nicht allein.

So übernahm Sarah die Rolle der Gastgeberin: „Da wir bereits auf dem Weg von Exmoor hierher jagten, darf ich Ihnen nichts anbieten?“

„Nein, danke“, erwiderte Donna Innana unverzüglich: „Ich kann Ihnen übrigens meine neue Adresse in Mesopotamien geben, wenn Sie möchten.“

„Oh ja, danke. Ich möchte es mir doch gern einmal ansehen. Sie haben mir in Rom soviel davon erzählt. Der Zikkurat des Enlil, nicht wahr…“

Das Gespräch wandte sich Donna Innanas Lieblingsthema zu.
 

Drei Tage später kehrte Thomas bei Beginn der Abenddämmerung mit Flugkarten zurück:

„Mylord, hier für Sie und Donna Innana heute Nachmittag Flüge nach Wien. Ratsmitglied Kai wird sich noch auf seinem Sommersitz in Österreich aufhalten. Dies sind die Bahnkarten. Sie können direkt am Flughafen Schwechat den Zug nehmen, müssten allerdings am Westbahnhof einmal umsteigen.“

„Danke, Thomas.“ Lord John nahm die Karten, sicher, dass es keine billigere und schnellere Reiseroute geben würde: „Ein Mobilphone hast du mir ja auch schon besorgt, so dass ich dich, Sarah, informieren kann, wenn wir etwas bei Kai über Ikol in Erfahrung bringen können.“ Und seine Adoptivtochter hatte ihm gezeigt, wie man…smsen konnte, etwas, das er bislang eher Bienen zugetraut hatte. Nun ja, jetzige Zeiten.

„Mylady, Sir…“ Der selbsternannte Butler wandte sich an die anderen beiden. Er war stolz auf sich, dass er den Flug statt der ursprünglich 1700 Euro für tausend bekommen hatte. „In zwei Tagen geht Ihr Flug von London Heathrow. Sie fliegen nach Moskau Domodedovo, das ist ein Flughafen, dort können Sie in ein Flugzeug der gleichen Linie umsteigen, dass Sie direkt nach Ignatyevo bringt. Dies ist der Flughafen von Blagoweschtschensk. Dort wartet auf Sie ein Helikopter. Wie Fürst Igor riet, reisen Sie ja als Mitarbeiter des World Wildlife Found und werden als solche empfangen.“

Fürst Igor hatte Lord John zu dieser Ausrede geraten. Das gesamte Amurgebiet, sei es in Russland oder China, sei als neue Ökoregion geplant und werde regelmäßig von Umweltschützern für neue Messungen und Untersuchungen besucht. Da diese und die zukünftig erhofften Touristen in der von Arbeitslosigkeit gebeutelten Region als Geldbringer geachtet wurden, würden sie auf weniger Probleme mit den örtlichen Behörden in der Provinz Oberer Amur stoßen. Und Thomas hatte mit Frances´ Hilfe eine seiner Meinung nach perfekte Tarnung geschaffen.
 

Während Lord John und Donna Innana bereits auf dem Weg nach Österreich waren, blieb Sarah nichts als zu warten. Sie nahm nicht an, dass sich Ikol im Moment aus Russland fortbewegen würde. In den USA wurde nach ihm gefahndet, der Hohe Rat hatte keine Sitzung anberaumt…Nein. Er würde warten, bis sich die Staubwolken etwas gelegt hatten und dann in einigen Jahren, vielleicht unter neuem Namen sich wieder um diese Genfirma kümmern. Und vermutlich auch um sie selbst. Ein Vampir hatte Zeit.

Sie saß auf einer weißen Bank und betrachtete den kleinen ummauerten Garten, der zu dem Haus der Buxtons gehörte. Die Nacht war sternenklar, aber das war hier in London fast nicht zu erkennen.

Sie sah auf, als sie spürte, wer sich näherte: „Gute Jagd.“

„Gute Jagd, Inquisitor.“ Der alte Vampir, der sich im Augenblick Wombat nennen ließ, kam aus der Dunkelheit: „Verzeihen Sie, wenn ich Sie störe, aber ich möchte etwas Wichtiges mit Ihnen besprechen.“

„Natürlich. Bitte, setzen Sie sich zu mir.“ Es wäre sehr unhöflich gewesen, der Bitte eines so viel Älteren nicht zu entsprechen, zumal sie stark vermutete, dass es um ihre Aufgabe ging.

Seine nächsten Worte bestätigten dies: „Wie jeder Kadash werde ich Ihnen als meinem Nachfolger gern einige Erklärungen geben, über das Amt des Inquisitors und die Waffe, die Sie nun tragen.“

„Warum…?“ entfuhr es ihr, aber sie brach eilig ab.

Er hatte dennoch verstanden: „Warum ich es Ihnen nicht zuvor sagte, sondern so tat, als ob Sie allein bleiben müssen? Nun, Ikol war anwesend. Ich hatte ihn im Verdacht gehabt, aber nie einen Beweis finden können. Er würde annehmen, dass Sie ahnungslos und unerfahren sind und sich aus der Deckung wagen. Zum anderen wusste ich von Innana und John doch von Ihrer Ausbildung, Ihren Fähigkeiten. Und Sie haben mich auch nicht enttäuscht, ja, waren erfolgreicher als ich. – Von diesen Hintergedanken wusste Innana allerdings nichts, als sie mich in Australien aufsuchte. Sie wollte nur, dass ich Ihnen erzähle, dass ich Sie mit den Gebissenen sah. Fürsorglich, wie sie nun einmal ist.“

Sie nickte nur: „Sie wollten, dass ich denke, ich müsse alles allein herausfinden?“

Er lächelte etwas: „Sagen wir, eine kleine Prüfung? Sie sind doch recht jung, meine Liebe. Zu etwas anderem nun erst einmal allerdings: die Geschichte des Amtes des Kadash beginnt sehr zeitig. Leider. Aber auch, wenn sich diese frühen Menschen zu Vampiren weiterentwickelt hatten, galt noch immer das, was auch heute gilt: die Seele eines jeden bleibt die gleiche. Darum sollen Meister ja auch gut aufpassen, wen sie als Kind annehmen. – Es war vor vielen zehntausenden von Jahren. Angeblich lebten damals nur sieben Vampire. Und einer vor ihnen erschuf Gebissene. Die anderen erfuhren davon und töteten die Gebissenen. Hand an ihn zu legen konnte und wollte niemand. Doch da er immer weiter machte, kam es zu einer Besprechung. Und einer von ihnen erklärte sich bereit, die Blutschuld am Tode des Artgenossen zu tragen, was die anderen erstaunte. Sie alle nahmen ja an, als Vampir unsterblich zu sein, außer, man trank das Blut eines Artgenossen. Und wie hätte er ihn dazu bringen wollen? Er wusste es besser. Er hatte einen Unfall gehabt, sich an einem Stein geschnitten. Und er war damals bereits alt genug und mächtig in seiner Magie, um zu erkennen, dass sich diese Verletzung nicht wie gewohnt sofort schließen würde. Zu seinem Entsetzen blutete er.“

Sarah starrte ihn an. Kein Vampir blutete, dazu floss die verwandelte Subsatz zu schwer durch den Körper.

