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Kratos' Life

The Memories of an Angel
von

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Erinnerungen eines Engels

Zeit entschwindet, Wesen scheiden, in Ewig wie des Wassers Fluss. Doch niemand wähnt die Ewigkeit.

Die Möglichkeit, dem immerwährenden Kreislauf von Leben und Tod zu entfliehen, Unsterblichkeit zu erlangen, gilt auf meiner Welt als verschollen und legte sich im Laufe der Zeit den Mantel der Legende über. Doch unter diesem Mantel, der aus Fantasie und Träumen gewebt wurde, verbarg sich ein wahrer Kern. Und ich bin der lebende Beweis dafür.

Während meiner Existenz, die nun mehr viertausend Jahre andauert, war es mir vergönnt, Dinge zu erleben, die sich ein normalsterbliches Wesen nicht einmal in seinen aller kühnsten Träumen auszumalen wagt. Ich suchte nach Freiheit und Wahrheit, strebte nach Gleichheit und Gerechtigkeit, kämpfte für Frieden und Akzeptanz. Ich tötete aus Rache, quälte aus Hass, verletzte aus Stolz. Ich liebte aus tiefstem Herzen, ich litt mit ganzer Seele. Ich zeugte Leben und beendete es. Ich lebte mehr als jedes andere Wesen.

Die Geschichte, die ich euch erzählen werde, ist eine wahre Geschichte. Es ist meine Geschichte. Ich war an jenen Orten und ich erinnere mich an alles.

Wer ich bin? Diese Frage habe ich mir selbst oft gestellt. Und ich glaube, die Antwort endlich gefunden zu haben.

Ob ich etwas Besonderes bin müsst ihr am Ende selbst entscheiden. Doch nun möchte ich beginnen, zu erzählen.

Taucht ein in meine Welt, in meine Seele, in mein Herz.

In das Herz eines Engels, der nie einer war …

Bernstein

Obwohl es nun mehr viertausend Jahre zurückliegt, erinnere ich mich noch genau an jene Tage im damaligen Meltokio, der königlichen Hauptstadt des Kontinenten Tethe'alla. Der wertvolle Kronleuchter an der Decke, die roten Teppiche, die schweren Vorhänge an den großen Fenstern, die goldenen Kerzenhalter an den tapizierten Wänden ... ich war reich.

So zumindest nannte sich diese Art des Wohnens. Reichtum.

Ich war der Sohn einer adeligen Familie, obwohl dieses Wort nicht ganz zutrifft. Nur ich und mein Vater lebten in diesem prunkvollen Haus, das eigentlich mehr einer Villa glich. Neben uns noch eine Hand voll bedienstete Halbelfen, oder auch Sklaven, wie mein Vater sie nannte.

Jedes Kind hätte mich wohl beneidet. Mir fehlte es an Nichts, ich besaß fast alles, was man an materiellen Dingen besitzen konnte. Ich brauchte nicht einmal in die Schule zu gehen, da die Lehrer zu mir nach Hause kamen.

Und doch hätte ich mich selbst nicht als reich bezeichnet ... im Gegenteil.

Ich war arm.
 

Schnell und geschickt glitten die Finger des zehnjährigen Kratos Aurion über die Tasten des schwarzen Klaviers. Neben ihm saß sein Musiklehrer und achtete mit strengem Ohr auf das Spiel seines Schülers, doch das rothaarige Kind gab ihm keinen Grund zur Kritik. Die Noten verflossen ineinander und verschmolzen so zu einer wunderschönen Melodie. Der begabte Sohn des Adeligen Erebos von Aurion übte dieses Stück erst seit wenigen Tagen und beherrschte es schon, als habe er nie ein Anderes gespielt. Talent lag in seinen gut geübten Fingern.

»Wunderbar«, lobte ihn sein Lehrer, als Kratos geendet hatte. »Das klingt ja schon hervorragend.«

»Das freut mich, Sensei.«

»Für heute soll es genug gewesen sein«, meinte er. »Wie ich hörte, möchte Euer Vater Euch sprechen. Daher werde ich Euch früher entlassen, Kratos-san.«

Das rothaarige Kind nickte. Das genügte dem Lehrer und er erhob sich zum Gehen.

Kratos selbst blieb noch einen Augenblick sitzen und sah auf die Tasten, bis sein Lehrer verschwunden war.

»Amateur ...«, murmelte er und begann von Neuem, auf dem Klavier zu spielen. Dieses Mal jedoch ein weitaus schwierigeres Stück, welches ihm sein Lehrer wahrscheinlich erst in Jahren beigebracht hätte, wenn er es denn überhaupt beherrschte.

Er fühlte sich unterfordert und das schon seit Monaten. Seine Lehrer gingen einfach nicht auf ihn ein, ja waren selbst manchmal überfordert, wenn Kratos ihnen Fragen stellte, die durch sein selbstständiges Lernen aufgekommen waren. Er langweilte sich im Unterricht beinahe zu Tode, also hatte er beschlossen, seinen Vater darauf anzusprechen. Für gewöhnlich mied er seinen Erzeuger so gut es eben ging, aber wenn er den Grundschulunterricht noch länger ertragen musste, befürchtete er, zu verdummen.

Nachdem er das Stück beendet hatte, erhob er sich und löste den Zopf seines rostroten Haares, um ihn sich neu zu binden. Sein Vater hasste es, wenn er sein Haar offen trug, da er der Meinung war, es würde ungepflegt aussehen. Dann betrachtete sich der zehnjährige Junge im Spiegel.

Für sein junges Alter war Kratos schon sehr reif. Und das nicht nur geistig, sondern auch körperlich. Er war sehr groß gewachsen und hatte einen sehr robusten Körperbau. Diese Eigenschaft, so hatte er es zu Ohren bekommen, hatte er von seinem Vater geerbt. Ebenso wie sein Aussehen. Letzteres konnte er nicht abstreiten, denn er sah seinem Vater wirklich zum Verwechseln ähnlich. Jedoch unterschied sie etwas ganz Gravierendes: Ihre Augen.

Die Beider waren braun. Während die von Erebos jedoch eiskalt waren, hatte die von Kratos etwas Warmes an sich, einen sanften Glanz, der beinahe Jeden lächeln ließ. Das, so konnte sich Kratos noch erinnern, war ein Geschenk seiner Mutter gewesen.

Der Junge schüttelte leicht den Kopf. Er dachte nicht gern an die Vergangenheit. Es brachte ihm immer nur Probleme, allein schon, weil sein Vater ihm verboten hatte, über seine Mutter zu sprechen.

Und außerdem füllte es seine schönen, rehbraunen Augen mit Trauer.

Kratos' Vater verbrachte die meiste Zeit des Tages entweder in seinem Arbeitszimmer oder auf seinen Feldern außerhalb der Stadt, wenn er nicht gerade wichtige Termine hatte oder hohen Besuch empfing. Ein vielbeschäftigter Mann eben. Erebos war wohl nicht sehr begeistert gewesen, als Kratos sich bei ihm hatte anmelden lassen. Vater und Sohn verstanden sich nicht besonders und mieden sich, so gut es eben ging. Sie sahen sich meistens nur einmal am Tag, beim gemeinsamen Abendessen. »Und öfter«, so dachte Kratos bei sich, »will ich ihn auch gar nicht sehen.«

Doch wenn er nicht verdummen wollte, ließ es sich heute nicht vermeiden.

Vor der Tür vom Arbeitszimmer seines Vaters blieb er stehen und blickte noch einmal an sich herab. Als er der Meinung war, ordentlich genug auszusehen, klopfte er an.

»Es ist offen ...«

Es klang nicht sehr freundlich, doch Kratos hatte nichts anderes erwartet. Er trat hinein. Sein Vater saß wie so oft an seinem Schreibtisch, blickte nicht einmal auf, als sein Sohn hineintrat.

»Gnaden dir die Götter, wenn es nichts Wichtiges ist, womit du mich zu belästigen gedenkst«, warnte Erebos. Dann legte er doch tatsächlich seine Feder beiseite und stand auf, um seinen Sohn anzusehen.

»Ich halte es für wichtig«, meinte Kratos, der sich zu seiner vollen Größe aufgebaut hatte und mutig zu seinem imposanten Vater emporblickte, den restlos jeder Sklave fürchtete. Die Eisenkralle, die seine linke Hand ersetzte, glänzte im Licht der langsam untergehenden Sonne gefährlich.

»Erkläre dich«, forderte Erebos.

Sein Sohn atmete tief durch.

»Der Unterricht, den Ihr mir zukommen lasst, unterfordert mich bei Weitem, Chichiue«, begann er. »Ich beherrsche bereits die Potenz- und Wurzelrechnung, wobei ich im Unterricht noch mit der Multiplikationstabelle konfrontiert werde. Ich könnte mich mit meinem Lehrer bereits in zwei Sprachen unterhalten, während er mir noch immer die einfachsten Grammatikaufgaben stellt. Das Klavierspiel beherrsche ich bereits perfekt und doch soll ich Kinderlieder spielen.«

Erebos blieb unberührt.

»Und woher, Sohn, nimmst du all dieses Wissen, wenn nicht von deinen Lehrern?«, fragte er.

»Ich habe es mir selbst beigebracht«, behauptete Kratos stolz. »Oftmals verbringe ich meine freie Zeit in unserer Bibliothek und unterrichte mich zu Weilen allein.«

»Und was ist nun dein Begehr?«, stellte Erebos sich dumm.

»Ich wünsche kompetentere Lehrer, die nicht mit meinen Fragen überfordert sind.«

Kratos' Vater musterte seinen Sohn. Seine Bitte missfiel ihm. Warum hatten ihn die Götter mit so einem abartigen Sohn gestraft? Nicht nur, dass Protozoenblut in ihm floss, er war auch noch ungemein klug und dickköpfig.

Doch je länger Erebos darüber nachdachte, desto mehr gefiel ihm die Idee, die er bekam.

»Ich werde darüber nachdenken.«

Das war mehr, als Kratos erwartet hatte. Er hatte damit gerechnet, dass sein Vater seine Bitte augenblicklich ausschlug.

»Jedoch«, setzte sein Vater an und ließ den kleinen Hoffnungsfunken seinen Sohnes beinahe wieder erlischen. »Werde ich mich selbst von deinen Fähigkeiten überzeugen. Gefällt mir, was ich sehe, werde ich dir die besten Lehrer der Universität Sybaks zukommen lassen.«

Kratos' braune Augen leuchteten auf, doch er beherrschte sich, sich seine Freude nicht anmerken zu lassen. Sein Vater hasste Gefühlsregungen.

»Ich werde Euch nicht enttäuschen«, sagte er.

»Das wird die Zukunft zeigen«, meinte er nur. »Ich werde einen Sklaven in deine Räumlichkeiten schicken, erforderlichen Unterlagen bringt. Buche sämtliche Forderungsbestände der bisherigen Ernte im dreistufigen Forderungssystem.«

Erebos kam nicht umhin, einen Stich in seine Stimme zu lassen und leicht zu lächeln. Es waren komplizierteste Rechnungen, die er seinem Sohn aufgetragen hatte. Kein zehnjähriges Kind würde sie korrekt lösen können, nicht einmal mit Hilfe.

Doch sein Lächeln erlosch, als Kratos antwortete.

»Nichts lieber als das, Chichiue.«
 

Als Kratos in sein Zimmer zurückkehrte, fand er auf seinem Sekretär, welcher am Fenster seines Zimmers stand, tatsächlich bereits die Unterlagen seines Vaters. Er freute sich, was selten der Fall war. Strahlend wie die untergehende Sonne setzte er sich an seinen Arbeitsplatz und besah sich der Dokumente. Dann nahm er sich Feder und Tinte und begann, die Aufgabe, die sein Vater ihm gestellt hatte zu lösen.

Sorgfältig führte er jeden einzelnen Posten auf, unterschied einwandfreie Forderungen von zweifelhaften und uneinbringlichen Forderungen. Da sein Vater mehrere Ländereien besaß, auf denen er anbauen ließ, war dies eine sehr mühsame Arbeit, die Kratos jedoch mit großer Freude erledigte. Er fühlte sich, als sei sein Gehirn aus einem viel zu langen Schlaf erwacht und freute sich, es endlich wieder nutzen zu können.

Bis spät in die Nacht hinein arbeitete er an den Rechnungen. Dem Sonnenlicht war inzwischen eine kleine Manalampe gewichen, die angenehm warmes Feuermana ausstrahlte, da es langsam auf den Winter zuging. Als er fertig war und auf die Uhr sah, war es bereits weit nach Mitternacht.

Da er allein war, gönnte er es sich, sich ausgiebig zu strecken und zu gähnen, da in die Müdigkeit allmählich einholte. Dann fuhr er sich durch sein rotes Haar und erhob sich. Er wusste, dass sein Vater zu dieser Stunde noch nicht schlief. Daher wollte er ihm die Dokumente noch diese Nacht zukommen lassen. Allein schon, um ihn zufrieden zu stellen.

»Vielleicht«, dachte er freudig. »werde ich Montag schon meine neuen Lehrer begrüßen können.«

Er betätigte die kleine Klingel, die sich neben seinem Bett befand. Wenig später bat ein älterer Halbelf um Eintritt, den Kratos sogleich hineinließ. Er deutete auf die Dokumente.

»Bring' sie zu meinem Vater zurück. Und bring' sie nicht durcheinander!«, forderte er.

Der Halbelf nickte ohne ein Wort und ging sogleich zum Schreibtisch. Kratos übergab ihm die Papiere mit einem Lächeln.

»Und danach solltest du dich schlafen legen. Du siehst müde aus.«

Der Halbelf, dessen Namen Kratos nicht einmal kannte, wurde plötzlich schon beinahe unsicher.

»I-Ihr seid zu gnädig, junger Herr ...! Ich brauche keinen Schlaf ...! Ich stehe Euch stets zur Verfügung ...!«

Das rothaarige Kind runzelte die Stirn.

»Selbstredend brauchst du Schlaf, du bist schon älter. Außerdem muss jeder schlafen.«

Der Halbelf schüttelte den Kopf.

»N-Nein, junger Herr ...!«, meinte Kratos' Gegenüber, erschrak sich dann aber. »Oh, verzeiht! Ich wollte euch nicht widersprechen! Selbstredend habt Ihr Recht! Jedoch verzichte ich gern auf Schlaf, um euch zu Diensten zu stehen! Euch und dem Meister!«

Kratos seufzte.

»Wie heißt du?«, wollte er wissen.

»Daisuke, junger Herr ...«

»Dein Name bedeutet "große Hilfe"«, meinte Erebos' Sohn mit einem Lächeln. »Dies bist du auch, aber nur, wenn du ausgeschlafen bist. Ich werde meinem Vater die Dokumente selbst bringen. Ruh' du dich aus.«

Als Daisuke erneut widersprechen wollte, sagte Kratos im Befehlston: »Tu', was ich sage.«

»J-ja, junger Herr ...«, meinte er dann und wandte sich ab. Bevor er hinausging drehte er sich noch einmal zu Kratos um. »Vielen Dank ... Ihr seid sehr viel gütiger als der Meister. Das habt Ihr von Eurer Mutter. Sie war eine herzensgute Frau.«

Mit diesen Worten ging er. Kratos stand da, wie bestellt und nicht abgeholt.

»Von meiner Mutter ...?«

Das rothaarige Kind legte die Dokumente zurück auf den Schreibtisch. Dann griff er unter seine Kleidung und holte einen Bernstein heraus, den es um seinen Hals getragen hatte.

»Mama ...«, murmelte er.

Kratos' Mutter, Nebela von Aurion, war vor fünf Jahren gestorben. Woran, daran mochte Kratos nicht denken. Sein Vater hatte es ihm verboten, es zu tun, ja, hatte ihm sogar befohlen, seine Mutter zu vergessen. Doch das konnte Kratos nicht.

Die ersten fünf Jahre seines Lebens hatte er nur seine Mutter und seinen Großvater Tiberius, ein Protozoon in vollendeter Form, gekannt, denn sein Vater war kurz nach seiner Geburt in den Krieg gezogen, der seit nun fast neunhundert Jahren auf der Welt tobte. Alle Erinnerungen aus dieser Zeit waren mit Freude, Licht und Liebe erfüllt. Doch als sein Vater aus dem Krieg zurückkehrte, wurde alles anders ...

Kratos würde nie vergessen, wie er plötzlich vor dem ihm fremden Mann mit der unheimlichen Eisenkralle gestanden hatte. Mit eben dieser war er um Kratos' Kinn gefahren um sein Gesicht genauer betrachten zu können. Dann hatte er sich erhoben und zu seiner Mutter gesagt: »Er hat genauso wässrige Augen wie du!«

Der Knall, der daraufhin gefolgt war, war die Ohrfeige gewesen, die Erebos Kratos' Mutter verpasst hatte.

Das rothaarige Kind schauderte und blickte auf den Bernstein in seiner Hand herab. Das Schaudern verschwand. So schön, wie dieser Bernstein im Licht der Manalampe glänzte, hatten auch die bernsteinfarbenen Augen seiner Mutter geglänzt ...

Der Ruf einer Eule, die in dieser Nacht auf Jagd war, weckte den Jungen aus seinen Gedanken auf. Eilig versteckte er den Bernstein wieder unter seiner Kleidung. Es war das einzige Andenken an seine Mutter und er wollte nicht riskieren, dass sein Vater es ihm wegnahm.

Doch statt seinem Vater die Dokumente zu bringen, beschloss er, ins Bett zu gehen. Er war müde und außerdem fühlte er sich nicht in der Lage, seinen Vater jetzt anzusehen. Zu wässrig waren seine braunen Augen, zu traurig ihr Ausdruck. Er würde sie ihm Morgen bringen.

Stattdessen gönnte er sich etwas, das er sich sehr, sehr selten erlaubte.

Er legte sich, nachdem er sich entkleidet hatte, in sein Bett und betrachtete erneut den Bernstein, woraufhin er in Kindheitserinnerungen versank ...
 

»Mama, liest du mir eine Geschichte vor?«, fragte der fünfjährige Kratos ganz aufgeregt. Seine Mutter hatte ihn gerade ins Bett gebracht und nun bettelte das rothaarige Kind wie jeden Abend nach einer Gute-Nacht-Geschichte. Nebela lächelte gütig.

»Natürlich, Flämmchen«, nannte sie ihn bei seinem Spitznamen, den er seinem roten Haar zu verdanken hatte. Dann setzte sie sich auf die Bettkante und nahm ein Buch vom Nachttisch, aus welchem sie ihm fast jeden Abend vorlas. Na kurzer Suche fand sie ein Märchen, das sie ihrem Sohn noch nicht vorgelesen hatte. Sie lächelte, während ihr Sohn gespannt auf den Beginn der Geschichte wartete, weshalb sie ihn nicht länger warten lassen wollte.

»Einst, vor vielen, vielen Jahren, solange her, dass niemand mehr weiß, wann es war, gab es ein Land, in dem Menschen, Elfen und Halbelfen in Frieden miteinander lebten. Die Worte Krieg oder Hass kannte dort niemand«, trug sie mit ihrer sanften Stimme vor. »Eines schönen Tages jedoch, verschwand die wunderschöne Prinzessin des Landes spurlos. Der König war in großer Sorge um seine geliebte Tochter. Deswegen rief er alle Ritter zusammen und befahl ihnen, die Prinzessin zu suchen. Das gesamte Land wurde durchkämmt, doch die Prinzessin war nirgends zu finden. Daher wollte der König die Ritter auch über die Grenzen seines Landes hinausschicken. Doch keiner der Ritter wollte das gelobte Land, in dem sie lebten verlassen. Keiner, bis auf einen einzigen.«

Nebela blickte zu ihrem Sohn herab, der ihr aufmerksam zuhörte, jedoch schon langsam gegen die Müdigkeit ankämpfen musste. Sie las lächelnd weiter.

»Es war ein junger Kämpfer, mit reinem Herzen. Er, so behauptete er stolz, würde die Prinzessin finden und heil zurückbringen. Und so zog er aus, nur begleitet von seinem Schwert und seinem treuen Freund, einem Terranis.«

»War das Terranis Großvater Tiberius?«, fragte Nebelas kleiner Sohn. Kratos liebte seinen Großvater über alles, weshalb Nebela schmunzelte.

»Vielleicht, ich weiß es nicht. Das musst du deinen Großvater selbst fragen«, antwortete sie. Ihr Sohn nickte eifrig und wartete darauf, dass seine Mutter weiter vorlas.

»Der junge Ritter zog also aus seinem Heimatland und suchte die Prinzessin. Er reiste durch Wälder und Schnee, wanderte durch Gebirge und überquerte reißende Flüsse. Und eines Tages sollte seine Ausdauer belohnt werden.

Er kam an einem großen Schloss an, von der man sich erzählte, dass dort ein böser Mensch wohnte. Seine Augen sollten vor Feuer glühen, sein Gesicht von der Dunkelheit verschandelt sein. Doch der junge Ritter fürchtete sich nicht. Er betrat das Schloss, unaufhörlich nach der Prinzessin rufend, doch er erhielt keine Antwort, ja, erwartete schon das Schlimmste. Doch dann vernahmen die guten Ohren seines Freundes, dem Terranis, ein Geräusch. Er bellte auf und führte seinen Freund in einen Raum, in dessen Mitte ein Bett stand. Der junge Ritter trat näher an das Bett heran und entdeckte die Prinzessin darin, friedlich schlafend. Sie war wunderschön. Braunes Haar umrahmte ihr ebenmäßiges Gesicht, dessen Haut an Alabaster erinnerte. Ihre Lippen waren so rot wie die Blüten einer Rose, die sich geöffnet hatten, um das Sonnenlicht zu begüßen.

Sanft strich der Ritter über die Wange der Prinzessin und sagte: "Erwachet, Hoheit, ich bin gekommen, Euch zu erretten!"

Und die Prinzessin erwachte. Aus Augen, so blau, wie nur der schönste Himmel es sein konnte, sah sie ihn an und lächelte, wie nur ein Engel es vermochte.

»War die Prinzessin ein Engel ...?«, fragte Kratos müde.

Nebela schmunzelte sanft.

»Das nicht. Aber es gibt Wesen, die Engeln sehr ähnlich sind«, antwortete sie. Damit gab Kratos sich zufrieden und er hörte weiter zu.

»Zusammen mit dem Terranis flohen die beiden aus dem Schloss, wobei der Ritter die ganze Zeit die Hand der Prinzessin hielt. Jedoch hatte der böse Mensch, der in dem Schloss lebte, das Fehlen der Prinzessin schnell bemerkt und erwartete sie und den jungen Ritter vor den Toren, auf einem großen Drachen thronend.

"Gebt mir die Prinzessin zurück!", forderte er. "Sie ist mein!"

"Nein!", widerpsrach der junge Ritter und zog sein Schwert, womit er seinen Gegner zum Kampf herausforderte. Vorher jedoch bat er seinen Freund das Terranis, sich schützend vor die Prinzessin zu stellen, denn er wollte nicht, dass sie das Blut sehen musste, welches er nun zu vergießen gedachte.

Nach einem langen und heftigen Kampf hatte der junge Ritter den bösen Menschen besiegt und kehrte zu der Prinzessin zurück.

"Seid ohne Furcht, ich bin siegreich hervorgegangen", sprach er sanft. Die Prinzessin sah wieder auf und lächelte erneut. Dann bedankte sie sich bei ihm.

Gemeinsam reisten sie in das Königreich der Prinzessin zurück. Der König vermochte seine Freude über die Wiederkehr seiner Tochter kaum zu zügeln und versprach dem jungen Ritter, dass er ihm jeden Wunsch erfüllen würde. Und der junge Ritter hatte sogar einen Wunsch; und so bat er den König um die Hand seiner Tochter, da er sie vom ersten Augenblick an liebgewonnen hatte. Als der König sah, dass seine Tochter den jungen Ritter genauso lieb hatte wie er sie, erfüllte er den Wunsch des Ritters.

Wenig später heirateten sie und der Ritter versprach, seine geliebte Prinzessin für immer vor Unheil zu bewahren.

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann beschützt der Ritter sie noch heute vor allem Schmerz und aller Trauer der Welt ...«

Als Nebela geendet hatte, war Kratos eingeschlafen. Sie lächelte voll Sänfte und küsste ihren Sohn auf die Stirn. Dann erhob sie sich, um zu gehen.

Schon fast im Land der Träume angekommen, murmelte der kleine Kratos etwas, woraufhin Nebela sich noch einmal umdrehte ...
 

»Irgendwann ... werde ich auch ein Ritter ...«, murmelte Kratos. »Und dann ... beschütze ich ... meine Prinzessin ...«

Den Bernstein in Händen, schlief Nebelas Sohn lächelnd ein.
 

Am nächsten Morgen wollte Erebos' Sohn die Dokumente noch vor dem Frühstück zu seinem Vater bringen, weswegen er sich gleich nach dem Ankleiden auf den Weg machte. Sein Vater machte einen reichlich gereizten Eindruck, als sein Sohn erneut bei ihm auftauchte.

»Was willst du?«, fragte er forsch, doch sein Sohn ließ sich nicht einschüchtern.

»Ich bringe Euch die Forderungsberichte, Chichiue«, sagte er und legte seinem Vater den Papierstapel auf den Schreibtisch. »Ich habe sie bereits gestern Abend fertiggestellt.«

Erebos hob eine Augenbraue.

»Warum hast du sie mir nicht gleich bringen lassen?«, wollte er wissen, während er sehr gewissenhaft - oder eher verzweifelt - nach Fehlern suchte.

»Ich hatte es vor, jedoch erschien mir Daisuke sehr müde.«

»Daisuke?«, fragte Erebos mit gerunzelter Stirn und Kratos fiel ein, dass er die Halbelfen nie mit Namen ansprach. Er selbst hatte Daisuke ja auch fragen müssen.

»Einer der bediensteten Halbelfen«, erklärte er daraufhin. »Er ist schon etwas älter und wirkte erschöpft, daher habe ich ihm gesagt, er solle zu Bett gehen.«

Erebos hatte das Papier schon sinken lassen, während Kratos gesprochen hatte. Inzwischen hatte sich eine Zornesfalte auf seiner Stirn gebildet.

»Was soll dieser Unsinn? Es ist ein Sklave, er hat zu gehorchen, mehr nicht! Wann lernst du das endlich?«, fauchte er wütend. »Wenn man zu lasch mit ihnen umgeht, tanzen sie einem auf der Nase herum! Sie werden dich nie respektieren, wenn du sie behandelst, als seien sie unserer gleichwertig!«

Erebos schnaubte zornig.

»Wie soll ich dir je unsere Landgüter vererben, wenn du nicht einmal weißt, wie man mit Sklaven umzugehen hat? Und so etwas wie du will von besseren Lehrern unterrichtet werden? Vergiss es.«

Während Kratos immer kleiner geworden war, traf in dieser letzte Satz wie ein Messer ins Herz.

»A-aber die Rechnungen sind fehlerfrei ...!«, versuchte er noch, sich zu verteidigen.

»Na und? Dann kannst du eben rechnen. Das kann ich auch und ich habe mich trotzdem nie erdreistet, meine Eltern um bessere Lehrer zu bitten! So eine Frechheit hätte ich mir niemals erlaubt!«

Kratos schluckte. Erebos wollte gerade weitermachen, als plötzlich Hiroki ins Zimmer trat. Hiroki war der einzige Halbelf, den Erebos mit Namen kannte, denn es war sein Oberaufseher. Kratos verachtete ihn. Er war ein Verräter und liebte es, von seiner Peitsche Gebrauch zu machen, die er stets und ständig bei sich trug.

Das rothaarige Kind wollte sich schon freuen, da Erebos ohnehin schon zornig und Hiroki ohne anzuklopfen hineingetreten war, doch die erwartete Standpauke blieb aus.

»Die Halbelfen auf den Plantagen haben einen Aufstand angezettelt, Erebos-sama!«, berichtete er.

Kratos wich instinktiv vor seinem Vater zurück, der gefährlich ruhig geworden war.

»Hier siehst du, was ich meinte, Kratos«, sagte er mit eisiger Stimme, wobei er den Namen seines Sohnes besonders scharf betonte. Dann sah er Hiroki wieder an.

»Auf welcher Plantage?«, wollte er wissen.

»Auf allen, nicht nur den euren. Es wird vermutet, die Sylvarantaner haben Pioniere geschickt, damit die Halbelfen die Arbeit niederlegen.«

Die Eisenkralle von Erebos zog sich zu einer Faust zusammen, wobei sie tiefe Furchen im glattpolierten Holz des Schreibtisches hinterließ. Selbst Hiroki war anzusehen, dass er seine Muskeln anspannte, um Notfalls fliehen zu können. Jeder im Haus wusste, wie cholerisch Kratos' Vater war; und jeder fürchtete sich zu Recht vor ihm.

»Ich werde mich selbst darum kümmern ...«, sagte er mit tiefer Stimme. »Pack' meine Sachen, ich breche noch heute auf!«

»Jawohl, Erebos-sama, sofort!«

Hiroki verschwand schneller, als er gekommen war. Kratos wollte es ihm gleichtun und bewegte sich langsam Richtung Tür.

»Kratos!«

Das rothaarige Kind zuckte zusammen, drehte sich jedoch vorsichtig um.

»Ja, Chichiue ...?«

»Ich kann ein unnützes Kind wie dich zur Zeit nicht gebrauchen«, meinte sein Vater. »Du störst. Ich werde deswegen veranlassen, dich wegzubringen.«

Kratos schluckte.

»Wohin ...?«, wagte er es, zu fragen.

»Raus aus Meltokio, die politische Situation wird ohnehin immer unruhiger, ich habe keine Zeit, mich auch noch um dich zu kümmern. Du wirst deinem missratenem Großvater eine Weile Gesellschaft leisten müssen.«

»Ich darf Großvater wiedersehen?!«, dachte Kratos freudig, zeigte es jedoch nicht. Seit über fünf Jahren lebte sein Großvater nun nicht mehr bei ihnen im Haus, da Erebos ihn nach dem Tod seiner Mutter daraus verbannt hatte. Dann nickte er.

»Wie Ihr wollt, Chichiue, ich werde mich sogleich reisefertig machen.«

»Je schneller, desto besser. Lass' genug einpacken, du wirst einige Tage bei ihm verbringen. Und wehe, mir kommt zu Ohren, dass du es selbst gemacht hast! Du bist ein Aurion, also benehme dich auch so!«

Kratos nickte erneut und verschwand.
 

Ich konnte die Freude darüber, meinen Großvater wiedersehen zu dürfen, nur sehr schwer bändigen. Doch ich brauchte es auch nicht lange zu tun, denn ich brach noch am gleichen Tag auf ...

Zu meinem Großvater, dem Vater meiner verstorbenen Mutter, über die ich nicht sprechen durfte; bis zu eben diesem Tag.

Ferien

Die Kutsche, die Kratos zu seinem Großvater bringen sollte, hielt nach mehreren Stunden endlich an. Erebos' Sohn legte augenblicklich das Buch zur Seite, in welchem er gelesen hatte und verstaute es in dem kleinen Rucksack, den er bei sich trug. Der Halbelf, der Kratos hergebracht hatte, half dem Zehnjährigen aus der doch recht hohen Kutsche heraus. Kratos' braune Augen weiteten sich leicht, als er das Anwesen seines Großvaters erblickte - oder viel mehr den Garten, in dem es sich verbarg.

»Der Meister muss sich geirrt haben ...«, murmelte der Halbelf. »Das Haus ist verwildert ...«

Kratos aber schüttelte den Kopf.

»Nein, hier lebt mein Großvater. Ich bin mir ganz sicher!«, behauptete er und ging schnurstracks in den Garten hinein, dessen Eingang ein von Wildrosen überwucherter Torbogen bildete.

Der Garten war riesig und schöner als alles, was Kratos in seinem jungen Leben bisher erblicken durfte. Da es Herbst wurde, warfen die roten Ahornbäume ihr schillerndes Laub ab und verwandelten den ohnehin schon paradiesischen Ort in eine Symphonie der Rottöne. Das Licht der allmählich untergehenden Sonne verlieh dem traumhaften Anblick den letzten Schliff.

Das Haus selbst war efeuberankt und Teile des Daches fehlten. Eigentlich sah nur das Untergeschoss bewohnbar aus. Der Rest glich einer Ruine.

Noch bevor sie das Anwesen erreicht hatten, öffnete sich die Tür desselben und ein Mann mit langen, hellblauen Haaren, die er sich zu einem Zopf gebunden hatte, trat heraus. Kratos wollte seinen Augen nicht trauen, als er seinen lang vermissten Großvater erkannte. Und auch der Protozoon schien reichlich überraschte über den unerwarteten Besuch. Doch dann formte sich ein herzlichen Lächeln auf seinem sanften Gesicht.

»Kratos ...!«, entfuhr es ihm. »Kleiner Rotschopf! Götter, freue ich mich, dich zu sehen!«

Tiberius kam auf seinen Enkel zu, welcher jedoch stehenblieb. Kratos wäre seinem Großvater am liebsten um den Hals gefallen, doch zu tief saß die strenge Erziehung seines Vaters, keinerlei Gefühle zu zeigen. Tiberius blieb stehen.

»Was ist denn? Freust du dich etwa nicht, mich zu sehen?«

»Doch, sehr sogar«, antwortete Kratos. Sein Großvater legte seinen Kopf schief.

»Und warum kommst du dann nicht her und umarmst mich?«

Kratos schwieg. Er wusste nicht, wie er es erklären sollte.

»Ich verstehe ...«, meinte Tiberius nur, behielt sein Lächeln jedoch. »Du brauchst keine Angst zu haben, dein Vater ist nicht hier. Und dein Begleiter wird nichts verraten.«

Obwohl sich Kratos fragte, woher sein Großvater das wusste, konnte er nicht mehr anders: Er lief seinem Großvater entgegen und fiel ihm um den Hals.

»Großvater!«

Tiberius lachte und hob seinen Enkel hoch. Nach einem Augenblick der Umarmung betrachtete er seinen Enkel stolz.

»Wie groß du geworden bist!«, meinte er. »Bist du wirklich erst zehn?«

Kratos lachte und strahlte seinen Großvater an, woraufhin er ihn gleich noch einmal umarmte. Dann jedoch meldete sich der Halbelf zu Wort, in dem er sich räusperte. Großvater und Enkel blickten ihn an.

»Meister Erebos wünscht, dass Ihr Euch auf unbestimmte Zeit um Euren Enkel kümmert«, trug er vor. »Die politischen Angelegenheiten nehmen ihn zu sehr in Beschlag, als dass er sich ausreichend um seinen Sohn kümmern könnte.«

Tiberius hob eine Augenbraue.

»Zu wenig Zeit für das eigene, auch noch so clevere Kind?«, fragte er, zuckte dann aber mit den Schultern und lächelte Kratos an. »Selbstredend werde ich mich seiner annehmen.«

Der Halbelf nickte.

»Der Meister wünscht, dass Kratos-san seinen Schul- als auch seinen Klavierunterricht fort ...«

»Das wird nicht nötig sein, ich werde meinen Enkel selbst unterrichten«, schnitt Tiberius ihm das Wort ab. »Außerdem braucht auch ein Aurion mal Ferien.«

»A-aber der Meister ...!«, begann der Halbelf.

»Richte Erebos aus, dass ich seinen Sohn nicht zu verdummen lassen gedenke. Er wird seinen Unterricht bekommen. Jedoch von mir.«

Kratos sah seinen Großvater neugierig an, fragte jedoch nicht nach. Es gehörte sich nicht, Erwachsene bei einer Unterhaltung zu unterbrechen.

»Wie ... Ihr meint, Tiberius-sama«, sagte der Halbelf dann. »Ich werde jetzt nach Meltokio zurückkehren. Sobald sich die Lage beruhigt hat, werde ich Kratos-san wieder abholen.«

Damit verschwand Kratos' Begleiter. Tiberius sah seinen Enkel an.

»Kratos-san? Na, du wirst ja höflich angesprochen ... muss ich das auch machen?«, fragte Tiberius halb im Scherz, halb im Ernst.

Kratos schüttelte den Kopf.

»Bitte nicht, Großvater. Ich mag es nicht, so genannt zu werden.«

Tiberius schmunzelte.

»Das glaube ich dir, kleiner Rotschopf«, meinte er. »Du musst hungrig sein von der weiten Reise. Magst du Kakao und Kekse noch genauso gern wie früher?«

Kratos' braune Augen strahlten auf, doch er schüttelte den Kopf.

»Vater will nicht, dass ich so etwas esse.«

Tiberius schielte.

»Typisch ...«, murmelte er, sagte dann aber: »Dein Vater ist nicht hier. Du brauchst dich nicht an seine Regeln zu halten. Also: Kakao und Kekse?«

Und da strahlte Kratos wieder und nickte energisch.
 

Es war das dritte Glas Kakao, das Kratos trank. Tiberius schmunzelte.

»Bekommst du Zuhause denn nie Kakao?«, fragte er.

Kratos schüttelte den Kopf.

»Vater sagt, es sei ungesund«, antwortete er.

»Das ist nicht wahr«, meinte sein Großvater. »Solange man es nicht übertreibt, ist es in Ordnung.«

Kratos stellte sein Glas beiseite, nachdem er ausgetrunken hatte. Tiberius wollte schon aufstehen, um nachzuschenken, als sein Enkel ihn aufhielt.

»Ich möchte nicht mehr, danke«, sagte er brav.

»Na gut«, sagte der Protozoon. »Aber wenn du noch etwas möchtest, brauchst du es nur zu sagen.«

Kratos nickte lächelnd. Tiberius sah ihn an.