„Er erkannte, dass sich sein Blut veränderte, die Verwandlung vom Menschen zum Vampir rückgängig gemacht wurde. Um sein Leben zu retten, schnitt er sich den verletzten Finger unverzüglich ab. Aber diesen Stein hatte er aufbewahrt. Und als er damit den ersten abtrünnigen Vampir verletzte, wurde dieser wieder zu einem Menschen. Er starb unverzüglich. Menschen können nun einmal bestimmte Lebensalter nicht übersteigen. – Dieses Mineral, das jeden Vampir töten kann, gibt es nur an einer einzigen Stelle auf dem afrikanischen Kontinent. Jeder Kadash führt seinen Nachfolger dorthin. Ich werde dies auch tun, wenn wir aus Sibirien zurück sind. Denn die Silberkugeln in der Waffe, die ich Ihnen gab, Sarah, umhüllen dieses Mineral nur, verhüllen es. Niemand außer dem jeweiligen Inquisitor und dessen Vorgänger weiß um dieses Geheimnis.“

„Auch nicht der Hohe Rat?“ fragte sie erschüttert.

„Nein. Aus zwei Gründen: zum einen ist es sicher keinem Vampir angenehm in Gegenwart des Kadash und es würde nicht besser, wenn alle genau wüssten, wie er oder sie tötet. Zum anderen käme vielleicht jemand in die Versuchung, diese Waffe zu stehlen und einzusetzen. Wie gesagt, wenn sich ein Meister irrt und einen unwürdigen Schüler annimmt, dieser dann gegen die Regeln verstößt, sei es, weil er von Haus aus charakterschwach war oder auch durch die kritischen Jahre verwirrt… nein. Es ist und war besser, wenn dieses schwere Amt ein gewisses Mysterium bleibt.“

Sarah nickte langsam. Zu einen, weil sie das mittlerweile durchaus verstehen konnte, zum anderen, weil sie nachdachte: „Darf ich einige Fragen dazu stellen?“

„Natürlich.“

„Nur sieben Vampire soll es damals gegeben haben? Dies erscheint mir selbst für diese frühe Zeit sehr wenig….“

„Ich vermute ja auch, dass es sich um den damaligen Hohen Rat gehandelt hat, aber so lautet die mündliche Überlieferung von Kadash zu Kadash.“

„Und dass die Silberkugeln die Gebissenen töten ist eine bewusste Irreführung? Nicht das, für Vampire ja unangenehme Silber tötet sie, sondern der verborgene Inhalt? Der allerdings genauso gut jeden echten Vampir umbringt?“

„Ja.“

„Und das gleichzeitig mit einer Stellung, die es Ihnen ermöglichte, einer Entscheidung des Hohen Rates zu widersprechen? Sie haben sich zumindest in meinem Fall ja geweigert, mich zu töten.“

„Ja. Sie verstehen durchaus.“

Jetzt starrte sie ihn fassungslos an: „Sie…Sie wussten, dass ich jung bin, keinen Meister in dem Sinn habe…und wollten mir einer derartige Machtposition einräumen?“

„Gerade weil Sie keinen Meister in dem Sinn haben. Jedes Kind ist verpflichtet. Sicher, John hat sich als ob um Sie gekümmert und Sie mögen ihn. Aber die, nennen wir es ruhig, intimen Bande sind bei weitem nicht so ausgeprägt. Und der Inquisitor muss ungebunden sein. So wird gewöhnlich immer jemand ausgewählt, dessen Meister sich bereits zurückgezogen hat. Ich war selbst bereits fast dreitausend Jahre und begann, mir meinen eigenen Rückzug zu überlegen, als ich das Amt erhielt.“

Zögernd meinte sie: „Maestro Cacau deutete an, dass er schon über zehntausend Jahre alt ist…“

„Er ist nur wenig länger Vampir als ich, meine Liebe. Und ich beantworte die Frage, die Sie nicht stellen wollen. Bei mir sind es mittlerweile an die zwölftausend Jahre. Ich bin sehr müde. Aber ich konnte und wollte mein Amt erst räumen, wenn ich sicher wäre, dass dies danach auch das gesamte Volk ist.“

Das sah nach einer sehr langen Amtszeit für sie aus. Unwillkürlich seufzte sie ein wenig: „Dann darf der Kadash auch keine Schüler in dem Sinn haben? Sie oder auch Donna Innana haben niemanden angenommen.“

„Innana wegen mir, in der Tat. Sie wollte gern mit mir zusammenleben und das wäre mit einem „Kind“ nicht gegangen. Und ich...nun, wie ich bereits erwähnte: der Kadash, der Inquisitor, muss ungebunden sein.“ Er lächelte etwas: „Und kommen Sie mir jetzt nicht mit Innana. Uns war beiden stets sehr bewusst, dass ich jederzeit auch gegen sie vorgehen würde, falls es notwendig wäre. Ansonsten wäre dieses Leben nicht so möglich gewesen. Darum sollten Sie es sich auch gut überlegen, ob Sie weiterhin bei John wohnen können und wollen. Ich bezweifle nicht, dass Sie noch gewisser Hilfe und Betreuung bedürfen, gerade auch im seelischen Bereich, haben Sie doch die kritischen Jahre nur wenig hinter sich, aber….“

Sie nickte, plötzlich einen Knoten im Hals. Daran hatte sie noch gar nicht gedacht. „Die Einsamkeit des Jägers der Jäger.“

„In der Tat. Ich hatte das ungemeine Glück, vor gut zweitausend Jahren auf Innana zu treffen, die das verstand. Aber ansonsten waren alle meine, unsere Vorgänger, stets allein, ohne Begleiter, ohne Freunde. Selbst mit Cacau hatte ich nach meiner Ernennung nur äußerst wenig Kontakt, da mich der Weg des Kadash kaum mehr nach Mittelamerika führte und die damaligen Reisen doch recht langwierig waren. Damit rechnete ja im Endeffekt auch Ikol. Und ohne Ihre Bereitschaft, mit der menschlichen Polizei zu tun zu haben, Ihrer Bereitschaft, diese heutigen Hilfsmittel zu nutzen, wären Sie nicht so weit gekommen. Aber ansonsten… ja, es ist einsam als Jäger der Jäger. – Zunächst jedoch werde ich Ihnen noch ein wenig zur Seite stehen. Wie gesagt, in Afrika wartet ein Mineral darauf, von Ihnen entdeckt zu werden. Und dann werden Sie mich nach Australien begleiten. Dort liegt meine Gießerei, in der ich diese Kugeln herstelle. Das müssen Sie lernen.“ Da er merkte, dass sie überrascht schien: „Wie gesagt, mit Ihrer scheinbar einsamen Berufung hoffte ich Fernando, oder eher Ikol, aus der Deckung zu locken, was ja wohl geschehen ist. Aber selbstverständlich werde ich Ihnen erklären, was Sie wissen müssen, ehe ich mich nur noch der Meditation widme. So hatte ich es schon immer geplant, nahm allerdings an, noch etwas länger Zeit zu haben, für mich, aber auch für Sie. Ikol war wohl leichtsinniger als ich annahm – oder eher, Sie fähiger, Sarah.“

„Danke.“ Was hätte sie auch dazu sagen sollen. Es war erleichternd, doch noch eine gewisse Art der Erklärung, der Ausbildung zu bekommen, aber…die Einsamkeit dann? Oder konnte sie doch bei Lord John und Thomas bleiben, eben weil sie keinen Meister in dem Sinn hatte? Das musste wohl gut überlegt werden. Zuerst hatte etwas anderes Priorität: „Ikol….wenn wir ihn aufsuchen…“

Er hob etwas die Hand: „Wenn Sie ihn aufsuchen, Kadash. Es ist Ihre Aufgabe, Ihre Entscheidung. Ich bleibe nur die Sicherung.“

„Nur würde ich nicht sagen.“ Sie lächelte etwas: „Danke, jedenfalls, Wombat. Auch für die Mühen, denen Sie sich noch unterziehen, die Reisen.“

„Wie gesagt, ich will, dass das Volk sicher ist.“

„Fällt es eigentlich niemandem auf, dass Sie eine Gießerei hatten?“

„Nein. Es braucht nicht viel Platz. Überdies besitze ich seit einigen Jahrhunderten eine Gold- und eine Kupfermine.“

Sie sah ihn überrascht an: „Verzeihung, ich dachte nur…“

„Ja?“

Wie sollte sie das behutsam formulieren? „Die australischen Ureinwohner hätten es nicht so mit dem Besitz, schon gar von Boden?“

„In der Tat. Aber als ich zum Vampir wurde, lehrte mich mein Meister auch über mein nun neues Volk. Und man muss immer Kompromisse aus seinen Kulturen schließen, gerade über Jahrtausende hinweg. Auch John war nicht immer glücklich mit der Entwicklung in England, aber er entschied sich dafür, hier zu bleiben. Innana kehrt nun nach Mesopotamien zurück, obwohl dort Krieg herrscht, weil sie ihre Ausgrabungen retten will…Man passt sich an. Die Regel der Unauffälligkeit. – Wie hätte ich sonst auch meine Häuser kaufen sollen?“

„Danke.“

Der alte Vampir musterte sie, aber verschwieg seine Gedanken. „Dann entschuldigen Sie mich, Inquisitor. Vor uns liegt morgen eine lange Reise. Thomas erwähnte etwas von dreiundzwanzig Stunden Flug.“

„Ja. Und das ohne die Stunden beim Umsteigen. Wir werden viel Zeit zum Meditieren finden.“ Ein wenig erstaunt sah sie sein Lächeln:

„In der Tat. Sie sind der Kadash.“
 

Sowohl in London Heathrow als auch in Moskau Domodedovo erregte das ungewöhnliche Paar aus einem älteren, schwarzen Mann und einer jungen, blonden Frau etwas Aufsehen, das sich allerdings, wie Thomas zu recht vermutet hatte, legte, wenn der Blick auf die Reisetasche fiel, die Sarah in der Hand trug. Dort war das Wappen des World Wildlife Founds abgebildet. Auch in den Pässen, auf den russischen Visa war als Einreisebegründung ein Auftrag dieser internationalen Organisation angegeben. Noch in Heathrow hatte Sarah die SMS ihres Adoptivvaters erreicht, die aus zwei Buchstaben bestand: no.

Also hatte Kai ihnen nichts über Ikol erzählen können oder wollen, allerdings wohl das eher das erstere. Nach allem, was sie inzwischen über Ikol wusste, war er niemand, der einem anderen, sei er auch ebenfalls Ratsmitglied, sein Herz ausschüttete. Nun, das wäre für seine Pläne wohl auch nicht gerade gut gewesen.

Der Flug von Moskau nach Sibirien, über fast 8000 Kilometer, dauerte die meiste Reisezeit. Die beiden Vampire nahmen nur wenig von den angebotenen Speisen und Getränken, da sie nichts davon benötigten, aber die Regel der Unauffälligkeit wahren wollten. Zumeist meditierten sie oder zumindest Sarah blickte neugierig aus dem Fenster.

In Ignatveyo wurden sie als Mitarbeiter des WWF auf englisch von einem Mann begrüßt, ein Plakat hochhielt: „Ach, Mr. Miller, Miss Baxton, willkommen in Blagoweschtschensk Mein Name ist Yuri Massenkow. Ich arbeite für die Umweltschutzbehörde der Provinz Amur Oblast. Ich vermute, dass Sie zunächst in Ihr Hotel wollen? Es ist doch eine lange Anreise.“

„Ja, gern“, antwortete Wombat, den er angesprochen hatte: „Und morgen fliegen wir?“

„Ja. Ich habe einen Helikopter bereit. Die russische Botschaft in London erwähnte etwas, dass Sie nach einem großen Tier Ausschau halten wollen. Wollen Sie mal wieder Tiger zählen?“

„Nein. Nur Ausschau halten und wenn möglich einen markieren. Aber das sehen wir dann. Es sollen ja nur noch sehr wenige existieren, unter hundert, und da ist es wichtig, jedes Einzelne zu kennen.“

„Ja, natürlich. Kommen Sie. Es sind zwanzig Kilometer bis in die Stadt.“

Sarah blickte sich um, als sie im Auto saß. Sie hatte Hangars entdeckt, für sicher an die vierzehn Flugzeugen, zumeist der Linie, mit der sie auch hergeflogen waren. Ob das hier der Heimatflughafen war? Sie erkundigte sich danach.

„Ja, das ist eine recht neue Linie, Miss Baxton. Aber das hier ist nicht das Ende der Welt, auch, wenn es Ihnen von London aus so scheinen mag. Sie können von hier nach Bangkok in Thailand fliegen, zu zwei japanischen Flughäfen, nach Peking, Moskau natürlich, und noch so einiges. Blagoweschtschensk selbst hat knapp zweihunderttausend Einwohner. In letzter Zeit sind es wohl noch mehr geworden, da es eine große chinesische Gemeinde gibt. Seit dem…Fall der Sowjetunion hat man sich hier verstärkt auf den Handel mit China ausgerichtet. Nur der Amur trennt ja seit Urzeiten die beiden Staaten und Heihe liegt direkt gegenüber.“

„Das dort hinten ist doch eine Papierfabrik, oder?“

„Holz, Papier und Bodenschätze. Das ist es, was es hier gibt. Oh, Sie fragen wegen Umwelt und so? Nun ja, der Amur könnte wohl sauberer sein, aber von etwas anderem kann man hier eben nicht leben. Und viele Fabriken haben geschlossen. Die Arbeitslosigkeit ist recht hoch. Darum wäre der Provinzregierung ja auch die Förderung des Tourismus so wichtig. Umweltschonend und Arbeitsplätze erhaltend. Viele von unseren Jungen überlegen ja schon, abzureisen.“

„Das ist dann sicher ein großes Problem für die Provinzregierung“, erwiderte Sarah höflich und musterte die braune Stadt, die vor ihr auftauchte. Tatsächlich hatte sie erwartet, hier am Ende der Welt zu sein und bedauerte das gewisse Vorurteil einer viktorianischen Engländerin, das sie anscheinend noch immer nicht abgelegt hatte. Zweihunderttausend Einwohner war schließlich kein Pappenstil, zumal, wenn man bedachte, dass das ja nicht die einzige Stadt hier war. Sie warf einen Blick auf ihren Begleiter. Er hatte gesagt, er werde die Waffe des Inquisitors übernehmen und anscheinend war es ihm auch problemlos gelungen, sie durch alle Kontrollen zu schmuggeln. Wie auch immer er das angestellt hatte, nun, vermutlich durch einen Bannkreis. Einen solchen herzustellen war für einen so alten Vampir sicher kein Problem, wobei sie es faszinierte, dass dieser wohl auch gegen die Durchleuchtung und Wärmekameras bestanden hatte. In der wenigen Zeit, die er vor seinem Rückzug noch mit ihr verbringen wollte, müsste sie sehr viel lernen und das sehr schnell. Und ein Bannkreis für die tödliche Waffe des Kadash war mit Sicherheit eine der wichtigsten Dinge.
 