»Wie ist es in Meltokio? Fühlst du dich wohl dort?«, wollte er wissen, obwohl er die Antwort schon kannte. »Sei' ehrlich zu mir. Ich merke es, wenn du mich anlügst.«

»Es ... ist einsam dort«, wagte das rothaarige Kind zu sagen.

»Einsam? Bist du denn immer allein?«, fragte Tiberius genauer nach. Kratos schüttelte den Kopf.

»Das nicht, aber ... alle bedienen mich nur ... und die Lehrer langweilen mich mit Grundschulwissen.«

Wieder schmunzelte Tiberius.

»So? Warum langweilt es dich denn?«

»Weil ich schon viel weiter bin!«, behauptete das rothaarige Kind stolz. »Ich habe sogar die Felderträge vom Vorjahr und von diesem Jahr miteinander verrechnet.«

»Dann scheinst du wirklich etwas weiter zu sein ...«, meinte sein Großvater. »Liest du gern?«

Kratos nickte.

»Ja, sehr gern sogar.«

Sein Großvater erhob sich.

»Dann komm mal mit. Ich möchte dir etwas zeigen. Und nimm' dir ruhig noch einen Keks mit.«

Kratos erschrak, als sein Großvater plötzlich wusste, dass er mit dem Gedanken gespielt hatte, noch einen von den anscheinend selbstgebackenen Keksen seines Großvaters zu nehmen. Dann aber folgte er der Aufforderung von Tiberius, nahm sich noch eine der Süßigkeiten und folgte ihm dann.

Das Haus, in dem Tiberius lebte, war größer, als es von Außen den Anschein hatte. Und es war viel gemütlicher eingerichtet als die Villa, in der Kratos lebte. Nirgends hingen schwere Vorhänge, fast alle Fenster waren offen. Auf einigen Fensterbänken lagen Brotkrumen herum. Das neugierige Kind fragte seinen Großvater sogleich nach dem Grund.

»Die habe ich für die Vögel ausgelegt. Oft finden sie um diese Jahreszeit keine Nahrung mehr oder nicht genug, um sich für den Flug nach Süden zu stärken«, erklärte er und lächelte dann. »Sie singen oft, um sich zu bedanken.«

Kratos erinnerte sich daran, dass sein Großvater Tiere liebte. Er vermutete, dass es daran lag, weil er selbst Eines gewesen war. Ein kluger Gedankengang für einen Zehnjährigen.

Vor einer Holztür blieben sie stehen. Tiberius suchte einen Schlüssel aus einer Umhängetasche heraus, die er bei sich trug und schloss auf.

»Ich denke, es wird dir gefallen«, meinte er schmunzelnd und stieß die Tür auf.

Kratos stand der Mund offen. Ein riesiger Raum nur mit Büchern hatte sich vor ihm aufgetan. Viel größer als der kleine Bücherraum seines Vaters, durch den er sich fast ganz gelesen hatte.

Tiberius lachte leicht.

»Ich sagte doch, es würde dir gefallen.«

Kratos ging in die Bibliothek seines Großvaters hinein und sah sich staunend um. Tiberius folgte ihm und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Hast ... du die alle gelesen?«, fragte Kratos. Sein Großvater nickte.

»Ich habe alle gelesen und einige sogar selbst geschrieben.«

Kratos' rehbraune Augen leuchteten wie die eines Kleinkindes, welches das erste Mal einen Weihnachtsbaum sah. Wenn es nach ihm gegangen wäre, wäre er am liebsten dort eingezogen. Er konnte sich gar nicht entscheiden, wohin er zuerst gehen sollte, als Tiberius ihm plötzlich einen Schlüssel hinhielt.

»Du kannst jederzeit herkommen und dir Bücher leihen«, sagte er. »Behalte ihn auch ruhig, wenn du wieder nach Meltokio zurückkehrst. Er passt in alle Türen des Hauses. Vielleicht wirst du ihn mal brauchen ...«

Kratos nahm den Schlüssel an. Es war ein alter, gußeisener Schlüssel, mit schönen Ornamenten und Verzierungen.

»Danke, Großvater ...«

Tiberius tätschelte seinen Enkel durch das rote Haar.

»Gern geschehen, kleiner Rotschopf.«
 

Es war ziemlich schwer gewesen, Erebos' Sohn aus der Bibliothek zu bekommen, doch mit dem Versprechen, ihm den schönen Garten zu zeigen, hatte es dann doch geklappt.

Nun saßen die beiden auf dem schönen Brunnen des Gartens, dessen Speifigur einen großen Drachen darstellte. Die Flügel spendeten Schatten und der Schweif bildete den Rand des Brunnens. Aus seinem Maul floss kühles, klares Wasser, welches sich im Becken sammelte. Darauf trieben die schönen roten Blätter der Ahornbäume.

»Lebst du hier wirklich ganz allein, Großvater?«, wollte Kratos wissen.

Tiberius schüttelte den Kopf.

»Ich bin nie allein. Oft leisten mir Tiere Gesellschaft, denn sie fühlen sich hier wohl. Weiter hinten im Garten zieht eine Wölfin ihre Jungen groß. Ich bringe ihr täglich etwas Fleisch, denn sie ist schmächtig und braucht ihre ganze Kraft zum Säugen ihrer drei Welpen.«

Kratos sah seinen Großvater bewundernd an.

»Du magst Tiere sehr, oder?«

Tiberius nickte.

»Oh ja.«

»Erzählst du mir, wie du als Terranis warst? Oder als Aeros?«, bat das rothaarige Kind, woraufhin Tiberius lächelte und in den Himmel blickte.

»Als ich ein Aeros war, schmückten mich weiße und blaue Federn. Ich liebte es, über die Welt hinwegzufliegen und die Menschen, Halbelfen und Elfen zu beobachten. Zwerge bekam ich nur selten zu Gesicht, da sie ja unter der Erde leben.«

»Wie lange ist das her?«, wollte Kratos wissen.

»Das muss nun ... gute achttausend Jahre her sein ...«

»Achttausend Jahre?«, fragte sein Enkel ungläubig. »Großvater, wie alt bist du eigentlich?«

Tiberius lachte.

»Da stellst du mir eine Frage, die ich dir nicht beantworten kann«, meinte er. »Ich denke, ich bin über zwanzigtausend Jahre alt, vielleicht auch schon älter.«

Kratos' braune Augen leuchteten. Dann wurde er neugierig.

»Du musst unglaublich klug sein!«, behauptete er.

»Nun, ich weiß sehr vieles, da gebe ich dir Recht ...«, sagte Tiberius, doch sein Gesicht veränderte sich. Sein Lächeln erlosch und sein Blick wurde ernst. Erneut blickte er in den Himmel.

»Woran denkst du gerade?«, wollte Kratos wissen, doch sein Großvater antwortete nicht.

»Uhm ... Großvater ...?«

Tiberius schüttelte kurz den Kopf und lächelte dann wieder.

»Entschuldige, kleiner Rotschopf«, bat er, ließ jedoch nicht zu, dass Kratos weiter nachfragte. »Mein Garten ist noch viel größer. Ich kann dir noch mehr zeigen, wenn du es möchtest.«

Kratos schüttelte den Kopf.

»Nein, danke«, meinte er. »Ich ... bin etwas müde von der Reise. Verzeih ...«

Tiberius runzelte die Stirn.

»Warum entschuldigst du dich? Das ist doch völlig verständlich.«

»Aber Vater sagt ...«

Tiberius seufzte und tätschelte Kratos über den Kopf.

»Dein Vater ist nicht hier. Vergiss' ihn einfach eine Weile, in Ordnung? Wenn du müde bist, werde ich dir jetzt dein Zimmer herrichten. Ich war nämlich nicht auf Besuch eingestellt.«

»Du ... machst es selbst?«, fragte Kratos, für den das etwas vollkommen Neues war.

»Sicher«, meinte Tiberius. »Wer sollte es auch sonst tun, wenn nicht ich selbst?«

»Va ...«, setzte Kratos an, korrigierte sich dann aber selbst. »Zuhause lassen wir Halbelfen so etwas machen.«

Tiberius sah seinen Enkel erneut ernst an.

»Hältst du es denn für richtig, dass sie es für dich tun?«

Kratos schüttelte den Kopf.

»Nein, eigentlich mache ich vieles gern selbst, aber ich will nicht, dass Vater wütend wird.«

»Das kann ich verstehen ...«, meinte Tiberius. »Sag mal, Kratos ... schlägt er dich?«

Das rothaarige Kind schwieg.

Ja, sein Vater hatte ihn geschlagen. Oft sogar, als er noch kleiner gewesen war. Inzwischen war es weniger geworden, doch wenn Erebos wirklich wütend war, bekam sein Sohn oft seine Hand zu spüren. Und manchmal auch seine Eisenkralle.

»Ich verstehe ...«, sagte Tiberius nur und wollte seinen Enkelsohn dann ablenken. »Na komm, wir finden bestimmt ein Plätzchen für dich.«
 

Es war ein wunderschönes Zimmer, in welches Kratos ziehen durfte. Die Wände waren komplett mit Holz verkleidet worden, eine große, breite Fensterbank lud zum Hinausschauen ein, da man durch das Fenster den traumhaften Garten sehen konnte. Nur das Bett sah in Kratos' Augen etwas seltsam aus.

»Das ... ist ja nur ein großer Holzkasten ...«, meinte er etwas skeptisch. Tiberius schmunzelte.

»Das stimmt. Aber wie auch bei den lebenden Wesen zählt das Innere, nicht das Äußere.«

Kratos' Großvater bedeutete ihm, sich das Bett genauer anzusehen. Ein weißes Laken befand sich darin. Darunter etwas ... Unförmiges.

»Leg' dich hinein«, forderte Tiberius. Kratos tat, was er wollte; und versank in etwas so Weichem, das sich mit den Sinnen eines Kindes wie eine Wolke anfühlte.

»Was ist das?«, fragte Kratos strahlend, als er sich hineinkuschelte.

»Das ist Terraniswolle«, schmunzelte sein Großvater.

»Aber Terranis' haben doch Fell«, behauptete dessen Enkel.

»Das stimmt. Aber im Winter bekommen wir wärmende Unterwolle. Diese werfen wir im Frühling wieder ab. Ein paar Freunde von mir kommen jeden Frühling zu mir, um ihre Unterwolle los zu werden.«

»Es kommen Protozoen her?«, fragte Kratos neugierig. Tiberius nickte.

»Oft sogar. Sie mögen meinen Garten.«

»Werde ich einen von ihnen sehen?«

»Vielleicht«, meinte Tiberius. »Allerdings ziehen Aeros' um diese Zeit nach Sylvarant, da es dort wärmer ist. Terranis' suchen sich bessere Jagdgründe ... aber vielleicht besuchen mich noch ein paar, bevor sie losziehen.«

»Ich habe noch nie ein Terranis gesehen!«, erzählte Kratos, in dem weichen Bett sitzend. »Stimmt es, dass sie Zähne haben, die länger als ihr Kopf sind?«

Tiberius brach in schallendes Gelächter aus.

»Was erzählen dir denn deine Lehrer?«

»Sie meinten, es sei wenig über sie bekannt«, meinte Kratos. »Sie werden immer seltener.«

Tiberius runzelte seine Stirn.

»Sagt man das ...?«

Kratos nickte.

»So behaupten es meine Lehrer.«

Tiberius gab einen nachdenklichen aut von sich. Plötzlich zerriss ein lautes Fauchen die eingekehrte Stille. Kratos blickte erschrocken auf.

»Was war das?!«, wollte er wissen.

»Silabél scheint ein fremdes Weibchen gewittert zu haben«, vermutete sein Großvater.

»Silabél?«

Tiberius nickte.

»Sie ist ein Drachenweibchen, das bei mir lebt. Zusammen mit einigen Anderen.«

Kratos' Augen leuchteten auf.

»Drachen? Hier leben richtige Drachen? Darf ich sie sehen, Großvater?«

»Sag bloß, du hast auch noch nie Drachen gesehen?«, wollte nun der Ältere wissen.

»Doch, die der Stadtgarde«, antwortete sein Enkel. »Aber noch nie aus nächster Nähe. Dabei mag ich sie so gern.«

»Na dann komm mit«, antwortete Tiberius dem Sohn seiner verstorbenen Tochter.

Kratos sprang aus dem Bett heraus und folgte seinem Großvater durch das schöne Anwesen. Nach kurzer Zeit erreichten sie eine großen Stall. Tiberius bedeutete seinem Enkel, in der Tür stehen zu bleiben.

»Drachen sind sehr kluge Tiere«, meinte er. »Und sie sind stolz. Man muss ihnen mit Vorsicht begegnen und darf sie keinesfalls beleidigen.«

Der Protozoon in vollendeter Form trat in den etwas zwielichtigen Stall hinein. In einer schattigen Ecke konnte Kratos Umrisse eines großen Tieres erkennen. Als es aufstand, wich er automatisch einen Schritt zurück, den Blick jedoch auf den Schatten gerichtet.

Das Drachenweibchen trat nun ins Licht, welches durch ein Fenster fiel. Feuerrote Schuppen schmückten den muskulösen Körper des imposanten Tieres. Silabél gehört einer Unterart der Drachen an, den Steppenläufern. Sie besaß keine Flügel, dafür zwei extrem kräftige Beine und kurze Arme, die sie eng am Körper trugen. Dazwischen, so wusste Kratos aus seinen Büchern, war eine dünne Haut gespannt, mit denen den Steppenläufern besonders weite Sprünge gelangen, da sie damit kurze Strecken gleiten konnten.

»Das ist Silabél«, stellte Tiberius das Tier vor und behielt es im Blick. »Sie ist trächtig, aber erst am Anfang ihrer Tragezeit. Und ziemlich launisch.«

Das letzte hatte Tiberius mit einer leichten Ironie ausgesprochen. Silabél schnaubte beleidigt. Plötzlich begann Kratos' Großvater, Zisch- und Fauchlaute auszustoßen. Sie klangen denen von Silabél sehr ähnlich.

»Was machst du da?«, fragte Kratos.

»Ich spreche mit ihr«, antwortete er.

»Du kannst mit ihr sprechen?«, widerholte sein Enkel verwundert. Tiberius nickte.

»Natürlich. Ich kann mit allen Tieren sprechen.«

Das rothaarige Kind war beeindruckt und lauschte seinem Großvater neugierig. Doch so sehr er sich auch bemühte, er erahnte nicht einmal, was er sagte.

»Komm her«, sagte er dann. »Aber langsam.«

Vorsichtig trat Kratos näher an das Weibchen heran. Silabél musterte ihn aus ihren schwarzen Augen aufmerksam.

»Verbeug' dich, aber senke den Blick nicht«, sagte Tiberius leise. Silabél schnaubte ihn an.

»Was sagt sie?«, fragte Kratos, während er sich vor dem Tier verneigte.

»Ich soll nicht vorsagen«, schmunzelte sein Großvater und antwortete Silabél dann.

»Und was hast du ihr jetzt gesagt?«

»Dass ich nicht will, dass sie dir den Kopf abbeißt, wenn du etwas falsch machst.«

Kratos schluckte, bekam aber keine Angst. Er erhob sich wieder aus seiner Verbeugung und blickte Silabél mutig ins Gesicht. Eine wahrhaft kriegerische Haltung für einen Zehnjährigen.

Silabél betrachtete ihn eine ganze Weile lang. Dann stellte sie ihre Kopfschuppen auf und befreite ein summendes Geräusch aus ihrer Kehle.

»Sie mag dich«, stellte Tiberius erfreut fest. Kratos lächelte.

»Sie ist wunderschön.«

»Ja, das ist sie. Und auch genauso eitel.«

Erneut schnaubte Silabél Tiberius an.

»Was denn?«, meinte er grinsend. »Ist doch wahr.«

»Sie versteht auch unsere Sprache?«, fragte Kratos.

»Natürlich. Wie gesagt: Drachen sind sehr kluge Tiere. Das besondere an ihnen ist nämlich, dass sie ihr Wissen im Erbgut tragen. Ihre Jungen haben das Wissen all ihrer Vorfahren in sich. So werden sie von Generation zu Generation klüger.«

Kratos' Augen strahlten.

»Ich wünschte, ich könnte mit ihr sprechen ...«, meinte er dann.

»Ich kann es dir beibringen«, sagte Tiberius. Kratos' Kopf schnellte herum und er sah seinen Großvater mit großen AUgen an.

»Wirklich?«

Der Ältere nickte.

»Aber sie sprechen nicht so, wie du vielleicht denkst. Es sind keine direkten Worte oder Sätze. Man kann es nicht genau beschreiben. Du wirst es merken, sobald du gelernt hast, ihre Sprache zu verstehen.«

»Zeig' es mir!«, bettelte er. »Ich möchte sie so gern verstehen!«

»Morgen«, sagte Tiberius gütig. »Du hast selbst gesagt, dass du müde von der Reise bist.«

Kratos sah schon beinahe ein wenig traurig aus. Aber er gab sich damit zufrieden. Tiberius war der Ältere, sein Wort war Gesetz. So zumindest sah Kratos das.

Er blickte Silabél noch eine Weile an, als ihm plötzlich etwas auffiel.

»Großvater?«

»Ja, kleiner Rotschopf?«

»Warum kann ich mich in Silabéls Augen spiegeln, du aber nicht?«

Schweigen trat ein. Silabél betrachtete Tiberius' Enkel noch immer, legte ihren Kopf ab und zu schief. Als Kratos das Schweigen bewusst wurde, löste er sich von Silabéls Anblick und sah seinen Großvater an. Seine Gesichtszüge verrieten Trauer, seine bernsteinfarbenen Augen, die Nebela von ihm geerbt hatte, zeigten Schmerz. Obwohl Kratos erst zehn war, begriff er, dass er seinen Großvater mit dieser Frage tief getroffen hatte.

»Es tut mir leid ...«, sagte er deswegen, doch Tiberius schüttelte den Kopf. Ohne auf den Grund seines Stimmungsumschwungs einzugehen, begann er zu erklären.

»Nur unschuldige Wesen können sich in den Augen eines Drachens spiegeln. Damit ist jedoch nicht die körperliche Unschuld gemeint, falls du weißt wovon ich spreche. Damit ist die Last einer Sünde gemeint. Der Staub der Schuld, der sich auf die Seele legt, wenn jemand einen Fehler beging, der ... beispielweise einem anderen Wesen das Leben kostete.«

Kratos begriff sehr wohl, wovon sein Großvater sprach, auch, wenn er nicht wusste, was sein Fehler gewesen war. Er hätte es gern gewusst, doch er verbot es sich selbst, ihn danach zu fragen. Tiberius schloss einen Augenblick die Augen, bevor er wieder lächelnd zu Kratos blickte.

»Es ist spät geworden, wir sollten beide schlafen gehen«, sagte er. »Und morgen, kleiner Rotschopf, habe ich eine Überraschung für dich.«

»Was ist es?«, fragte das neugierige Kind sofort.

»Wenn ich es dir verraten würde, wäre es keine Überraschung mehr«, meinte Tiberius mit einem Augenzwinkern.

Unter Sternen

Sobald die Sonne das Haus mit ihren Licht erhellte, wurde Kratos von seinem Großvater geweckt. Nach einem ausgiebigen Frühstück - und nach einiger Überredungskunst seitens Tiberius auch einem Kakao für Kratos - kehrten die Beiden in die Ställe zurück.

»Was ist es denn nun für eine Überraschung?«, fragte Kratos aufgeregt.

»Du siehst es gleich. Aber statt mich mit Fragen zu löchern, überlege doch einmal selbst. Wir sind hier in den Ställen. Was für eine Überraschung könnte es wohl sein?«

Mit diesen Worten ging Tiberius in den Stall hinein und verschwand gleich neben der Tür. Als er mit einer Decke wiederkam, begriff Kratos, worauf sein Großvater hinauswollte.

»Wir reiten aus!«

Tiberius lächelte.

»Kluges Kind«, lobte er, was für Kratos seltene Worte waren. »Ich gehe davon aus, dass du noch nie geritten bist?«

Kratos schüttelte den Kopf.

»Nein. Vater sagte, ich würde es früh genug lernen. Ich solle zur Armee gehen, wenn ich alt genug bin.«

»So, sollst du das?«, fragte Tiberius. »Wozu?«

»Damit ich der Familie Ehre bringe«, rezitierte Kratos die Worte seines Vaters.

Tiberius schielte, sagte aber nichts mehr, sondern schnalzte mit der Zunge. Ein Steppenläufer mit schönen, sandfarbenen Schuppen trat von der anderen Seite des Stalles hinein und näherte sich Tiberius. Nach einigen erneuten Zisch- und Fauchlauten, stellte sich der Drache seitlich hin, sodass Tiberius ihm die Decke überlegen konnte.

»Drachenschuppen sind sehr rau«, erklärte er, als er Kratos' neugierigen Blick sah. »Sie würden uns die Haut abscheuern, wenn wir sie ohne Schutz reiten würden.«

»Aber warum benutzt du dann keinen Sattel?«, fragte sein Enkel. »Die Stadtgarde benutzt Sättel.«

»Auf einem Sattel spürt man das Tier nicht, auf dem man reitet«, meinte Tiberius. »Das ist aber unabdinglich, um ein guter Reiter zu werden. Aus einem Sattel fällt man leicht. Wenn ein Drache aber nicht will, dass sein Reiter herunterfällt, dann fällt er auch nicht.«

Tiberius tätschelte den Drachen über seinen Hals.

»Das ist Sisko«, sagte er. »Er lebt schon seit seiner Geburt bei mir. Seine Mutter kam her um zu gebären, aber sie starb bei der Geburt. Er ist ein ganz lieber Kerl.«

Kratos war ganz aufgeregt. Er würde auf einem richtigen Drachen reiten. Tiberius wollte ihm gerade hochhelfen, als plötzlich Silabél auftauchte und ihn anfauchte.

»Du willst, dass Kratos auf dir reitet?«, fragte er verwundert. »Die Schwangerschaft bekommt dir nicht, Silabél.«

Ein erneutes Fauchen folgte. Kratos aber sah erst Silabél und dann seinen Großvater an. Silabél senkte ihren Kopf und fuhr mit ihrem Fang durch Kratos' rote Haarmähne.

»Darf ich bitte auf ihr reiten, Großvater?«, bat Kratos. »Ich mag sie.«

Tiberius seufzte und blickte Silabél an.

»Wenn du ihn fallen lässt, kriegst du ein Problem mit mir«, warnte er. Silabél schnaubte spöttisch.

Tiberius holte eine weitere Decke aus der kleinen Ecke des Stalls und legte sie Silabél über. Dann hob er Kratos auf den Rücken des Drachenweibchens.

»Wichtig ist, dass du dich gut festhältst«, begann er zu erklären. »Spüre Silabél unter dir. Passe dich ihren Bewegungen an. Dann wirst du auch nicht herunterfallen.«

Kratos nickte.

»Bekommt sie denn keine Zügel angelegt?«, wollte er wissen.

»Würdest du einem anderen Menschen Zügel anlegen?«, fragte Tiberius zurück, als er sich auf Siskos Rücken setzte.

Kratos runzelte die Stirn.

»Natürlich nicht. Aber das ist doch was Anderes.«

Tiberius schüttelte den Kopf, während er Sisko nach draußen führte. Silabél folgte ihm, ohne, dass Kratos etwas tat.

»Merke dir eines, kleiner Rotschopf«, sagte er und sah seinen Enkel ernst an. »Wir sind gleich. Restlos jedes Wesen. Menschen, Elfen, Halbelfen, Protozoen, Drachen ... wir sind Aselianer. Niemand ist besser oder schlechter. Silabél lässt dich nur auf sich reiten, weil sie dich mag. Es wäre ein Vertrauensbruch, ihr Zügel anzulegen. Sie ist nicht dein Eigentum, sondern deine Freundin. Und Freunde fesselt man nicht. Man vertraut ihnen.«

Kratos sah seinen Großvater bewundernd an.

»So ... habe ich das nie gesehen.«

»Kein Wunder, wenn du bei deinem Vater lebst«, schnaubte Tiberius, bevor sein Blick wieder sanfter wurde. »Ich werde dir zeigen, was ich meine. Reite mir einfach nach.«

Damit schnalzte Tiberius erneut mit seiner Zunge. Sisko setzte sich augenblicklich in Bewegung. Kratos ahmte den Laut nach - oder versuchte es. Silabél drehte ihren Kopf so, dass sie ihn ansehen konnte. Ihr Blick sprach eigentlich für sich.

»Soll ich dir helfen?«, fragten ihre schwarzen Augen. Kratos wusste nicht, woher er das wusste. Es war, als würde er die Stimme des Drachenweibchens spüren. Aus einer Intuition heraus nickte er einfach. Silabél blickte wieder nach vorne und lief los. Im ersten Augenblick fürchtete Kratos herunterzufallen und verkrampfte sich leicht. Silabél aber gab ein leises Schnauben von sich und lief etwas langsamer. Es war, als wüsste sie, dass er sich erst daran gewöhnen müsste. Nach wenigen Momenten beschloss Kratos, auf seinen Großvater zu hören und Silabél zu vertrauen. Im gleichen Augenblick merkte er, wie er sicherer saß und er spürte Silabéls Herzschlag unter sich. Es fühlte sich unbeschreiblich an. Es schlug im gleichen Takt wie sein eigenes Herz. Kratos richtete sich nun auf und blickte strahlend zu seinem Großvater, der angehalten hatte, um auf ihn zu warten. Silabél lief einfach an ihnen vorbei. Tiberius lachte leicht und schloss zu ihnen auf.

»Na, wie fühlt sich das an?«, wollte er wissen.

»Großartig«, strahlte Kratos. Sein Großvater lächelte.

»Vertraue ihr, dann wirst du nicht fallen«, sagte er noch einmal. »Und jetzt folgt mir einfach.«

Damit ritt Kratos' Großvater vorraus. Silabél folgte ihm, ohne, dass Kratos irgendetwas tat. Er brauchte Tiberius nur nachzusehen. Schon wenige Augenblicke später hatte der Schatten des Waldes die beiden verschluckt.

Der kleine Kratos ahnte ja nicht, welche Wunder dieser Wald verbarg ...
 

Obwohl es Herbst war, sah der Wald aus, als wäre es Frühling. Alles blühte und gedieh, die Farbe Grün dominierte die gesamte Landschaft in all ihren Nuancen. Die Luft war erfüllt vom Geruch der feuchten Erde, auf der Sisko und Silabél liefen und dem Duft der Kräuter und Blumen, die in diesem Wald wuchsen. Kratos glaubte kaum, wie wunderschön dieser Ort war. Warmes Sonnenlicht fiel durch die Baumkronen auf sein strahlendes Gesicht. Kühler Wind strich durch seine rote Haarmähne, die er das erste Mal seit langer Zeit offen trug. Alles um ihn herum lebte. Vögel sangen, Eichhörnchen spielten in den Bäumen, Schmetterlinge tänzelten im Wind über die Blumenwiesen, die in einer Farbenpracht blühten, die sogar einen Regenbogen in den Schatten stellte.

»Das ist die Macht des Einhorns«, erklärte Tiberius. »Eines von diesen wunderbaren Wesen bewohnt diesen Wald. Und solange es hier lebt, wird dieser Wald blühen. Ganz egal, welche Elementargeister um diesen Ort herumtoben, er bleibt vor Kälte und Hitze verschont.«

»Ein einziges Wesen kann diesen riesigen Wald am Blühen halten?«, vergewisserte Kratos sich. Sein Großvater nickte.

»So ist es. Frag' jedoch nicht, warum das so ist oder wie es funktioniert. Es gibt einfach Dinge, die man nicht erklären kann, auch, wenn man es noch so sehr versucht. Das ist das Mysterium des Lebens.«

Kratos nickte und sah sich weiterhin um, bis ihm etwas auffiel, wonach er Tiberius auch sogleich fragte.

»Großvater, was ist das für ein eigenartiges Gefühl? Der Wind kribbelt so angenehm, die Sonne scheint meine Haut zu durchdringen und mich mit Wärme zu erfüllen! Ich könnte schreien, weil es mir so gut geht!«

Tiberius lachte.

»Tu' es doch, hier stört es niemanden«, meinte er. »Das, was du fühlst, ist das Mana dieses Waldes. Die Erde, der Wind, das Wasser und die Strahlen der Sonne sind davon geradezu durchtränkt. Die Lieder der Waldgeister sind von Freude und Fröhlichkeit erfüllt.«

»Die Lieder der Waldgeister? Was sind Waldgeister?«

»Waldgeister sind Wesen, die diesem Wald das Leben verleihen. Durch sie wachsen die Bäume, das Gras und die Blumen. Ihre Gesänge sind es, die Regen und Sonne bringen, also Undine, Sylph und Ifrit herbeirufen. Sehen kann man sie jedoch nicht als Mensch. Ich selbst konnte sie sehen, als ich noch keiner war.«

»Wie sehen sie aus?«, wollte Kratos wissen.

»Unbeschreiblich«, schmunzelte sein Großvater. »Sehen ist der falsche Begriff dafür ... man hört ihre Gesänge, man spürt ihre Anwesenheit, man sieht vielleicht, wie sie spielen, wenn sich zum Beispiel heruntergefallene Blätter im Kreis drehen und einen kleinen Tornado bilden. Vor Menschen jedoch fürchten sie sich, weshalb sie sich nie zeigen.«

Sie waren inzwischen an einer weiteren Wiese angekommen. Hier jedoch wuchsen weniger Blumen, sie war fast nur grün. Da es noch früh am Morgen war, funkelte sie im Licht der Sonne, als würden Tausende von Diamanten darauf liegen.

»Was ist das?«, fragte Kratos.

»Das sind die Tautropfen, in denen sich das Licht der Morgensonne bricht«, antwortete sein Großvater. »Einer alten Legende nach sind Tautropfen die Freudentränen der Götter.«

Kratos staunte über die einfache und doch unbeschreibliche Schönheit der Wiese. Tiberius stellte sich nun direkt neben ihn.

»Traust du dir zu, ein wenig schneller zu reiten?«, wollte er wissen.

»Silabél wird mich nicht fallen lassen«, meinte er, als sei es bereits das Selbstverständlichste der Welt. »Also ja.«

»Du lernst schnell«, stellte Tiberius zufrieden fest. »Dann lass' Silabél einfach mal los!«

Mit diesen Worten stieß er einen Fauchlaut aus und Sisko preschte über die Wiese. Kratos strahlte auf.

»Los, Silabél! Zeig', was du kannst!«

Das Drachenweibchen fauchte übermütig und rannte los. Kratos hatte nicht einmal eine Spur von Angst. Der Herzschlag von Silabél versicherte ihm, dass er sicher auf ihr saß, ihre Bewegungen waren so geschmeidig, dass er gar nicht anders konnte, als sich ihnen anzupassen. Er presste sich an Silabél heran, sodass er kaum Windwiderstand darbot. Er hatte das Gefühl zu fliegen, so schnell lief das Drachenweibchen. Der Tau spritzte in alle Richtungen und brach sich im Sonnenlicht, sodass es schien, als würden Regenbögen die Morgenluft durchweben. Kratos konnte nicht anders, als vergnügt zu lachen.

Als sie wieder langsamer wurden, war Kratos ganz außer Atem. Tiberius lächelte sanft. Endlich ließ sein Enkel seinen Gefühlen freien Lauf, so, wie jedes Kind es tun sollte. Die rehbraunen Augen von Nebelas Sohn leuchteten und sein Strahlen wollte gar nicht mehr von seinem Gesicht verschwinden.

Endlich war Kratos wieder ganz Kind.
 

»Ist das ein Adler?«, wollte Kratos wissen und zeigte auf einen großen Vogel, der auf dem Ast eines Baumes saß.

»Ein wunderschöner sogar«, bejahte Tiberius. »Du siehst wohl nicht viele Tiere in Meltokio, oder?«

»Nein«, meinte der Kleinere traurig. »Ich darf die Stadt nicht verlassen. Selbst aus dem Haus darf ich nur selten.«

»Ist das so?«, fragte Tiberius rhetorischer Weise. »Nun, dann will ich mal dafür sorgen, dass du ein paar schöne Erinnerungen mit nach Hause nimmst.«

Tiberius stellte sich und Sisko direkt vor Kratos und Silabél und blickte zu dem Adler, der hoch oben im Baum saß. Dann streckte er seinen rechten Arm über sich aus und stieß einen Schrei aus, der dem eines Adlers zum Verwechseln ähnlich klang.

Der Adler hob doch tatsächlich ab und umkreiste die kleine Lichtung, auf der Tiberius stand, einige Male, bevor er tiefer flog und sich mit einigen Lauten auf dem Arm von Kratos' Großvater niederließ. Kratos stand der Mund offen. Tiberius lächelte ihn nur an.

»Wie machst du das?«, fragte er leise.

»Die Tiere in diesem Wald haben keinerlei schlechte Erfahrungen mit Menschen. Es ist verboten, hier zu jagen«, erklärte er. »Komm nur her.«

Vorsichtig ritt Kratos ein Stück näher an seinen Großvater heran. Er bestaunte den Adler, welcher etwas unruhig auf Tiberius' Arm saß.

»Streck' deinen Arm aus und halt ganz still. Als seihst du selbst ein Baum«, flüsterte Tiberius. Kratos glaubte im Traum nicht daran, dass der Adler sich auf seinen Arm setzte, doch er befolgte die Worte seines Großvaters. Er hielt den Arm ganz still, auch, als er durch die Anstrengung zu schmerzen begann.

Und tatsächlich: Der Adler robbte sich den Arm von Tiberius entlang und setzt sich auf den von Kratos. Das Tier war viel schwerer, als der Junge angenommen hatte und außerdem hatte er ziemlich scharfe Krallen, doch er bemühte sich nach Kräften, den Arm still zu halten.

»Und wenn du nicht mehr kannst, lass ihn fliegen.«

Kratos hielt es noch wenige Sekunden aus, doch dann bewegte er den Arm kräftig nach oben und der Adler flog davon, erneut in die Bäume hinauf. Wieder strahlten seine Augen wie nur die eines unschuldigen Kindes es konnten.

»Hat er dort oben sein Nest?«, fragte Kratos. Tiberius nickte.

»Scheint ganz so.«

»Wie alt ist dieser Baum? Er ist so riesig!«

»Nicht so alt wie ich«, scherzte der Protozoon. »Aber sehr alt. Jahrhunderte würde ich sagen.«

»Wie groß können Bäume werden?«, wollte er wissen.

»Das weiß niemand, nicht einmal ich«, antwortete sein Großvater. »Aber der größte und schönste Baum, den ich jemals gesehen habe, ist der göttliche Baum von Kharlan.«

»Der Baum allen Manas?«, fragte sein Enkel.

»Ja, genau der. Er ist so alt wie Aselia selbst, die Elfen pflanzten ihn, als sie auf diese Welt kamen.«

Kratos sah den Blauhaarigen fragend an.

»Wie kamen sie auf diese Welt?«

»Haben dir deine Lehrer das denn nicht erzählt?«

Sein Enkel verneinte.

»Sie meinten, das sei nicht die Art von Wissen, die ich bräuchte.«

Tiberius schnaubte verächtlich.

»Und so etwas schimpft sich Lehrer!«, schimpfte er, als er wieder weiterritt. Kratos ritt neben ihm her, den Blick gespannt auf seinen Großvater gerichtet. Silabél würde den Weg schon finden.

»Bevor die Elfen auf diese Welt kamen, lebten nur wir Tiere auf Aselia. Und bereits einige Menschen. Denn sie sind aus den Protozoen entstanden.«

Kratos fiel die Kinnlade herunter.

»Was? Aber Vater sagt, Protozoen seien genauso verabscheuungswürdig wie Halbelfen! Wie kann er das sagen, wenn er doch selbst einer ist?«

»Erebos ist dumm«, sagte Tiberius frei heraus. »Aber bevor ich weiter erzähle: Halbelfen sind verabscheuungswürdig. Warum? Hat er dir das je gesagt?«

»Sie haben unreines Blut«, rezitierte Kratos. »Ich habe das nie verstanden. Sie sehen doch sogar aus wie wir, bis auf die Ohren und vielleicht die Haarfarbe. Sie sind doch gar nicht anders.«

»Du hingegen bist klüger als er«, lobte Tiberius. »Wir sind gleich, das hast du richtig erkannt. Menschen, Elfen, Halbelfen, Protozoen, ja auch Zwerge und Halbzwerge. Es gibt sogar Elfenzwerge.«

»Aber stammen die Elfen nicht von einer anderen Welt?«

»Na und?«, fragte Tiberius zurück. »Sie haben doch alles, was jedes andere Wesen dieser Welt auch hat. Wir haben zwei Augen, mit denen wir sehen, zwei Ohren, mit denen wir hören, eine Nase, mit der wir riechen, eine Stimme, mit der wir sprechen und singen, eine Haut, mit der wir fühlen, eine Lunge, mit der wir diesselbe Luft atmen, ein Herz, mit dem wir lieben oder hassen.«

»Aber wieso hasst Vater dich, wenn er doch selbst Protozoenblut in sich trägt?«

»Weil er nicht daran glaubt, dass die Menschen aus den Protozoen entstanden sind«, meinte Tiberius. »Viele glauben nicht daran. Sie halten die Menschen für eine ganz eigene Rasse. Aber wir sind uns sehr ähnlich. Überlege mal, kleiner Rotschopf: Sind wir nicht beide Fleischfresser? Sind wir nicht Jäger, töten wir nicht, um satt zu werden? Es gibt noch mehr Parrallelen, aber um sie dir zu nennen, bist du noch zu jung ...«

»Fang' du nicht auch noch damit an!«, bat Kratos. »Was meinst du?«

Tiberius seufzte.