******************************************
 

Das nächste und letzte Kapitel bringt ein Interview mit einem Vampir....
 

bye
 

hotep

Rußland, Amur Oblast

Nach dem Einchecken im Hotel spazierten Lady Sarah und Wombat durch Blagoweschtschensk, begleitet von Yuri Massenkow. Sie betrachteten die Innenstadt, wanderten dann hinaus zur Mündung der Zeya in den Amur, der hier schwer und braun weiter nach Osten floss. Dann entschuldigten sich die Gäste mit dem doch erheblichen Zeitunterschied zu London, um sich in ihre Hotelzimmer zurückzuziehen. Ihr russischer Begleiter verstand das. Schließlich wollten sie früh am Morgen bereits mit einem Auto zu einer Hubschrauberbasis fahren, um zu einem ausgewiesenen Naturschutzgebiet weiter im Westen zu fliegen.

Wombat hatte unter dem Vorwand, dort seien Tiger gesichtet worden, eine Landestelle angegeben, die nahe bei Ikols Wohnort lag. Jedes Ratsmitglied, und damit auch der ehemalige Kadash wusste, wo die anderen Mitglieder lebten, um im Notfall rasch Nachrichten senden zu können.

Sarah blickte auf, als es klopfte, und sie ein wenig erstaunt die Ausstrahlung des ehemaligen Inquisitors erkannte: „Kommen Sie herein.“

„Störe ich?“

„Ich wollte nur ein wenig meditieren in dieser Nacht.“

„Gut. – Ich dachte, wir könnten eine Übung machen.“

„Sicher.“ Sie deutete auf den Stuhl. Es wäre mehr als unhöflich und ganz bestimmt ungeschickt gewesen, eine gemeinsame Meditationsübung mit einem so alten und mächtigen Vampir abzulehnen: „An was dachten Sie?“

„Was wissen Sie über zurückgezogene Vampire?“ fragte er dagegen.

Sie berichtete, was sie von Maestro Cacau in Mexiko erfahren hatte: „In einem gewissen Alter und nach gewissen…Übungen erwachen zwei Befähigungen: zum einen die Möglichkeit, Bannkreise zu erschaffen, die den Betroffenen gegenüber Menschen und anderen Vampiren, die diese Fähigkeit noch nicht entwickelt haben, verbergen. Zum anderen sinkt der Appetit mit dem fortgeschrittenen Lebensalter. Und irgendwann wird der Vampir der Welt müde und will sich zurückziehen. In der Einsamkeit entwickelt er dann seine Magie weiter, bis er schließlich eins wird mit seiner Umgebung, mit der Natur. Das ist die Endstufe der Existenz eines Vampirs: eines zu werden mit allem Leben, nur noch davon und damit zu existieren.“

„In der Tat. Hat Ihnen das John so erklärt?“

„Nein, Maestro Cacau.“

Er lächelte: „Natürlich, mein alter Freund. – In den langen Jahren, bis diese Endstufe erreicht ist, suchen zurückgezogene Vampire keinen Kontakt mehr zur Welt der Menschen, aber auch zu jüngeren Vampiren. Dennoch ist es manchmal notwendig, sich untereinander zu verständigen, schon allein um zu verhindern, dass sich zwei Vampire an den gleichen Ort zurückziehen. Dazu nutzen sie dann eine Sprache, die ich geistig nennen würde. Es schadet nicht, wenn auch der Inquisitor dies beherrscht, um sich gegebenenfalls mit Zurückgezogenen auf gewisse, höfliche Distanz, unterhalten zu können. Ich tue dies, aufgrund meines hohen Alters und der Fähigkeiten, die ich inzwischen entwickelt habe. Sie haben gewisses Potenzial, aber Sie sind noch ein sehr junger Vampir. So möchte ich Ihnen nur zeigen, wie der Weg dorthin aussieht. In der nächsten Zeit werden wir das einige Male üben, aber Sie werden sicher noch Jahrhunderte brauchen, wenn nicht Jahrtausende, um das zu beherrschen.“

Neugierig geworden erkundigte sich Sarah: „Eine geistige Sprache?“

„Ja. Man nutzt dazu die Fähigkeit, die man – als Zurückgezogener - früher bei der Jagd einsetzte. Sie kennen den geistigen Angriff natürlich.“

„Ja. Was soll ich tun?“

„Nichts. Schließen Sie die Augen und versuchen Sie zu erkennen, was ich Ihnen sagen will.“

Sie gehorchte. Fast unverzüglich spürte sie den seltsamen Druck im Kopf, den sie von gemeinsamen Jagden kannte, wenn ein anderer Vampir einen Menschen attackierte, um ihn bewusstlos zu schlagen. Aber es war kein Angriff und schon gar nicht auf sie gerichtet. Irgendetwas war anders – und doch war es ein unangenehmer Druck, ja, fast schmerzhaft. Sie musste sich entspannen, dachte sie unwillkürlich. Ihre eigenen Fähigkeiten wollten erwachen, das beenden – und sie konnte und durfte doch nicht einen Vampir zu Boden schicken, der ihr etwas beibringen wollte. Das war bei ihren ersten Übungen mit ihrem Adoptivvater passiert, der dies allerdings mit Humor genommen hatte. So bemühte sie sich bewusst dem Druck keinen Widerstand zu leisten, spürte fast unverzüglich ein Gefühl, das nicht von ihr selbst ausging: Beruhigung. Sie lächelte etwas – und fühlte sich sofort freigegeben.

Erstaunt sah sie auf und begegnete dem Blick des uralten Vampirs: „Was…?“

„Warum haben Sie gelächelt?“

„Ich dachte, Sie wollen mich beruhigen.“

„Das wollte ich, in der Tat.“ Er schüttelte etwas den Kopf: „Ich verstehe langsam. So lange Jahrzehntausende, seit der erste Kadash für dieses Amt geboren wurde, suchte jeder seinen Nachfolger aus, bildete ihn aus, soweit es nötig war. Aber Sie, Sarah…..Sie sind mit all Ihren ungewöhnlichen Fähigkeiten – und dazu gehört auch, dass Sie offenbar ein besonderes Talent für diese geistige Sprache besitzen - Sie sind der zweite geborene Kadash.“
 

Am folgenden Tag kletterten die beiden Vampire mit Yuri Massenkow nach einer Stunde Autofahrt in den bereits wartenden Hubschrauber, dessen Pilotin sofort abhob. Sarah war noch nie mit einem Helikopter geflogen und hielt sich zunächst unwillkürlich die Ohren zu, ehe sie sich daran gewohnt hatte und die Neugier Oberhand gewann, sie nur noch aus dem Fenster blickte. Rasch veränderte sich die Landschaft. Es waren keine menschlichen Siedlungen mehr zu entdecken, stattdessen dehnte sich grün ein dichter Wald aus. Sie wusste, dass das Urwald war, zum Teil bereits Naturschutzgebiet, allerdings erstaunte sie die Größe. Das war nur ein Teil der Amurwälder und sie fragte sich unwillkürlich wie ausgedehnt das einst alles gewesen sein musste, ehe die Holz – und Papierindustrie hier einfiel. Oder waren es auch Klimaveränderungen gewesen?

Der Plan war einfach, sie hatten ihn in der Nacht besprochen. Sobald der Hubschrauber auf der angegebenen Landzunge gelandet war, würde Wombat den Piloten und sie selbst Yuri Massenkow übernehmen, mit dem geistigen Angriff bewusstlos schlagen. Zur Sicherheit, und damit die Menschen länger schliefen, würden sie einen Viertelliter Blut trinken, ehe sie sich auf den Weg zu Ikol machten. Laut Wombat war es nicht sehr weit, da dieser früher mit einem Boot den Amur entlang gefahren sei, wollte er zu Ratsversammlungen reisen und ganz gewiss keine Lust verspürte, zu weit zu marschieren.
 

Fast eine Stunde später setzte die Pilotin den Hubschrauber sicher auf einer kiesigen Landzunge am Ufer des Amur ab. Seit Minuten schon fühlte sie sich irgendwie matt und müde, und sie war froh, die Passagiere hier aussteigen lassen zu können. Im nächsten Moment schlief sie ein.

Yuri Massenkow wollte mit den Gästen aussteigen, schließlich war es seine Aufgabe, sie zu betreuen, aber er fühlte sich schon seit Minuten nicht ganz wohl. Bekam er Kopfschmerzen? Das wäre fatal, wenn sich diese Tierschützer über ihn beklagen würden…Sein letzter Gedanke.

Beide Vampire beugten sich vor.
 

Von der kiesbedeckten Landzunge führte ein kaum erkennbarer Pfad in den tiefen Wald. Der ehemalige Kadash nickte seitwärts: „Erkennen Sie es, Inquisitor?“

„Ein Bannkreis.“ Sarah konnte ihn nicht durchdringen, vermutete allerdings zu Recht, dass dort das Boot verborgen war, mit dem Ratsmitglied Ikol zu Versammlungen reiste. „Und fast dreitausend Schritte vor uns noch einer, ein größerer.“ Sie konnte ihn nicht, oder eher noch nicht, zuordnen, aber es gab hier kaum jemand anderen als den Vampir, den sie suchte.

„In der Tat. Gehen wir.“

Hintereinander wanderten die beiden in den Wald, unbesorgt ob der Tatsache, dass es hier allerlei Tiere, bis hin zu den seltenen Amurtigern gab. Keines davon wäre für einen fast Unsterblichen eine Bedrohung. Die eigentliche Gefahr in dieser Gegend ging von jemand anderem aus.

Der Mann, der sich Wombat nannte, blieb nach tausend Schritten stehen: „Ich werde jetzt zurückbleiben. Er kennt meine Magie und meine Ausstrahlung. Gute Jagd, Kadash.“

Sarah nickte nur. Auch sie spürte nun vor sich umgekehrt undeutlich Ikol, oder genauer, seinen Bannkreis, mit dem er sich vor ungebetenen Gästen schützte. So folgte sie selbst dem kaum sichtbaren Pfad weiter durch das dichte Unterholz, bis sie den Bannkreis erreichte. Selbst für sie war er nicht zu sehen, nur vage zu spüren. In der Tat, Ratsmitglied Ikol verfügte über eine unverkennbare magische Macht. Ob ihr Vater das auch so konnte? Aber das war vollkommen gleich, zumal sie unverzüglich bemerkte, dass Ikol sie entdeckt hatte. Der Bannkreis flimmerte und verschwand dann. Nun erkannte sie einen kleinen Hügel vor sich, keine vier Meter hoch, in den eine dunkler Gang führte. Sie wurde eingeladen.

Ohne zu zögern folgte sie der Offerte, in der sicheren Gewissheit, dass ihr Vorgänger es irgendwie schaffen würde, ebenfalls hineinzugelangen.
 

Nach nur fünfzehn Metern öffnete sich der dunkle, in die Tiefe führende Gang, zu einer kreisrunden Höhle, die durch mehrere Fackeln erleuchtet wurde. Sie bemerkte Felle seitlich auf dem Boden, allerlei Gerätschaften, deren Sinn sie nicht verstand. Über einer Feuerstelle hing ein Kessel, aus dem es nach Kräutern duftete. Es war die Behausung eines Schamanen. In dieser altertümlichen Umgebung wirkte Ikol fast fehl am Platze. Das Ratsmitglied trug im Gegensatz zu dem Besuch in London nicht den Anzug des 19. Jahrhunderts sondern Kniehosen und Rüschenhemd des Barock. Er saß hinter einem Schreibtisch, ebenfalls aus dieser Zeit, erhob sich aber höflich bei ihrem Eintritt. Er schien nicht erstaunt zu sein. Nun gut, er hatte sie ja zuvor schon wahrgenommen.

„Welche Überraschung, Lady Sarah“, sagte er dennoch: „Darf ich fragen, was den Kadash in diese doch recht einsame Gegend führt?“

Sie zuckte die Schultern, unwillkürlich etwas angespannt. Jetzt gab es kein Zurück mehr: „Eigentlich wollte ich Sie nur beglückwünschen.“

„Oh. Zu was?“

Er setzte sich wieder an seinen Schreibtisch, ohne ihr jedoch Platz anzubieten, eine Unhöflichkeit, die sie stillschweigend überging, da sie versuchte herauszufinden, ob er allein war. Immerhin befand sich dort hinten an der Höhlenwand eine massive Holztür.

„Nun, seit über hundert Jahren lassen Sie Menschen sterben, ohne je in Schwierigkeiten zu kommen, ja, begehen Verbrechen.“

Er faltete die Hände: „Teurer Kadash, Verbrechen gegen Menschen gehen weder Sie noch den Hohen Rat etwas an:“

„Das ist in der Tat so, “ gab Sarah zu: „Anders sieht es freilich mit Gebissenen aus. Und erzählen Sie mir nicht, Sie hätten nicht mitbekommen, was Don Fernando jetzt in Mexiko oder früher schon in Südamerika tat. Oder 1838 in London.“

Er hob die Augenbrauen: „Meinen Glückwunsch. Sie haben sich umgetan. So rasch solche Ergebnisse?“

„Ich habe Unterstützung“, erwiderte sie prompt.

„Oh, John? Oder Innana? Nun, gleich.“ Er stand gelassen auf. „Wissen Sie auch, warum ich Fernando zu diesen Dingen ermunterte?“

„Vivisektionen an Menschen, Zuchtwahl und Genetik. Sie versuchten es mit Menschen, zumindest zunächst, um nicht mit Vampiren arbeiten zu müssen.“ Sarah hörte selbst, dass ihre Stimme etwas zitterte.