»Wir suchen uns sogar unsere Partner nach den gleichen Kriterien aus. Und wir bleiben für gewöhnlich ein Leben lang mit ihnen zusammen.«

Kratos nickte sogar.

»Körperbau und Geruch!«, behauptete er stolz.

Tiberius hob seine Augenbrauen.

»Es gibt Bücher, die du lieber noch nicht lesen solltest«, lachte er. »Aber ja, das stimmt. Natürlich spielen auch die Gefühle eine Rolle, aber darauf wollte ich jetzt gar nicht hinaus. Dein Vater glaubt, dass er reinblütig sei. Ich bin in seinen Augen nur ein Wesen, dass sich erdreistet, so auszusehen wie seine Rasse. Er hält sich für etwas Besseres.«

»Aber das ist er nicht«, sagte Kratos ganz von sich aus. »Weil wir gleich sind.«

»Du bist ein kluger Junge«, nickte Tiberius und lächelte dabei. »Wir mögen verschiedenen Rassen angehören, aber eines sind wir alle: Wir sind Aselianer. Versprich' mir, dass du das niemals vergisst, Kratos. Egal, was Erebos sagt: Du weißt es besser.«

Erneut nickte Kratos.

»Ich habe nie verstanden, warum er die Halbelfen so schlecht behandelt. Ich mag sie eigentlich«, erzählte er. »Aber jetzt hast du mir immer noch nicht erzählt, wie die Elfen nach Aselia gekommen sind!«

Tiberius musste lachen.

»Stimmt, wir sind völlig vom Thema abgewichen«, gab er zu. »Also: Bevor die Elfen herkamen, lebten nur Tiere hier und einige Menschen hier, die auch schon Dörfer errichtet hatten. Eines Tages dann erschien Derris-Kharlan am Himmel.«

»Derris-Kharlan ... den Namen habe ich schon einmal irgendwo gelesen.«

»Das ist ein Komet, der Aselia inzwischen umkreist. Auf ihm lebten die Elfen. Aus welchem Grund sie ihre Welt verließen ist mir unbekannt, aber sie stiegen nach Aselia herab und pflanzten den Göttlichen Baum, der die Quelle allen Manas ist.«

»Aber Protozoen können Magie einsetzen! Wie konnten sie das, wenn es vorher kein Mana gab? Und ist Mana nicht die Quelle allen Lebens? Wie kann überhaupt Leben existiert haben?«

»...«, machte Tiberius und musste erneut anfangen, zu lachen. »Weißt du was, Rotschopf? Das weiß ich nicht.«

Kratos sah seinen Großvater an.

»Du weißt es nicht?«

»Ich weiß es nicht«, bestätigte der Protozoon schmunzelnd. »Deine Fragen haben es ganz schön in sich.«

Das Kind errötete.

»Entschuldige ...«

Erneut schmunzelte sein Großvater.

»Kein Grund, sich zu entschuldigen.«

Ein langes, klares Heulen unterbrach ihr Gespräch. Tiberius hielt an und blickte in die Richtung des Heulens. Kratos wollte erneut etwas fragen, doch dieses Mal verbot Tiberius ihm mit einer Handbewegung den Mund.

»Hör zu«, forderte er.

Kratos gehorchte und lauschte dem Heulen, das nur von einem Wolf stammen konnte. Klar durchzog es den Wald, den Großvater und Enkel schon den ganzen Tag durchstreiften. Schon bald stimmte ein weiterer Wolf mit ein, dann noch einer. Irgendwann waren sie nicht mehr zählbar. Selbst Kratos' Großvater, der einst als Fenrirla, einer wolfsähnlichen Form der Protozoen, umherzog, stimmte mit ein und Kratos betrachtete ihn mit plötzlicher Ehrfurcht. Den Kopf hocherhoben, war sein Heulen nicht von dem der Wölfe zu unterscheiden. Die langen, hellen, kehligen und rauen Klänge verschmolzen schon bald zu einer einer Melodie, die das Mondlicht anlockte. Eine Symphonie aus Tönen und Farben gleichermaßen verabschiedete den Tag und begrüßte die anbrechende Nacht. Erst, als der Mond begann, sich über die Baumwipfel zu heben, verklang der nächtliche Chor und auch Kratos' Großvater. Als er seinen Enkel anblickte, lag etwas Animalisches in seinen Augen. Etwas Wildes, Unzähmbares. Es waren die Augen eines Tieres. Das erste Mal begriff Kratos, dass die Bernsteinfarbe der Augen seines Großvaters und seiner Mutter ein Überbleibsel des Protozoenblutes waren. Tiberius schwieg eine ganze Weile, bevor sich die Wildheit in seinen Augen wieder legte.

»Verzeih mir, Kratos. Du musst Angst gehabt haben.«

Kratos aber schüttelte den Kopf.

»Nein, im Gegenteil«, meinte er. »Ich fand es wunderschön. Ich hätte am Liebsten mitgesungen.«

»Du nennst es Gesang?«, fragte Tiberius.

»Es hat sich für mich so angehört«, antwortete Kratos. Sein Großvater lächelte.

»Du kommst sehr nach deiner Mutter ...«, sagte er voll Sänfte. Nun war es an Kratos, traurig auszusehen.

»Großvater ... bitte, erwähne Ma ... Mutter nicht ...«, bat er.

Tiberius sah seinen Enkel verdutzt an.

»Warum denn das nicht?«

Kratos sah auf Silabéls Hals um dem Blick seines Großvater auszuweichen.

»Ich darf es nicht sagen ...«, flüsterte er leise.

Tiberius runzelte die Stirn. Dann weiteten sich seine Augen und er schnitt ihm mit Sisko den Weg ab.

»Er hat dir verboten, über sie zu sprechen?«, fragte er zutiefst geschockt. »Er hat dir befohlen, deine eigene Mutter zu vergessen?«

Kratos sah seinen Großvater erschrocken an.

»W-woher weißt du das ...?!«, fragte er nun ängstlich. »Ich habe kein Wort gesagt!«

Tiberius wurde klar, dass er sich verraten hatte. Sein Blick wurde wieder ein wenig ruhiger.

»Nein, das hast du nicht. Ich habe deine Gedanken gelesen«, gestand er. »Das ist ebenfalls ein Überbleibsel aus meiner Zeit als Tier.«

»Du ... du kannst ... meine Gedanken ... lesen ...?«

Kratos war verwirrt. Er fasst sich aus Reflex mit einer Hand an den Kopf. Tiberius aber nickte.

»Entschuldige, deine Gedanken gehören dir«, meinte er. »Ich werde es nicht wieder tun. Aber als du so bedrückt ausgesehen hast, konnte ich nicht anders. Ich konnte ja nicht ahnen, dass ...«

Er führte den Satz nicht weiter. Stattdessen sah er sich kurz um. Er erblickte eine Anhöhe, die, wie er wusste, aus dem Wald führte. Er gab den Weg wieder frei und bat Kratos, ihm zu folgen. Sein Enkel tat das Gewünschte.

Sie fanden sich auf einer Klippe wieder, unter der sich der riesige Wald erstreckte durch den sie geritten waren. Es war ein wunderschöner Anblick. Der volle Mond als auch die Sterne am nächtlichen Firmament spiegelten sich in dem See wieder, den man ebenfalls im Wald finden konnte und in den ein kleiner Wasserfall hineinstürzte. Es war ein traumhafter Anblick, tauchte das milchige Licht des Mondes die tannengrünen Baumwipfel doch in ein mystisches Licht.

Tiberius stieg ab und half auch Kratos von Silabél herunter. Dann setzte er sich an den Rand der Klippe und bedeutete Kratos, sich neben ihn zu setzen. Daraufhin sah er ihn an.

»Wie lange hast du nicht mehr über deine Mutter gesprochen?«, fragte er.

Kratos mied den Blick seines Großvaters. Er sah in den Wald hinunter.

»Seit ... Mutter starb ...«

»Das heißt, er hat dir wirklich verboten, sie zu erwähnen und an sie zu denken? Du solltest sie vergessen

Kratos nickte nur und schloss die Augen. Tiberius spürte, dass er den Tränen nahe war. Er legte einen Arm um seinen Enkel, doch er rührte sich nicht, lehnte sich nicht an ihn. Sein Großvater versuchte, ihm ein wenig Geborgenheit zu schenken, doch Kratos schien das nicht wahrzunehmen.

»Warum weinst du nicht, wenn du es doch möchtest ...?«, fragte er sanft. Wieder schwieg Kratos. Tiberius wollte erneut in den Gedanken seines Enkels lesen, doch er hielt sein Wort immer. Was Kratos dachte, ging ihn nichts an.

»Vater ... hat ... es mir verboten ...«, sagte Kratos leise, wobei er krampfhaft ein Schluchzen unterdrückte. »Ich darf nicht weinen. Sonst schlägt er mich.«

Tiberius biss sich auf die Unterlippe. Was hatte dieses Scheusal von Vater diesem armen Kind bloß angetan?

»Er ist nicht hier ... hab' keine Angst«, sprach sein Großvater beruhigend und streichelte ihm leicht über den Rücken. »Von mir erfährt er nichts, mein Kleiner ... weine, wenn du weinen möchtest. Und rede soviel über deine Mutter, wie immer du es willst ...«

Kratos rang um Fassung, zitterte am ganzen Körper. Und dann konnte er nicht mehr.

Er warf sich auf den Schoß seines Großvaters und weinte. Weinte die unschuldigen Tränen eines Kindes, das um seine Mutter trauerte. All der Kummer, der sich die fünf Jahre lang in sein so junges Herz gefressen hatte, befreite sich jetzt aus seinem Gefängnis, das aus Angst bestanden hatte. Tiberius zog seinen Enkel leicht an sich und behielt eine Hand auf seinem Rücken, streichelte darüber. Es dauerte nicht einmal lange, bis Kratos' Tränen seine Kleidung durchdrangen und er sie auf seiner Haut spürte. Das rothaarige Kind weinte so lange, bis es keine Tränen mehr hatte. Und selbst dann schluchzte es noch immer, bekam kaum noch Luft vor lauter Kummer, bis es irgendwann nicht mehr konnte.

Tiberius' Enkelkind lag einfach nur da, rang noch etwas um Luft, hatte sich aber ein wenig beruhigt. Erneut streichelte Tiberius leicht über den Rücken des Kindes. Kratos blickte auf und sah seinen Großvater aus vor Trauer überlaufenden, verzweifelten Augen an.

»Es ist gut ...«, sagte er voll Sänfte. »Ich bin hier ...«

Kratos krabbelte nun ganz auf den Schoß seines Großvaters und kuschelte sich an ihn. Ihm war kalt. Aber nicht, weil es Nacht war. Ihm war innerlich kalt. Es war eine Kälte, die ihm seit dem Tod seiner Mutter begleitet hatte. Tiberius umarmte seinen Enkel liebevoll.

»Geht es dir ein wenig besser ...?«

Kratos nickte, da er zu schwach zum Sprechen war. Tiberius behielt ihn noch einen Augenblick an sich, bevor er seinen Kopf hob und in die Sterne sah.

»Das, was ich dir jetzt erzähle, habe ich deiner Mutter auch erzählt, als sie noch etwas kleiner war als du jetzt«, begann er dann. Kratos hörte zu und blickte nach einer Weile auch in den Sternenhimmel hinauf.

»Seitdem ich denken kann, gab es unter uns Protozoen eine Legende. Eine Legende, die älter ist, als der Göttliche Baum und alles Andere. Sie erzählt von den Sternen. Von Geburt und Tod. Vom Kreislauf und so vom Mysterium des Lebens.

Jedes Wesen dieser Welt besitzt eine Seele. Die Seele eines Wesens gibt ihm die Fähigkeit zu fühlen, sei es nun Liebe oder Hass, Freundschaft oder Feindschaft. Und in jeder Seele gibt es Gutes und Böses. Denn das Gute kann ohne das Böse nicht existieren, genauso, wie Licht ohne Schatten nicht existieren kann. Während das Gute in einer Seele leuchtet wie ein Stern, ist das Böse so dunkel wie der Nachthimmel. Dieses Gute sieht man in den Augen eines Wesens, am Leuchten seiner Augen. Sie sind der Spiegel zur Seele. Sind die Augen stumpf, hat das Böse in diesem Wesen triumphiert. Funkeln sie aber wie ein Stern, so ist das Wesen voller Güte und Liebe.

Wir leben, um zu lernen. Was ein Wesen lernt, sucht es sich vor seiner Geburt selbst aus und wählt das Leben, welches ihm die Chance bietet, eben dies zu lernen. Gelingt es dem Wesen, sein Ziel zu erreichen, darf es nach dort oben zurückkehren und zu einem Stern werden. Einem Stern, der ratlosen Wesen den Weg zu weisen vermag. Einem Stern, der die Dunkelheit erleuchtet und Hoffnung schenkt. Dort oben, kleiner Rotschopf, ruhen deine Vorfahren und gleichermaßen deine Nachfahren. Fällt eine Sternschnuppe vom Himmel herab, so wird ein Kind gezeugt. Die Seele kehrt nach Aselia zurück, um erneut geboren zu werden.

Wesen jedoch, die dem Bösen in sich nicht standhalten konnten, werden von der Dunkelheit des Nachthimmels verschluckt. Was mit ihnen geschieht, weiß niemand ...

Aber ein Geschöpf, dass Liebe, Güte und Hoffnung niemals von seinem Weg weichen lässt, wird dort oben heller erstrahlen als jemals zuvor ...«

Kratos hatte aufmerksam zugehört und sah nun voller Bewunderung in die Sterne. Jeder einzelne Stern die Seele eines Wesens, das einst lebte ...

»Ob Mama auch da oben ist ...?«

Tiberius lächelte.

»Ganz bestimmt, mein Kleiner. Du bist niemals allein, sie ist immer bei dir. Und wenn du dich einsam fühlst, hebe deinen Blick zu den Sternen. Denn dort oben, kleiner Rotschopf, sind wir wirklich alle gleich.«

Krieg

Ich vergaß die Worte meines Großvaters nie. Diese Legende begleitete mich mein ganzes Leben lang, ihnen entnahm ich meinen ganz eigenen Glauben. Den Glauben, eines fernen Tages einen Platz in den Reihen meiner Vorfahren zu erhalten.

Von jenem Tage an, hatten die Sterne mein Interesse geweckt. Ich verschlang jedes Buch in Großvaters Bibliothek, das mit Astronomie oder Astrologie zu tun hatte. Als ich eine alte Sternenkarte entdeckte, die mein Großvater selbst angefertigt hatte, schenkte er sie mir sogar. Und er förderte mein Interesse sehr, indem er mit mir Nachts hinausging und mir Sternenbilder zeigte und erklärte. Es waren wunderschöne Tage, die ich bei ihm verbringen durfte. Wir ritten fast jeden Tag aus und er brachte mir einige Dinge bei, die ich Zuhause nie gelernt hätte. Zum Beispiel, wie man Pfannkuchen zubereitete.

Doch nach knappen zwei Wochen stand morgens plötzlich die altvertraute Kutsche vor dem Anwesen ...
 

Betrübt packte Kratos seine Sachen. Tiberius half ihm dabei. Es herrschte Schweigen in dem schönen Zimmer. Das rothaarge Kind trat an die breite Fensterbank, auf der es Abends oft gesessen und in die Sterne gesehen hatte. Ein Lächeln zierte sein Gesicht, als er die Sternenkarte zusammenrollte und einpacken wollte, doch er hielt plötzlich inne.

»Großvater ...«

Tiberius drehte sich um.

»Was ist denn, kleiner Rotschopf?«, fragte er.

Kratos hielt ihm die zusammengerollte Sternenkarte hin.

»Nimm' sie bitte ...«

Sein Großvater runzelte die Stirn.

»Warum? Ich habe sie dir geschenkt. Sie gehört dir.«

»Aber Vater wird sie mir wegnehmen und verbrennen«, erklärte Kratos traurig. »Ich möchte nicht, dass sie verbrannt wird.«

Tiberius nahm die Karte schweigend entgegen - und packte sie gewissenhaft in Kratos' Rucksack.

»Großvater!«

»Sie gehört dir«, wiederholte er sich. »Ich werde dich nach Meltokio begleiten, mein Kleiner. Und mich mit deinem Vater unterhalten.«

Kratos stand der Schrecken ins Gesicht geschrieben.

»Bitte nicht, Großvater! Er wird mich wieder schlagen ...!«

»Wird er nicht«, versicherte Tiberius seinem Enkelsohn. »Ich weiß, was ich tue. Und es wird Zeit, dass ich die Last der Sünde nicht mehr alleine trage.«

Das Letzte hatte Tiberius nur leise gemurmelt, weshalb Kratos auch nicht nachfragte. Jedoch war ihm unwohl. Wenn sein Vater erfuhr, dass er seinem Großvater von den Schlägen und den Verboten erzählt hatte, würde er zweifellos wieder Prügel bekommen.

Letztendlich waren sie fertig und Kratos blickte auf Koffer und Rucksack. Plötzlich runzelte er die Stirn.

»Äh ... Großvater ...«, meinte er und zeigte auf seinen Rucksack. »Wie kann die Karte da hinein passen? Sie ist doch viel größer.«

Tiberius schmunzelte.

»Ich habe mir erlaubt, deinen Rucksack ein wenig zu verbessern«, erklärte sein Großvater. »Weißt du, was eine Flügeltasche ist?«

»Nein ...«

»Eine Flügeltasche ist eine Tasche, in die unendlich viel hineinpasst. Sie ist innen größer als außen und kann alles in sich aufnehmen.«

Kratos staunte nicht schlecht.

»Du flunkerst mich an!«

»Wozu denn?«, lachte Tiberius. »Ich denke, du wirst sie brauchen. Dann kannst du ein paar Sachen vor deine Vater verstecken, ohne, dass er es merkt.«

Kratos umarmte den Protozoon.

»Danke, Großvater ...«

Der Ältere tätschelte seinem Enkelkind durch das rote Haar.

»Bedank' dich, wenn du dein letztes Geschenk bekommen hast.«

»Letztes Geschenk? Aber du hast mir doch schon soviel geschenkt!«

»Na und? Ich habe dich ja auch jahrelang nicht gesehen. Nimm' deinen Rucksack und komm' mit.«

Das rothaarige Kind tat das Gewünschte. Während Tiberius den Koffer nach draußen trug, grübelte Kratos, was für ein Geschenk es denn sein könnte. Doch er traute seinen Augen nicht, als neben der Kutsche Silabél stand und ihn freundlich ansah.

»Silabél?«, fragte er voller Unglaube.

»Sie wurde unruhig, als sie merkte, dass du wegfährst. Als ich sie dann aus ihrem Stall gelassen habe, kam sie direkt hierher«, erzählte sein Großvater. »Also lasse ich sie gehen, wenn sie mit dir möchte.«

»Aber das wird Vater ...!«

»Vergiss' deinen Vater, ich regle das«, unterbrach Tiberius ihn. »Steig' du nur in die Kutsche. Ich reite auf Silabél nebenher.«

»Und wie kommst du dann zurück?«

»Lass' das nur meine Sorge sein.«

Der Halbelf, der Kratos hergebracht hatte, lud nun den Koffer als auch Kratos ein. Als er die Tür schloss, blickte Kratos sofort aus dem Fenster. Tiberius war gerade auf Silabél gestiegen und lächelte ihn beruhigend an. Dann setzte sich die Kutsche in Bewegung und fuhr somit in Richtung Meltokio. Kratos blickte aus dem Fenster zurück zum Anwesen seines Großvaters. Er setzte sich erst wieder hinein, als es gänzlich vom Horizont verschwunden war.
 

Zu Kratos' großer Verwunderung wartete sein Vater vor dem Eingang des Hauses auf ihn. Als er Tiberius erblickte, wurde sein Blick jedoch augenblicklich zornig. Tiberius stieg ab und erwiderte das Augenspiel von Erebos. Eine eisige Kälte breitete sich zwischen den Beiden aus. Kratos schluckte, stieg jedoch aus. Silabél sah seinen Vater misstrauisch an und schnaubte leise. Kratos spürte, dass sie ihn nicht mochte.

»Was willst du hier?«, fragte Erebos und ließ seine Eisenkralle im Sonnenlicht blitzen.

»Ich bringe meinen Enkel sicher nach Hause. In Zeiten wie diesen kann man nicht vorsichtig genug sein.«

»Da er nun angekommen ist, kannst du ja wieder verschwinden.«

»Erst, wenn ich den Drachen deines Sohnes in die Stallungen gebracht habe ...«, sagte Tiberius, als sei es selbstverständlich und wollte Silabél an Erebos vorbeiführen, doch Erebos hielt ihn zurück.

»Mein Sohn besitzt keinen Drachen und ich gedenke nicht, diesen Umstand zu ändern.«

»Ich jedoch bin der Meinung, dass Kratos mehr Freiheiten braucht. Dieses Drachenweibchen habe ich ihm geschenkt. Er kann damit tun und lassen, was er möchte.«

Erebos und Tiberius funkelten einander an.

»Ich sagte, dass mein Sohn keinen Drachen besitzt«, zischte Erebos.

»Dann solltest du dringend einen Arzt aufsuchen. Deine Augen scheinen schlechter zu werden, werter Schwiegersohn.«

Während Kratos' Großvater dies mit bitterer Ironie ausgesprochen hatte, wurde der Hausherr immer zorniger.

»Wenn du nicht augenblicklich von hier verschwindest, rufe ich die Stadtgarde«, drohte er.

»Weshalb? Ich habe deinen Besitz nicht betreten und gedenke nicht, dies ohne deine Erlaubnis zu tun. Also habe ich nichts Verbotenes getan.«

»Ich warne dich, Tiberius. Verschwinde, wenn dir deine Freiheit etwas bedeutet.«

Tiberius erwiderte den Blick seines Schwiegersohnes.

»Wage es nicht, mir zu drohen«, warnte er. »Du bist nicht in der Position, mich wie einen Sklaven zu behandeln.«

Tiberius ließ Silabél los und stellte sich direkt vor Erebos. Die Männer waren etwa gleichgroß, wobei Erebos jedoch weitaus imposanter wirkte. Der Protozoon jedoch ließ sich nicht einschüchtern.

»Dieses Drachenweibchen ist das Eigentum von meinem Enkel«, sagte er, da Erebos es nicht anders verstand. »Du wirst dafür sorgen, dass sie regelmäßig gutes Futter bekommt und Kratos mindestens jeden zweiten Tag mehrere Stunden mit ihr ausreiten darf. Ansonsten werde ich mit dem Gedanken spielen, einigen Leuten, mit denen du Geschäfte machst, das ein oder andere über dich zu erzählen.«

Erebos' Blick veränderte sich. Von bloßem Zorn wandelte er sich nun in eiskalten Hass.

»Hüte deine Zunge, Tiermensch«, beleidigte er Kratos' Großvater.

Tiberius verengte seine Augen zu Schlitzen.

»Ich weiß, was du getan hast, Erebos von Aurion«, zischte der Protozoon. »Und ich kann und werde es gegen dich verwenden, wenn mir noch ein einziges Mal zu Ohren kommt, dass du meinen Enkel schlecht behandelst. Und glaube mir: Ich werde es erfahren.«

Mit diesen Worten drehte Tiberius sich um und kniete sich vor Kratos, der die ganze Zeit zugehört hatte. Er senkte seine Stimme so weit, dass Erebos nicht hören konnte, was er sagte.

»Du kannst jederzeit zu mir kommen, kleiner Rotschopf«, flüsterte er. »Du bist nicht allein. Vergiss' das nicht.«

Tiberius stand auf und ging, ohne sich noch einmal umzudrehen. Kratos sah ihm einen Augenblick nach und wagte es dann, sich zu seinem Vater umzudrehen. Er bebte vor Zorn.

»Bring' das Vieh in die Ställe«, befahl er seinem Sohn. »Solltest du Freizeit haben, kannst du ausreiten. Und jetzt will ich nichts mehr davon hören.«
 

Ich traute meinen Ohren nicht. Ich durfte Silabél behalten und ausreiten. Die Drohung meines Großvaters hatte es wahrlich in sich gehabt.

Und auch Prügel blieb mir erspart, obwohl ich fest damit gerechnet hatte.

Ich war meinem Großvater mehr als nur dankbar. Mit Silabél hatte er mir ein wunderbares Geschenk gemacht. Ich war nicht mehr ganz allein.

Die Rache meines Vaters waren besonders viele Arbeiten. Er spannte mich voll in seine Arbeit ein. Doch da ich ohnehin schulisch unterfordert war, meisterte ich das mit Leichtigkeit. Die Ausritte mit Silabél taten mir gut. Und selbst, als mein Vater mir auftrug, auf meinen Ausritten die Plantagen aufzusuchen und nach dem Rechten zu sehen, machte ich dies mit großer Freude.

Als er merkte, wie viel Zeit ich trotz seiner Arbeit noch hatte, bekam ich sogar endlich bessere Lehrer. Ich fühlte mich das erste Mal halbwegs wohl in Meltokio.

Allerdings spitzte sich die politische Lage immer weiter zu, wie ich von meinen Lehrern erfuhr. Der Krieg zwischen Tethe'alla und Sylvarant nahm immer grausamere Formen an.

Und eines Tages, wenige Tage, nachdem ich Zwölf geworden war, erreichte dieser Krieg auch Meltokio ...
 

»Erebos-sama!«

Hiroki war in das Arbeitszimmer von Kratos' Vater gestürzt, in dem er noch arbeitete. Kratos selbst war auch anwesend, da er noch etwas mit seinem Vater besprochen hatte, war er an diesem Tag doch zu den Plantagen geritten. Obwohl Kratos Hiroki nicht mochte, sah er ihn nun doch besorgt an. Er keuchte sich die Lunge aus dem Leib, so sehr war er gerannt.

»Gnaden dir die Götter, wenn es nichts Wichtiges ist, womit du mich zu belästigen gedenkst, Hiroki«, sagte Erebos, der ohnehin schlechte Laune hatte.

»Meltokio wird angegriffen!«, stieß er hervor. »Einige Soldaten haben es irgendwie geschafft, in die Stadt zu kommen und der Armee die Tore zu öffnen! Es ist Krieg!«

Erebos war augenblicklich aufgestanden. Er eilte zu einem Schrank, der im Zimmer stand und öffnete ihn. Eine leichte, aber stabile Rüstung kam zum Vorschein, die Erebos sich augenblicklich anlegte. Dann griff er nach seinem Schwert, dass über seinem Schriebtisch an der Wand hing und befestigte es an seinem Schwertgürtel. Schließlich wandte er sich zu Kratos um.

»Bleib' hier!«, befahl Erebos. »Verkiech' dich irgendwo, damit du nicht stirbst, ich brauche dich noch. Komm erst wieder raus, wenn ich dich rufe, klar?!«

Kratos schluckte hart und nickte. Der Gedanke, dass er selbst sterben könnte und Kratos dann Waise und den Soldaten hilflos ausgeliefert war, kam ihm anscheinend gar nicht. Stattdessen verließ er das Zimmer einfach gemeinsam mit Hiroki.

Nachdem er den ersten Schock überwunden hatte, ging auch Kratos hinaus. Seine Gedanken galten Silabél, die im Stall eingesperrt war, weshalb er auch direkt dorthin gehen wollte. Doch niemand anders als Daisuke hielt ihn auf.

»Was macht Ihr noch hier, junger Herr? Ihr solltet euch ein sicheres Versteck suchen!«

»Ich muss Silabél freilassen, damit sie fliehen kann!«, erklärte Kratos und wollte weitergehen. Daisuke musste ihn passieren lassen, da Hiroki nach ihm rief. Und doch warf er Kratos einen besorgten Blick hinterher.

Als er an den Ställen ankam, hörte er schon Silabéls Fauchen. Er ging sogleich zu ihrer Box und öffnete sie.

»Lauf weg!«, forderte er. »Bring' dich in Sicherheit, solange du es noch kannst!«

Doch Silabél rührte sich nicht. Stattdessen sah sie Kratos besorgt an.

»Ich werde mir ein Versteck suchen«, beantwortete er die fragenden Augen des Drachenweibchens. »Aber bitte, verschwinde!«

Silabél blieb stehen, ihren Blick auf Kratos gerichtet. Dann ging sie an Kratos vorbei; und schubste ihn in die Box hinein.

»Heh! Was soll das?«, fragte Kratos. »Wir haben jetzt keine Zeit zum Spielen!«

Doch Silabél schubste ihn in eine Ecke der Box und legte sich dann demonstrativ vor ihn. Ihre Augen schienen ihn beruhigen zu wollen.

»Du ... willst mich beschützen?«

Das Drachenweibchen nickte. Und da begriff Kratos, dass Silabéls gewölbter Leib ihr eine Flucht unmöglich gemacht hätte. Also beschloss das rothaarige Kind, bei seiner einzigen Freundin zu bleiben.

Neben ihr sitzend, hörte er Hiroki Befehle brüllen. Er wollte anscheinend verhindern, dass die Halbelfen den Angriff zur Flucht nutzten. Kratos fragte sich, warum er nicht selbst floh. War es, weil Erebos ihn halbwegs gut behandelte? Verriet er allein deswegen seine eigene Rasse?

Irgendwann aber verstummte Hiroki. Schreie und Hufgetrappel erfüllten die Nacht und Kratos schmiegte sich immer dichter an Silabél heran. Er hatte Angst.

Urplötzlich ertönte ein so lauter Knall, dass Kratos vor Ohrenschmerzen aufschrie. Darauffhin fegte eine gewaltige Druckwelle durch den Stall, die so kräftig war, dass ein Stück des Stalles einstürzte. Silabél biss blitzschnell und doch vorsichtig in die Schulter ihres kleinen Freundes und zog ihn beseite, da ihn sonst ein herunterfallender Balken erschlagen hätte.

Kratos hielt sich die blutende Schulter, sah das Drachenweibchen aber dankbar an.

»Danke, Silabél ...«

Das rothaarige Kind blickte nach draußen, da er nun dem Kampfgeschehen unbemerkt zusehen konnte. Und das, was er sah, sollte sich für lange Zeit in sein Gedächtnis brennen.

Niemand anderes als der Elementargeist des Feuers, Ifrit, wütete in Meltokio, welches lichterloh in Flammen stand. Kratos rückte so dicht er nur konnte an Silabél heran, welche schützend ihren Schweif um ihn legte. Und doch konnte er den Blick nicht abwenden. Menschen verbrannten bei lebendigem Leibe, verfielen im Lauf um ihr Leben zu Asche. Häuser stürzten ein, die einfallende Armee tötete alles, was sich ihnen in den Weg stellte.

Kratos machte sich immer kleiner. Er hatte panische Angst, die seinen ganzen Körper lähmte und zittern ließ. Silabél drückte ihn mit ihrem Schweif fest an sich, so, wie ein Muttertier sein Junges schützte.

Und dann wandte Ifrit sich um.

Es ging so schnell, dass nicht einmal Silabél reagieren konnte. Ein Feuerball raste auf Meltokio zu und prallte auf den Steinboden. Der gleiche Knall wie kurze Zeit vorher ertönte. Kratos und Silabél schrien vor Schmerz auf, da es wesentlich dichter war. Die darauffolgende Druckwelle riss beide vom Boden weg, brachte den Stall fast komplett zum Einstürzen und steckte ihn endgültig in Brand.

Kratos war gegen eine der Wände geflogen und konnte nur wankend wieder aufstehen. Er sah alles mehrfach, sein Gehör spielte ihm Streiche, von dem lauten Knall verwirrt. Sein gesamter Körper schmerzte, dominiert von dem Schmerz in seiner Schulter. Und genau dieser erinnerte ihn an seine Freundin.

»Silabél!«, rief er dann. »Silabél, wo bist du?!«

Ein lautes Fauchen ließ ihn herumfahren. Hinter einem brennenden Balken eingesperrt drehte und wandt sich das Drachenweibchen, verzweifelt nach einem Ausweg suchend. Kratos sah sich um. Das Feuer breitete sich immer weiter aus, der Rauch wurde dichter. Wenn beide nicht bald einen Ausweg fanden, waren sie verloren.

Das rothaarige Kind versuchte verzweifelt, den Balken, der Silabél einsperrte, beiseite zu drücken, doch er war zu schwach. Silabél fauchte nun ihn an, doch Kratos hatte im Moment nicht den Sinn, um ihr zuzuhören. Erst, als sie nach ihm schnappte, damit er den Balken endlich losließ, sah er sie an.

»Verschwinde!«, bat sie, indem sie mit dem Kopf nach draußen zeigte.

»Niemals!«, weigerte sich Kratos. »Ich lasse dich nicht allein!«

Im gleichen Augenblick stürzte ein weiterer Balken ein. Kratos schrie auf, als ein Schmerz sondergleichen sein Bein durchzog. Das brennende Holz war daraufgefallen und fraß sich nun mit feuriger Kraft in sein Fleisch hinein. Silabéls Fauchen wurde lauter. Es war, als würde sie um Hilfe rufen.

Kratos kämpfte derweil gegen seine Schmerzen an und versuchte, sich zu befreien. Doch der Balken war einfach zu schwer. Er hustete und rang nach Luft, da der Rauch immer dichter wurde. Seine Lunge brannte wie das Feuer um ihn herum, er hatte das Gefühl, eben dieses einzuatmen.

Allmählich schwanden ihm die Sinne. Alles drehte sich um ihn herum und wurde unscharf. Die Schmerzen waren das Einzige, was er noch wahrnahm.

Kurz, bevor ihn die wärmende Schwärze der Ohnmacht in ihre Arme ziehen wollte, erschien plötzlich jemand vor Kratos. Verzweifelt versuchte er zu erkennen, wer es war. Fliederfarbens Haar fiel wie weiches Vlies über die zierlichen Schultern der Frau, die das rothaarige Kind sanft und beruhigend aus ihren bernsteinfarbenen Augen ansah.

»Mama ...«

»Es wird alles gut, Flämmchen«, hörte er ihre melodische Stimme wispern. »Hab' keine Angst, ich bin bei dir ...«

Kratos spürte, wie ihn eine warme Hand berührte. Seine Angst verflog und er sank in die wohlige, schmerzlose Dunkelheit der Ohnmacht ...

Die Hand, die Kratos' Halluzination so real hatten wirken lassen, gehörte niemand anderem als seinem Vater, der nun über ihn gebeugt stand und seinen Puls suchte. Als er ihn gefunden hatte, befreite er das Bein seines Sohnes von dem Balken und hob den leblos wirkenden, aber noch atmenden Körper seines einzigen Kindes hoch und wollte schon verchwinden, als Silabél noch einmal in seine Richtung fauchte. Erebos blickte zu dem Drachenweibchen, welches ihn direkt ansah. Schwarze Augen, in denen er sich nicht spiegeln konnte, starrten in die seinen. Erebos zog sein Schwert - und zerschlug den Balken, der Silabél einsperrte, bevor er sich und seinen Sohn aus dem flammenden Inferno rettete ...
 

Es war eine der vielen Blumenwiesen, die ihm sein Großvater gezeigt hatte. Die Sonne schien, Schmetterlinge tanzten im Wind, Vögel sangen. Er hatte sich ins Gras fallen lassen und blickte zum azurblauen Himmel hinauf, als er sie plötzlich wieder hörte.

»Kratos ...«

Benannter setzte sich auf und sah sich um. Es war nicht das erste Mal, dass er diese Stimme hörte. Sie rief ihn schon seit geraumer Zeit. Doch dieses Mal war sie klarer und deutlicher.

»Kratos ...«

Der Zwölfjährige blickte in die Richtung, aus der die Stimme kam; und erstrahlte über das ganze Gesicht.

»Mama!«

Nebela von Aurion stand auf einem kleinen Hügel der Wiese und lächelte zu ihrem Sohn hinunter, welcher aufgesprungen war und auf sie zulief. Überglücklich fiel er ihr in die Arme.

»Mama!«, weinte er schon fast. Nebela ging in die Knie und schloss ihren Sohn sanft in die Arme. Kratos schmiegte sich an sie.

»Mama, du fehlst mir so ...«

»Ich weiß, mein Kleiner ...«, antwortete Nebela sanft und streichelte ihren Sohn zärtlich. »Aber ich bin doch immer bei dir.«

»Nein ...«, widersprach ihr Sohn leise. »Ich kann dich nicht sehen und nicht hören ...«

»Das vielleicht nicht ... trotzdem bin ich bei dir ... tief in deinem Herzen werde ich immer bei dir sein.«

Kratos verstand noch nicht so wirklich, wovon seine Mutter sprach. Er war einfach nur froh, sie wiedersehen zu dürfen und kuschelte sich an sie, genoss die Wärme und die sanften Berührungen.

»Du musst jetzt gehen, Flämmchen ...«, sagte sie schließlich.

»Ich will aber bei dir bleiben!«, sagte das Kind. »Ich will nicht zurück! Es ist so schön hier bei dir!«

Nebela lächelte gütig.

»Eines Tages wirst du wieder herkommen«, meinte sie. »Und dann werde ich auch wieder hier sein und auf dich warten. Das verspreche ich dir. Aber jetzt musst du wieder zurückgehen. Es ist noch zu früh für dich, um hierzubleiben.«

»Warum?«, fragte Kratos.

»Du bist etwas Besonderes, mein Kleiner. Auf dich wartet noch eine Aufgabe, die du erfüllen musst.«

Das rothaarige Kind sah seine Mutter fragend an.