Ikol betrachtete sie mit gewissem Lächeln, fast ein wenig stolz: „Ja, Sie verstehen durchaus. Vampire sind Menschen überlegen, deren Weiterentwicklung, die Endstufe der Evolution. Und dann taucht auf einmal John mit jemandem auf, der neue, andere Fähigkeiten besitzt, der sich noch einmal weiterentwickelt hat. Sarah, das, was Sie können, sollte jeder Vampir können. Wir sind die Krone der Schöpfung. Also suchte ich einen Weg, um allen Vampiren das zu eröffnen.“

„Indem Sie Ihren Schüler Gebissene erschaffen ließen.“

„Menschenmaterial.“ Er zuckte die Schultern: „Davon gibt es soviel. Und man kann nun einmal keine Rühreier machen, ohne Eier zu zerschlagen. – Schön. Ich weiß, dass das nicht ganz den Regeln entsprechend war, aber Teuerste, Sie haben doch nicht angenommen, dass Sie hier wieder herausspazieren, um dem Rat zu berichten und ein Verfahren gegen mich anzustrengen?“

Sarah atmete tief durch: „Nein.“

„Wollten Sie etwa eine Heldin sein und allein gegen mich vorgehen?“ Er lachte etwas: „Das wäre allzu dumm. Und das sind Sie doch eigentlich nicht, sonst wären Sie nicht hier. Ich werde Ihnen meinen Bannkreis nicht mehr öffnen und trotz all Ihrer sonstigen beachtlichen Fähigkeiten sind Sie zu jung, um meiner Magie Herr zu werden. Ich will und werde erfahren, warum Sie so anders sind. Dort drüben in meinem Labor.“

Sie schüttelte fast ein wenig enttäuscht den Kopf: „Sie haben nicht einmal versucht, zu behaupten, Fernando hätte aus eigenem Antrieb gehandelt. Und Sie lügen.“

„Bitte?“ Er schien wirklich erstaunt.

„Sie wollen mir erzählen, dass Sie die Verbrechen an den Menschen begingen, die Gebissenen erschaffen ließen, nur, um Erkenntnisse über mich zu gewinnen.“

„Das stimmt auch.“

„Und warum war Fernando bereits 1838 in London und erschuf Gebissene?“ Sie musste einfach versuchen, ihrer eigenen Vergangenheit auf die Spur zu kommen.“

Ikol lächelte: „Das war nur eine Gehorsamsübung. Wie gesagt, Menschen sind einfach zu bekommen, gutes Versuchsmaterial. Er sollte Gebissene erschaffen und sie dann töten.“

Eine Gehorsamsübung. Sarah schluckte unwillkürlich. Das war der einzige Grund, warum sie zu einem Vampir geworden war? Dann würde sie in der Tat nie erfahren, wer sie zuvor gewesen war, wo ihre eigenen Wurzeln waren, was sie sonst zu dem gemacht hatte, was sie war. Sie war sehr enttäuscht, obwohl sie damit gerechnet hatte, nichts zu erfahren. Aber bis eben hatte sie noch immer einen Funken Hoffnung gehabt….

Ikol ließ sie nicht aus den Augen: „Sie wirken enttäuscht. Was haben Sie denn erwartet? Dass ich sage: oh, natürlich, Inquisitor, ich ließ Gebissene erschaffen, klagen Sie mich nur vor dem Hohen Rat an? Wirklich nicht. Ich war zugegeben, recht froh, dass Sie dieses Amt bekamen, wobei ich nicht weiß, warum.“

Sie richtete sich erneut etwas auf. Ja. Sie war der Inquisitor, der Kadash. Und das vor ihr war kein ehrenwertes Ratsmitglied, sondern ein abtrünniger Vampir, der Gebissene erschaffen ließ, Menschen dazu brachte, ihresgleichen zu töten. „Das kann ich mir vorstellen. Als Fernando starb, waren seine letzten Worte: aber er sagte doch…ahnungslos. – Sie haben Ihrem Schüler nicht erzählt, dass ich den Auftrag bekommen hatte, ihn zu jagen und er sich zurückziehen sollte. Sie haben Ihren eigenen Schüler, Ihr Kind, dem Inquisitor überlassen, obwohl Sie ihn zu seinen Taten aufgefordert hatten.“

Ikol zuckte gleichmütig die Schultern: „Teure Sarah, ich hatte doch keine Wahl. Die Anklage kam immerhin von Cacau, einem ehemaligen Ratsmitglied und zurückgezogenem Vampir. Ich hätte keine Chance gehabt, den Rat zu überzeugen, dass er Unsinn redet. Aber ich nahm an, dass Sie zu unerfahren wären, um Fernando und dem Meister wirklich gefährlich zu werden. Und das auch noch in dieser kurzen Zeit. – Und, um ehrlich zu sein, hatte ich inzwischen auch einen anderen Plan.“

„Ich verstehe sowieso noch immer nicht, was das mit diesen Blutsekten sollte.“

„Teuerste, Forschung braucht Geld. Und sicher, Genlab lief und läuft gut, ich bekomme ein interessantes Einkommen, aber der Anfang war schwer und teuer. Darum benötigte ich Geld. Auch früher schon….Vivisektionen, medizinische Geräte…Ich brauchte immer Geld. Und ich konnte ja schlecht zu einer menschlichen Bank gehen und es mir leihen.“ Er lächelte: „So kam ich auf diese Idee. Menschen haben uns schon früher für Götter gehalten. Sie sind leichtgläubig, sind leicht zu beeinflussen und besitzen Geld. Danach sind sie überflüssige Zeugen. Als ich zufällig in L.A. diesen „Meister“ traf, wusste ich, dass er ein ideales Werkzeug dazu war. – Nach der Mexiko-Sache war ich allerdings zuversichtlich, dass es einen einfacheren Weg gab, an mein Ziel zu gelangen: Sie. Und als Kadash waren Sie oft allein unterwegs, nicht mehr bei John oder Innana und damit auch angreifbarer. Auf die Idee, dass Sie mich tatsächlich hier höchstpersönlich und allein aufsuchen würden, kam ich allerdings nicht.“

„Jetzt Sie wollen herausfinden, warum ich der Jäger der Jäger bin.“ Sarah klang hart. Das war das Geständnis gewesen.

„Ja. Und alle Vampire sollen es bekommen, es können. Damit werde ich in alle Ewigkeit als der berühmteste aller Vampire gelten, der dem Volk einen neuen Evolutionsschritt ermöglichte.“ Seine Augen leuchteten im Halbdunkel der fackelbeleuchteten Höhle förmlich auf.

Sie musste sich zwingen, einigermaßen ruhig zu bleiben: „Sie sind ja verrückt. Vampire sind die Weiterentwicklung von Menschen, ja. Eine künstliche Weiterentwicklung von Vampiren kann jedoch nie gut gehen. Wissen Sie denn nicht, dass ich auch ziemliche Probleme mit meinen Fähigkeiten hatte? Alles hat doch zwei Seiten. Aber nun gut. Sie haben gerade selbst zugegeben, dass Sie Fernando aufforderten, Gebissene zu erschaffen. Und das ist ein Verstoß gegen die Regeln. Ein tödlicher Verstoß. Übrigens: Ihre…hm…Flucht vor der Polizei der USA bedrohte auch die Regel der Unauffälligkeit.“

„Ja? Sie kommen nicht mehr dazu, Anklage vor dem Hohen Rat zu erheben. Und ohne Urteil kein Tod.“ Ikol lächelte etwas. Es machte wirklich Spaß, mit ihr zu spielen: „So einfach. Glauben Sie bloß nicht, dass Sie mich dazu bringen könnten, Ihr Blut zu trinken, wie Sie es bei Fernando getan haben.“ Schließlich war er im Hohen Rat gewesen, als sie Bericht erstattet hatte.

„Nein, das würde wohl nicht funktionieren“, gab sie ehrlich zu. Er war weitaus mächtiger in seiner Magie als sie selbst. Sie straffte sich. Selbst ohne das Wissen, dass Wombat irgendwo hinter ihr war, wäre sie jetzt bereit gewesen, den Schlussstrich zu ziehen. Ikol war eine wirkliche Gefahr für Menschen und Vampire. Und nicht zuletzt für sie selbst. „Aber Sie haben einen gewaltigen Denkfehler begangen.“

„Oh, klären Sie mich auf.“ Er verschränkte lächelnd und äußerst selbstsicher die Hände vor seiner Brust.

„Sie hätten es wissen müssen. Sie sind Mitglied des Hohen Rates. Das Amt des Kadash ist das Amt der Blutschuld. Und allein der Inquisitor trägt diese Schuld.“

„Ja, und, meine Liebe?“ Er spielte den Lehrer vor einem übereifrigen Kind.

Sarah schüttelte etwas den Kopf, traurig und angespannt zugleich: „Haben Sie es wirklich noch immer nicht verstanden? Als der Rat meinte, dass ich sterben solle, hat sich mein ehrenwerter Vorgänger geweigert, die Schuld an meinem Tod zu tragen – und der Hohe Rat beugte sich.“

„Ja, das weiß ich auch.“ Ikol musterte sie. Wollte sie um ihre Freiheit, ja, ihr Leben reden? Der Hohe Rat habe sie schon einmal begnadigt? Was sollte der Unsinn? Entkommen war für sie unmöglich. Da war sein Bannkreis, den ein so junger Vampir nie überwinden konnte – und seine eigene Macht würde es ihr auch versagen, ihn wie Fernando so zu täuschen, dass er ihr Blut trank. Nein. Das würde er bald hinten in seinem Labor untersuchen, sie untersuchen, bis er wusste, warum sie so anders war.

Hatte er denn absolut nicht begriffen, was das Wesen des Amtes des Inquisitors war? „Das gilt aber auch umgekehrt. Wenn der Kadash bereit ist, die Blutschuld zu tragen, wird sich der Hohe Rat auch diesem Entschluss beugen.“ Sie zog die Waffe aus ihrer Jackentasche: „Und genau das werde ich tun. Für all die Menschen, die als Gebissene ohne Seele sterben mussten, für Fernando, der an Sie glaubte…“

Ikol hob unwillkürlich abwehrend die Hände, ehe er lächelte: „Fast hätten Sie es geschafft, mich zu erschrecken, liebe Sarah. Aber eine Silberkugel ist unangenehm, tötet jedoch niemals einen wahren Vampir, schon gar von meiner Macht.“

Sie richtete die Mündung auf ihn, beide Hände um den Griff: „Das werden wir gleich feststellen. Haben Sie sich nie gefragt, wie der Kadash tötet?“

Nein, gab Ikol in Gedanken zu. Der Inquisitor meldete dem Hohen Rat ausschließlich den Vollzug. Nur in Sarahs Bericht war enthalten gewesen, dass sie diesen Thomas in Edinburgh ebenso wie Fernando dazu gebracht hatte, ihr Blut zu trinken – seines Wissens die einzige Möglichkeit, einen wahren Vampir zu töten. Und das konnte sie nicht. Trotz all ihrer Fähigkeiten, gerade auch bei Manipulation – ihn würde sie nicht so täuschen können.

Was sollte das also? Aber es war wohl besser, vorsichtig zu sein. Er würde all seine Magie gegen sie loslassen, einen Bannkreis direkt um sie erschaffen, sie so fesseln, nachdem er sie abgelenkt hatte. Sie war doch fast noch in den kritischen Jahren…

„Damit kommen Sie nicht durch, Sarah! Sie können meinen Bannkreis nicht lösen! Und er erlischt nicht, wenn Sie mich töten.“

Sie begriff plötzlich, dass er seine Magie sammeln wollte. Ohne weiter nachzudenken schleuderte sie in jäher Panik ihr geistiges Netz, das sogar in dem Gehirn eines Jägers der Nacht, selbst bei einem alten und mächtigen Vampir, einen Kurzschluss verursachte. Noch während Ikol bewusstlos zu Boden stürzte, drückte sie entschlossen ab.

Für Fernando, dachte sie, der von seinem Meister hintergangen worden war, die Gebissenen, die sie in Mexiko hatte töten müssen, die Gebissenen, die ihr Vorgänger in London getötet hatte – und für sich selbst, die nie erfahren würde, wer sie zuvor gewesen war.

In dem Moment, in dem die Kugel den Körper durchschlug, löste sich das darin enthaltene Material und Ikol wurde langsam wieder zu dem Menschen, dem Schamanen, der er vor Jahrtausenden gewesen war. Prompt setzt der Zerfall ein. Wie schon bei Thomas und Fernando starrte Sarah etwas entsetzt auf den rasch ablaufenden Verwesungsprozess, bis schließlich nur noch Staub übrig war.

Sie schob die Waffe weg, als sie sich langsam umdrehte. Noch war der Bannkreis tatsächlich da, sie konnte ihn spüren, aber sie fühlte nun auch die Anwesenheit ihres Vorgängers.

Als sie aus der Höhle kam, war der Weg frei und Wombat trat aus den Schatten des Waldes.

Er betrachtete sie: „Wie fühlen Sie sich?“

„Es ist ein schrecklicher Anblick“, gab sie zu: „Gewöhnt man sich je daran?“

„Es wäre schlimm, wenn. Kommen Sie. Die Menschen werden bald erwachen.“
 

Auf der langen Rückreise nach London, dachte Sarah gründlich nach.

Von London aus würde sie erst einmal Briefe an die Ratsmitglieder schicken müssen, um sie von Ikols Tod in Kenntnis zu setzen. und der Tatsache, dass sie ein neues Mitglied wählen sollten. Hoffentlich würde Lord John kein drittes Mal ablehnen, aber sie nahm fast an, dass er um ihretwillen diesmal zusagen würde. Nun, sie hoffte es inständig.

Und das Problem der Einsamkeit des Jägers der Jäger?

Wombat selbst hatte mit seinem Zusammenleben mit Donna Innana und seinen doch bestehenden guten Bekanntschaften mit Maestro Cacau und Lord John bewiesen, dass der Kadash nicht vollkommen allein zu sein brauchte. Es mochte wichtig sein, sich nicht zu abhängig zu machen, aber warum sollte sie auf ihre Familie, auf Lord John und Thomas, auf die Unterstützung durch Frances und Inspektor Cuillin verzichten, ohne das ein gewichtiger Grund vorlag?

Jetzt würde sie sich in London kurz erholen, vielleicht einen kleinen Abstecher nach Brüssel machen, um Inspektor Cuillin persönlich zu sagen, Gerüchten zu Folge sei Loki Blacksmith tot, ehe sie mit Wombat in den Regenwald des Kongo und dann nach Australien reisen würde.
 

Der Weg des Inquisitors hatte eben erst begonnen.
 