»Welche denn? Sag' es mir! Dann kann ich ganz schnell wiederkommen!«

Nebelas Lächeln wurde noch ein wenig wärmer.

»Das musst du selbst herausfinden, Flämmchen«, sagte sie. »Eines Tages wirst du es verstehen.«

Kratos sah seine Mutter traurig an.

»Und ich muss wirklich wieder gehen ...?«

Nebela nickte.

»Aber vergiss nicht ...«
 

»... ich werde immer bei dir sein.«

Schmerzen.

Das war das Erste, was Kratos wahrnahm, als sein Bewusstsein langsam wieder in die Realität zurückkehrte. Seine Augenlider erschienen ihm unendlich schwer, das Licht in dem Raum, in dem er sich befand, schmerzend hell. Und doch öffnete er seine Augen langsam.

»Wo ... bin ich ...?«

Nur langsam und zähflüssig wie Honig kehrten seine Erinnerungen zurück. Das Feuer, die Schreie, Ifrit ...

»Silabél!«

Augenblicklich erfüllte den Zwölfjährigen die Sorge um seine Freundin und er wollte aufstehen. Doch als er sein Bein bewegen wollte, brach eine Kette von Schmerzen auf ihn ein, die ihn laut aufkeuchen ließen. Anscheinend laut genug, um jemand auf ihn aufmerksam zu machen.

Ein in die Jahre gekommener Mann trat in den Raum, in dem Kratos lag.

»Endlich bist du aufgewacht. Das wird deinen Vater sicher freuen.«

»Bezweifle ich ...«, dachte Kratos, hatte dann aber andere Sorgen. »Können Sie mir sagen, ob das Drachenweibchen, in dessen Stall ich war, noch am Leben ist?«

»Ich weiß nicht, wovon du sprichst. Man hat nur dich hergebracht.«

Kratos' Herz machte einen Aussetzer.

»Wer hat mich hergebracht? Wie bin ich hierher gekommen?«

»In der Nacht des Überfalles kamen unendlich viele Leute her. Ich weiß nicht mehr, wer es war«, meinte der Arzt. »Du darfst dich nicht aufregen. Vergiss' dieses Drachenweibchen. Es ist schließlich nur ein Tier.«

»Es ist meine Freundin!«, beharrte Kratos und machte einen erneuten Versuch, aufzustehen. Der Arzt wollte ihn gerade zurückhalten, als niemand anderes als Erebos ins Zimmer trat.

»Lasst ihn«, forderte er.

»Aber die Wunde ist noch zu frisch! Er darf noch nicht aufstehen!«, meinte der Arzt.

»Wenn er will, soll er es«, antwortete Erebos. »Schmerz ist nichts, was man vermeiden müsste.«

Kratos ignorierte beiderlei. Vorsichtig schob er sein verletztes Bein über die Bettkante. Es tat im wahrsten Sinne des Wortes höllisch weh. Dem Zwölfjährigen schossen die Tränen in die Augen, doch selbst das war ihm egal. Er sah seinen Vater an.

»Was ist mit Silabél?«, fragte er.

»Woher soll ich das wissen? Es ist dein Vieh.«

Kratos biss die Zähne zusammen und setzte den gesunden Fuß auf. Dann, ganz langsam, folgte der des verletzten, linken Beines. Als er versuchte, es ein wenig zu belasten, hätte er am Liebsten laut aufgeschrien. Also verlagerte er sein gesamtes Körpergewicht auf sein rechtes Bein. Schließlich stand er zitternd und vor Schmerz keuchend vor dem Bett.

»Das ist Wahnsinn!«, behauptete der Arzt. »Er hat Verbrennungen dritten Grades erlitten! Er verliert sein Bein, wenn er es zu früh belastet!«

Erebos sah den Arzt an.

»Redet keinen Unsinn. Wisst Ihr überhaupt, wen Ihr vor Euch habt?«

»Einen nicht sonderlich fürsorglichen Vater«, meinte der Arzt.

Auf Erebos' Stirn bildete sich eine Zornesfalte.

»Ich bin Leutnant von Aurion«, antwortete er scharf.

»Was nichts daran ändert, dass Euer Sohn sich dringend schonen müsste!«

»Schmerz adelt«, sagte Erebos kalt und sah zu Kratos. Dieser humpelte vorsichtig von Halt zu Halt. »Und das kann meinem Sohn, wissen die Götter, nicht schaden.«

Kratos schleppte sich unter größten Schmerzen zu seinem Vater. Nicht, um ihm zu gefallen. Das hatte er schon lange aufgegeben. Er wollte nur so schnell wie möglich zu Silabél - oder dem, was von ihr übrig war.

Als er vor seinem Vater stand, sah er zu ihm hinauf. Erebos schenkte ihm wie immer nur einen geringschätzigen Blick. Dieses Mal aber wanderte er mit seiner Eisenkralle unter das Kinn seines Sohnes und hob es an. Kratos hielt dem Blick seines Vaters stand.

»Ein Aurion hat keine Tränen«, behauptete er.

»Ja, Chichiue«, antwortete sein Sohn und wischte sich die verbotenen Tränen weg.
 

Ich hatte furchtbare Schmerzen. Die Kutschfahrt zu unserem Haus war eine Tortur sondergleichen, doch ich riss mich zusammen. Allein schon, um meinen Vater nicht wütend zu machen. Denn mein Gefühl sagte mir, dass ich Prügel im Moment nicht gebrauchen konnte.

Als wir ankamen, half der Kutscher mir heraus. Ich wunderte mich darüber, denn eigentlich war es immer Daisuke gewesen, der uns empfing. Doch das war mir vorerst egal. Ich wollte nur in den Stall.

Er lag in Schutt und Asche. Im ersten Moment dachte ich wirklich, Silabél wäre tot, als ich plötzlich das mir sehr vertraute Summen hörte. Als ich mich umdrehte, stand sie unverletzt und wohlauf vor mir. Im gleichen Moment verlor ich vor Schmerzen das Bewusstsein.

Mein Bein war schwer verwundet. Es dauerte Monate, bis es wieder ganz veheilt war. Währenddessen hatte ich erfahren, dass die Halbelfen, die meinem Vater gedient hatten, fast alle geflohen waren. Nur der Kutscher war auf Grund seines hohen Alters und Hiroki aus Loyalität geblieben. Mein Vater war deswegen reichlich schlecht gelaunt gewesen. Aber meine Verletzung bewahrte mich anscheinend vor seinen Wutausbrüchen.

Nicht wesentlich später hatte er Meltokio für einige Tage verlassen, um neue Halbelfen zu kaufen. Er hatte mir sogar ein "Geschenk" mit gebracht. Einen jungen Halbelfen, der als Stallbursche Silabél versorgen sollte ...

Wir sind gleich

Zwei Monate waren seit dem Überfall auf Meltokio nun vergangen. Durch die Verletzung seines Beines war Kratos von jenem Tage an auf Krücken angewiesen, da er dieses nicht belasten durfte. War Erebos die erste Zeit zornig darüber gewesen, ließ er seinem Sohn nun die nötige Ruhe, sofern er seine schriftlichen und schulischen Arbeiten erledigte. Kratos war sehr verwundern darüber gewesen, dass sein Vater zu so etwas ähnlichem wie Rücksicht fähig war. Selbst die Ausritte auf die Plantagen übernahm er für diese Zeit wieder.

Doch Kratos hätte ohnehin nicht ausreiten können, da Silabéls lange Trächtigkeit sich dem Ende zuneigte. Nach fast fünfzehn Monaten der Tragzeit wollte das Junge, welches so lange in ihrem Leib herngewachsen war, endlich geboren werden.

Es war tiefe Nacht, als Kratos durch Silabéls schmerzerfülltes Fauchen aufwachte. Sofort war er hellwach und schnappte sich seine Krücken, die neben seinem Bett standen. Er hatte in seiner Kleidung geschlafen, um schneller bei seiner Freundin sein zu können, weshalb er direkt aufstand. So schnell, wie er es mit seinem verletzten Bein vermochte, eilte er zum Stall, welcher am Haus selbst angebaut worden und inzwischen auch repariert worden war.

Dort angekommen, humpelte er sogleich zu Silbéls Box, welche im hinteren Teil des Stalles zu finden war. Allerdings hielt er kurz verwirrt inne, als er plötzlich eine ihm unbekannte Stimme hörte.

»Ganz ruhig ... es wird alles gut.«

Silabél summte, was Kratos noch mehr verwunderte, da sie dies ausschließlich bei ihm tat. Umso eiliger hatte er es, den Verschlag ihrer Box zu öffnen.

Tannengrüne Augen funkelten ihn an.

»Wer bist du?«

Ein kleiner Halbelf, der vielleicht zehn sein mochte, kniete neben Silabéls Kopf, der auf einen Haufen Stroh gebettet war. Dass er ein Halbelf war, sah Kratos an den spitzen Ohren, die aus dem Haar herausschauten. Er war einfach gekleidet, eine braune Arbeitskutte, war alles, was er trug. Sein blaues Haar war schulterlang und zu einem Zopf gebunden.

»Sag' mir deinen Namen und ich sage dir meinen«, antwortete er.

Kratos sah den Blauhaarigen erneut an. Eigentlich durfte sich ein Halbelf eine solche Frechheit nicht erlauben. Doch so mutig, wie er selbst oft seinen Vater anblickte, sah ihn auch dieses Kind an. Es war furchtlos. Und das beeindruckte den jungen Adeligen.

»Mein Name ist Kratos«, sagte er dann. »Und das Drachenweibchen an deiner Seite ist meine Freundin Silabél.«

»Ich bin Yuan«, antwortete der Kleinere. »Der Hausherr brachte mich hierher, heute Nacht erst. Ich soll mich von nun an um Silabél kümmern, wie er sagte.«

Silabél fauchte erneut vor Schmerz. Kratos warf seine Krücken einfach beiseite und hinkte an die Seite seiner Freundin, wo er sich vorsichtig niederließ. Silabéls schwarze Augen blickten ihn sanft und ängstlich zugleich an. Es war das erste Mal, dass Kratos Angst in ihnen sah.

»Warst du schon einmal bei einer Geburt dabei?«, wollte Kratos von dem Halbelfen wissen.

»Sicher, bei meiner eigenen.«

»Scherze sind gerade unangebracht!«, fauchte Kratos.

»Aufregung genauso.«

Das rothaarige Kind sah Yuan finster an.

»Du hast ein verdammt freches Mundwerk. Das könnte dich das Leben kosten.«

»Oder Silabél das ihre.«

Kratos starrte den jungen Halbelfen einen Augenblick an, fasste sich jedoch schnell wieder. Silabél war jetzt wichtiger.

Das Drachenweibchen fauchte inzwischen nicht mehr, es schrie. Ihr ganzer Leib bäumte sich auf, ihr gewölbter Bauch pulsierte regelrecht. Kratos bekam es mit der Angst zu tun, doch er konnte nicht machen, außer der Natur ihren Lauf zu lassen. Sein Vater hätte ihn umgebracht, wenn er es gewagt hätte, einen Arzt zu rufen. Er wünschte sich gerade niemanden sehnlicher herbei als seinen Großvater. Doch ihm blieb nichts anderes übrig, als Silabél beizustehen und zu versuchen, sie zu beruhigen.

Vier lange Stunden saßen er und Yuan im Heu neben Silabél und wechselten sich ab, sie zu streicheln, da die rauen Schuppen nach einer Weile die Haut aufschürften. Und dann endlich, erblickte Silabéls Junge das Mondlicht der Welt, welches auf das kleine, schwarze Bündel Leben herabfiel. Der Welpling winselte und fiepte nach seiner Mutter. Silabél jedoch war zu geschwächt, um sich aufzurichten. Der Rothaarige hob das kleine Wesen vorsichtig hoch. Dann legte er es Silabél so hin, dass sie es ohne Anstrengungen erreichen konnte. Sofort begann sie, es von den Spuren der Geburt zu befreien. Kratos lächelte warmherzig, als er das sah. Yuan tat es ihm gleich.

»Wie niedlich das Kleine ist ...«, meinte er.

»Es ist ein Junge«, sagte Kratos.

»Woher weißt du das?«, wollte Yuan wissen.

»Bei Drachen kommen die Töchter immer nach der Mutter und die Söhne immer nach dem Vater. Und da Silabél rote Schuppen hat, kann ihr Kleines nur ein Junge sein.«

»Du weißt viel über Drachen«, stellte das blauhaarige Kind fest.

»Alles, was ich über sie weiß, hat mein Großvater mir beigebracht ...«

Yuan betrachtete Mutter und Kind. Dann sah er Kratos fragend an.

»Wie taufst du ihn?«

»Belias«, antwortete Erebos' Sohn.

»Ein schöner Name.«

Sie schwiegen eine Weile und beobachteten Silabél und Belias. Dann beschlossen sie, die beiden erschöpften Tiere allein zu lassen.

»Und jetzt zu dir«, sagte Kratos. »Mein Vater hat dich also gekauft, damit du dich um die Zwei kümmerst?«

Yuan nickte.

»Genau.«

»Dann werde ich dir gleich noch erklären, was du beachten musst. Silabél ist nämlich leicht beleidigt und als frischgebackene Mutter ohnehin mit Vorsicht zu genießen. Die verspeist dich zum Frühstück, wenn du nicht mit ihr umzugehen weißt.«

»Nett, dass du das verhindern willst ...«, meinte Yuan, wobei Misstrauen in seiner Stimme lag.

»Du magst Menschen nicht sonderlich, stimmt's?«

»Nein«, antwortete Yuan frei heraus.

»Verständlich ...«

Das blauhaarige Kind hob seine Augenbrauen.

»Du bist nett. Für einen Menschen.«

Kratos schmunzelte. Yuan mochte frech sein, aber er hatte Mut und war ehrlich.

»Ich glaube, ich kann mich an dich gewöhnen.«
 

Wenn ich gewusst hätte, was ich mit diesem Satz anrichte, hätte ich ihn wahrscheinlich vorsichtiger formuliert.

Yuan war etwas ganz Besonderes. Das hatte ich gleich bemerkt. Sein furchtloser Umgang mit mir, einem menschlichen Adeligen, beeindruckte mich. Meinem Vater gegenüber verhielt er sich vorsichtig, jedoch schmeichelte er sich nie ein. Außerdem hütete er - klugerweise - seine Zunge in seiner Gegenwart.

Wir mochten uns auf eine eigene Art und Weise. Er verrichtete seine Arbeit gut, wofür ich ihm jeden Morgen etwas zusätzliches zu Essen brachte, da er nur sehr wenig bekam. Außerdem behandelte ich ihn nicht wie mein Eigentum und nannte ihn, im Gegensatz zu meinem Vater, beim Namen.

Zwei Monate gingen ins Land. Ich wurde meine Krücken los, was niemanden mehr freute als mich, allerdings durfte ich das Bein noch nicht belasten. Nach einem weiteren Monat dufte ich es endlich wieder richtig benutzen. Feiern wollte ich das, indem ich mir einen langen Ausritt auf Silabél gönnte.

Jedoch blieb ich dabei nicht allein.
 

»Nun sei' nicht so verkrampf. Vertrau' ihm, er wird dich nicht fallen lassen.«

»Das sagst du so leicht! Das wackelt!«

Kratos seufzte und ritt einfach weiter. Er wusste nicht so wirklich, wie Yuan es geschafft hatte, aber er hatte ihn überredet, ihn auf Belias mitreiten zu lassen. Es dauerte eine ganze Weile, bis Yuan sich halbwegs auf ihm halten konnte, aber letztendlich sah er sich in dem Wald um, in den sie geritten waren. Seine grünen Augen bestaunten die großen Bäume und alles, was ihm irgendwie interessant erschien. Kratos schmunzelte.

»Du siehst aus, als hättest du noch nie einen Wald gesehen«, meinte er.

»Habe ich auch nicht«, antwortete Yuan.

Kratos sah den jungen Halbelfen entsetzt an.

»Du veralberst mich.«

Yuan sah Kratos völlig ernst an.

»Nein, ausnahsmweise nicht. Es ist der erste Wald, den ich in meinem Leben sehe.«

»Wie kann das sein? Wo hast du denn bisher gelebt?«

»In einem Stollen.«

»Unter Tage?«, fragte Kratos rhetorischer Weise. »Bist du denn nie hinausgelassen worden?«

Yuan schüttelte den Kopf.

»Nein, erst, als er einstürzte. Ich und wenige andere Kinder konnten sich retten. Dann wurden wir erneut verkauft.«

»So bist du also zu uns gekommen ...«

Kratos überlegte einen Augenblick. Dann sah er einen Falken, der auf einem Ast saß. Er zeigte auf diesen.

»Das ist ein Falke«, erklärte er. »Ein Raubvogel.«

Yuan sah zu dem Tier hinauf; und begann zu lächeln.

»Er ist schön. Sein Fell glänzt wie gold.«

Das rothaarige Kind lachte leise.

»Er hat Federn«, korrigierte er. »Man nennt es Gefieder.«

Staunend betrachtete der Halbelf den Raubvogel, bis er davonflog. Kratos konnte nicht anders, als Yuan alles zu erklären, was er wissen wollte. Er fühlte sich wohl in der Rolle des Lehrers, die einst sein Großvater für ihn eingenommen hatte. Yuans staunende Augen entlohnten ihn für die Mühe, die er sich mit seinen Erklärungen machte. Immer und immer wieder stellte der junge Halbelf neue Fragen, einige konnte nicht einmal Kratos beantworten. Und doch war Yuan unermüdlich. Er sah sich alles ganz genau an und vor allem genoss er die Sonne und die frische Luft. Kratos kam nicht umhin, ihn ein wenig zu bewundern. Er hatte diese Dinge als Selbstverständlichkeit angesehen, Yuan aber schätzte die Natur um sich herum noch viel mehr. Jeder Sonnenstrahl schien für ihn unendlich kostbar zu sein, jeder Atemzug ein Geschenk der Götter.

»Es ist herrlich hier!«, freute Yuan sich. »Ich kann dir gar nicht genug danken, dass du mich mitgenommen hast!«

Leuchtende Augen betrachteten Kratos nun. Er wurde feuerrot im Gesicht und kratzte sich am Hinterkopf.

»Nicht der Rede wert ...«, murmelte er.

»Woher weißt du das eigentlich alles?«, wollte Yuan nun wissen, Kratos lächelte.

»Mein Großvater hat es mir beigebacht«, antwortete er.

»Das muss ein kluger Mensch sein ...«, staunte das blauhaarige Kind.

»Er ist kein richtiger Mensch. Er ist ein Protozoon«, behauptete Kratos stolz.

Yuans Augen weiteten sich.

»Klingt ja toll! Aber ... was ist ein Protozoon?«

Kratos fühlte sich, als hätte man eine Steinplatte auf seinem Kopf zertrümmert. Er blieb jedoch geduldig.

»Protozoen sind Wesen, die sich ihr ganzes Leben lang entwickeln. Die letzte Form ist ein Mensch, der das Böse jagt. Sie können sogar Magie einsetzen.«

»Das kann ich auch«, behauptete Yuan.

Kratos sah seinen Freund fragend an.

»Aber hat man dir denn kein Siegel angelegt?«, wollte er wissen. Ein Halbelf, der seine Kräfte frei nutzen durfte, war ihm noch nie untergekommen. Jeder Halbelf seines Vaters trug ein Siegel, welches seine magischen Fähigkeiten unterdrückte. Anders konnte er sie auch nicht in Schach halten. Ein weiteres Mal fiel dem klugen Kind die Widersinnigkeit der Diskriminierung auf. Warum versklavte man ein Volk, das stärker war als das eigene? Angst war der einzige Grund, der ihm einfiel.

»Nein. Ich bin ein Blitzelementar, weshalb meine Blitze für den Abbau des Erzes benutzt wurden«, erklärte Yuan.

»Du musstest Erz abbauen?«, fragte Kratos.

»Ja, für Waffen und Rüstungen«, nickte Yuan. »Durch den Krieg wird besonders viel benötigt ...«

Kratos bemerkte, dass Yuan das Thema unangenehm war, weshalb er es wechselte.

»Könntest du für mich mal so einen Blitz beschwören?«, bat er, da er noch nie in seinem Leben einen Halbelfen beim zaubern gesehen hatte.

»Klar«, antwortete das blauhaarige Kind und konzentrierte sich kurz. Er hatte seine rechte Hand an sich gezogen, um die nun kleine Funken sprangen. Dann fixierte er den nächstgelegenen Baum.

»Lightining!«

Ein kräftiger Blitz schlug in den Wald ein, dessen Laut scharf widerhallte. Doch Kratos blieb keine Zeit, darüber zu staunen. Ein mehr als nur aggressives Fauchen ertönte. Die beiden Kinder schluckten hart. Ein grüngeschuppter, muskulöser Drache mit zwei glänzenden Zahnreihen, tauchte aus dem Dickicht auf, der vor Wut bebte. Kratos fühlte sich unangenehm an seinen Vater erinnert.

»Das ist nicht gut ...«, stellte Yuan fest.

»Das ist eher furchtbar! LAUF!!!«

Kratos riss Silabél herum und presste sich an sie, damit er keinen Windwiderstand bot. Das Drachenweibchen preschte davon. Kratos konnte hören, dass der Drache ihnen folgte und er betete inständig, dass Silabél und Belias schnell genug waren.

Als Kratos jedoch bemerkte, dass Yuan noch immer nicht zu ihm aufgeschlossen hatte, wandte er sich um; und musste mit Erschrecken feststellen, dass beide weit zurücklagen.

»Beeilt euch!«, rief er.

»Wenn ich wüsste wie!«, schrie Yuan zurück. »Du bist hier der Drachenflüsterer!«

Kratos biss die Zähne zusammen und gab Silabél das Zeichen, um langsamer zu werden. Als Belias und Yuan mit ihnen auf gleicher Höhe waren, bat er Silabél, Belias irgendwie klar zu machen, dass er so schnell rennen musste, wie er konnte. Silabél tat, wie ihr geheißen und fauchte ihr Jungtier an. Belias schien zu begreifen und gewann an Tempo. Kratos presste sich erneut an Silabél, welche nun ebenfalls wieder ihre höchste Geschwindigkeit an den Tag legte. Der Drache verfolgte sie jedoch hartnäckig. Es war ein Männchen, die ohnehin sehr reizbar und vor allem tobsüchtig waren. Kratos bekam es ernsthaft mit der Angst zu tun. Ewig konnten sie das Tempo nicht halten. Und wenn der Drache sie einholte, würde er sie in der Luft zerfetzen.

Als er sich umdrehte, da er erneut nach dem Drachen gesehen hatte, blieb ihm beinahe das Herz stehen. Vor ihnen tat sich ein Abgrund auf, breit und tief.

»Das schaffen wir nie!«, rief Yuan.

Kratos aber schätzte so schnell er konnte die Breite des Abgrundes ab. Es war möglich. Mit genügend Anlauf, den sie wahrlich hatten.

»Oh doch!«

»Bist du wahnsinnig?! Du schaffst es vielleicht, aber ich sicher nicht!«

Obwohl kaum Zeit dazu war, konnte Kratos nicht anders, als nachzufragen.

»Warum nicht?«

»Ich bin nur ein verdammter Halbelf!«

Bevor das adelige Kind nachdenken konnte, legte es sein Herz auf die Zunge.

»Na und? Das macht doch überhaupt keinen Unterschied! Wir könnten Brüder sein!«

Yuan sah ihn für wenige Sekunden völlig verwirrt an. Kratos aber riss ihn in die Realität zurück.

»Vertaue dem Tier unter dir! Und glaube an dich selbst! Die Rasse ist doch egal! Wir sind gleich!«

Mit diesen Worten blickte er wieder nach vorne und gab Silabél das Zeichen, dass sie springen sollte. Das Drachenweibchen, das Kratos blind vertraute, hielt tatsächlich direkt auf die Schlucht vor ihnen zu; und sprang. Kratos schrie. Aus Angst und Euphorie zugleich. Er klammerte sich an Silabél und schickte ein Stoßgebet an seinen Ahnen, dass sie ihn noch nicht zu sich holen sollten - und Yuan genauso wenig, dessen gleichen Schrei er nun hörte.

Alle vier landeten hart auf der anderen Seite, da Silabél und Belias den Sprung nicht abfedern konnten. Im ersten Moment saß der Schrecken zu tief, als das irgendjemand reagieren konnte. Erst, als sie beide bemerkten, dass der wesentlich massigere Drache ihnen nicht mehr folgen konnte, wagten sie es, aufzukeuchen.

»Das war verdammt knapp ...«

Die beiden Kinder sahen sich gegenseitig an. Beiden war der Schock noch ins Gesicht geschrieben. Doch sobald dieser nach wenigen Augenblick verklungen war, begannen sie schallend zu lachen.
 

Diesen Tag werde ich wohl nie vergessen. Denn seit diesem Erlebnis waren Yuan und ich etwas, was ich bisher noch nicht erlebt hatte: Wir waren Freunde geworden.

Es hatte mir von Anfang an nichts ausgemacht, das er ein Halbelf war. Aber irgendwie war er mir an diesem Tag ans Herz gewachsen. Er war kleiner und jünger als ich, irgendwie fühlte ich mich für ihn verantwortlich. Aus diesem Grund und auch, weil ich ihn einfach gern hatte, nahm ich mir fest vor von nun an dafür zu sorgen, dass er es gut hatte.

Der erste Schritt dafür, war zugleich der härteste ...
 

»Wie bitte?!«

Erebos bebte. Kratos stand vor ihm, zu seiner vollen Größe aufgebaut. Der Zwölfjährige hatte ein beachtliches Rückgrad für sein junges Alter und zuckte nicht einmal zusammen, als Erebos seine Eisenkralle präsentierte.

»Ihr habt mich richtig verstanden, Chichiue«, meinte er. »Ich fordere den Stallburschen als meinen Leibeigenen. Er ist intelligent genug, um mir zu helfen.«

»Wie kommst du dazu, ihn einzufordern?«, fragte Erebos scharf. »Du hast nicht das geringste Recht dazu!«

»Ich arbeite schon lange mit Euch, Chichiue. Ich bin es leid, die Halbelfen erst rufen zu müssen. Außerdem kann ich effizienter arbeiten, wenn mir jemand zur Hand geht.«

Zornig funkelte Erebos seinen - in seinen Augen - unverschämten Sohn an, der jetzt auch noch anfing, zu argumentieren.

»Ihr habt ebenso einen Leibeigenen, Chichiue. Er richtet Euer Zimmer, trägt Eure Bücher, bringt §uch Dinge, damit Ihr die Arbeit dafür nicht unterbrechen müsst. Ich könnte Euch so viel besser helfen. Ebenso wäre mein Schulunterricht nicht mehr so langweilig, da ich selbst bei den jetzigen Lehrern als Musterschüler gelte. Außerdem ...«

»Genug!«, schnaubte Kratos' Vater und hob eine Hand, um dem Kind Einhalt zu gebieten. Er stand auf und ging auf seinen Sohn zu, bebend vor Zorn. Kratos behielt seine aufrechte Haltung, wich jedoch vor seinem imposanten Vater zurück.

»Du wagst es, hier in meinen Räumen aufzutauchen und einen Halbelfen, den ich dir zum Geschenk gemacht habe, als deinen Leibeigenen einzufordern, den ich besser kleiden und füttern muss, damit er keine Scham über das Haus Aurion bringt? Du wagst es, von mir zu verlangen, ihn an deinem Unterricht Teil haben zu lassen, nur, weil du die Arroganz und Dreistigkeit besitzt, zu glauben, du seihst übermäßig intelligent?«, fragte Erebos mit bedrohlicher Stimme. »Ist es das, was du mir sagen willst?«

Kratos hielt dem bohrenden Blick seines Vaters stand. Dann nickte er.

Es war Jahre her, dass Kratos die Eisenkralle seines Vaters zu spüren bekommen hatte. Und die Wucht, mit der er zuschlug, warf ihn noch immer zu Boden. Ein scharfer Schmerz durchzog sein Gesicht, doch er fasste nicht dorthin. Das wäre in den Augen seines Vaters ein Zeichen der Schwäche gewesen. Und er war nicht schwach.

Erebos kochte innerlich vor Wut, doch als er sah, das sein Sohn sogar wieder aufstand und ihn erneut ansah, wobei Blut von seinem Gesicht tropfte, schnaubte er nur.

»Das war ein Vorgeschmack auf das, was dich erwartet, wenn dieser Halbelf in irgendeiner Art und Weise schaden anrichtet. Du wirst einst meine Ländereien übernehmen und musst lernen, Leute anzuleiten und Verantwortung zu tragen. Hol' dir deinen Stallburschen, aber ich warne dich: Du ganz allein wirst für seine Taten zur Rechenschaft gezogen.«

Kratos nickte und verschwand. Erst, als er die Tür geschlossen und sich ein Stück von den Räumen seines Vaters entfernt hatte, gönnte er es sich, eine Hand auf seine Wunde zu legen. Vier blutige Furchen überzogen seine Wange. Doch er war noch glimpflich davongekommen. Zu früheren Zeiten war er grün und blau wieder in sein Zimmer zurückgekehrt.

Und doch weckten die Schmerzen der Wunde, die Erebos ihm zugefügt hatte, noch viel schmerzhaftere Erinnerungen. So sehr er es auch versuchte, er konnte sie nicht abschütteln. Erebos' Schlag hatte etwas geweckt, was Jahre lang tief in ihm geschlummert hatte ...
 

Als ich in den Stall ging, um Yuan zu holen, sah ich ihm mehr Schrecken als Freude an. Obwohl ich nicht sagte, dass ich für den Wunsch, ihn bei mir zu haben, den Schlag bekommen hatte, war es doch irgendwie klar. In Yuans Augen wandelte sich etwas, als er davon erfuhr. Ich wusste nicht, was es war und sollte es auch viel später erfahren.

Doch noch etwas anderes schien meinen neugewonnenen Freund zu beunruhigen. Es war mein leerer Blick und meine Geistesabwesenheit. Doch ich wollte nicht über den Grund sprechen, was er nach kurzem Gespräch akzeptierte.

Doch noch in derselben Nacht, kam ans Licht, was mich seit Jahren von Innen her auffraß.

Die wahren Umstände über den Tod meiner Mutter ...

Wunden der Vergangenheit

*Misopädie = Krankhafter Hass auf die eigenen Nachkommen

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Es war eine stürmische Nacht, die über Meltokio fegte. Undine, Volt und die Sylph schienen vom Krieg angesteckt worden zu sein und miteinander zu kämpfen, denn es regnete so sehr, dass die Straßen teilweise überflutet wurden, die Blitze durschnitten die Nacht wie ein Schwert die Kehle seines Opfers und der Wind peitschte mit einer unbändigen Kraft über das Land hinweg.

Doch Kratos kämpfte in dieser Nacht seinen ganz eigenen Kampf. Er träumte. Er träumte einen Traum, den er nicht träumen wollte. Ein Alptraum, wie er grausamer kaum sein konnte. Der Nachtmahr hatte das Kind völlig in seiner Gewalt. Es weinte Tränen, die so viel schmerzhafter waren als der Regen, der gegen das Fenster prasselte und wimmerte voller Angst, was selbst den mächtigen Donner des Gewitters nebensächlich erschienen ließ. Kratos warf sich hin und her, er kämpfte mit aller Macht gegen das Märtyrium des Traumes an, doch es sollte ihm nicht gelingen ...
 

Er tat es wieder.

Kratos hasste es, wenn sein Vater seine Mutter schlug. Seitdem dieser für ihn noch immer fremde Mann zu ihnen nach Hause zurückgekehrt war, war nichts mehr so schön wie noch vor einem Jahr. Nebela weinte vor Schmerz und Angst. Kratos, der eigentlich schon lange schlafen sollte, spürte jeden Schlag seines Vaters gegen seine Mutter, die er so sehr liebte. Er sollte ihr nicht wehtun. Nie wieder.

Ein unbändiger Zorn, der ihm selbst Angst machte, erfüllte den Fünfjährigen. Er bebte am ganzen Körper. Warum tat er das? Er sollte aufhören! Er sollte endlich aufhören!

»Hör auf!«

Er wusste im ersten Moment selbst nicht, was er tat. Urplötzlich stand er vor seiner Mutter, mit ausgebreiteten Armen, sie schützen wollend, zu seinem Vater hinaufsehend. Das Blut seiner Mutter klebte an der Eisenkralle seines Vaters.

»Hau ab!«, forderte Erebos. »Geh' zurück in dein Zimmer!«

»Nein!«, widersprach Kratos trotzig. »Du sollst ihr nicht mehr wehtun! Hör bitte, bitte auf damit!«

Erebos wurde noch wütender, als er es ohnehin schon war.

»Hau ab!«, schrie er dem Kleinen entgegen und holte erneut mit seiner Eisenkralle aus. Kratos wusste nicht, wie ihm geschah. Die Kraft, die er in sich spürte, schon immer gespürt hatte, brach plötzlich aus. Er zog schützend seine Arme vor sich: Deren Hände in Flammen standen.

Es war Magie.

Nebela bekam den Schrecken ihres Lebens. In Erebos' Blick wandelte sich etwas. Der pure Jähzorn, der in ihnen geglüht hatte, flammte nun zu seinem Feuer des Hasses auf.

»Hure!«, brüllte er Nebela an. »Das ist niemals mein Sohn! Mein Sohn hätte niemals dein verfluchtes Schlammblut geerbt!«

Erebos holte nun mit ganzer Kraft aus und begann, auf Kratos einzuprügeln, dessen Magie erloschen war. Der kleine Körper hatte den mächtigen Schlägen des Kriegers nichts entgegen zu setzen. Er war ihm hilflos ausgeliefert; bis Nebela ihn in ihre Arme zog, um ihn zu schützen.

»Hör auf! Natürlich ist es dein Sohn!«, rief sie mit dem Zorn einer Löwin, die ihr Junges schützen wollte. »Sieh' ihn dir doch an! Er ist dir wie aus dem Gesicht geschnitten!«

Erebos packte Nebela an den Haaren und trat Kratos wie einen Hund beiseite.

»Selbst wenn: Wie kannst du es nur wagen, meinem Sohn, meinem Fleisch und Blut, diese abartige Magie beizubringen?!«

Nebela versuchte sich aus dem Griff ihres Mannes zu befreien, doch es gelang ihr nicht.

»Das habe ich nicht!«

»Lügnerin!«

Er begann von Neuem, auf Nebela einzuprügeln und sie zu beschimpfen. Dieses Mal jedoch viel heftiger. Kratos, der selbst von den wenigen Schlägen seines Vaters schwer verletzt war, konnte kaum aufstehen. Erebos ignorierte auch jedes seiner oder ihrer flehenden Worte. Er trieb seine Frau immer weiter zum Schlafzimmer. Schließlich stieß er sie hinein und knallte die Tür zu.

Kratos aber hörte, was drinnen vor sich ging. Nebela schrie vor Schmerz und flehte ihren Mann an, sie endlich zu verschonen, doch Erebos brüllte ihr nur immer weiter wüste Beschimpfungen entgegen und prügelte sie so heftig, dass die Schläge durch das ganze Haus zu hören waren. Kratos wollte das alles nicht. Es sollte endlich aufhören. Alle Kraft zusammennehmend rappelte er sich auf und schlug auf die Tür ein.

»Lass sie in Ruhe! Mama! Mama!!!«

Er hämmerte gegen die Tür. Irgendwie spürte er, dass es dieses Mal anders war. Schlimmer. Viel schlimmer. Mit aller Kraft, die seinem kleinen Körper gegeben war, schlug er auf die Tür ein. Immer wieder rief er nach seiner Mutter und flehte seinen Vater an, sie endlich loszulassen.

Ein weiterer Schrei ließ Kratos begreifen, dass seine Mutter Hilfe brauchte, nach der er auch schrie.

»Großvater! Großvater, wo bist du?! Hilfe! Irgenjemand! Hilfe! Großvater!!!«

Doch niemand kam. Kratos prügelte weiter auf die Tür ein und schaffte es schließlich, sie aufzumachen. Wie, wusste er nicht, doch das war ihm auch egal.

Das Bild, das sich ihm bot, brannte sich für immer in sein Gedächtnis. Nebela war blutübertrömt, Erebos bespritzt davon. Kratos schüttelte wild den Kopf.

»Lass sie los!!!«

Noch ehe er sich versah, hatte er den Arm seines Vaters gepackt und biss mit ganzer Kraft hinein. Erebos schrie auf.

»Verfluchtes Mistbalg!«, brüllte er und schleuderte Kratos gegen die nächste Zimmerwand. Nebela hatte sich dadurch endlich aufrappeln können, denn sie war in die Knie gegangen. Doch Erebos schenkte ihr nur zu schnell erneut seine Aufmerksamkeit. Völlig von Sinnen schlug und prügelte er sie. Kratos konnte nicht mehr. Zu groß waren die Schmerzen, zu heftig die Verletzungen für seinen so jungen Körper. Er konnte nur hilflos, mit vor Angst geweiteten Augen zusehen, wie seine Mutter immer mehr und mehr Schläge ertragen musste. Irgendwie schaffte sie es ein weiteres Mal, aufzustehen. Sie zitterte am ganzen Körper und hatte überall unzählige Wunden.

Und dann geschah es.

Erebos schlug ein weiteres Mal zu und traf Nebela am Hals, woraufhin ein Knacken ertönte, dass ihrem Sohn durch Mark und Bein ging. Sie stürzte und schlug mit dem Kopf gegen den kleinen Nachttisch, der neben dem Bett stand. Dann fiel sie zu Boden und blieb regungslos liegen.

Erebos keuchte, noch immer vor Zorn bebend. Er trat Nebela, doch sie zuckte nicht einmal zusammen. Lag einfach nur da. Irgendetwas schien in Erebos bei dem Anblick vorzugehen. Dann drehte er sich um und verließ das Zimmer, ohne irgendetwas zu tun oder zu sagen.

Kratos war erleichtert. Trotz der Schmerzen, die er hatte, wollte er sich bewegen und zu seiner Mutter gehen. Doch er kam nicht auf die Beine, also krabbelte er vorsichtig. Als auch das nicht mehr ging, zog er sich weiter. Bis er sie endlich erreicht hatte.

»Mama«, sagte er leise. »Vater ist weg. Du kannst die Augen wieder aufmachen.«

Doch seine Mutter bewegte sich nicht.

»Mama ...?«

Vorsichtig stupste Kratos Nebela, doch sie reagierte nicht. Stattdessen fielen ihr nur einige Strähnen ihres fliedernen Haars ins Gesicht.

»Mama ...«, sagte er noch einmal. »Du kannst aufstehen ...!«

Doch wieder stand seine Mutter nicht auf, regte sich nicht einen Millimeter. Doch Kratos war noch zu klein, um zu begreifen, was sein Vater getan hatte. Deswegen schubste er sie noch einmal ganz sanft.

»Mama ...!«, weinte er schon beinahe. Er hätte sie am Liebsten geschüttelt, damit sie endlich wach wurde, doch er wollte ihr nicht noch mehr wehtun. Deswegen kuschelte er sich an sie und schloss seine Augen. Vielleicht war sie ja nur eingeschlafen und wachte ganz bald wieder auf. Als er plötzlich ein Geräusch hörte, blickte er wieder auf.

»Mama?«

»Deine Mama wird nicht mehr aufwachen, mein kleiner Rotschopf ...«, sagte sie sanfte und doch irgendwie seltsame Stimme seines Großvaters, der in der Tür stand. Langsam trat er neben seine Tochter und seinen Enkelsohn.

»Wieso? Mama ist doch immer wieder aufgewacht. Sie schläft doch nur, oder?«, fragte Kratos und sah zu Tiberius.

»Großvater ... du weinst ...«

Tiberius ignorierte das Letzte und sah zu Nebela.

»Ja, deine Mama schläft. Aber sie schläft jetzt für immer ...«

Kratos verstand nicht, was sein Großvater sagen wollte.

»Warum? Kann sie nicht einfach wieder aufwachen?«

Tiberius' Stimme brach fast, als er weitersprach.

»Nein, mein Kleiner«, antwortete er sanft und zog Kratos vom Leichnam seiner Mutter weg. »Sie wird jetzt für immer schlafen und nie wieder aufwachen ...«

»Nie ... wieder ...?«

Tiberius schüttelte traurig den Kopf.

»Kann ... Vater ihr noch wehtun, wenn sie schläft?«, wollte er wissen.

»Nein, mein Kleiner. Er wird ihr nie wieder wehtun.«

»Dann soll sie schlafen ...«, sagte Kratos. »Ich will nicht, dass er ihr wieder wehtut.«

Tiberius' Tränen fielen auf Kratos' Haar, da er ihn in Armen hielt. Dann aber hob er ihn hoch und lehnte ihn an seine Schulter. Dabei streichelte er beruhigend über seinen Rücken, denn er hatte angefangen zu weinen. Kurz, bevor sein Großvater ganz aus dem Zimmer trat, sah Kratos noch einmal zu seiner Mutter.

»Schlaf gut, Mama ...«
 

»Kratos, wach auf!«

Vom Tränenschleier verschwommen, nahm Kratos Umrisse über sich wahr. Nachdem er einige Male geblinzelt hatte, erkannte er, dass es sich um Yuan handelte.

»Na endlich ... ich habe schon gedacht, du wachst gar nicht mehr auf.«

Kratos blickte zum Fenster. Es war noch immer tiefe Nacht, der Sturm tobte unverändert. Dann sah er Yuan an.

»Warum ... hast du mich geweckt ...?«, fragte er heiser.

»Du fragst Sachen. Du hast geschrien und geweint, als würde jemand getötet werden«, flachste Yuan in seiner Unwissenheit. Kratos senkte den Blick.

»Hab ... ich was Falsches gesagt?«

Kratos reagierte nicht. Er setzte sich auf und holte den Bernstein unter seiner Kleidung hervor. Sehnsüchtig sah er ihn an, denn immer wieder sah er nicht den Stein, sondern die Augen seiner Mutter, die ihn liebevoll anblickten.

»Was wurde dir über den Tod meiner Mutter erzählt?«, fragte Kratos, ohne Yuan anzusehen. Yuan war zwar verwirrt, antwortete aber.

»Äh ... mir wurde gesagt, sie stürzte die Treppe hinunter und brach sich das Genick ...warum fragst du das?«

»Weil es gelogen ist.«

Kratos wusste nicht, warum er auf einmal darüber reden wollte. Sein Vater hatte es ihm verboten. Unter Androhung, ihn selbst zu töten. Aber er konnte nicht mehr schweigen. Zu lange trug er dieses dunkle Geheimnis in sich, von dem nur Tiberius wusste. Und bei ihm hatte er es erneut nicht gewagt, darüber zu sprechen. Er hatte geglaubt, es vergessen zu können. Doch in Wahrheit hatte er fast jeden Tag daran gedacht.

»Gelogen?«, fragte Yuan. »Das verstehe ich jetzt nicht.«

»Du kannst es auch nicht verstehen ...«

»Dann erkläre es mir doch.«

Yuan setzte sich auf Kratos' Bett und sah ihn an. Kratos erwiderte den Blick.

»Du musst nicht, wenn du nicht willst. Aber wenn dich was belastet, sag's mir ruhig. Und das scheint ja was Schlimmeres zu sein.«

Kratos schwieg eine Weile, den Bernstein ansehend.

»Meine Mutter ... starb durch die Hand meines Vaters.«

Yuan sah Kratos ernst an. Er sagte nichts. Er saß einfach nur da und hörte zu.

Kratos begann zu erzählen. Er berichtete von jener schrecklichen Nacht, in der herausgekommen war, dass er Magie einsetzen konnte. Er erzählte, wie Erebos Nebela verprügelt hatte, wie er sie hatte schützen wollen, wie Nebela es bei ihm versucht hatte. Er ließ nichts aus. Irgendwann begann er zu weinen, ohne es wirklich zu merken. Er konnte nicht aufhören zu reden. Es wollte einfach raus. Raus aus seinem Herzen, raus aus seiner Seele. Es kostete ihn unendlich viel Kraft, das alles auszusprechen, doch er spürte auch, wie er sich von Wort zu Wort erleichterter fühlte.

»... am nächsten Tag wurde ... meine Mutter beerdigt. Großvater sagte mir, dass das gemacht wurde, damit sie niemand stören kann. Ich weinte diesen Tag fast jede Minute. Mir war klar geworden, dass ich meine Mutter nie wieder sehen würde ...«, fuhr er mit seinen Erzählungen fort. »Um meine Tränen zu trocknen, schenkte mir mein Großvater diesen Bernstein. Er sieht aus wie ... Mamas Augen ...«

Kratos schluckte ein weiteres von vielen Malen.

»Ab diesem Tag wollte ich nie wieder so wütend werden ... diese Wut war Schuld, dass ich die Magie einsetzte ... sie war Schuld, dass ... meine Mutter starb ...«

Yuan hatte die ganze Zeit kein Wort gesagt, doch jetzt musste er Kratos einfach widersprechen.

»Dein Vater allein ist Schuld«, meinte er. »Wäre er nicht so rassistisch, wäre das nicht passiert.«

Kratos blickte auf, sah in Yuans Augen. In ihnen schimmerten Tränen, doch er weinte nicht. Es schien, als wolle er stark sein. Für ihn.

»Aber ...«

Yuan schüttelte den Kopf.

»Du bist nur durch deinen Vater so wütend geworden. Weil er deine Mutter geschlagen hat.«

Kratos musste Yuan irgendwie Recht geben. Aber trotzdem fühle er sich schuldig.

»Warum hast du das nie jemandem erzählt?«, fragte Yuan.

»Weil mein Vater es mir verboten hat ...«

»Ist das ein -«

Kratos starrte Yuan an, als er das Schimpfwort aussprach. Yuan musste sogar grinsen, als er sein entsetztes Gesicht sah.

»Du müsstest dich sehen«, meinte eher.

»Was ... bitte war das denn?«, fragte Kratos. »Wieso hast du meinen Vater einen ... Allerwertesten genannt?«

Yuan konnte nicht anders; er musste einfach lachen.

»Du lebst echt hinter'm Mond!«, behauptete er. »Das war ein Schimpfwort. Sowas sagt man, wenn man sauer auf jemanden ist.«

Irgendwie kam Kratos nicht umhin, sich eine bildliche Vorstellung davon zu machen. Was im ersten Moment Ekel bei ihm hervorgerufen hatte, wurde nun lustig. Doch so wirklich lachen, konnte er nicht.

»Na komm, du willst es doch auch!«, meinte Yuan. »Ich wette, deine Mutter freut sich, wenn du lächelst.«

Kratos sah Yuan an.

»Meinst du wirklich?«

Er nickte energisch.

»Ganz sicher. Deswegen solltest du oft lächeln«, schlug Yuan vor. »Und weißt du was? Ich helf' dir dabei!«

Der Blauhaarige strahlte seinen Freund an. Doch Kratos lächelte nicht: Er strahlte zurück.
 

Waren wir im Wald nur Freunde geworden, wurden wir in jener Nacht so etwas ähnliches wie Geschwister. Das Schicksal meinte es gut mit uns.

Yuan nahm an meinem Unterricht teil, was er mit einer Mischung aus Freude und Missmut begrüßte. Zwar machte es ihm Spaß, endlich das Rechnen zu erlernen, da ihm Zahlen lagen, Schreiben und Lesen hingegen waren ihm ein Gräuel.

Der Sommer verstrich und die meisten Halbelfen meines Vaters wurden auf die Plantagen geschickt, um dort auszuhelfen. Daher bekam Yuan, der bei mir blieb, wesentlich mehr zu tun. Doch wie ich noch lernen sollte, ging das Schicksal manchmal seltsame Wege. Erschien es im ersten Moment ungerecht, so führt es einen zu etwas, das alles erlittene entlohnt.
 

»Dein Vater hat doch nicht mehr alle Nadeln an der Tanne!«, schimpfte Yuan. »Der Tag hat nur vierundzwanzig Stunden! Wie soll ich das alles schaffen?!«

»Indem du weniger redest und mehr arbeitest.«

Kratos half Yuan gerade dabei, die gewaschene Kleidung aufzuhängen. Seitdem die meisten der Halbelfen auf den Plantagen waren, hatte Yuan derart viel zu tun, dass er wohl täglich bestraft werden würde, da er das Pensum nicht einhalten konnte; wäre Kratos nicht gewesen.

Sofern sein Vater nicht in der Nähe war, half der junge Adelige seinem Freund. Er tat es sogar gern, da der Adelsalltag sehr langweilig sein konnte und er nicht ausreiten durfte, wann ihm danach war. Zumal machte es ohne Yuan nur halb soviel Spaß. Und da dieser in Arbeit erstickte, war nicht mal an einen Ausritt zu denken.

»Was musst du heute eigentlich noch erledigen?«, wollte das rothaarige Kind wissen.

»Ich muss noch auf den Markt, einige Besorgungen machen«, antwortete Yuan entnervt.

»Dann werde ich mitkommen.«

»Das erlaubt dir dein Alter nie«, meinte der Blauhaarige.

»Doch. Wenn ich sage, dass du zu schlicht im Denken bist, um einfache Summen zu addieren und subtrahieren, wird er mich sogar von sich aus mitschicken.«

»Äh ... ich bin vielleicht nicht der Hellste, aber: Du willst ihm sagen, dass ich dumm bin, oder?«

Kratos musste grinsen.

»So kann man es auch sagen.«

»Na danke ...«, grummelte Yuan.

Nach kurzer Zeit hatten sie die Wäsche komplett aufgehängt und Kratos wagte sich – wie nur allzu oft, seitdem Yuan bei ihm lebte – zu seinem Vater vor. Nachdem er sein Anliegen vorgetragen hatte, legte sich sein Vater seine Eisenkralle um sein Kinn.

»Du könntest sogar Recht haben«, gab er zu.

Kratos nickte.

»Sein Denken ist schlicht, man würde ihn nur allzu leicht übertölpeln. Und da dies eine Auspeitschung nach sich ziehen würde, könnte er weniger arbeiten, was mir wiederum sehr missfallen würde. Ich brauche ihn inzwischen für meine Arbeit.«

Erebos schwieg eine kurze Zeit. Kratos blieb einfach stehen. Er kannte die Entscheidung seines Vaters bereits. Seitdem er sich, durch Yuan, gezwungener Maßen öfter mit ihm beschäftigen musste, hatte er gelernt, seinen Erzeuger recht gut einzuschätzen.

»Begleite ihn und sorge dafür, dass er die Einkäufe ordnungsgemäß tätigt. Das nächste Mal will ich ihn allein losschicken können.«

Er warf Kratos einen kleinen Beutel Münzen zu.

»Das Geld ist abgezählt. Fehlt auch nur eine Münze, werde ich dich dafür zur Rechenschaft ziehen.«

Kratos verneigte sich.

»Ja, Vater.«

Damit drehte er sich um und verließ das Zimmer seines Vaters. Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, gönnte er es sich, erleichtert aufzuatmen. Yuan, der wie immer gelauscht hatte, strahlte ihn an.

»Ist ja wunderbar gelaufen!«, freute er sich.

»Ansichtssache. Wenn irgendwas teurer geworden ist, darf ich das ausbaden«, wand Kratos ein.

»Du hast eine ziemlich negative Einstellung, weißt du das eigentlich?«, fragte der kleine Halbelf.

»Das nennt sich Realismus. Und jetzt lass uns gehen, wir müssen vor Sonnenuntergang wieder da sein.«
 

Es war das erste Mal in Yuans Leben, dass er einen richtigen Markt sah.

Seine Augen gingen ihm beinahe über, so sehr bestaunte er die Stände, die sich aneinander reihten. Kratos schmunzelte darüber und ließ ihn ein wenig staunen. Er selbst sah sich auch gern um. Überall wurden Waren feil geboten, zu denen feinste Seide, frischestes Obst und saftigstes Fleisch zählten. Yuan blieb an fast jedem Stand stehen um bestaunte die ausgelegten Handelsgüter. Kratos musste ihn nur allzu oft davon abhalten, sich einfach etwas davon zu nehmen, um es anzusehen.

»Warum darf ich es denn nicht anfassen?«, fragte er, als Kratos ihm verbot, sich ein Stück Fleisch näher anzusehen.

»Weil es dann niemand mehr kaufen würde. Würdest du Fleisch essen wollen, was schon Dutzende Leute in der Hand hatten?«

»Natürlich! Wäre doch totale Verschwendung, wenn nicht!«, empörte Yuan sich und Kratos begriff, dass ein armer, kleiner Halbelf wie Yuan so etwas nicht verstehen konnte. Statt ihm weitere Erklärungen zu geben, zog er ihn einfach mit sich. Es war nicht einfach, mit Yuan einzukaufen, wie er feststellen musste. Er gab zwar zu, dass man den fantastischen Gerüchen von Fleisch, Fisch, Obst und sogar Süßigkeiten nur schwerlich widerstehen konnte, zumal er selbst noch nichts zu Mittag gegessen hatte, aber das war ihm lieber, als eine Tracht Prügel seines Vaters.

Nach einer Weile hatte Yuan bereits ganz schön schwer zu tragen, da die Liste von Erebos ziemlich lang war.

»Du könntest mir mal was abnehmen!«, maulte Yuan.

»Wenn du abnehmen willst, brauchst du mehr Bewegung, das kann ich nicht für dich machen«, scherzte Kratos, der den Ausflug genoss.

»So war es doch nicht gemeint! Ich habe mich beschwert!«

»Um einige Kilo, wie es aussieht«, flachste das adelige Kind.

»Hör auf, mir das Wort im Mund umzudrehen!«

Kratos lachte leicht.

»Ich trage schon schwer genug«, meinte er dann.

»Du trägst gar nichts«, behauptete Yuan.

»Doch, die Verantwortung.«

Yuan seufzte und schleppte die Einkäufe weiter hinter Kratos her. Plötzlich aber blieb er stehen. Kratos bemerkte dies erst einige Schritte später und sah sich suchend um. Sein blauhaariger Freund hatte einen Spielzeugstand entdeckt. Er seufzte und gesellte sich zu ihm.

»Schau dir die ganzen Spielsachen an!«, verlangte Yuan. Kratos überblickte die ganzen Stofftiere und Holzfiguren. Er fand nichts interessantes daran, was auch daran liegen konnte, dass er trotz seines Reichtums so gut wie keine Spielzeuge besessen hatte. Erebos hatte ihm nie welche gekauft, da er sie für unnötig hielt. Die Einstellung hatte Kratos irgendwann unbewusst übernommen.

»Was ist damit?«, fragte er deswegen.

»Sie sind ... wunderschön«, meinte Yuan. »Ich habe noch nie ein Spielzeug gehabt.«

»Noch nie?«, fragte Kratos. »Nicht mal ein Kuscheltier?«

Yuan schüttelte den Kopf und himmelte einen kleinen Stoffhasen mit langen Ohren und ganz weichem Fell an.

»Gefällt er dir?«, wollte Kratos wissen. Yuan nickte nur. Das adelige Kind blickte auf den Preis des Stofftieres.

»Dreißig Gald ...«, dachte er bei sich. »Wenn ich das Geld heimlich durch meines ersetze, wird Chichiue nichts merken ...«

Kratos seufzte und blickte auf den Galdbeutel in seinen Händen. Dann griff er nach dem blauen Stofftier und hielt es dem Verkäufer hin. Yuan starrte Kratos mit offenem Mund an.

»Aber ...!«

»Sag nichts, sonst überleg' ich's mir nochmal«, unterbrach das adelige Kind den Halbelfen. Der Verkäufer lächelte freundlich und verkaufte Kratos das Stofftier. Dann gab dieser es an Yuan weiter. Dieser brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, was Kratos ihm da gerade gegeben hatte.

»Du ... du hast ihn mir ... geschenkt?«, fragte er. »Aber du bekommst doch furchtbaren Ärger!«

Kratos schüttelte den Kopf.

»Ich werde mein eigenes Geld in den Beutel legen, bevor mein Vater etwas merkt.«

Yuan fiel Kratos um den Hals und schmiegte sich schon beinahe an ihn.

»Danke!«, sagte er und blickte mit leuchtenden Augen zu dem Rothaarigen hinauf. »Mir hat noch nie jemand etwas geschenkt!«

Kratos, der mit der innigen Berührung nur wenig anfangen konnte, errötete.

»Ist ja gut, aber lass mich wieder los ...!«

Yuan tat das Gewünschte. Stattdessen knuddelte er seinen Kuschelhasen durch. Dann versteckte er ihn in einer der Einkaufstaschen und trabte strahlend wieder hinter Kratos her.
 

Sie waren schon fast zwei Stunden unterwegs und Kratos kaufte gerade das Letzte auf der Liste stehende, als die beiden Kinder plötzlich ein anpreisendes Gebrüll hörten.

»Kommen Sie her, meine Damen und Herren und staunen Sie über die heutige Sklavenangebot!«

Kratos als auch Yuan blickten in die Richtung, aus der der Ruf kam. Wenig später folgten sie ihm.

Auf einem hölzernen Podest stand ein muskulöser Mann, der eine Peitsche an seinem Gürtel trug. Er erinnerte Kratos stark an Hiroki. Hinter ihm stand eine Gruppe Halbelfen, die an einer langen Kette, aneinander gefesselt waren. Der Verkäufer zog den ersten dichter an sich heran, worauf sich die gesamte Kette vorwärts bewegte. Ein kleinerer Halbelf geriet dabei aus dem Gleichgewicht und fiel hin. Doch statt ihm aufzuhelfen trampelten die Anderen einfach über ihn hinweg. Kratos' Blick füllte sich mit Mitleid. Der von Yuan hingegen zeigte blanke Angst. Das adelige Kind ahnte, dass dieser Anblick unschöne Erinnerungen in seinem Freund weckte.

»Mein erstes Angebot für heute ist ein junger Bock!«, preiste der Händler an, wobei Kratos sich über die Bezeichnung des männlichen Halbelfen wunderte. »Er ist gesund und kräftig, also bestens für die Feldarbeit und Zucht geeignet.«

»Zucht?«, murmelte Kratos. Yuan nickte.

»Wir Halbelfen werden teilweise gezüchtet«, bestätigte er. »Deswegen kenne ich auch meine Eltern nicht. Ich bin nur eines von vielen gezüchteten Sklavenkindern.«

»Das ist ...«

Kratos fand kein Wort, was gepasst hätte. Mit grotesker Faszination blickte zu dem Händler hinauf, der die Halbelfen anpreiste als wären sie Vieh. Nachdem der erste Halbelf für sage und schreibe dreitausendfünfhundert Gald an einen älteren Mann verkauft worden war, zog der Händler das Halbelfenkind auf das Podest. Da dieses sich kaum noch auf den Beinen halten konnte, zog er heftiger an der Kette, an der es befestigt war. Dadurch fiel es erneut hin, woraufhin er von seiner Peitsche Gebrauch machte. Kratos kniff die Augen zusammen, da er nicht sehen wollte, was dort geschah. Yuan schnaubte.

»Das ist typisch für euch Menschen«, sagte er bitter. »Ihr verschließt die Augen vor dem Leid meiner Rasse.«

»Ich kann nicht hinsehen«, meinte Kratos daraufhin. »Es ist so grausam.«

Das Kind rappelte sich mühsam auf. In seinem eingefallenen Gesicht konnte der junge Adelige Angst und Schmerz lesen.

»Das weiß ich«, sagte Yuan. »Ich selbst stand einst dort oben.«

Kratos schwieg. Er wusste nicht, was er sagen sollte. In diesem Moment schämte er sich schon beinahe, ein Mensch zu sein.

»Ein Balg aus der besten Zucht Tethe'allas ist mein nächstes Angebot. Es ist ein wenig kümmerlich, kann aber schnell aufgepäppelt werden!«

Kratos hörte, wie ein Mann neben ihm etwas in seinen Bart murmelte. Er spitzte seine Ohren, um es genauer zu verstehen.

»... ich könnte neue Bälger gebrauchen, mein neuer Stollen ist ziemlich klein.«

Kratos merkte, wie Yuan sich an ihn drückte. Aus einem Reflex heraus, tätschelte er ihm beruhigend über das Haar.

»Geh ruhig, wenn du möchtest«, meinte er. »Pass aber auf dich auf.«

»Kommst du nicht mit?«, fragte der Blauhaarige. Kratos verneinte.

»Ich will sehen, was meine Rasse der deinen antut«, antwortete er. Yuan wunderte sich einen Augenblick, nickte dann aber und verschwand.

»Zweitausend Gald!«, brüllte der Mann neben ihm, der das Kind für den Bergbau missbrauchen wollte.

»Zweitausend Gald sind das aktuelle Angebot«, wiederholte der Händler. »Bietet jemand mehr?«

»Zweitausendzweihundert«, rief eine unfreundlich aussehende, recht alte Frau.

»Zweitausendfünfhundert!«, kontere der Bärtige.

Diese Summe hielt sich jedoch nicht lange, da ein vom Aussehen her höherer Adeliger nun in die Aktion mit einstieg.

»Dreitausend!«
 

Ich konnte nicht fassen, was ich gerade miterlebte. Mit einer Faszination, die nur aus Abscheu und Unglaube heraus entstand, sah ich zu und hörte zu. Mein Mitleid für die Halbelfen, die der Händler anpreiste, wuchs ins Unermessliche. Das erste Mal seit dem Tod meiner Mutter wünschte ich mir, zu wissen, wie ich meine Magie richtig einsetzen konnte. Ich wollte helfen. Doch ich konnte es nicht. Ich stand einfach nur da und sah zu, wie lebendige, fühlende Wesen, die meiner eigenen Rasse so sehr ähnelten in Sklaverei und Leid verkauft wurden. Dabei konnten sie nicht einmal etwas für ihre Existenz. Sie waren entstanden, weil ein Mensch und ein Elf sich geliebt hatten. Zwei Rassen, die anerkannt waren, deren Kinder jedoch verachtet wurden. Warum zeugten solche Paare neues Leben? Es grenzte an reine Misopädie.

Das Halbelfenkind wurde schließlich an den Bergbauer verkauft. Es weinte bitterliche Tränen, als es ihm folgte. Und ich stand nur daneben und sah zu. Als ich seine Tränen sah, in denen sich mein Gesicht widerspiegelte, wurde mir klar, wie viel Yuan durchlitten haben musste, bevor er zu mir kam. Und als es dafür auch noch geschlagen wurde, erschien mir meine eigene Kindheit regelrecht harmonisch.

Ich schwor mir an diesem Tag, niemals, in meinem gesamten Leben, einen Halbelfen oder irgendein anderes Wesen zu diskriminieren. Und ich wollte die Augen nicht mehr verschließen. Nicht vor dem Leid der Halbelfen, nicht vor dem Leid irgendeines Geschöpfs.

Es war, als hätte dieses Eingeständnis von mir höhere Sphären erreicht. Denn nur wenige Minuten später sollte meine neugewonnene Einstellung auf eine harte Probe gestellt werden.

Noishe

»Kratos!«

Der Ruf seines Freundes erreichte Kratos erst einige Augenblicke später, denn er starrte immer noch zur Auktion hinauf. Erst, als Yuan sich wieder zu ihm durchgedrängelt hatte, wurde er sich seiner Anwesenheit bewusst.

»Was ist los?«, fragte, wobei sein Blick etwas Nebeliges an sich hatte.

»Komm mit! Ich muss dir etwas zeigen!«, behauptete er und zog Kratos am Arm mit sich. »Das musst du einfach sehen!«

Kratos wunderte sich einmal mehr über die Kraft des jungen Halbelfen. Er schleifte den Rothaarigen hinter sich her, als sei er so leicht wie eine Feder. Der Blauhaarige zerrte ihn zielstrebig über den Markt, bis er einen Stand erreicht hatte, an dem Tiere verkauft wurden. Dort blieb er stehen. Kratos sah sich minder interessiert um.

»Was willst du mir denn so unbedingt zeigen?«, fragte und verschränkte seine Arme vor der Brust.

Yuan sagte nichts, sondern zeigte nur auf einen kleinen, runden Käfig, der von einer Menschenmenge umringt wurde. Kratos schielte, als Yuan ihm klarmachte, dass er sich dort hindurchzwängen sollte. Ihm zu Liebe kam er der Bitte jedoch nach.

Nach kurzem Gezwänge, hatte Kratos einen guten Blick auf den Inhalt des Käfigs. Sein Herz blieb für eine Sekunde stehen.

Ein kleines Aeros, dessen mattes Gefieder grün und weiß gleichermaßen war, lag schnell und flach atmend auf dem Boden des Käfigs. Kratos' durch Bücher geschultes Auge erkannte sofort, dass das kleine Wesen völlig unterernährt und krank war. Trotz des lauten Geredes der Leute konnte er die schwachen Laute des Aeros' hören, welche ihn zutiefst berührten und erneut Mitleid in ihm weckten. Er konnte nicht anders, als näher an den Käfig heranzugehen. Das Aeros, das höchsten einige Wochen alt war, öffnete seine lilafarbenen Augen und blickte Kratos direkt an. In ihnen glühte das Fieber, das seine Krankheit mit sich bringen musste.

»Das arme, kleine Ding wollte ich dir zeigen«, sagte Yuan nun.

»Es ist schwer krank«, meinte Kratos.

»Ich weiß«, sagte das Halbelfenkind, welchem durch sein elfisches Blut eine tiefe Verbundenheit zur Flora und Fauna gegeben war. »Aber was sollen wir tun?«

Kratos blickte auf das Preisschild, welches am Käfig hing. Die Summe würde seine gesamten Ersparnisse aufbrauchen, jedoch konnte er den Anblick des unschuldigen und kranken Geschöpfes nicht einfach ignorieren. Es war ein Kampf von Sekunden, bis er beschloss, sein Versprechen, dass er sich selbst auf dem Sklavenmarkt geben hatte, einzuhalten. Er blickte zu dem Händler, der nicht weit vom Käfig stand.

»Ich kaufe es«, sagte er nur. Der Händler lachte.

»Ich glaube kaum, dass du ihn bezahlen kannst«, meinte dieser. »Kannst du die Zahl überhaupt lesen?«

»Ich könnte sie sogar mehrfach multiplizieren«, schnauzte Kratos, griff nach seinem eigenen Galdbeutel und warf ihn dem Händer zu. Dieser zählte die Münzen und war nach kurzer Zeit zufrieden.

»Glück gehabt, es reicht«, sagte er und händigte Kratos das kleine Vogelwesen aus, dessen Flügel gestutzt worden waren. Der Rothaarige wollte sich mit Yuan schon zum Gehen umwenden, als ihm etwas einfiel und er den Händler noch einmal ansah.

»Woher haben sie ihn?«, fragte er.

»Einige Soldaten brachten ihn mit. Sie haben ihn angeblich im Wald gefunden.«

Kratos nickte und ging, dicht gefolgt von Yuan.

»Was machen wir jetzt?«, fragte dieser.

Kratos blickte auf das schwer kranke Aeros in seinen Armen. Es bekam kaum noch Luft.

»Es gibt nur einen Weg«, meinte er und blickte Yuan an. »Wir müssen zu meinem Großvater. Nur er kann ihm helfen.«

»Aber dein Vater ...!«

»... ist mir egal«, fiel Kratos ihm ernst ins Wort. »Ich verschließe meine Augen nicht mehr.«

Der junge Halbelf sah Kratos bewundernd an. Dann nickte er.

»Wir brauchen Silabél und Belias, der Weg ist weit«, sagte der Rothaarige. Yuan nickte und die beiden Kinder machten sich auf den Rückweg zu Erebos' Anwesen. Das kleine Vogelwesen verbarg Kratos dabei in seiner Kleidung, um es warm zu halten und vor Blicken zu schützen. Zu ihrem großen Pech stand Erebos bereits vor dem Anwesen. Er schien auf die Rückkehr der beiden zu warten. Kratos und Yuan verbargen sich im Schatten eines nahestehenden Hauses.

»Verdammt!«, fluchte das Halbelfenkind. »Was jetzt?«

Kratos überlegte fieberhaft. Das kleine Aeros zirpte kläglich. Der Rothaarige strich ihm beruhigend über die Federn seines Kopfes.

»Schleich' du dich leise hinten herum in die Ställe. Ich warte am Südausgang Meltokios auf dich.«

»Und wenn er mich erwischt?«, fragte Yuan.

»Versuch' wenigstens Silabél zu befreien. Sag' ihr, wo ich warte.«

Yuan nickte, bereit, eine drakonische Strafe von Erebos zu bekommen. Kratos erwiderte das Nicken und lief in Richtung Südtor davon.
 

Wenig später hörte Kratos das Scharren von Krallen auf steinernem Boden. Er blickte in die Stadt hinein; und stellte erleichtert fest, dass Yuan zusammen mit den beiden Drachen auf ihn zukam.

»Du hast es geschafft!«, stellte er freudig fest.

»War nicht ganz einfach, aber es hat geklappt«, bestätigte Yuan. »Die Zeit für Reitdecken hat aber gefehlt.«

Kratos nickte nur und stieg auf. Vor den Toren Meltokios blickte das Halbelfenkind nachdenklich in den Himmel.

»Es wird einen Sturm geben«, meinte er.

»Woher willst du das wissen?«, fragte Kratos.

»Die Vögel fliegen tief und es ist windstill«, erklärte der Blauhaarige.

»Selbst wenn, das Kleine stirbt, wenn wir Großvater nicht rechtzeitig erreichen«, meinte das adelige Kind und wandte sich Silabél zu. »Lauf' so schnell du kannst!«

Das Drachenweibchen fauchte laut und preschte los. Yuan und Belias folgten den beiden.

Kratos saß sicher auf dem Rücken von Silabél und hielt das kleine Vogelwesen fest im Arm. Die Ebenen um Meltokio hatten sie schnell hinter sich gelassen, der Schatten des Waldes hatte sie bereits verschluckt. Yuan hatte Kratos inzwischen eingeholt und ritt dicht neben ihm her. Keiner der beiden sprach, viel zu sehr waren sie auf das Reiten konzentriert.

Wenig später jedoch schlug das Wetter um. Es wurde von Minute zu Minute windiger, Kratos und Yuan pressten sich immer weiter an Silabél und Belias heran. Als es auch noch zu regnen begann, verfluchte Kratos die Elementargeister innerlich. Zu allem Überfluss bemerkte er nun, warum sein Großvater immer auf eine Reitdecke bestanden hatte: Die Schuppen von Silabél scheuerten an seiner Kleidung und hatten teilweise schon seine Haut erreicht. Der eiskalte Wind und der heftige Regen verbesserten seine Lage nicht gerade. Zu allem Überfluss spürte er, wie die Körperwärme des kleinen Vogelwesens immer weiter abnahm und sein Atem immer flacher wurde.

»Schneller, Silabél!«, fauchte er durch den Wind. Das Drachenweibchen schnaubte laut, gab es doch schon alles an Kraft, was es besaß.

»Kratos, der Abhang!«, rief Yuan ihm zu und der Rothaarige blickte nach vorne. Der Abgrund, über den sie einst auf der Flucht vor dem Drachenmännchen gesprungen waren, tat sich vor ihnen auf. Kratos hielt jedoch nicht an.

»Das schaffen wir!«, antwortete er.

»Bist du irre?! Mit dem Gegenwind?!«

Das adelige Kind sagte nichts mehr. Er hielt sich an Silabél fest und presste das Aeros an sich. Als er spürte, wie Silabéls Klauen den Boden verließen, kniff er die Augen zusammen.

Sekunden der Anspannung begannen während des freien Fluges. Plötzlich aber ging ein heftiger Ruck durch Silabéls Körper, der auch den von Kratos traf. Sie hatten es geschafft.

Er hielt Silabél kurz an und wandte sich um, um nach Yuan zu sehen. Er landete kaum eine Sekunde später neben ihm. Er keuchte vor Schrecken, war jedoch wohlauf.

Der Ritt wurde immer beschwerlicher, der Sturm immer heftiger. Doch als sie den Wald endlich hinter sich gelassen hatten, traf das Wetter sie erst mit ganzer Breitseite. Selbst die kräftige Silabél verlor beinahe das Gleichgewicht, als eine Sturmböe sie streifte. Außerdem ging ihr langsam der Atem aus.

»Wie weit ist es noch?«, fragte Yuan.

Kratos versuchte, die Umgebung zu erkennen, was im Dunkeln und mitten im Sturm alles Andere als leicht war. Schließlich aber entdeckte er die Umrisse des Anwesens, in dem sein Großvater lebte. Er zeigte in die Richtung.

»Es nicht nicht mehr weit! Dahinten ist es schon!«

Mit diesen Worten trieb er Silabél von Neuem an. Belias folgte ihr samt Yuan. Sie waren inzwischen fast drei Stunden durchgeritten und Kratos' Beine schmerzten stark durch die Schuppen Silabéls. Doch er ignorierte es so gut er konnte. Der schwache Atem des kleinen Geschöpfes in seinen Armen machte ihm klar, dass es ihm selbst verdammt gut ging. Er kämpfte nicht um sein Leben.

Dann endlich erreichten sie das Anwesen und suchten hinter den Mauern des großen Gartens Schutz.

»Großvater!«, schrie Kratos so laut er nur konnte. »Großvater, Hilfe!«

Wie er es erwartet hatte, sprang die Tür einen Augenblick später auf und sein über alles geliebter Großvater eilte in den Sturm hinaus. Kratos sah, dass er etwas sagen wollte, doch noch in der gleichen Sekunde zeigte er ihm das kleine Aeros. Tiberius half ihm sofort herunter und machte das Gleiche mit Yuan. Silabél und Belias machte er mit wenigen Zischlauten klar, dass sie im Stall unterkommen konnten. Dann brachte er Kratos und Yuan ins Warme. Erst, als Tiberius ihm das Vogelwesen abgenommen hatte, gönnte es sein Enkel sich, zusammenzubrechen.

»Kratos!«, stieß Yuan hervor und fing seinen Freund gerade noch rechtzeitig auf. Tiberius blickte auf seinen Enkelsohn hinab und ging in die Hocke. Er war der Erste, der das Blut an seinen Beinen entdeckte. Er sah zu Yuan.

»Bring' ihn in sein Zimmer. Er kann dir sagen, wo es ist«, sagte er. »Ich komme gleich zu ihm.«

»Versorg' erst das Kleine ...«, sagte Kratos, wenn auch schwach.

»Werde ich, keine Angst«, nickte Tiberius und verschwand. Yuan legte sich Kratos' Arm um die Schulter und stützte ihn so. Nach einigen Schritten konnte Kratos sich vorsichtig in sein Bett fallen lassen. Yuan setzte sich neben ihn.

»Du hast ganz schön Rückgrad«, meinte er und grinste dann. »Für einen Menschen.«

Kratos schnaubte belustigt.

»Und du bist ganz schön frech«, erwiderte er. »Für einen Halbelfen.«

Die beiden Kinder schmunzelten einander an und begannen, auf Tiberius zu warten.
 