I am behind you,

I always find you

I am the tiger

People who fear me

Never go near me

I am the tiger
 

Abba: Tiger



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Von:  HonjiHyuga
2010-02-18T09:07:36+00:00 18.02.2010 10:07
Also ich muss sagen deine Story hat eine sehr schöne Idee ^^

gefällt mir sehr gut auch eine angenehme länge sehr schön ^^

lg Honji Hyuga ^-^
Von:  Tigerin
2009-10-01T04:07:26+00:00 01.10.2009 06:07
Jetzt hat sie es beendet. Es ist gut, dass er nicht mehr weiter experimentieren kann. Allerdings ist es schade, dass sie dadurch vermutlich nichts mehr über sich selbst herausfinden kann. Ich bin gespannt, wie der Rat auf den Tod eines Mitgliedes reagiert. Es ist schön, dass es noch weiter geht. Ich freue mich auf die Reisen mit ihrem Vorgänger..^^ Und auch ihre momentane Entscheidung, dass sie nicht auf ihre Familie verzichten wird, finde ich gut.
Beeil dich mit der Fortsetzung.

LG,
Tigerin

Von:  Tigerin
2009-10-01T04:07:03+00:00 01.10.2009 06:07
Hm.. es muss wirklich ein starker Bann sein, der das schafft. Tja, aber er ist ja nicht um sonst einer der ältesten Vampire. Es ist schön für Sarah, dass sie doch noch ihre Ausbildung bekommen wird. Das gefällt mir. Dass sie eventuell Lord John verlassen soll, gefällt mir allerdings überhaupt nicht. Ich hoffe nicht, dass es dazu kommt. Schade, dass er und Innana nichts heraus gefunden haben. Jetzt bin ich allerdings noch gespannter, was Sarah herausfindet..^^

LG,
Tigerin

Von:  Tigerin
2009-10-01T04:06:42+00:00 01.10.2009 06:06
Ha, das ist doch super. Das nenn ich Teamwork. Echt spitze. Sie hat die volle Unterstützung von den dreien. Und mit dem ehemaligen Kadash als Rückendeckung ist der Ausflug nach Sibirien auch nicht mehr ganz so gefährlich.
Das Geständnis über ihre Vergangenheit hat mich sehr erstaunt. Genauso, dass der Kadash schon über Ikol bescheid wusste. Da war ich ziemlich verblüfft. Aber er konnte ihm eben auch nichts nachweisen..
So, ich les jetzt weiter..^^

LG,
Tigerin

Von:  Tigerin
2009-10-01T04:06:24+00:00 01.10.2009 06:06
Ach du meine Güte. Wenn sie ihn anklagen will, wird sie ihn wohl auf frischer Tat ertappen müssen. Es ist schön, dass ich nicht mehr nach Indizien suchen muss und schon mal weiß, wer derjenige ist, der hinter allem steckt. Gut, am Ende bringt es mich nicht weiter, weil ich echt keine Ahnung habe, wie Sarah ihm seine Vergehen beweisen soll. Außer eben, ihn zu ertappen. Ich bin echt gespannt, wie es im nächsten Kapitel weitergeht. So gesehen war es gut, dass ich so lange nichts gelesen hatte..^^“ Dann brauche ich jetzt nicht warten..

LG,
Tigerin

Von:  Tigerin
2009-10-01T04:06:03+00:00 01.10.2009 06:06
Ich bin mir nicht sicher, ob ich jetzt glauben soll, dass die Firma Dreck am Stecken hat. Immerhin wollen sich die meisten Leute nicht in ihre Geschäfte hineinreden lassen. Und die Polizei hat es da auch nie leicht..
Es ist schön, wie sie alle zusammen arbeiten. Das wird auch hoffentlich etwas bringen..^^
Der Blick in die Vergangenheit hat mir sehr gefallen. Es war sehr schön beschrieben. Allerdings frage ich mich auch, wer ein kleines Mädchen in so einem Zustand allein gelassen hat. Ich hoffe, das wird noch aufgeklärt..^^

LG,
Tigerin

Von:  Tigerin
2009-10-01T04:05:22+00:00 01.10.2009 06:05
Hmm… interessant, interessant. Wenn Indizien enthalten waren, habe ich sie natürlich wieder einmal nicht gefunden. Aber das Kapitel hat mir sehr gut gefallen. Die ganzen Hintergrundinformationen waren auch wieder richtig toll^^ Und bestimmt auch viel Arbeit..
Die Geschichte von Lord John war sehr schön erzählt. Sarah und er kamen mir in diesem Moment wie eine richtige Familie vor. Das war niedlich. Und dann kam auch gleich der Gedanke auf, dass er sich lang noch nicht zurückziehen soll. Er ist wirklich nett.
Mal schauen, wie’s weiter geht..^^

LG,
Tigerin

Von:  angel-sama
2009-08-20T16:09:29+00:00 20.08.2009 18:09
Wie? Schon wieder vorbei? Schade, aber ein super Ende. Sarah hat Ikol erledigt und sie hat sich wirklich bewiesen, dass sie dem Amt des Kadash würdig ist.

Ich hoffe es gibt noch ne Fortsetzung, wenn Wombat ihr seine Fabrik zeigt^^
Von:  don-kun
2009-08-17T09:20:13+00:00 17.08.2009 11:20
Ein tolles Ende, die Geschichte hat mir sehr gut gefallen und ich hoffe auf eine Fortsetzung. Das Ende lädt ja auch zu einer ein ;)
Von: abgemeldet
2009-08-16T21:37:32+00:00 16.08.2009 23:37
Ich bin neugierig: Wer war denn der erste geborene Kadash?

Da Sir Angus nicht bemerkt hat, dass Thomas Gebissene erschuff, ist es da nicht ein bisschen zu streng genommen zu erwarten, dass es anderen Vampiren nicht so ergeht? Andererseits hat Ikol ja unumwunden zugeben, Bescheid gewusst zu haben – ziemlich sorglos der Gute, dabei sollte er wissen, dass Bösewichten so etwas stets zum Verhängnis wird. ;)

Für Sarah ist es schade, dass sie wohl nicht mehr herausfinden wird, wer sie als Mensch gewesen ist, andererseits gibt es ihr die Freiheit (im Rahmen ihres Kadashdaseins, versteht sich) sich vollkommen neu zu definieren, wenn sie das will. Nicht zu wissen, wer man war, ist nicht immer nur schlecht...

Dass Ende klingt so, als könnte da möglicherweise irgendwann noch mal eine Fortsetzung entstehen, was mich ehrlich freuen würde. ^^

Der Songtext von Abba hat mich an ein Gedicht von William Blake erinnert, ich bin mal so dreist und stell es hier mit rein - quasi als Antwort drauf.

Lieben Gruße

Zwiebel

The Tiger

Tiger, tiger, burning bright
In the forests of the night,
What immortal hand or eye
Could frame thy fearful symmetry?

In what distant deeps or skies
Burnt the fire of thine eyes?
On what wings dare he aspire?
What the hand dare seize the fire?

And what shoulder and what art
Could twist the sinews of thy heart?
And, when thy heart began to beat,
What dread hand and what dread feet?

What the hammer? What the chain?
In what furnace was thy brain?
What the anvil? What dread grasp
Dare its deadly terrors clasp?

When the stars threw down their spears,
And water'd heaven with their tears,
Did He smile His work to see?
Did He who made the lamb make thee?

Tiger, tiger, burning bright
In the forests of the night,
What immortal hand or eye
Dare frame thy fearful symmetry?


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