Eine gute Stunde später ging die Tür zu Kratos' Zimmer auf und sein Großvater trat hinein. Als er die erwartenden Blicke der beiden Kinder sah, lächelte er.

»Der Kleine ist über den Berg. Er wird es schaffen.«

Kratos atmete erleichtert auf.

»Das freut mich zu hören. Danke, Großvater.«

»Nichts zu danken«, meinte dieser und trat an seinen Enkel heran. »Jetzt muss ich mich aber um deine Beine kümmern. Wie konntet ihr Zwei ohne Reitdecken und auch noch bei diesem Wetter so einen weiten Weg auf euch nehmen?«

»Es war wegen dem Aeros«, erklärte Kratos. »Wir haben es auf dem Markt gefunden, da habe ich es gekauft. Wir wollten es zu dir bringen und gerieten in den Sturm.«

»Ich verstehe«, nickte Tiberius. »Aber warum ohne Reitdecke?«

»Wir mussten uns an Erebos vorbeischleichen«, erklärte Yuan nun. »Da war keine Zeit mehr, um ihnen Reitdecken überzulegen.«

Tiberius sah zu Yuan.

»Wer bist du eigentlich?«, fragte er dann freundlich. Kratos ließ ihn selbst antworten. Einer von vielen Beweisen, dass er ihn nicht als Leibeigenen, sondern als freies Wesen ansah.

»Mein Name ist Yuan«, sagte dieser kleinlaut.

»Er ist mein Freund«, fügte Kratos hinzu. »Mein Vater gab ihn mir als Stallburschen und später als Leibeigenen.«

Tiberius sah Yuan lange in die Augen. Er hielt dem Blick stand, wie einst bei Kratos. Dann lächelte der Großvater des Rothaarigen.

»Er hat eine gute Seele«, meinte er sanft zu Kratos, grinste dann aber. »Und eine Menge Blödsinn im Kopf.«

Kratos schmunzelte.

»Wem sagst du das?«

»Heh!«, schnauzte Yuan, der fertig damit war, sich über das Gesprochene von Tiberius zu wundern. Dieser wandte sich nun ganz seinem Enkel zu. Und besah sich der Wunden seiner Beine.

»Heute Nacht könnt ihr nicht zurückreiten. Deine Wunden werden selbst mit meiner Magie einige Stunden brauchen, um zu heilen.«

»Mein Vater wird mich umbringen ...«, prophezeite Kratos.

»Das nicht. Aber ich fürchte, er könnte euch strafen.«

»Wo ist da der Unterschied?«, fragte Yuan.

Tiberius und sein Enkel mussten sogar lachen.

»Ich will es mir gar nicht ausmalen ...«, meinte Kratos dann.

»Das wird schon«, versuchte Yuan, Kratos aufzumuntern, doch er seufzte nur.

Nachdem Tiberius auch die Wunden von Kratos versorgt hatte, richtete er Yuan ebenfalls ein Bett her und gab beiden Kindern etwas warmes zu Essen. Nicht wenig später waren beide eingeschlafen.
 

Den Heimritt am nächsten Morgen traten die zwei Freunde nur schweren Herzens an. Beide wären lieber bei Tiberius geblieben. Doch Kratos hatte zu große Angst um seinen Großvater. Erebos hatte seine Mutter getötet, er hätte keine Skrupel, das Gleiche mit Tiberius zu tun.

Ausgesprochen hatte er dies nicht. Allein schon, um seinem Großvater kein schlechtes Gewissen zu machen.

Das kleine Aeros, das den Namen Noishe trug, wie Tiberius ihnen gesagt hatte, trug Kratos erneut unter seiner Kleidung verborgen im Arm. Noishe ging es bereits wesentlich besser. Das Fieber war gesunken und seine Augen nicht mehr so matt wie am Vortag. Es brauchte Pflege, um ganz zu gesunden. Kratos hatte Tibierus gebeten, Noishe an seiner statt zu versorgen, doch Noishe wollte bei Kratos bleiben. Sein Großvater meinte, er sei ihm zu dankbar und hätte ihn zu gern, als allein bei Tiberius zu bleiben.

»Dein Großvater ist wirklich sehr nett«, gab Yuan nun zu. »Und er behandelt Halbelfen wie Menschen.«

»Ich weiß«, meinte Kratos lächelnd. »Ich habe ihn sehr gern.«

»Das glaube ich dir«, nickte das Halbelfenkind. Noishe zwitscherte zustimmend. Kratos blickte das Aeros an.

»Du versteht ziemlich viel von dem, was wir sagen, stimmt's, Noishe?«, fragte er. Das Vogelwesen zirpte leise.
 

Kratos wurde unwohl, als er Meltokio zu Gesicht bekam. Sein Gefühl sagte ihm, dass Erebos nicht nur vor Zorn beben würde. Dieses Mal konnte er eine Strafe nicht verhindern. Und er befürchtete, dass sie drakonisch sein würde.

Er verbarg Noishe gut unter seiner Kleidung und sagte dem kleinen Vogelwesen, dass es keinen Laut von sich geben durfte. Vor den Toren Meltokios sahen er und Yuan sich noch einmal an. Mit einem Nicken stiegen sie ab und führten die beiden Drachen in die Stadt hinein. Kratos hatte Angst, doch er zeigte sie nicht.

Vor Erebos' Anwesen stand Hiroki. Er sollte wohl Ausschau halten. Als er die beiden Kinder erblickte, eilte er ins Haus hinein. Kratos und Yuan beeilten sich, in die Ställe zu kommen. Sie wollten Silabél und Belias in den Boxen und Noishe sicher im Stroh verborgen wissen, bevor Erebos zu ihnen kam. Beides gelang ihnen, wenn auch nur knapp. Kratos schloss gerade die Tür zu Silabéls Box, als er die kalte Eisenkralle seines Vaters in seinem Nacken spürte. Der kräftige Krieger hob ihn am Kragen hoch.

»Wo warst du?!«, brüllte er. Kratos zuckte zusammen. All die auswendig gelernten Worte, all die Sätze, die er sich zurecht gelegt hatte waren auf einmal verschwunden. Der Blick seines Vaters und dessen Stimmlage erinnerten ihn zu sehr an die Nacht, in der seine Mutter das Leben verloren hatte.

»I-ich ...«, wollte er stammeln, doch Erebos schleuderte ihn schon zu Boden. Sein Sohn wollte sich gerade mühselig aufrappeln, als der Krieger mit einer Eisenkralle ausholte.

»Ich werde dir den Ungehorsam endgültig austreiben!«, fauchte er und Kratos kniff die Augen zusammen. Doch die erwartete Prügel blieb aus.

»Lasst ihn in Ruhe! Es ist meine Schuld, dass er nicht nach Hause kam!«

Yuans Stimme und seine Lüge brachten Kratos dazu, wieder aufzublicken. Yuan stand mit ausgebreiteten Armen vor ihm. Das rothaarige Kind wollte ihm widersprechen, doch der Halbelf kam ihm zuvor.

»Ich bin davongelaufen!«, log er, ohne mit der Wimper zu zucken. »Kratos-san hat mich nur wieder eingefangen. Dabei gerieten wir in den schrecklichen Sturm von heute Nacht und suchten Schutz im Wald.«

Der imposante Erebos stand noch immer mit erhobener Eisenkralle vor den beiden Kindern, doch Yuan schien tatsächlich furchtlos zu sein – oder ein verflucht guter Schauspieler. Doch Kratos kannte seinen Vater zu gut, als dass er glauben würde, dass er sich dadurch besänftigen ließ. Stattdessen geschah etwas weitaus schlimmeres.

Erebos' Augen bekamen den gleichen Ausdruck wie in jener Nacht.

»Lüge!«, brüllte er und schlug Yuan so heftig beseite, dass er gegen die Wand geschleudert wurde. Kratos lief sofort zu ihm. Dieses Mal würde er es nicht zulassen.

»Ich habe genau gesehen, wie du Missgeburt die Drachen aus den Ställen geholt hast!«, zischte Erebos und beiden Kindern lief es eiskalt den Rücken herunter. »Wärst du weggelaufen, hättest du nur Einen mitgenommen. Verkauf' mich nicht für dumm, Schlammblut!«

Erebos holte erneut aus, doch Kratos beugte sich über Yuan.

»Geh' mir aus dem Weg, Kratos! Um dich kümmere ich mich gleich!«

»Nein!«, schnauzte Erebos' Sohn. »Er hat auch gelogen! Ich war derjenige, der weglaufen wollte! Ich ... hasse dich!«

Es war das erste Mal, dass Kratos seinen Vater duzte und ihm die Wahrheit ins Gesicht schleuderte. Erebos bebte. Kratos blieb das Herz stehen. Er wusste, dass er zu weit gegangen war.

Der mächtige Krieger schlug Kratos beiseite und packte Yuan an den Haaren, an welchen er ihn hochzog. Er zog ihn hinter sich her und warf ihn vor die Tür.

»Verschwinde aus meinem Haus! Ich will dich hier nie wieder sehen!«, brüllte er und knallte die Tür zu.

»Yuan!«

Kratos wollte zur Tür und sie wieder aufmachen, doch Erebos versperrte ihm den Weg.

»Und jetzt zu dir ...«

Kratos wurde schon vom ersten Schlag blind vor Schmerzen. Yuan hämmerte und trat gegen die Tür des Stalles, doch Erebos hatte sie verriegelt. Immer wieder rief er Kratos' Namen. Dieser ließ alles mit sich machen. Er wehrte sich nicht, er schrie nicht einmal. Silabél und Belias fauchten und das Drachenweibchen war drauf und dran, aus ihrem Stall auszubrechen – was sie letztendlich auch schaffte. Sie wollte auf Erebos losgehen, doch dieser war schneller. Er zog sein Schwert und brachte Silabél nur einen einzigen Schlag bei. Er reichte, um sie zu Boden zu bringen.

Kratos wollte deswegen aufbegehren, doch der nächste Schlag seines Vaters beschwor die warme Dunkelheit der Ohnmacht herauf, die Nebelas Sohn binnen weniger Sekunden in sich aufnahm ...
 

Wie einst nach dem Überfall auf Meltokio, wachte Kratos in einem Bett auf. Nur war es dieses Mal sein Eigenes.

Vorsichtig versuchte er, sich zu bewegen. Sofort bemerkte er, dass Verbände seinen Körper bedeckten. Außerdem konnte er nur auf einem Auge sehen. Behutsam tastete er nach dem Zweiten. Beruhigt stellte er fest, dass es an dem Verband lag, der es bedeckte und nicht an einer Verletzung.

Erneut kehrten seine Erinnerungen nur zähflüssig zurück.

Der Markt, das Aeros namens Noishe, der Sturm, sein Großvater, die Rückkehr nach Meltokio ...

»Yuan ...! Noishe ...! Silabél ...!«

Sofort stand das adelige Kind auf. Es war Nacht. Die Chance, dass sein Vater schlief war hoch. Also ging er leise hinaus und schlich sich durch das Anwesen, bis er die Ställe erreichte.

Bevor er hineinging, sah er sich suchend in der Nähe des Anwesens um. Einen Arm in der Schlinge tragend, ging er einige Schritte, hin und her blickend.

»Yuan ...?«

Es war mehr ein Flüstern, doch Yuans Halbelfenohren hätten es sofort gehört, wäre er in der Nähe. Das adelige Kind senkte traurig den Kopf, als es keine Antwort erhielt. So gern er losgelaufen wäre, um ihn zu suchen, er musste nach Silabél und Noishe sehen. Kratos war überzeugt davon gewesen, dass Yuan die Schuld auf sich genommen hatte, damit er verschont blieb und sich um das kleine Vogelwesen kümmern konnte. Und auch, um ihn selbst zu schützen. Besorgt warf er noch einen Blick in die dunklen Gassen Meltokios, bevor er in den Stall zurückkehrte.

Silabél ging es alles andere als gut. Die Wunde, die Erebos ihr zugefügt hatte war tief und blutete noch immer. Das Drachenweibchen lag im Stroh ihrer Box und atmete schwer. Kratos kamen die Tränen, als er die Blutlache unter ihr sah.

»Silabél ...«, hauchte er und kniete sich neben sie. Verbotene Tränen rannen über die Wangen des Kindes. Nicht mal der Verband auf seinem linken Auge konnte sie lange aufhalten. Sanft legte er eine Hand auf die Wunde seiner Freundin. »Es tut mir so leid ...«

Er wünschte sich in diesem Moment nichts sehnlicher, als seiner treuen Gefährtin helfen zu können. Er weinte Tränen der Verzweiflung. Yuan war verschwunden, vielleicht hatte ihn wieder jemand gefangen genommen, die Wahrscheinlichkeit, dass sie einander jemals wiedersahen war verschwindend gering. Seine treueste Freundin und irgendwo ein Geschenk seines Großvaters verblutete vor seinen Augen.

Die Hand noch immer auf der Wunde haltend, als ob er das Blut damit abfangen könnte, schmiegte er sich trotz der rauen Schuppen an das Drachenweibchen heran. Der Hass auf seinen Vater war ins Unermessliche gestiegen. Erst hatte er ihm seine Mutter genommen und jetzt auch noch seine beiden einzigen Freunde.

Kratos war so in sein Weinen und seine Trauer vertieft, dass er kaum noch etwas um sich herum wahrnahm. So bemerkte er auch nicht, dass die seltsame Kraft, die damals die Flammen an seinen Händen heraufbeschworen hatte, wieder in ihm aufstieg ...

Erst ein leises Zirpen riss ihn wieder in die Realität zurück. Noishe hatte sich aus dem Heu befreit und war zu ihm getapst. Nun saß das kleine Vogelwesen auf seiner Schulter und zwickte ihm spielerisch ins Ohr. Plötzlich bemerkte Kratos, dass Silabéls Atem regelmäßiger geworden war. Er blickte zu ihrer Wunde und erschrak sich. Aus seiner Hand floss eine Art weißes Licht, dass die klaffende Wunde nach und nach verschloss. Und auch jetzt erst bemerkte er, wie viel Kraft ihn dieses Licht kostete. Als er jedoch begriff, dass es Silabél wirklich heilte, konzentrierte er sich noch mehr darauf. Erst, als die Wunde gänzlich geschlossen war, ließ er von seiner Freundin ab und blickte auf die Hand, die dieses Wunder vollbracht hatte.

»Magie ...«, verstand er dann. »Ich ... kann wirklich Magie einsetzen ...«

Silabél sah Kratos dankbar an und befreite ein wohlklingendes Summen aus ihrer Kehle. Das adelige Kind konnte nicht anders, als zu lächeln. Noishe zwitscherte fröhlich und tapste Kratos' Arm entlang. Als er seine Hand erreicht hatte, hielt Kratos ihn an seine Wange, woraufhin das kleine Vogelwesen sich daran kuschelte. Es war, als wolle es das rothaarige Kind trösten und beruhigen.

Das Zwitschern des kleinen Aeros' versprach in seinen Klängen, dass alles gut werden würde.

Und Kratos glaubte ihm.

Wie der Vater, so der Sohn

Als Kratos zwei Monate später von seinem Schulunterricht wieder in sein Zimmer zurückkehrte, lag ein Brief auf seinem Nachttisch. Das adelige Kind runzelte die Stirn. Er war nicht adressiert und trug auch keine Wertmarke auf sich. Bei genauerem Hinsehen erkannte Kratos, dass es nur ein zusammengefaltetes Blatt Papier war, auf dem sein Name stand.

Neugierig geworden entfaltete er das Blatt; und erkannte die krakelige, unsichere Schrift seines Freundes Yuan sofort.
 

An Kratos,
 

entschuldige, dass ich dir nicht vorher Bescheid sagen konnte, aber wir mussten uns erst was einfallen lassen, wie wir den Brief zu dir schummeln konnten.

Ich bin bei deinem Großvater. Als dein Vater mich rausgeworfen hat, wusste ich nicht, wohin ich gehen sollte. Aber Tiberius war so nett zu uns gewesen, dass ich dachte, vielleicht würde er mir auch helfen. Und wie du liest, hat er es.

Ich werde Morgen am Waldrand auf dich warten. Tiberius begleitet mich dorthin. Bring' Noishe mit, wenn du kommen kannst.
 

Yuan
 

Kratos sank auf sein Bett nieder, der Brief in seiner Hand zitterte. Dann konnte er nicht anders, als aufzustrahlen. Yuan war wohlauf! Die Sorgen der letzten Wochen waren umsonst gewesen.

Er las den Brief noch mehrmals, einfach nur froh, seinen Freund in Sicherheit zu wissen.

»Morgen ...«, überlegte er dann. »Das müsste gehen. Ich muss zu den Plantagen. Wenn ich mich beeile, habe ich genug Zeit.«

Der junge Adelige erhob sich. Das erste Mal, seitdem sein Vater Yuan fortgejagt hatte, strahlte er wieder. Das sollte jedoch nicht lange anhalten.

»Kratos-san«, erklang die Stimme eines Halbelfen an der Tür. »Euer Vater möchte Euch augenblicklich sprechen.«

»Er hat seit zwei Monaten kaum ein Wort mit mir gesprochen ...«, wunderte er sich. Außerdem legte er selbst keinerlei Wert auf ein Gespräch mit seinem Vater. Jedoch wusste er, dass es klüger war, der Aufforderung nachzukommen. Er verbarg den Brief von Yuan unter seinem Kopfkissen und trat aus seinem Zimmer heraus. Der Halbelf verbeugte sich vor Kratos und bat ihn übermäßig höflich, ihm zu folgen.

Wenig später stand Kratos vor dem Schreibtisch seines Vaters. Erebos sprach nicht. Er stand lediglich auf und begann, Kratos zu umkreisen und ihn von allen Seiten zu mustern. Das rothaarige Kind fühlte sich unter den prüfenden Blicken seines Vaters mehr als nur unwohl, doch sein Gefühl sagte ihm, dass er lieber schweigen sollte.

Schließlich setzte sich Erebos wieder und faltete seine Hände ineinander um sein Kinn darauf zu legen. Letztendlich bat er Kratos mit einer Handbewegung seiner Eisenkralle, sich zu setzen.

»Wie alt bist du jetzt?«, wollte er wissen, wobei Kratos es nicht wunderte, dass sein Vater sein Alter nicht kannte.

»Vierzehn, Chichiue.«

Erebos tat etwas, was Kratos Angst machte: Er lächelte.

»Nun, dann wird es Zeit, dass du dich allmählich mit deinen dynastischen Pflichten beschäftigst.«

Kratos blinzelte. Er verstand nicht ganz, was sein Vater von ihm wollte.

»Dynastische ... Pflichten ...?«, wiederholte er.

»Du bist der letzte, männliche von Aurion«, begann Erebos zu erläutern. »Unsere Familie ist dem Aussterben nah.«

Dem adelige Kind drehte sich der Magen um. Eine dunkle Ahnung keimte in ihm auf.

»Wie du bemerkt haben dürftest, war ich in der letzten Zeit des Öfteren nicht zu sprechen«, fuhr Erebos fort. Das stimmte. Er war oftmals nicht anwesend gewesen. »Du solltest mir dankbar sein, Sohn.«

»Wofür?«, fragte Kratos frei heraus. Erebos' leichtes Lächeln verschwand sofort. Doch seltsamer Weise ließ er diese Frechheit völlig unbeachtet.

»Dafür, dass ich dir die Möglichkeit eröffnet habe, der Familie von Aurion zu großem Wohlstand und Ansehen zu verhelfen.«

Kratos runzelte die Stirn.

»Wovon sprecht Ihr, Chichiue?«

Erebos beugte sich ein wenig nach vorne.

»Nächsten Monat hat Prinzessin Liabela Geburtstag. Sie wird dreizehn. Und der Höhepunkt des Festes wird ihre Verlobung sein – mit dir.«

Kratos starrte seinen Vater vollkommen entgeistert an. Er war unfähig, irgendetwas zu sagen oder zu tun. Zu schockierend war die Neuigkeit, die Erebos ihm gerade unterbreitet hatte. Dann schüttelte er den Kopf. Erst ganz langsam und dann immer schneller.

»Nein!«, entfuhr es ihm dann und erhob sich. »Ihr könnt mich nicht einfach verloben! Ich kenne diese Prinzessin ja nicht einmal!«

»Das wird sich ändern«, meinte sein Vater ruhig. »Du wirst sie auf der Feier kennen lernen.«

»Ich will nicht heiraten!«, empörte sich der junge Adelige. Nun erhob Erebos sich.

»Du hast zu wollen! Ich habe dich Mistbalg nicht jahrelang durch gefüttert und von den besten Lehrern des Landes unterrichten lassen, damit es dir gut geht!«

»Bitte, Vater!«, begann Kratos nun zu flehen. »Ich weiß, dass Ihr mich damals aus dem Feuer gerettet habt! Wenn Ihr auch nur geringfügige Sympathie für mich hegt, dann verhindert diese Verlobung!«

Erebos sah Kratos einen Augenblick lang an. Dann tat er etwas, das Kratos noch mehr Angst machte als das Lächeln von vorhin: Sein Vater lachte.

»Sympathie für dich? Für dich, der du das Schlammblut deiner Mutter in den Adern hast?«, fragte er spöttisch. »Ich habe dich damals nur gerettet, eben damit du Liabela heiraten kannst! Das war der einzige Grund!«

Das letzte bisschen Hoffnung auf Vaterliebe und Anerkennung, der kleine Funken Gewissheit, dass sein Vater ihn vielleicht doch auf irgendeine Art und Weise gern hatte, erlosch durch diese Worte. Kratos begriff, dass seine Einwände nichts bringen würden. Sein Vater hatte ihn nur am Leben gelassen, um ihn für seine Pläne benutzen zu können.

Dann fiel ihm etwas ein. Wenn sein Vater nur auf seine eigenen Vorteile bedacht war, konnte er ebenso egoistisch handeln. Der Jugendliche verschränkte die Arme vor der Brust.

»Und was, wenn ich mich derart ordinär verhalte, dass die Königsfamilie die Verlobung von sich aus löst?«

Nun war es an Erebos, die Fassung zu verlieren. Er zeigte es jedoch nicht.

»Das wagst du nicht.«

»Was habe ich schon zu verlieren? Mein Leben? Das wird mir nicht viel Freude bringen, wenn ich innerhalb der intriganten Königsfamilie leben muss.«

»Ich ermögliche es dir, König zu werden!«

»Ich habe Euch nie darum gebeten!«

Erebos schnaubte.

»Was willst du?«

»Ich will meinen Leibeigenen zurück.«

In dem Blick von Kratos' Vater wandelte sich etwas.

»Diese kleine Schabe scheint dir ja einiges zu bedeuten ...«

Nun machte Kratos einen Fehler, den er noch lange bereuen sollte. Statt seine Kühle zu bewahren, stand er zu seinem Freund.

»Ich würde für ihn über Leichen gehen.«

Erebos lachte erneut, wenn auch nur leicht.

»Nun gut, hol' dir dein Schlammblut zurück«, meinte er. »Aber ich warne dich: Kommt mir auch nur eine einzige Beschwerde des Königspaares zu Ohren ...«

Der Krieger beugte sich soweit zu Kratos vor, dass ihre Gesichter nur noch weniger Zentimeter trennten. Dabei ballte er seine Eisenkralle zu einer Faust.

»... wird dein kleines Schlammblut derjenige sein, der sein Leben verliert.«
 

Kratos fiel beinahe um, als Yuan ihm um den Hals fiel und umarmte. Tiberius, der nahe den Beiden stand, lachte.

»Ich habe mir Sorgen um dich gemacht!«, sprudelte Yuan los. »Ich hatte Angst, dass Erebos sonst was mit dir anstellt!«

»Beruhige dich!«, forderte Kratos, wenn auch ohne jeglichen Ernst in der Stimme. »Du erdrückst mich ja!«

Yuan ließ von seinem Freund ab und musterte ihn.

»Du siehst ja wieder halbwegs heil aus«, meinte er dann. Kratos nickte nur. »Wo ist Noishe?«

Ohne ein Wort zu verlieren, ging Kratos zu Silabél zurück und holte das kleine Aeros aus der Tasche, die er Silabél umgehängt hatte. Noishe zwitscherte fröhlich und tapste sogleich auf Kratos' Schulter. Tiberius trat nun näher an seinen Enkel heran und streichelte dem Vogelwesen mit einem Finger über die Brust. Es gurrte.

»Er hat sich gut erholt«, stellte er zufrieden fest. »Du hast dich gut um ihn gekümmert.«

»Danke, Großvater«, sagte Kratos. Der Protozoon sah seinen Enkel eingehend an.

»Stimmt etwas nicht?«, wollte er wissen. Sein Enkel fühlte sich ertappt, ließ sich aber nichts anmerken.

»Ich weiß nicht, wovon du sprichst«, behauptete er deswegen. Noch bevor Tiberius merken konnte, dass er log, mischte Yuan sich ein.

»Er ist ein ganz schönes Stück gewachsen«, bemerkte er. »Und gesund sieht er auch aus.«

Kratos lächelte seinen Freund an.

»Du kannst ihm ab jetzt täglich beim Wachsen zusehen. Mein Vater hat mir erlaubt, dich wieder zurückzuholen.«

Während Yuan der Mund offen stand, runzelte Tiberius seine Stirn.

»Einfach so?«, fragte dieser. Kratos hasste es, zu lügen, weshalb er versuchte, ausweichend zu antworten.

»Nicht ganz. Aber nach einigen Überredungskünsten meinerseits war es dann von Erfolg gekrönt.«

»Das ist ja fantastisch!«, freute sich das Halbelfenkind, erneut, bevor Tiberius länger in die Augen seines Enkels sehen konnte. Kratos lächelte.

»Das habe ich auch gedacht«, antwortete er. »Wir müssen auch bald zurück. Ich sollte eigentlich nur zu den Plantagen reiten. Ich wollte nicht sagen, dass ich weiß, dass du hier bist. Wäre er mitgekommen, hätte er Großvater gesehen …«

Kratos schielte zu Tiberius. Er erwiderte den Blick.

»Kratos, du weißt, dass du über alles mit mir reden kannst, oder?«

Das adelige Kind nickte. Noishe zwickte ihm in sein Ohrläppchen.

»Wir sollte aufbrechen«, meinte er dann zu Yuan. Dieser nickte. Er war viel zu glücklich, als das er hätte merken können, dass Kratos etwas verheimlichte …
 

»Verlobt?!«

Kratos nickte.

»Nächsten Monat … mit Prinzessin Liabela.«

»Und du hast nichts dagegen gesagt? Ich kenne dich«, behauptete Yuan. »Das passt dir doch ganz und gar nicht in den Kram.«

Das adelige Kind seufzte schwer.

»Nein, tut es nicht«, gestand er.

»Warum lässt du es dann mit dir machen?«

Obwohl er es wollte, konnte Kratos seinem Freund nicht erzählen, dass Erebos ihn mit seinem Leben erpresste. Doch zu seinem großen Glück war das Halbelfenkind so aufgeregt, dass es gleich die nächste Frage stellte.

»Und warum hast du Tiberius nichts davon erzählt?«

»Weil er sich nie gut über die königliche Familie geäußert hat«, erklärte der Rothaarige. »Ich will nicht, dass er weiß, dass ich dort eingeheiratet werde …«

Yuan sah seinen Freund verständnislos an.

»Du glaubst ja wohl selbst nicht, dass Tiberius sich darum schert, oder? Du bist sein Enkelkind!«

»Ich bin Erebos' Sohn«, wand Kratos ein.

»Du bist auch Nebelas Sohn.«

Kratos schüttelte nur müde den Kopf.

»Es ist der Wille meines Vaters. Und dem beuge ich mich.«

Yuan verengte seine Augen zu Schlitzen. Es war nicht sein Freund Kratos, der dort sprach. Aus ihm sprach sein Vater, der irgendwie Einfluss auf ihn gewonnen zu haben schien.

»Hörst du dir eigentlich selber zu?«, wollte er wissen.

»Ja, das tue ich«, meinte Kratos. »Es ist einfach so. Freu' dich. Wir werden ab nun zeitweise im Palast leben. Du bleibst zwar mein Leibeigener, aber selbst dir wird ein gewisser Luxus zukommen. Dafür werde ich sorgen.«

Yuan setzte sich im Schneidersitz auf den Sessel, der in Kratos' Zimmer stand.

»Trotzdem. Irgendwas hat Erebos mit dir angestellt. Früher hättest du das nie mit dir machen lassen.«

»Früher ist früher. Leb' nicht in der Vergangenheit, Yuan.«

Das aufmerksame Halbelfenkind schüttelte den Kopf.

»Was hat Erebos dir jetzt schon wieder angedroht?«

Kratos wurde langsam wütend. Konnte Yuan nicht einfach still sein? Musste er immer und immer wieder nachfragen? Er wusste, dass Yuan gehen würde, wenn er erfuhr, dass Erebos ihn mit seinem Leben erpresste. Er wusste, dass Yuan nicht wollte, dass er sich für ihn zu etwas zwang, was er schon immer abgelehnt hatte. Aber genau deswegen schwieg er. Er wollte ihn nicht verlieren. Lieber ertrug er das Leben am Hofe und die Heirat mit einer Fremden mit ihm gemeinsam als allein. Denn wenn Yuan ihn verließ, war er wieder so allein und unglücklich wie zu jener Zeit, bevor das Halbelfenkind in sein Leben getreten war.

Yuan erhob sich und trat auf seinen Freund zu.

»Bitte, sag's mir«, bat er inständig. »Wir haben bisher doch immer eine Lösung gefunden!«

»Sei ruhig!«, fuhr Kratos ihn an. »Hör auf, nachzufragen!«

»Dann hör du auf, mich anzuschweigen!«, widersprach Yuan. »Was ist los mit dir?! Haben dich die zwei Monate derart verändert, dass du mir nicht vertraust?«

»SEI STILL!«

Die Ohrfeige von Kratos hallte noch im Flur wieder. Yuans Kopf war zur Seite geflogen, seine Wange feuerrot. Kratos bebte am ganzen Körper und keuchte schwer. Erst, als er begriff, was er getan hatte, sah er seinen Freund wieder an.

Yuan erwiderte den Blick, eine Hand auf seine Wange gelegt. Dann begann er den Kopf zu schütteln und langsam rückwärts zu gehen. Kratos wollte ihn zurückhalten, streckte ihm seine Hand entgegen, doch Yuan schlug sie weg und rannte aus Kratos' Zimmer hinaus.

»Yuan! Yuan, warte!«

Doch das Halbelfenkind lief den Flur entlang, als würde es vor einem Feuer flüchten. Zu allem Überfluss achtete er nicht darauf, wohin er lief und rannte in Erebos hinein. Die erschreckende Ähnlichkeit zwischen Vater und Sohn tat sein Übriges, um Yuan endgültig den Rest zu geben.

Kratos wollte ihm nachlaufen, doch Erebos hielt ihn auf.

»Wo willst du hin?«

Kratos' Gehirn begann blitzschnell zu arbeiten. Wenn er jetzt sagte, dass Yuan vor ihm davonlief, würde Erebos ihn bestrafen. Also blieb er schweren Herzens stehen.

»Nirgendwo hin …«

»Ich habe den Handabdruck im Gesicht von deinem Sklaven gesehen. Hast du ihn geschlagen?«

Da Kratos es hasste, zu lügen und es schon bei Yuan tun musste, wollte er es nicht noch hier tun. Er stand zu seinem Fehler und nickte.

»Gut gemacht«, sagte Erebos plötzlich und legte seinem Sohn seine Eisenkralle auf die Schuler. Eisige Kälte durchfuhr Kratos. »Endlich lernst du, wie man mit diesem Sklavenpack umzugehen hat.«

Entsetzt starrte Kratos Erebos an. Sein Vater blieb ruhig.

»Warum hast du ihn geschlagen?«, wollte dieser dann wissen.

»Ohne Grund!«, wollte Kratos sich selbst beschuldigen, doch Erebos lächelte.

»Vielleicht kann man über dein schmutziges Blut hinwegsehen, wenn du dich von nun an in diese Richtung entwickelst«, sagte sein Vater, wobei er das erste Mal beinahe väterlich klang.

Kratos wich der Hand seines Vaters aus, die noch immer auf seiner Schulter lag.

»Ist das alles, worum es dir geht?«, fragte das rothaarige Kind. »Nur um das Blut eines Wesens? Hast du je nach etwas Anderem gefragt? Charakter und Gefühle?«

»Diese Dinge sind zweitrangig, mein Sohn. Und das scheinst du allmählich zu lernen.«

Kratos wandte sich wortlos von seinem Vater ab und ging in die Richtung, in die Yuan gegangen war.
 

Noishes' leises Zwitschern führte Kratos endlich zu Yuan. Er saß im Heu und hatte das kleine Vogelwesen auf seinem Arm sitzen. In seiner freien Hand hielt er einige Brotkrumen, die er Noishe gab.

»Was ist nur mit ihm los, Noishe?«, hörte Kratos Yuan fragen. »Er hat niemals auch nur in Erwägung gezogen, mich zu schlagen. Nicht einmal gedroht hat er jemals damit. Und jetzt?«

Ein kurzes Schweigen trat ein, das Kratos nutzte, um etwas näher an Silabéls Box heranzuschleichen.

»Er wird seinem Vater immer ähnlicher. Früher nur im Aussehen, aber inzwischen wohl auch vom Charakter her …«

Noishe gab ein widersprechendes Zirpen von sich, was jedoch nur Kratos verstand.

»Warum hat er mir nicht einfach gesagt, warum er so plötzlich mit der Heirat einverstanden ist? Das ist doch nicht er … das ist nicht der Kratos, der am Fenster gestanden hat und mir von Freiheit und Gleichheit vorgeschwärmt hat …«

Kratos fühlte einen Stich ins Herz. Er wusste, wovon Yuan sprach. Vor gar nicht allzu langer Zeit hatte Yuan ihn einmal gefragt, was er sich anstatt seines hiesigen Lebens wünschen würde …
 

Kratos trat an das offene Fenster. Eine Windböe strich durch sein rotes Haar.

»Über diese Frage habe ich selbst oft nachgedacht …«, meinte er.

»Und was ist deine Antwort?«, wollte Yuan wissen.

»Freiheit«, antwortete das adelige Kind dann. »Freiheit und Gleichheit. Ich will durch die Welt ziehen, wie einst mein Großvater. Ich will lernen und sehen. Und ich will unsere Freundschaft nicht verstecken müssen. Wir sind gleich. Nur leider scheint das niemand verstehen zu wollen …«

»Vielleicht irgendwann«, meinte Yuan daraufhin nur.
 

»Vielleicht irgendwann«, wiederholte das Halbelfenkind seine Worte. »Wenn Sylvarant stark genug ist, Tethe'alla zu besiegen. Weißt du, Noishe, ich wollte immer zu den Rebellen … ich wollte für die Gleichberechtigung meines Volkes kämpfen … bis ich Kratos traf. Er war so anders. Und ich dachte, Menschen können doch anders sein. Aber letztendlich bin ich doch nur sein Sklave …«

Bitterkeit klang in Yuans Stimme mit. Dann schwieg er.

»Das ist nicht wahr …«

Yuan fuhr zusammen. Kratos trat in die Box von Silabél und ging auf das Drachenweibchen zu. Es schmiegte sich an ihn.

»Wie lange bist du schon hier …?«, fragte der Blauhaarige.

»Lange genug«, meinte das adelige Kind und streichelte Silabél über die Schuppen. Sie mochte es besonders gern, wenn er mit seinen Fingern darunter fuhr und ihre Haut kraulte. Genau das machte er jetzt. Das Drachenweibchen summte und genoss es.

»Hasst du die Menschen?«, fragte Kratos, ohne Yuan anzusehen.

Eben dieser senkte den Blick.

»Ja, ich hasse sie«, antwortete er dann. »Ich hasse sie abgrundtief.«

Noishe zwitscherte traurig und sprang von Yuans Arm herunter, um sich wieder im Heu zu verstecken. Das Halbelfenkind erhob sich.

»Wie der Vater, so der Sohn …«, waren seine letzten Worte, bevor er in der Dunkelheit der anbrechenden Nacht verschwand.
 

Seine Worte trafen mich tief und doch wusste ich, dass er Recht hatte. Aber es sollte noch lange Zeit dauern, bis ich mir das eingestand.

Wir wichen uns aus. Yuan erledigte seine Arbeit, die Worte, die wir wechselten waren kühl und mit Bedacht gewählt. Mich quälte das schlechte Gewissen. Sollte ich wirklich meinen besten Freund, für den ich das alles auf mich nahm, verloren haben?

Doch so sehr ich es mir auch wünschte, wieder mit ihm reden zu können, musste ich mich gezwungenermaßen mit anderen Dingen beschäftigen. Der immer näher rückenden Verlobung mit Prinzessin Liabela von Meltokio.

Der Burgvogt des Königspaares kam uns von nun an sehr oft besuchen. Für seinen Unterricht stellte mich mein Vater sogar von dem der Lehrer frei, was mir gar nicht gefiel, da ich seit einiger Zeit Fechtunterricht bekommen hatte, der mir als Einziges etwas Ablenkung von meinem Streit mit Yuan hatte bescheren können.

Doch der Benimmunterricht des Burgvogtes hatte in den Augen meines Vaters Vorrang.

So wurde ich auf etwas vorbereitet, was ich eigentlich überhaupt nicht wollte.

Und das alles so, wie ich es gehofft hatte, nie mehr sein zu müssen.

Allein.

Verlobt wider Willen

Seine eigenen, braunen Augen blickten Nebelas Sohn entgegen. Er stand vor dem Spiegel seines Zimmers und betrachtete sich.

Vierzehn Jahre war Kratos nun alt, doch er wirkte wie ein durchtrainierter Sechzehnjähriger, auch, wenn sein Gesicht noch einige, kindliche Züge besaß. Ein energisches Kinn, sowie eine markante Nase dominierten die schon leicht maskuline Ausstrahlung. Die geschwungenen, ein wenig buschigen Augenbrauen ließen seinen Blick meistens sehr ernst wirken, selbst, wenn er lächelte. Seine Augen selbst waren noch immer klar und von einem warmen Braun, jedoch schien sie ein leichter Rotstich zu begleiten.

Kratos hätte den Spiegel am liebsten zertrümmert, so erschreckend war die Ähnlichkeit zu seinem Vater, den er mehr hasste, als alles Andere auf der Welt. Wenigstens begleitete seine Erscheinung noch wenige, kindliche Züge, da sein Körper die Mannesreife noch nicht erlangt hatte, doch es würde nicht mehr lange dauern und er wäre das Ebenbild von Erebos.

Der Tag der Verlobung war angebrochen und der junge Adelige war bereits festlich angekleidet worden. Ein hellblaues Hemd wurde von einer edlen, weißen Jacke verdeckt, die ihn ein wenig muskulöser wirken lassen sollte. Seine Hose war von der gleichen Farbe, ein Gürtel betonte seine schlanke Taille. Außerdem trug er weiße Handschuhe. Sein rotbraunes Haar war zu einem Zopf gebunden worden, der ihm inzwischen bis zum Ende seines Nackens reichte.

Als die Tür seines Zimmers aufging, ohne, dass jemand angeklopft hatte, wusste er sofort, dass Yuan hineingetreten war. Er drehte sich um. Das Halbelfenkind verneigte sich.

»Braucht Ihr noch etwas, Herr?«

Erebos' Sohn hasste es, so von seinem besten Freund behandelt zu werden, doch er tat es schon seit ihrem Streit. Kein freundschaftliches Wort, ja nicht mal ein Blick in diese Richtung wurde Kratos zu teil. Er litt wie ein Hund unter seiner Einsamkeit, doch die strenge Erziehung seines Vaters hatte ihn gelehrt, niemals zu zeigen, was er wirklich fühlte.

»Nein. Du … kannst deine eigenen Sachen packen.«

Yuans Blick blieb gleichgültig.

»Verzeiht meine Wiederworte, Herr, doch ich sehe keinen Grund dazu.«

Der junge Adelige bekam erneut einen Stich ins Herz. Er hatte bereits geahnt, dass Yuan ihn nicht begleiten wollte. Er überlegte. Was war klüger? Sollte er Yuan zwingen, mitzukommen? Oder sollte er ihn hierlassen, allein bei Erebos? Früher oder später würde sein Vater ihn erneut verkaufen. Er leistete zwar gute Arbeit, doch wenn Kratos nun die Sommer im Schloss verbrachte, hatte er keine Verwendung mehr für ihn. Das war dann ausnahmsweise nicht einmal böser Wille.

»Tu' es trotzdem«, sagte er dann mit einem leicht befehlenden Ton.

Yuan verbeugte sich und verschwand. Kratos ließ sich auf den Sessel seines leergeräumten Zimmers fallen. Einmal mehr holte er den Bernstein unter seiner Kleidung hervor.

»Mama, was soll ich nur tun?«, fragte er verzweifelt, doch er bekam keine Antwort.
 

Wenig später klopfte Erebos persönlich an der Tür seines Zimmers. Nachdem Kratos ihm Einlass gewährt hatte, sah er seinen Sohn musternd an. Dann nickte er.

»So kannst du deine zukünftige Gemahlin begrüßen«, meinte er.

»Ja, Chichiue«, antwortete Kratos monoton und folgte seinem Vater dann. Obwohl der Weg nicht weit war, stand vor dem Anwesen der Aurions eine prachtvolle Kutsche, die bereits auf ihn wartete. Kratos sah zum Kutscher; es war ein Halbelf. Nicht, dass ihn das gewundert hätte, doch er war vom Hals ab an die Kutsche gekettet worden. Ein kalter Schauer lief über seinen Rücken.

»Wo … sind Silabél und Belias?«, fragte er.

»Bereits in den königlichen Stallungen«, antwortete Erebos, der sich ebenfalls besonders edel angezogen hatte. Es war die weiße Festuniform eines Leutnants. Seine Eisenkralle umfasste einen eleganten Gehstock, was das Bild des hohen Adeligen abrundete. »Dein Leibeigener wird auf dem Kutschbock mitfahren.«

Kratos nickte und stieg in die Kutsche ein. Feinstes Leder überzog die Sitze, edelstes Holz verkleidete die Wände. Der junge Adelige setzte sich an den Fensterplatz. Erebos stieg nach ihm ein und legte seine Hände auf seinen Stock.

Wenig später setzte sich die Kutsche in Bewegung. Kratos war zum Heulen zu Mute. Ganz davon abgesehen, dass er sich fühlte, als würde er zu seiner eigenen Hinrichtung fahren, tat er dies auch noch allein. Yuan saß vorn auf dem Kutschbock, noch immer zornig und sicher auch enttäuscht. Ob er sich genauso einsam fühlte wie er selbst? Er bezweifelte es. Wahrscheinlich sprach er gerade mit dem angeketteten Kutscher über die Grausamkeit der Menschen.

»Dieses Gesicht will ich nicht vor dem königlichen Paar sehen«, mahnte Erebos plötzlich. Kratos zuckte leicht zusammen, nickte dann aber.

»Ja, Chichiue.«

Einmal mehr verbarg er seine wahren Gefühle hinter einer gleichgültigen Maske. Und doch sah er noch immer zum Fenster heraus und dachte nach. Bei Yuan hatte er immer so sein können, wie er wirklich war. Er war der Einzige, der all seine gutgehüteten Geheimnisse kannte, der Einzige, mit dem er wirklich reden konnte. Und was hatte Kratos gemacht? Wegen einer Lappalie war er beinahe grundlos von einer geradezu animalischen Wut gepackt worden und hatte zugeschlagen. Genau wie sein Vater.

»Wie der Vater, so der Sohn …«, gingen ihm Yuans Worte durch den Kopf. War er wirklich genau wie sein Vater? Unbemerkt schielte er zu seinem Erzeuger hinüber. Vergrämte Gesichtszüge, kalte Augen, nie ein Lächeln. Dann sah er abermals in sein eigenes, welches sich in der Fensterscheibe der Kutsche wiederspiegelte. Sein Gesicht war noch nicht vergrämt, seine Augen waren noch warm. Und plötzlich umspielte ein leichtes Lächeln seine Lippen. Was hatte Yuan einst gesagt?

»Du bist auch Nebelas Sohn.«

Eine Erinnerung keimte in ihm auf, die er noch aus frühen Kindheitstagen besaß. Er mochte vielleicht vier gewesen sein. Aus irgendeinem Grund war er furchtbar wütend geworden und hatte um sich geschlagen und geschimpft. Als Tiberius ihn hatte beruhigen wollen, hatte er ihm so kräftig auf die Nase geschlagen, dass sie zu bluten begonnen hatte. Daraufhin hatte er sich beruhigt und Reue hatte ihn überkommen. Seine Mutter hatte ihn mahnend angesehen.

"So etwas macht man nicht", hatte sie gesagt. "Du hast deinem Großvater wehgetan. Entschuldige dich."

»Mich entschuldigen … Warum bin ich nicht vorher darauf gekommen?«, dachte er dann. Das Lächeln auf seinem Gesicht wurde breiter.

»Übertreibe es nicht gleich«, meinte Erebos. »Jetzt siehst du aus, als hättest du zu viel Wein getrunken.«

Kratos beherrschte sich, doch ein leises Lächeln blieb. Am liebsten hätte er die Kutsche angehalten und es Yuan gleich gesagt, doch das musste Wohl oder Übel bis nach der Verlobung warten …
 

Der Festsaal war prächtiger geschmückt als alles, was Kratos jemals gesehen hatte. Eigentlich hatte er gedacht, sein eigenes Anwesen sei schon übermäßig pompös, doch er hatte sich gewaltig geirrt.

Girlanden und Vorhänge schmückten die Wände, ein riesiges Büffet, als dessen Höhepunkt ein duftender Braten glänzte, erstreckte sich beinahe von einer Wand zur anderen. Der Kronleuchter spendete warmes Licht, Magier unterhielten die adeligen Gäste mit schönster Elementarmagie. Zwei Drachen, einer aus Feuer, einer aus Wasser, tanzten zum Takt der Musik, bis sie im letzten Takt miteinander verschmolzen und die beiden Magier im darauffolgenden Nebel verschwanden.

Kratos fühlte sich unwohl und Fehl am Platze, doch sein Vater führte ihn gnadenlos weiter nach vorne. Minuten der Anspannung begannen für den jungen Adeligen. Gleich würde er Liabela das erste Mal sehen.

Schließlich erreichten sie die Thronanhöhe. Das Königspaar saß nebeneinander. Die Königskinder der Sitte nach links davon. Es wäre unverschämt gewesen, Liabela anzusehen, bevor Kratos sich nicht verbeugt hatte, weshalb er dies, seinem Vater gleich, tat. Mit einer Handbewegung verstummten Musik und Gerede. Der König erhob sich.

»Erhebt euch«, befahl er. Kratos und Erebos kehrten sofort in die aufrechte Position zurück. Der junge Adelige wollte Liabela wenigstens einen Seitenblick zuwerfen, doch der König verhinderte dies, indem er nun Kratos musterte, der stocksteif vor ihm stand.

»Ihr habt nicht zu viel versprochen, Leutnant von Aurion«, meinte das Oberhaupt Tethe'alla. »Ein prächtiger junger Mann. Bleibt abzuwarten, ob er meinen Anforderungen gerecht wird.«

»Das wird er mit absoluter Sicherheit, mein König«, behauptete Erebos und verneigte sich abermals.

»Liabela, meine Tochter, komm' her und begrüße deinen zukünftigen Gemahl.«

Kratos drehte sich bei dieser Bezeichnung der Magen um. Dann erblickte er endlich das Mädchen, das er schon unsympathisch fand, ohne es zu kennen.

Liabela war hübsch, das musste er zugeben. Langes, blondes Haar fiel ihr lockig über die zierlichen Schultern, blaue Augen sahen ihn neugierig und ein wenig ängstlich an. Was Kratos jedoch wirklich wunderte war das Alter von Liabela. Sie war wirklich erst vierzehn. Er selbst wurde in wenigen Monaten schon fünfzehn. Es war zwar nicht ungewöhnlich, dass Mädchen jung verheiratet wurden, aber jetzt, wo er sie sah, schien sie ihm eher noch Mädchen als Frau zu sein.

»Es freut mich Euch kennenzulernen, Kratos-san«, sagte Liabela mit heller Stimme und lächelte Kratos schüchtern an. Er erwiderte den Blick, jedoch ohne zu lächeln. Dafür ging ihm das Ganze viel zu sehr gegen den Strich. Der König nahm nun eine Hand seiner Tochter und eine des jungen Adeligen, um sie aufeinander zu legen. Das offizielle Zeichen, dass er Liabela in die Hände von Kratos gab. Erebos' Sohn hätte sich am liebsten übergeben, denn er wusste, was er jetzt tun musste. Er zögerte, doch ein Räuspern seines Vaters reichte, um ihn umzustimmen.

Er senkte seine Lippen zu Liabelas Hand und gab ihr einen Handkuss.

»Die Freude ist ganz auf meiner Seite«, log er und führte Liabela wieder zu ihrem Thron hinauf. Er selbst stellte sich neben sie. Die Sitten am Hof waren ihm innerhalb kürzester Zeit eingetrichtert worden. Er war zwar jetzt mit Liabela verlobt, jedoch noch kein Mitglied der königlichen Familie und somit ohne jeglichen Thronanspruch. Die junge Liabela musste ihn erst legitimieren – indem er seinen Samen in sie pflanzte. War sie schwanger, galt er als legitimer Thronerbe. Da er jedoch keinerlei Ambitionen besaß, auf den Thron Tethe'allas zu steigen und ebenso wenig vorhatte, mit Liabela das Lager zu teilen, würde dies nie stattfinden.

Während der König eine Ansprache hielt, kam er endlich dazu, seine "Schwager" zu begutachten; Liabelas Brüder.

Wenn er sich richtig erinnerte, war der Name des älteren Königssohnes Chrion. Er saß am weitesten rechts von Liabela, da er älter war als sie. Eigentlich stand er in der Rangfolge um den Thron über ihr, doch man schien ihn ausgelassen zu haben. Und Kratos verstand auch, warum. Der blonde, vielleicht sechzehnjährige Junge, war so fett wie ein Flusspferd. Sogar jetzt, während er auf dem Thron saß, stand eine kleine Schüssel Süßgebäck neben ihn, von der er sich ständig bediente. Obwohl er Liabela kaum kannte und ebenso wenig mochte, verstand er, warum ihre Eltern lieber einen Adeligen für sie ausgesucht hatten, als sie mit ihrem Bruder zu verheiraten, was im Königshaus nicht sehr ungewöhnlich war.

Als nächstes sah er zum jüngsten der Königskinder, Avanel, der links von Liabela saß. Kratos' Wissen nach war er zwölf, sah aber, ganz ähnlich wie er, wesentlich älter aus. Er warf Kratos böse Seitenblicke zu, dessen Grund der junge Adelige nicht kannte.

Dann wanderte sein Blick zum ersten und leeren der drei Kindsthrone. Der eigentliche Thronerbe, Antaris, war vor einiger Zeit verstorben. Woran, war nie bekannt gegeben worden, doch Kratos war sich sicher, dass er es früher oder später erfahren würde.

Als der König endlich fertig war, hielt die Feier noch einige Stunden an. Kratos' Beine wurden vom vielen Stehen müde, doch er durfte sich nicht setzen. Sein Vater war nach der Ansprache verschwunden.

»Wenigstens ein Vorteil«, dachte Liabelas Verlobter. »Ich sehe meinen Vater seltener …«

Letztendlich – Kratos schlief beinahe im Stehen ein – durften er und Liabela sich zurückziehen. Elegant führte er sie aus dem Festsaal hinaus, noch immer ein freundliches Lächeln auf den Lippen. Erst, als die Türen des Saales sich hinter ihnen schlossen, atmete er erleichtert auf.

»Ist Euch nicht wohl, Kratos-san?«, fragte Liabela, wobei Unsicherheit in ihrer Stimme mitklang. Kratos schüttelte den Kopf und sagte erst einmal nichts. Ein ungutes Gefühl sagte ihm, dass sie nicht ungestört waren.

»Begleitet mich doch bitte auf mein Zimmer«, bat er dann. Ihm war gesagt worden, dass er das Purpurzimmer beziehen durfte, welches sich im linken Flügel des Schlosses befand. Obwohl das Schloss um einige Male größer war als das Anwesen, das er bisher bewohnt hatte, fand er sich schnell zurecht. Liabela folgte ihm, ohne ein Wort zu sprechen.

Das Zimmer war dem Anlass entsprechend dekoriert worden. Rosenblütenblätter lagen verstreut auf dem Bett und Kerzenschein war die einzige Lichtquelle. Kratos erschauerte bei dem Anblick und machte eilig das richtige Licht wieder an. Dann trat er in die Mitte des Zimmers, Liabela nicht ansehend. Er war feuerrot im Gesicht, wusste er schließlich, was von ihm erwartet wurde. Jedoch ganz abgesehen davon, dass er nicht gedachte, das Lager mit Liabela zu teilen, war sein Körper auch noch gar nicht in der Lage dazu.

Nervös fuhr er sich durch das rote Haar und verblieb mit seiner Hand an seinem Nacken. Dann atmete er tief durch und drehte sich zu Liabela um. Ein Fehler, wie er feststellen musste.

Das junge Mädchen hatte ihr Kleid abgestreift und stand gänzlich unbekleidet vor ihm. Die Röte seines Gesichtes wurde schon beinahe ungesund. Erst, als er in Liabelas Gesicht sah und ihre ängstlich schimmernden Augen erblickte, in den sich Tränen gesammelt hatten, fasste er sich wieder. Er streifte seine weiße Jacke ab und legte sie Liabela um die Schultern, darauf bedacht, sie selbst nicht zu berühren.

»Das, wovor du dich fürchtest, begehre ich nicht«, sprach er leise, aber bestimmt.

Liabela sah ihn mit roten Wangen an.

»A-aber … wir …«

Kratos schüttelte den Kopf und bat sie mit seiner Hand, sich auf das Bett zu setzen. Die Prinzessin folgte der Aufforderung und zog die Jacke ein wenig enger um sich. Der junge Adelige beschloss, ehrlich zu ihr zu sein, da sie den dynastischen Pflichten ebenso abgeneigt zu sein schien wie er selbst.

»Ich weiß, was von uns verlangt wird. Aber ich zwinge niemanden dazu und lasse mich nicht dazu zwingen«, erklärte er, ohne sie anzusehen.

»Aber morgen früh wird doch …«

»Ich weiß«, unterbrach Kratos sie, da er es hasste, über solche Dinge zu sprechen. »Wir müssen eine Möglichkeit finden, es zu umgehen.«

»Das wird nicht möglich sein. Mein Vater selbst wird am Morgen hier sein.«

»Und sein Leibarzt, ich weiß«, nickte der Rothaarige. »Und trotzdem weigere ich mich, mit dir das Lager zu teilen. Wie kann dein Vater so etwas von dir verlangen?«

»Mein … Bruder Antaris ist nicht mehr da … und Chrion … ist unfähig, wie Vater sagte. Also bin ich die Nächste in der Reihenfolge.«

»Und nur deswegen sollst du jemanden lieben, den du nicht einmal kennst?«, fragte Kratos. Liabela nickte.

»Es ist meine Aufgabe … als Thronerbin«, sagte sie mit gesenktem Blick. Dann aber sah sie den jungen Adeligen an. »Aber aus welchem Grund wollt ihr die Heirat nicht vollziehen? Bin ich Euch nicht reich genug an Schönheit?«

Kratos hob seine Augenbrauen. Die Frage hatte ihn nun ernsthaft verwundert.

»Das hat damit rein gar nichts zu tun«, beteuerte er. »Ich will es einfach nicht.«

Er log nicht. Selbst, wenn sein Körper bereits soweit gewesen wäre, hätte er es nicht getan. Irgendetwas in ihm sträubte sich dagegen.

»Ihr könntet dadurch König werden!«

»Ich wollte es nie«, antwortete Kratos ruhig. »Und duze mich. Schließich sind wir …«, er schnaubte, »… verlobt.«

»Wie … du wünscht …«, meinte die Prinzessin.

»Wir sollten schlafen«, sagte der Rothaarige. »Morgen früh werden wir uns etwas einfallen lassen. Noch bevor der König und sein Leibarzt kommen.«

»Nur was«, dachte Kratos. »Das weiß ich noch nicht …«
 

Noch bevor die Sonne aufging, erwachte der junge Adelige aus einem sehr leichten Schlaf. Die ganze Nacht hatte er gegrübelt, doch ihm war keine Lösung eingefallen. Liabela hatte tief und fest geschlafen.. Er hatte in seiner Kleidung genächtigt, da es ihm unangenehm gewesen war, sich vor Liabela umzuziehen.

Er fuhr sich durch die rote Haarmähne, bevor er sein Gesicht in Händen vergrub. Für ein Kind seines Alters mochte Kratos zwar schon reif und überdurchschnittlich intelligent sein, doch für solche Dinge empfand er sich einfach zu jung.

Der junge Adelige erhob sich und blickte vorsichtig aus dem Zimmer hinaus. Das Schloss wirkte wie ausgestorben und so wagte er sich aus dem Schlafgemach hinaus. Sein Ziel waren die Stallungen. Er wollte nach Silabél, Belias und Noishe sehen. Und außerdem hoffte er, Yuan dort anzutreffen. Seitdem sie sich gestritten hatten, hatte das Halbelfenkind seine gesamte, wenn auch wenige Freizeit bei den drei Tierwesen verbracht.

Kratos sah sich aufmerksam um. Es hätte sehr seltsam ausgesehen, wenn er am Morgen nicht bei seiner Verlobten gewesen wäre, doch das ganze Schloss schien noch zu schlafen.

Zumindest schien es so.

Als Kratos um die nächste Ecke bog, rannte er in jemanden hinein und fiel hin. Eine ihm sehr vertraute Stimme erklang.

»Vergebt mir! Ich bin untröstlich! Wie konnte ich nur so unge … Ach, du bist es nur.«

Nachdem sich die Sterne gelegt hatten, die der junge Adelige gesehen hatte, erkannte er seinen Freund endlich.

»Yuan …! Was machst du hier?«

»Das Gleiche könnte ich dich fragen. Solltest du nicht neben deiner Verlobten liegen?«

Kratos schoss die Schamesröte ins Gesicht. Yuan runzelte die Stirn.

»Gleich so verlegen?«, fragte er grinsend, doch es erlosch schnell wieder. »Oh, verzeiht. Ich vergaß, dass ich ja nur ein minderwertiger Halbelf bin. Entschuldigt mich.«

Das Halbelfenkind wollte schon gehen, als Kratos sich an den Vortag und seinen Vorsatz, sich bei Yuan zu entschuldigen, erinnerte.

»Es tut mir leid …!«

Die Worte waren mehr geflüstert gewesen, doch das ruhige Schloss hatte sie an Yuans spitze und feine Ohren getragen. Er blieb stehen und wandte sich um.

»Das fällt dir ein wenig spät ein«, meinte er kühl, jedoch ebenso leise. Immerhin lag der Streit der beiden schon einige Wochen zurück.

Kratos' Blick verriet Trauer bei dieser Antwort. Er schwieg einen Augenblick. Yuan blieb stehen und sah ihn an. Er schien auf irgendetwas zu warten.

»Hasst du alle Menschen?«, fragte der Rothaarige.

»Ich habe keinen Grund, es nicht zu tun«, antwortete Yuan, dem man die Enttäuschung im Gesicht ablesen konnte. Zeigte sein Gesichtsausdruck auch Zorn, so waren seine grünen Augen ebenso traurig wie die von Kratos.

»Wenn das so ist …«, sprach Liabelas Verlobter. »… lasse ich dich frei.«

Das Halbelfenkind starrte seinen Herren an.

»Wie bitte?«

»Ich lasse dich frei«, widerholte Kratos sich. »Ich habe dich nie als Sklaven angesehen. Wenn ich dich also nicht als Freund bei mir haben kann, will ich es gar nicht mehr.«

Schweigen breitete sich zwischen Kratos und Yuan aus. Allmählich wurde es heller und Kratos' war sich sicher, ferne Schritte hören zu können. Das Schloss erwachte langsam, aber sicher. Doch das war ihm im Moment egal.

Yuan wischte sich mit dem Ärmel seiner Kleidung einmal über die Augen, die zu schimmern begonnen hatten.

»Ich hasse es, wenn du so sentimentales Zeug von dir gibst«, beschwerte er sich. »Wie soll man dir verdammtem Menschen dann noch anständig böse sein?«

Das Halbelfenkind schmunzelte leicht bei diesen Worten. Kratos lächelte erleichtert. Keine Sekunde später umarmten sich die beiden Kinder herzlich.

In der gleichen Sekunde bog niemand anderes als Chrion um die Ecke. Kratos sah ihn im Gegensatz zu Yuan und reagierte pfeilschnell; er nutzte die Umarmung, um auf Yuan zu fallen.

»Kannst du nicht aufpassen, wohin du läufst?!«, beschimpfte der junge Adelige den völlig verwirrten Yuan. Erst, als dieser Chrion entdeckte, begriff auch er.

»Verzeiht, Herr …!«, bettelte er. »I-ich wollte nicht …!«

Kratos erhob sich und klopfte scheinbar angeekelt seine Kleidung ab.

»Du hast keinen Willen, Halbblut«, meinte der Rothaarige und zog seinen Ärmel mit arrogantem Blick zurecht, um dann – rein zufällig – in Chrions Richtung zu sehen. Der fettleibige Prinz beobachtete die Szenerie mit gerunzelter Stirn.

»Oh, guten Morgen, Prinz Chrion«, sagte Kratos und neigte seinen Kopf leicht, da er noch kein legitimes Familienmitglied war.

»Guten Morgen …«, antwortete dieser langsam. Yuan wollte Kratos dabei helfen, seine Kleidung wieder zu recht zu rücken, doch er schlug ihm die Hand weg. Erst dann lösten sich die Denkfalten auf Chrions Stirn. »Was machst du hier? Du solltest eigentlich neben meiner Schwester im Bett liegen.«

Kratos beherrschte sich, damit ihm nicht erneut die Schamesröte ins Gesicht stieg. Eine gute Lüge musste her. Als Yuan begriff, dass Kratos in der Klemme steckte, half ihm das gerissene Halbelfenkind. Er warf sich schon beinahe auf den Boden, da kein Halbelf ein Mitglied der Königsfamilie ins Gesicht sehen durfte.

»Ich war derjenige, der Kratos-san holte. Sein Drachenweibchen Silabél erschien mir kränklich …«

Chrion bedachte Yuan nicht mit einem Blick. Stattdessen sah er zu Kratos.

»Dann sollte er sich eilen. Mein ehrenwerter Vater als auch sein Leibarzt werden sehr bald seine Gemächer aufsuchen, um sicherzustellen, dass die Hochzeit vollzogen wurde …«

Irgendetwas an Chrions Stimme gefiel Kratos nicht, doch der fettleibige Prinz verschwand mit diesen Worten. Der Rothaarige seufzte erleichtert.

»Danke, Yuan …«, sagte er leise. »Das war verdammt knapp.«

»Kein Problem«, winkte das Halbelfenkind ab für den nun alles wieder geklärt war. »Du solltest aber wirklich zurück. Nachher vermisst dich deine Liabela noch.«

Obwohl es mit leichtem Spott von Yuan ausgesprochen worden war, schluckte Kratos und sah schon beinahe beschämt zur Seite. Der Blauhaarige legte seinen Kopf schief.

»Was ist? War's so schlimm, dass du ihr nicht mehr unter die Augen treten willst?«, stichelte er frech wie immer.

»Es ist nichts passiert …«, nuschelte Kratos.

Yuan hob die blauen Augenbrauen.

»Okay … wer soll mir jetzt leidtun? Du oder Liabela?«

»Nicht so!«, schnauzte der Adelige leise. »Wir haben die Hochzeit nicht vollzogen!«

Der Halbelf starrte seinen Freund vollkommen perplex an.

»Wieso das denn nicht? Ich wusste ja, dass du es nicht willst, aber das könnte euch beide in ziemliche Schwierigkeiten bringen …«

»Das weiß ich«, flüsterte Kratos. »Aber weder ich noch Liabela wollten es.«

Yuan legte sich seine Finger um sein Kinn. Der Rothaarige sah ihn einen Augenblick lang an, bis es den Anschein hatte, dass dem Blauhaarigen etwas eingefallen war.

»Ich kann euch helfen«, meinte er. »Vorerst.«

»Wie das denn?«, fragte Kratos verwundert.

»Lass mich nur machen«, tat Yuan geheimnisvoll und grinste dann. »Das erkläre ich dir, wenn du älter bist.«

»Ich bin älter als du!«, behauptete Kratos.

»Na und?«, fragte das Halbelfenkind und ging in Richtung Purpurzimmer.
 

König wie auch Leibarzt waren zufrieden. Ich hatte keine Ahnung, wie Yuan das Bettlaken in Szene gesetzt hatte und noch weniger, woher er wusste, wie es auszusehen hatte, doch ich ahnte, dass er das auch gar nicht wissen wollte.

Liabela und ich waren für's Erste vor dem König und dem Leibarzt sicher, jedoch nur für wenige Monate. Schließlich wurde eine Schwangerschaft erwartet. Und auch, wenn ich auf dem Gebiet nur wenig Wissen besaß: Ich wusste, dass das ein Kind nicht von allein entstand und auch, dass Aska es nicht brachte; so, wie es meine Mutter gern behauptet hatte.

Doch ich hatte Zeit, eine Lösung zu finden. Und die brauchte ich auch, denn meine Scheinbeziehung mit Liabela war nicht mein einziges Problem.

Mit meinem Einzug ins Schloss wurde ich in ein Netz aus Lügen und Intrigen verwickelt, das verworrener hätte nicht sein können, wie ich sehr bald am eigenen Leibe erfahren sollte.

Lügen und Intrigen

Kratos schloss erleichtert die Tür seines Zimmers und lehnte sich daran. Er hatte einen langen Tag hinter sich. Da der König, dessen Name Chephren lautete, davon ausging, dass er bald Großvater wurde, ließ er Kratos die Ausbildung eines Prinzen zu kommen. Außerdem schien er den jungen Adeligen sehr zu mögen, was sich dadurch auszeichnete, dass er seinen Unterricht des Öfteren mit eigenen Augen begutachtete. Auch verwickelte er Erebos' Sohn oftmals in politische Debatten, um sein Wissen und seinen Intellekt auszutesten. Der junge Adelige genoss diese Art der Förderung sehr, doch er war auch froh, wenn er Abends seine Ruhe hatte.

Yuan lag quer auf dem Sessel des Zimmers und spielte mit einem Geduldsspiel, dass er schon besessen hatte, als er zu Kratos gekommen war. Es war sein einziger Besitz neben dem Kuschelhasen, den Kratos ihm geschenkt hatte.

»Was machst du da?«, fragte der junge Adelige seinen halbblütigen Freund. Yuan blickte ihn kopfüber an.

»Spielen«, meinte er, wobei seine Stimme durch die ungewöhnliche Haltung ein wenig seltsam klang. »Etwas, das du nicht kannst.«

»Sehr witzig«, meinte Kratos mit bissiger Ironie und ging an Yuan vorbei, um sich auf sein Bett zu setzen. »Ich habe nur keine Zeit dafür.«

»Ausrede«, konterte Yuan. »Was machst du schon den lieben langen Tag? Dem König und seinen Leuten zuhören und lernen, wie man das Volk an der Nase herum- und Krieg führt.«

»So einfach kann man es nicht sagen«, behauptete Kratos. »Und selbst wenn: Was machst du schon schweres? Als mein Leibeigener dürftest du doch nicht so viele Aufgaben haben.«

»Hast du 'ne Ahnung!«, meinte Yuan und setzte sich wieder auf. »Ich darf dein Bett machen, das Zimmer aufräumen und putzen, Holz für deinen Kamin hacken und herbringen, damit es dein adeliges Hinterteil auch schön warm hat, außerdem noch Sonderwünsche der Prinzen erfüllen, denen jeder zu folgen hat … ach, da fällt mir ein, das Flusspferd hat dir Süßgebäck geschickt.«

Mit dem Flusspferd war Chrion gemeint, wie Kratos wusste. Es war sein Spitzname, den man sich hinter vorgehaltener Hand zu murmelte, wenn der fettleibige Prinz mal wieder übermäßig viele Speisen verlangte. Der Rothaarige blickte auf die Schüssel, die neben seinem Bett stand und auf die Yuan zeigte. Da er nach dem langen Tag hungrig war und durchaus ein wenig Zucker vertragen konnte, nahm er sich etwas davon.

»Wie kommt er dazu?«, fragte Kratos, der Geschmack an den Süßigkeiten fand.

»Mir sagte er, er wolle seinem neuen Bruder das Einleben am Hofe ein wenig versüßen«, berichtete Yuan und zuckte mit den Schultern. »Er ist zwar fett, aber scheint irgendwie ganz nett zu sein – Menschen gegenüber.«

Kratos gab einen nachdenklichen Laut von sich und schluckte das dritte Stück herunter, als es ihm genügte.

»Ich werde mich wohl bei ihm bedanken müssen …«, meinte der Rothaarige. Yuan nickte und wandte sich wieder seinem Spiel zu.

»Kannst du das Teil nicht mal aus den Händen legen?«, fragte Kratos.

»Wozu denn? Es macht Spaß«, verteidigte der Halbelf sich und warf es seinem Freund dann zu. »Versuch' es doch mal.«

Erebos' Sohn betrachtete Yuans Lieblingsspielzeug. Es bestand aus vielen ineinander verschlungenen Metallstäben, die insgesamt gesehen eine runde Form ergaben. Zehn leicht farbig schimmernde Kugeln, die für die zehn Elementargeister standen, rutschten an den Stäben entlang, je nachdem, wie man das Spiel drehte. Das Ziel war es, jedes Kügelchen an den für ihn vorhergesehenen Platz zu bringen, die durch gleichfarbige Kerben im Metall gekennzeichnet waren. Kratos begann, es hin und her zu drehen.

»Das hat einem älteren Halbelfen aus dem Stollen gehört, in dem ich gearbeitet habe«, erzählte Yuan. »Er war einer der wenigen, die ein klein wenig Geld besaßen und es sich dadurch ein wenig gemütlicher machen konnten. Und er wettete gern. Mit mir hat er gewettet, dass er mir dieses Spiel schenkt, wenn ich es lösen kann. Angeblich können das nur Elfen.«

Kratos spielte hochkonzentriert, während er Yuan zuhörte.

»Scheint ja nicht zu stimmen«, meinte er. »Du hast es ja schon oft gelöst.«

»Jep«, bejahte der Halbelf. »Es hängt eben doch nicht alles vom Blut ab.«

Kratos hielt in seinem Spiel inne.

»Ich verstehe den König nicht …«, meinte er. »Er wirkt so souverän und klug, dass ich ihm eine derartige Diskriminierungspolitik gar nicht zutraue …«

»Der Schein kann trügen«, sagte Yuan. »Wenn du König wärst, wäre alles besser. Du würdest den Krieg beenden, mein Volk freilassen und ihm seine Rechte wiedergeben.«

Als Kratos schwieg, sah sein Freund ihn fragend an.

»Oder nicht?«

»Es ist, wie mit diesem Spiel«, antwortete er und zeigte darauf. »Es ist nicht so einfach, wie es aussieht.«

Yuan runzelte die Stirn.

»Wie meinst du das?«

»Angenommen, ich würde König werden«, begann Kratos zu erklären. »Wenn ich die Halbelfen freilassen würde, würde mich das Volk hassen und stürzen. Und der neue König würde es wieder versklaven …«

»Heißt das etwa, du würdest dein Königreich weiter auf dem Rücken der Halbelfen erbauen?«, fragte Yuan mit erschrockenem Gesicht.

Kratos schüttelte den Kopf.

»Das ist der zweite Grund, warum ich nicht König werden will«, meinte der Rothaarige. »Ich könnte es nicht ertragen und zeitgleich nicht ändern.«

Gedankenverlorenes Schweigen breitete sich im Zimmer aus. Nur das leise Knistern des Kaminfeuers unterbrach es. Schließlich stand Kratos auf und hielt Yuan das Geduldsspiel wieder hin. Er schüttelte jedoch den Kopf.

»Behalte es«, meinte er. »Bis du es geschafft hast, es zu lösen.«

»Es können doch angeblich nur Elfen und vielleicht auch Halbelfen«, meinte Kratos.

»Nicht alles ist vom Blut abhängig«, widerholte Yuan.

Der Rothaarige lächelte und nahm den ballähnlichen Gegenstand wieder an sich.

»Du hast Recht. Ich gebe es dir zurück, wenn ich es gelöst habe.«
 

Der Alltag eines Prinzen war nicht besonders vielfältig, wie Kratos sehr schnell feststellte. Von seinem Unterricht abgesehen geschahen keine besonders interessanten Dinge. Er verbrachte zum Schein einige Zeit bei Liabela, mit der ihn jedoch nichts verband. Sie tat stur das, was ihr Vater ihr sagte. Sie hätte sich wohl sogar auf Kratos eingelassen, wenn dieser es gewollt hätte. Tiefsinnige Gespräche, wie er sie mit Yuan führen konnte, zählten nicht zu Liabelas Stärken. Sie besaß keine eigene Meinung. Sie plapperte einfach alles ihrem Vater nach.

Beide gingen im Moment im Palastgarten spazieren. Kratos hatte sich dies zur Pflicht gemacht, damit auch möglichst viele Leute im Schloss sahen, dass er sich mit seiner Verlobten beschäftigte.

Am heutigen Tag – Kratos war inzwischen fast einen Monat im königlichen Palast heimisch – kam ihnen niemand anderes als Chrion entgegen. Der fettleibige Prinz schien verschwitzt, weshalb Kratos ein wenig höflichen Abstand hielt.

»Verehrte Schwester«, begrüßte er der Sitte nach zuerst Liabela und wandte sich dann Kratos zu. »Werter Bruder, welch Zufall, dass wir uns begegnen, wo das Schloss doch so geräumig ist.«

»Es ist wahrlich selten, dass wir uns treffen, Chrion«, meinte Liabela freundlich. »Ich dachte teilweise schon, du würdest mir zürnen.«

»Aber weshalb denn?«, fragte der älteste der Prinzen. »Würde ich dir zürnen, würde ich deinem Verlobten wohl kein Süßgebäck zukommen lassen.«

Chrion sah Kratos an.

»Hat es Euch gemundet, Bruder?«

Kratos nickte.

»Sie sind von vorzüglichem Geschmack«, lobte er.

»Wenn du es wünscht, werde ich dir von nun an täglich welches bringen lassen. Mein Koch versteht sich bestens auf Süßgebäck.«

»Das sieht man«, dachte der Rothaarige, wollte jedoch nicht unhöflich sein, zudem die Süßigkeiten wirklich schmeckten. »Wenn es dir keine Umstände bereitet, wäre das wirklich sehr zuvorkommend von dir.«

Chrion klatschte in die Hände.

»Dann soll es so sein«, sagte er. »Nun, ich werde euch nicht länger stören. Ihr habt sicher Wichtigeres zu tun.«

Mit diesen Worten verschwand der fettleibige Prinz, für sein Gewicht beachtlich schnell.

»So kenne ich Chrion nicht«, meinte Liabela dann. »So freundlich ist er sonst nie.«

»Ich hatte bisher keinen Grund, ihm Antisympathie entgegenzubringen«, antwortete Kratos. »Warum sagte dein Vater eigentlich, er sei unfähig?«

Liabela schwieg einen Augenblick, schlenderte dann jedoch weiter durch die bunte Blumenpracht des Palastgartens, dessen Mittelpunkt und Blickfang ein großer runder Springbrunnen war.

»Chrion lebt nicht für Tethe'alla, stellt seine eigenen Belange nicht für das Königreich zurück …«, erläuterte sie. »Ein König muss Tethe'alla dienen, nicht Tethe'alla dem König.«

Diese Worte hatte Kratos bereits von Chephren gehört.

»Aber kann man ihm das denn nicht beibringen? Er scheint doch ein sehr freundliches Wesen zu haben.«

»Wie gesagt: So kenne ich ihn nicht. Außerdem wäre es zu spät. Ich bin dir versprochen worden. Du wirst König sein.«

»Warum eigentlich?«, fragte Kratos. »Ich bin nicht von eurem Blut. Und es heißt, ich werde inthronisiert, wenn du ein Kind von mir erwartest. Werden die Fähigkeiten eines Königs etwa an der Kraft seiner Lenden gemessen?«

»Ein König muss viele Nachkommen zeugen, um die Blutlinie am Leben zu halten«, sagte Liabela. »Chrion ist bereits sechzehn, jedoch ist noch kein Sprössling aus seinem Harem hervorgegangen.«

»Harem?«, fragte der junge Adelige verwundert, doch Liabela nickte.

»Jeder Königssohn, als auch der König selbst hat einen Harem«, erklärte sie und sah ihn an. »Ich dachte, das wüsstest du. Schließlich hast du auch einen.«

Kratos blinzelte die Prinzessin ungläubig an.

»Ich … habe … einen … Harem?«

»Sicher«, bestätigte Liabela.

Der Rothaarige erschauerte bei der Vorstellung. Die ganze Sache wurde ihm von Tag zu Tag unsympathischer. Um das Thema zu wechseln, sprach er etwas an, das ihn schon länger interessierte.

»Was geschah eigentlich mit deinem Bruder Antaris? Dem Volk ist nie gesagt worden, weswegen er von uns ging.«

Liabela blieb stehen. Als Kratos das merkte, drehte er sich um und sah sie fragend an.

»Es … ist unverschämt, so etwas zu fragen!«, meinte sie.

»Verzeih«, entschuldigte der Rothaarige sich. »Es ist nur eine Frage, die sich mir schon länger stellt. Schließlich nehme ich seinen Platz ein, obwohl ich es nicht will.«

Liabela antwortete nicht. Das blonde Mädchen wich sogar seinem Blick aus.

»Es … ist beschämend, was er tat«, meinte sie.

»Beschämend?«, fragte Kratos verwirrt. Liabela sah sich um, um sicherzugehen, dass ihnen niemand zuhörte. Mit gesenkter Stimme begann sie zu erzählen.

»Mein Bruder Antaris wäre ein guter König geworden. Er war klug und ging in der Rolle des Prinzregenten völlig auf. Niemand zweifelte daran, dass er ein ebenso guter König wurde wie mein Vater es ist«, erzählte sie. »Doch … er tat etwas Unverzeihliches.«

Kratos runzelte die Stirn. Es gab wenig unverzeihliche Dinge. Die Bezeichnung wurde für Verbrechen verwendet, die mit der Todesstrafe geahndet wurden. Er sah Liabela erwartend an.

»Welches Verbrechen wurde ihm zur Last gelegt?«, wollte er wissen.

Die junge Prinzessin wich seinem Blick noch immer aus.

»Er … zeugte ein Kind mit einer Halbelfe.«

Ein Windhauch umgab das zukünftige Königspaar, nachdem Liabela diesen Satz ausgesprochen hatte.

»Er liebte sie, wie er sagte«, berichtete die Königstochter. »Dabei war sie nur eine gewöhnliche Zofe. Das Kind unter ihrem Herzen sei ein Wunschkind. Er verlangte, die Halbelfe in seinen Harem aufnehmen zu dürfen und sie zu einer seiner Gemahlinnen zu machen.«

Kratos erinnerte sich daran, dass ein König mehrere Gemahlinnen haben durfte. Jedoch kam nur einer von ihnen der Titel der großen königlichen Gemahlin zu. Er sagte jedoch nichts, sondern lauschte weiter ihren Worten.

»Mein Vater war außer sich vor Zorn. Er schimpfte Antaris einen Blutsverräter und befahl, die Halbelfe zu töten. Antaris befand sich zu dieser Zeit auf einem Feldzug. Als ihm der Befehl meines Vaters vorgetragen wurde … wählte er den Tod auf dem Schlachtfeld. Er wusste nicht, dass sein Kind, das immerhin halbköniglich ist, inzwischen auf die Welt gekommen war.«

Kratos war sichtlich geschockt von der Geschichte. Chephren war tief in seiner Achtung gesunken. Warum hatte er die Halbelfe töten lassen, wenn sein Sohn sie doch so sehr geliebt hatte? Niemand hätte erfahren müssen, dass sie eine Halbelfe war. Doch der Rassismus des Königs schien genauso groß zu sein wie der dem Großteil des restlichen Menschenvolkes.

Jedoch hatte er Liabelas Wortwahl entnommen, dass das Kind noch lebte.

»Was wurde aus Antaris' Kind?«

Liabela sah auf.

»Es ist halbköniglich und trägt nur zu einem Viertel Elfenblut in sich. Aus einem mir nicht bekannten Grund ließ mein Vater sie am Leben.«

»Sie?«, fragte Kratos. »Es war also eine Tochter?«

»Ja«, bestätigte die Prinzessin und nickte. »Sie lebt hier im Schloss. Um genau zu sein, ist sie eine der Schlosszofen. Ihr Name ist …«
 

»… Viviane …!«

Yuan war völlig hin und weg. Kratos konnte nicht mehr zählen, wie oft er ihren Namen schon gesäuselt hatte. Der junge Adelige saß auf seinem Bett und spielte mit Yuans Geduldspiel, während sein Freund ununterbrochen von der kleinen Schlosszofe schwärmte.

»Sie ist wunderschön …!«, wiederholte er sich. »Ihre Augen sind so blau wie der Himmel und ihre Haare …«

»… so türkis wie die Fliesen in meinem Bad«, scherzte Kratos, der die Schwärmerei nun schon zum etwa zehnten Mal zu hören bekam. Yuan warf ihm ein Kissen an den Kopf.

»Du bist so unromantisch!«, schimpfte er.

»Wer von uns beiden hat sich denn die ganze Zeit über mich und Liabela lustig gemacht?«

»Das ist was anderes!«, behauptete Yuan und ließ sich quer auf den Sessel des Zimmers fallen. »Viviane ist einfach … süß …«

Kratos schielte belustigt und versuchte dann weiter, die verschiedenfarbigen Kugeln an ihren richtigen Platz zu bringen. Doch was er auch tat, sobald er eine Kugel am richtigen Platz hatte und den Ball drehte, um es mit der nächsten Kugel zu machen, verlor die andere ihren Halt und verschwand im Metallgewirr des Balles.

Yuan redete ohne Punkt und Komma. Er wurde nicht müde, ihm immer und immer wieder die Vorzüge der kleinen Halbelfe aufzuzählen. Kratos ließ es geduldig über sich ergehen, wobei ein leichtes Lächeln sein Gesicht zierte. Erstens war es seine Aufgabe als Freund und zweitens gönnte er es Yuan, dass wenigstens er positive Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht machte. Kratos selbst hatte nach wie vor nichts für Mädchen übrig. Erst recht nicht für Liabela.

Wie es der Zufall wollte, klopfte es wenig später an Kratos' Zimmertür und niemand anderes als Viviane trat nach seiner Erlaubnis hinein, eine Schüssel Süßgebäck vor sich her tragend. Yuan erstarrte bei ihrem Anblick.

Viviane machte einen höflichen Knicks vor Kratos.

»Ich bringe das Süßgebäck im Auftrag des hochwohlgeborenen Prinzen Chrion«, sagte sie mit heller Stimme und lächelte freundlich. Der Rothaarige nickte und bat sie, die Schüssel auf seinen Nachttisch zu stellen. Viviane tat, wie ihr geheißen. Danach faltete sie ihre Hände auf ihrer Schürze und sah Kratos an. Aus den Augenwinkeln konnte er sehen, dass Yuan eifersüchtig dreinblickte, als Viviane nur seinem Freund Aufmerksamkeit schenkte und nicht ihm.

»Habt Ihr noch einen Wunsch, Kratos-san?«

Der Rothaarige wollte gerade verneinen, als ihm eine Idee kam.

»Ja, durchaus«, sagte er in einem ungewöhnlich strengen Tonfall. »Zeige meinem Leibeignen doch bitte … den Weg zu den Gemächern meiner Verlobten. Als ich ihr neulich eine Nachricht zukommen lassen wollte, verlief er sich in den Gängen des Schlosses.«

Obwohl Yuan feuerrote Wangen vor Scham bekam, da es stimmte, was Kratos sagte, warf er ihm einen dankbaren Blick zu. Viviane verneigte sich.

»Sehr wohl«, antwortete sie und wandte sich lächelnd zu Yuan um. »Ich muss ohnehin noch ein Bad für die verehrte Prinzessin herrichten. Vielleicht möchtest du mir dabei helfen?«

»Oh …! Äh … sehr, sehr gern!«, antwortete Yuan schnell und verhaspelte sich beinahe. Viviane behielt ihr Lächeln und führte Yuan hinaus. Kratos schmunzelte und nahm sich ein Stück des Süßgebäcks.
 

Während Yuan Viviane umschwärmte, die mir tagtäglich Chrions Süßgebäck brachte, überlegte ich noch immer fieberhaft, wie ich verhindern konnte, dass Liabela und ich am Ende doch noch das tun mussten, gegen was ich mich mit Händen und Füßen wehrte. Doch ein wirklich guter Plan wollte mir nicht einfallen. Außerdem konnte ich Liabela nicht wirklich in meine Pläne mit einbeziehen, da sie mich höchstwahrscheinlich früher oder später an ihren Vater verraten hätte. Und immerhin stand Yuans Leben auf dem Spiel. Auch, wenn mein Vater sich seit meiner Verlobung nicht mehr im Schloss hatte sehen lassen, wusste ich, dass, wenn der König die Verlobung löste und ich mit Yuan zu ihm zurückkehren musste, er seine Drohung, ihn zu töten, wahrmachen würde.

Ich war schon am überlegen, ob ich nicht vielleicht Chrion mit einbeziehen konnte, der sich mir gegenüber die ganze Zeit beinahe bürderlich verhielt, als ich feststellen musste, dass ich ihm weitaus weniger willkommen war, als er es mir die ganze Zeit vorgegaukelt hatte.
 

Kratos krümmte sich vor Schmerzen.

Der sonst so gesunde Sohn von Erebos war urplötzlich von einer Krankheit befallen worden, die ihn nun schon seit einer Woche ans Bett fesselte. Hohes Fieber und heftige Magenkrämpfe waren nur wenige seiner Beschwerden. Teilweise zitterte er am ganzen Körper und klapperte mit den Zähnen, weil er fror, um nur wenige Minuten später sämtliche Decken von sich zu werfen, weil sein Körper zu brennen schien. Sein Kopf pulsierte schmerzhaft mit jedem seiner Herzschläge, die ein ungesundes Tempo angenommen hatten und außerdem konnte er zweitweise einige Körperteile nicht bewegen. Selbst sein Augenlicht litt unter der nebulösen Krankheit, sah er entweder verschwommen oder mehrfach. Auch konnte er so gut wie nichts bei sich behalten. Selbst Tee erbrach er nach kurzer Zeit wieder.

Yuan wich seinem Freund kaum von der Seite und versorgte ihn mit allem, was er brauchte. Immer wieder wechselte er die Wadenwickel aus und legte Kratos neue Eisbeutel auf die fiebrige Stirn. Auch ging er dem Arzt zur Hand, der Kratos täglich besuchte, um ihm seine Medizin zu verabreichen.

»Warum geht es ihm denn immer noch nicht besser?«, fragte Yuan, doch der menschliche Arzt ignorierte ihn, wie so oft.

»Ihr müsst Eure Medizin nehmen, Kratos-san«, verlangte er.

»Ich will dieses widerliche Zeug nicht mehr …!«, verweigerte der Rothaarige. »Es hilft mir nicht!«

»Ihr müsst es regelmäßig und über längere Zeit nehmen, damit es wirkt«, beschwor der Arzt seinen Patienten.

»Es geht mir von Tag zu …«, Kratos kämpfte mit ganzer Kraft gegen den Würgreiz an, der sich einmal mehr in ihm breitmachte, »… Tag schlechter …«

»Wenn es Euch besser gehen soll, müsst Ihr die Medizin nehmen«, wiederholte sich der Arzt.

Nur widerwillig nahm Kratos den dickflüssigen Saft zu sich. Als der Arzt verschwunden war, ließ sich Kratos in die Kissen sinken.

»Mir ist kalt«, sagte er und zog sich die Decke bis unter sein Kinn. »Sei so gut und mach' den Kamin an …«

Yuan nickte, obwohl er wusste, dass sein Freund ihm innerhalb der nächsten halben Stunde sagen würde, er solle das Feuer wieder löschen. Die Krankheit vernebelte ihm seine Sinne ein wenig, zumal er starken Schüttelfrost hatte. Er warf einmal mehr Holz in den Kamin und zündete es mit etwas Papier an. Im gleichen Moment klopfte es erneut an der Tür.

»Ich will niemanden sehen«, sagte Kratos zu Yuan, welcher zur Tür ging. Nach wenigen Worten, die das kranke Kind kaum hörte, drehte sich sein Freund wieder um.

»Es ist der hochwohlgeborene Prinz Chrion«, drückte er sich sogleich förmlich aus. Kratos wollte schon fauchen, dass er sich unpässlich fühlte, da bei ihm der rote Mond aufgegangen sei, als ihm einfiel, dass er männlich war. Er schüttelte den Kopf.

»Er soll eintreten.«

Yuan trat beiseite und verbeugte sich, um Chrion Platz zu machen. Der fette Prinz knallte ihm die Tür ins Gesicht.

»Bruder, wie ich hörte, liegst du krank darnieder!«, sprach Chrion sein Entsetzen aus. »Dabei schienst du so gesund bei deiner Ankunft!«

»Für gewöhnlich werde ich auch selten krank«, meinte Kratos, wobei er wieder gegen seine Übelkeit ankämpfte, die Chrions bloßer Anblick bei ihm auslöste.

»Mein Leibarzt sagte mir, du befändest dich noch immer nicht auf dem Weg der Besserung. Da dachte ich, ich besuche meinen werten Bruder doch selbst einmal.«

»Dein Leibarzt?«, fragte der Rothaarige verwundert. Chrion nickte.

»Da du noch kein legitimes Familienmitglied bist, hast du noch keinen. Da ich dich als Bruder jedoch sehr schätze und mir dein Wohl am Herzen liegt, schickte ich dir meinen.«

»Das war sehr zuvorkommend von dir«, bedankte Kratos sich.

»Ich tat es gern für dich«, meinte Chrion. »Wie ist dein Befinden?«

»Nicht sehr gut«, antwortete der junge Adelige ehrlich. »Schmerzen plagen meinen ganzen Leib und ich kann nur wenig bei mir behalten.«

»Das klingt fürchterlich«, sagte der Prinz sofort. »Meine besten Wünsche zur Genesung begleiten dich. Wie ich hörte, meidet Liabela deine Gemächer.«

»Auf meinen Wunsch«, erklärte Kratos. »Ich möchte sie keinesfalls anstecken. Aus dem gleichen Grund würde ich dich bitten, nun ebenfalls zu gehen.«

Eigentlich wollte Kratos einfach nur seine Ruhe. Aber das mit Liabela stimmte. Er hatte seine Krankheit genutzt, um sie weniger sehen zu müssen. Nur war Chrion stets zu freundlich zu ihm gewesen, um ihm den Zutritt zu verweigern. Daher hatte er ihn auf diese höfliche Art und Weise gebeten, zu gehen und nicht wiederzukommen. Der Prinz hatte verstanden, sich freundlich verabschiedet und verschwand aus dem Zimmer.

Yuan rieb sich die Stirn, auf der eine ziemlich große Beule gewachsen war. Vom Schmerz leicht benebelt wankte er zu Kratos' Bett und klaute ihm den Eisbeutel von der Stirn. Als er sich diesen jedoch auf die Beule legte, bemerkte er, dass das Eis darin zu lauwarmem Wasser geschmolzen war.

»Was zum …?«

Der Halbelf sah zu Kratos und legte ihm eine Hand auf die verschwitzte Stirn. Sein rothaariger Freund glühte förmlich. Außerdem begann sein Atem zu rasseln.

»Kratos! Was ist los mit dir?!«

Der junge Adelige konnte nicht antworten. Der Würgreiz, gegen den er die ganze Zeit angekämpft hatte, siegte nun über seine Beherrschung. Er übergab sich; und brach fast pures Blut.

»Um der Götter Willen …!«
 

Ich nahm alles nur noch sehr verschwommen wahr. Die Schmerzen vernebelten meine gesamte Wahrnehmung. Ich weiß nur noch, dass Yuan rausgestürmt war, um Hilfe zu holen. Wenig später hatte sich ein anderer Arzt über mich gebeugt und mich untersucht. Doch statt mir irgendwelche Medizin zu verabreichen, gab er mir eine Spritze. Danach fiel ich in einen tiefen, traumlosen und vor allem schmerzfreien Schlaf.

Als ich aufwachte, saß Yuan neben mir und freute sich, dass ich endlich wieder zu Bewusstsein gekommen war. Er war es auch, der mir erklärte, dass es der Leibarzt des Königs selbst gewesen war, der mir die rettende Spritze gegeben hatte; es war ein heilendes Serum gewesen, denn ich war vergiftet worden.

Uns beiden war recht schnell klar gewesen, dass niemand anderes als Chrion die Schlange gewesen war, die mir das Gift verabreicht hatte: Erst in dem Süßgebäck, dass Viviane mir täglich gebracht hatte und später in der Medizin seines Leibarztes. Dem König verschwiegen wir unseren Verdacht, da wir keinerlei Beweise in der Hand hatten.

Yuans Herz war in tausend Scherben zerbrochen, als er einsehen musste, dass seine Viviane es gewesen war, die mir tagtäglich den Tod neben mein Bett gestellt hatte. Doch ich ermunterte ihn, mit ihr zu sprechen. Und letztendlich stellte sich heraus, dass sie nichts von der Vergiftung gewusst hatte. Damit war Yuans Welt wieder heil und auch ich befand mich auf dem Weg der Besserung.
 

Es waren weitere zwei Wochen vergangen. Da das Gift Kratos beinahe getötet hätte, dauerte es dementsprechend lange, bis er sich gänzlich davon erholt hatte. In den letzten Tagen war er immer unruhiger geworden, da es ihn langweilte, den ganzen Tag im Bett zu liegen und er sich, wie er sagte, wieder kerngesund fühlte. Doch Yuan war gnadenlos und verweigerte es ihm, auch nur im Zimmer auf und ab zu gehen.

Diesen Morgen jedoch kam er mit einem freundlichen Lächeln zu Kratos ins Zimmer.

»Guten Morgen!«, grüßte er mit bester Laune. »Ich habe eine fantastische Nachricht für dich: Du darfst wieder aufstehen!«

Kratos aber hatte sich die Decke bis zum Kinn hochgezogen und schüttelte den Kopf.

»Heute nicht …«, nuschelte er.

Yuan sah ihn verwundert an.

»Warum das denn nicht?«, fragte er. »Die letzten Tage hast du mich schon fast angefleht, aufstehen zu dürfen und heute willst du nicht? Geht es dir etwa wieder schlechter?«

»N-nein … das ist es nicht …«

»Was denn dann?«, wollte er wissen.

»Ich … will nicht drüber reden …!«

»Na komm, mir kannst du doch alles sagen«, behauptete der Halbelf.

Kratos schwieg. Yuan aber bohrte weiter nach.

»Du musst es mir schon sagen, sonst kann ich dir nicht helfen.«

Der junge Adelige war genauso rot geworden, wie seine Haare es waren. Dann aber gab er sich geschlagen.

»Versprich' mir, nicht zu lachen …!«

Yuan legte seine Hand auf sein Herz.

»Versprochen.«

Damit gab Kratos sich zufrieden und er schlug die Decke beiseite. Yuan starrte auf den Grund für Kratos' rote Gesichtsfarbe.

Er war über Nacht zum Mann geworden.

Einen Augenblick lang konnte sich der Zwölfjährige noch beherrschen, doch dann begann er schallend zu lachen. Er hielt sich sogar den Bauch und hatte sich auf den Boden gesetzt, um nicht umzufallen.

»Das ist nicht witzig!«, schimpfte Kratos. »Das ist das erste Mal, dass ich so aufgewacht bin!«

»Du Spätzünder!«, prustete der Blauhaarige. »Ich hatte meinen schon vor zwei Jahren!«

Während Yuan weiterlachte, wurde Kratos noch röter, als er es ohnehin schon war.

»Du hast versprochen, nicht zu lachen!«

»Versprechen kann sich jeder mal!«, behauptete Yuan und lachte weiter.

Nachdem sich der Blauhaarige wieder halbwegs einbekommen hatte, wagte Kratos es, ihm eine Frage zu stellen.

»Wie … werde ich das wieder los …?«

Erneut kicherte Yuan leise, beherrschte sich dieses Mal jedoch.

»Geh' mal ins Bad. Das hilft«, prustete er.

Wenig später hatte sich der junge Adelige seines Problemes entledigt und sich angezogen. Yuan grinste zwar noch immer, lachte aber wenigstens nicht mehr.

»Naja, sieh's positiv: Jetzt kannst du wenigstens deinen dynastischen Pflichten nachgehen.«

»Das hatte ich nicht vor«, knurrte Kratos und setzte sich auf das von Yuan frischbezogene Bett.

»Warum denn nicht?«, wollte das Halbelfenkind wissen. »Das wäre die Lösung für alles.«

»Nein«, blieb der Rothaarige stur.

»Aber warum?«, hakte Yuan nach. »Es muss doch einen Grund haben.«

»Mein Großvater hat mir gesagt, ich soll keines meiner Körperteile in unbekannte Öffnungen stecken«, rezitierte Tiberius' Enkelkind im Brustton der Überzeugung. »Und daran halte ich mich.«

Yuan schlug sich die Hand ins Gesicht.

»Ich glaube nicht, dass er das meinte …«

Blutroter Winter

Seitdem Kratos ein Mann geworden war, waren die morgendlichen Toilettengänge zu einer Tortur geworden. Wie so oft betrachtete er sein Spiegelbild. Allmählich wurde es Zeit, dass er etwas gegen den rötlichen Flaum unternahm, der seit einiger Zeit sein Kinn umspielte.

Während er, sehr vorsichtig, mit einer Rasierklinge sein Gesicht davon befreite, dachte er einmal mehr über sein Problem mit Liabela nach.

Ihm wollte einfach keine Lösung einfallen. Seit nun mehr drei Monaten war er nun schon mit der Prinzessin verlobt. Es würde nicht mehr lange dauern, bis man sie untersuchen würde, um festzustellen, ob Kratos seinen dynastischen Pflichten nachgekommen war. Wenn ihm nicht bald etwas einfiel, stand Yuans Leben erneut auf dem Spiel.

Nachdem er sich selbst wieder im Spiegel erkannte, beschloss er, seinen freien Sonntag zu nutzen, um Noishe, Silabél und Belias zu besuchen. Das kleine Aeros wuchs schnell heran. Für Kratos sogar zu schnell. Das Vogelwesen war ihm über die Zeit, die es heimlich bei ihm gelebt hatte, sehr ans Herz gewachsen. Es war hochintelligent und er war sich sicher, dass Noishe immer verstand, was er sagte. Seine lilafarbenen Augen blickten ihn stets aufmerksam an und manchmal, wenn er seine Kopffedern aufstellte, hatte er das Gefühl, er würde ihm eine Frage stellen.

Die Stallungen des Palastes waren groß. Glücklicherweise hatte er veranlassen können, dass ausschließlich Yuan Zutritt zu den Boxen von Silabél und Belias hatte. So war sichergestellt, dass Noishe's Existenz verborgen blieb.

Als er Silabéls Box betrat, begrüßte ihn das Drachenweibchen freudig und rieb seinen Kopf an Kratos' Bauch. Dabei befreite sich einmal mehr ein friedliches Summen aus ihrer Kehle. Der Rothaarige lächelte.

»Dir auch einen guten Morgen«, sagte er und kraulte sie unter den Schuppen. Dann schnalzte er mit der Zunge, um Noishe zu rufen. Das Aeros kam sogleich auf ihn zugetapst. Kratos hob es auf seinen Arm, wobei sein geflügelter Freund bereits die Größe eines ausgewachsenen Adlers erreicht hatte. Ein Stich Trauer mischte sich in seine warmen Rehaugen.

»Allmählich kann ich dich nicht mehr verstecken«, meinte er. Noishe gurrte, während Kratos ihm über das Gefieder strich. »Du wächst jeden Tag immer mehr … und ich kann dich auch nicht immer einsperren …«

Das Vogelwesen legte seinen Kopf schief und blickte Kratos neugierig an. Erneut gurrte es leise. Der junge Adelige trat an das Fenster der Box und blickte hinaus in den blauen Himmel.

»Es wird Herbst. Es wäre gut, wenn du mit den anderen Vögeln nach Sylvarant fliegen könntest … frei und sorgenlos …«

Noishe zwitscherte nun munter. Kratos lachte leicht, während er verträumt in den Himmel blickte.

»Ich kann nicht mit. Ich habe keine Flügel, so wie du«, meinte er. Nun sah Noishe ihn fragend an. Kratos' Blick wurde traurig.

»Es ist grausam, dich immer zu verstecken und kaum an die frische Luft zu lassen. Seitdem ich hier im Schloss lebe, kommst du fast gar nicht mehr nach draußen.«

Erneut gurrte der Protozoon und schmiegte sich an seinen Freund. Kratos schmunzelte und stupste ihn auf den gelben Schnabel.

»Es ist dir nur egal, weil du das Leben da draußen nicht kennst«, meinte der Rothaarige. »Aber dort oben bist du frei, Noishe. Du kannst fliegen wohin du willst. Es gibt keine Grenzen, keine Zäune. Der Himmel ist unendlich.«

Noishe blickte seinen Freund aufmerksam an. Dieser hatte sein Gesicht auf seine Handfläche gestützt und seinen Blick noch immer 'gen Himmel gerichtet.

»Ich wünschte, ich wäre wie du«, sagte Kratos. »Ich wünschte, ich müsste nur meine Flügel ausbreiten und könnte fliegen, wohin immer ich will. Raus aus Meltokio, weg von dieser intriganten Königsfamilie. Einfach nur frei sein …«

Dann aber schüttelte der junge Adelige den Kopf.

»Ich sollte aufhören, mich so kindischen Träumen hinzugeben …«

»So kindisch sind sie gar nicht.«

Yuan war aufgetaucht. Wie lange er schon dort stand, wusste Kratos nicht, aber anscheinend lange genug.

»Natürlich sind sie kindisch. Ich kann nicht fliegen und werde es nie können.«

»Na und? Du selbst vielleicht nicht, aber anscheinend kann deine Fantasie es.«

»Worauf willst du hinaus?«, fragte Kratos.

Yuan trat zu seinem Freund und Noishe und auch er streichelte das Vogelwesen.

»Du bist noch immer anders als die anderen Menschen«, meinte er. »Vielleicht wirst du irgendwann frei sein.«

Kratos schüttelte den Kopf.

»Auch, wenn ich mich noch immer dagegen wehre, wie soll ich verhindern, dass man herausbekommt, dass Liabela und ich die Hochzeit nicht vollzogen haben? Und wenn das herauskommt, wird die Verlobung gelöst und wir müssen zu meinem Vater zurück.«

»Wäre das nicht besser, als hier zu leben? Chrion hat versucht, dich umzubringen!«

»Und mein Vater wird das Gleiche mit dir tun, wenn ich versage!«

Yuan starrte Kratos entgeistert an.

»Wie … bitte?«

Der Rothaarige verfluchte sich. Es war ihm einfach so herausgerutscht. Doch leugnen brachte jetzt auch nichts mehr. Deswegen nickte er.

»Das war es, was mich an jenem Abend so aggressiv gemacht hat …«, erklärte er. »Mein Vater hat mich mit deinem Leben erpresst.«

»Warum hast du mir das nicht gesagt?!«, fragte Yuan völlig entgeistert. »Ich wäre nie zu dir zurückgegangen!«

»Eben!«, meinte Kratos.

Obwohl es nur ein Wort gewesen war, begriff das Halbelfenkind, was Kratos ihm damit sagen wollte. Man sah ihm an, wie gerührt er war. Er war es nicht gewohnt, dass er jemandem etwas bedeutete. Und schon gar nicht, dass er ein derart großes Opfer brachte. Der junge Adelige aber wechselte plötzlich das Thema.

»Ich will Noishe noch diesen Herbst auswildern. Den Winter verbringen wir ohnehin bei meinem Vater.«

»Ach, stimmt ja …«, fiel es Yuan ein. »Wir verbringen ja nur die Sommer im Schloss.«

Kratos nickte.

»Mit viel Glück geben sie Liabela und mir noch einen Sommer Zeit. Sollte jedoch im Winter eine Untersuchung stattfinden, wird mein Vater von meinem Versagen erfahren. Sollte dies geschehen, wird er dich töten wollen.«

Der rothaarige Jugendliche sah seinem Freund nun direkt in die Augen.

»Das werde ich aber nicht zulassen.«

»Wie … willst du das anstellen? Dein Vater ist militärisch ausgebildet worden. Du hast keine Chance gegen ihn!«

»Ich sprach nicht von einem Kampf«, meinte Kratos kopfschüttelnd. »Sollte es soweit kommen, verlassen wir Meltokio.«

»Und wohin gehen wir dann?«

Der Blick des Adeligen wandte sich erneut dem Himmel zu.

»Wer weiß … auf jeden Fall weg von hier«, sagte er und sah Noishe an.

»So weit, wie uns unsere Beine tragen.«
 

Die Nacht hielt das Land noch in ihrer sanften Umarmung gefangen, als Kratos und Yuan auf Silabél und Belias auf die weiten Ebenen um Meltokio ritten. Auf Kratos' Arm thronte Noishe.

»Bist du dir auch ganz sicher, Kratos?«

Yuan sah seinen Freund fragend an, doch er nickte und blickte auf das Vogelwesen. Er erinnerte sich noch gut an jenen Tag, an dem er Noishe freigekauft hatte und den Sturm, durch den sie geritten waren, um ihn zu retten. Einmal mehr knipste Noishe ihn sanft in sein Ohrläppchen.

Kratos und Yuan waren am Vortag zu Erebos' zurückgekehrt und würden erst im Frühling wieder ins Schloss zurückkehren. Da Noishe immer schneller wuchs, war es inzwischen kaum noch möglich, ihn zu verbergen. Und außerdem wollte Kratos, dass wenigstens einer von ihnen Dreien frei war.

Allmählich ging die Sonne auf und ließ Noishe's Gefieder glänzten. Der Protozoon wurde unruhig. Kratos schmunzelte.

»Bereit für deinen ersten Flug, mein Freund?«

Noishe sah ihn an. Seine Art, es zu bejahen. Kratos nickte und überblickte die weite Ebene, über die das goldene Licht der Morgensonne floss. Ja. Hier konnte man frei sein.

Silabél preschte los. Das Drachenweibchen konnte sich endlich wieder verausgaben. Kratos genoss den Wind, der ihm entgegen peitschte, sein Haar wehte wild durcheinander. Er spürte Silabéls Herzschlag unter sich, wurde eins mit ihr und mit der Landschaft. Yuan hatte er vergessen, so, wie alles andere um sich herum. Alle Sorgen fielen von ihm ab, aller Kummer, aller Schmerz verblassten zu einer schwachen Erinnerung. Nichts und niemand konnte ihn jetzt noch festhalten. Er riss seinen Arm nach oben, um Noishe die die gleiche Freiheit zu schenken. Das Aeros schlug kräftig mit den Flügeln und ließ schließlich los, um sich in die Lüfte zu erheben. Kratos stieß einen Freudenschrei aus, jubelte aus ganzem Herzen. Selbst, wenn er es gewollte hätte, hätte er keine Worte mehr bilden können. Er preschte Noishe hinterher, wurde wild und unbekümmert wie das Gewitter über dem Land. Das Aeros kreischte wie ein Adler, der über die Prärie flog und sich seines puren Daseins erfreute. Silabél wurde immer schneller, die Landschaft verschmolz nur noch zu einer einzigen Symphonie aus Farben und Licht. Das Drachenweibchen holte sogar Noishe selbst ein und rannte unter ihm hindurch. Die Euphorie, die Kratos erfasst hatte, war wie ein Rausch, dem er sich für immer hingeben wollte. Niemals sollte es enden. Für immer wollte er so frei sein wie der Wind. Für einige Sekunde glaubte er sogar, selbst fliegen zu können.

Doch dann hielt er Silabél so schnell an, wie sie losgeprescht war.

Noishe flog weiter, nicht ahnend, dass sein Freund stehengeblieben war. Kratos sah ihm sehnsüchtig nach.

Wenig später hatte Yuan ihn eingeholt. Als er sah, wie traurig sein Freund war, begriff er und blickte in die Richtung, in die Noishe davongeflogen war. Mit gesenktem Blick drehte Kratos um, blickte jedoch noch ein letztes Mal in Noishe’s Richtung.

»Leb wohl, mein Freund …«, murmelte er. »Sei frei … auch für mich.«

Nach diesem Worten trieb er Silabél von Neuem an, dieses Mal jedoch, um nach Meltokio zurückzukehren. Yuan folgte ihm.

»Wir müssen uns beeilen«, meinte Kratos. »Sonst kommt er zurück.«

Der Blauhaarige nickte und trabte neben seinem Freund her. Kratos schwieg eine Weile, bis er ein neues Gespräch anfing.

»Willst … du nicht auch nach Westen?«, wollte er wissen. »In Sylvarant wärst du ebenso frei wie Noishe es jetzt ist. Du könntest dich den Rebellen anschließen und …«

»Halt die Klappe«, fiel Yuan ihm ins Wort. »Solange du mein Freund bist, schließe ich mich denen garantiert nicht an. Sie sehen alle Menschen Tethe'allas als ihre Feinde an.«

»Ich bin dein Feind, Yuan. Ich halte dich gefangen.«

Doch der Halbelf schüttelte den Kopf.

»Ich bin freiwillig bei dir. Du bist mein Freund und daran wird sich niemals etwas ändern. Egal, was geschieht.«

Kratos brachte ein schwaches Lächeln zu Stande. Plötzlich jedoch hörte er erneut das Kreischen von Noishe und blickte über seine Schulter.

»Er kommt zurück! Silabél, lauf'!«

Das Drachenweibchen setzte zum Galopp an. Yuan und Belias taten es ihnen gleich, doch Noishe war schneller und holte auf. Er wollte wieder auf Kratos' Arm landen, doch dieser schlug ihn weg.

»Verschwinde!«, fauchte er. »Ich will dich nicht mehr sehen!«

Es war natürlich gelogen, was Kratos sagte. Doch er wollte, dass Noishe davonflog. Weit weg von Meltokio. Das Aeros aber blickte ihn verwirrt an und setzte erneut zur Landung an. Kratos wurde wütend.

»Du sollst verschwinden!«, wiederholte er sich. »Verstehst du denn nicht?! Du kannst nicht bei mir bleiben!«

Yuan wollte Kratos beruhigen, da er wusste, dass er den Jähzorn seines Vaters geerbt hatte, doch der Rothaarige hörte ihn nicht einmal. Stattdessen begann er vor Verzweiflung zu weinen.

»Hau ab!«, sagte er immer wieder und schlug nach Noishe. Doch selbst, wenn er ihn traf, das Aeros wich ihm nicht von der Seite. Kratos wurde so zornig, dass er von Neuem die seltsame Kraft in sich spürte, die er nicht kontrollieren konnte. Eine Flamme bildete sich um seine Hand und ein Feuerball löste sich daraus, der Noishe um Haaresbreite verfehlte. Der Schock über den plötzlichen Einsatz von Magie riss Kratos jäh aus seinem Wutausbruch und die Flamme erlosch wieder. Weinend zog er Noishe an sich.

»Du dummes Vieh …!«, schimpfte er und sah seinen tierischen Freund an. »Was soll ich bloß mit dir machen? Du kannst nicht bei mir bleiben …!«

Doch das Aeros sah ihn nur treu an. Kratos seufzte schwer und machte sich mit Yuan und Noishe auf den Rückweg …
 

Vorsichtig wie eh und je kehrten Yuan und Kratos ist die Stallungen des Anwesens zurück. Yuan stand Schmiere, während Kratos Silabél und Belias in ihre Boxen zurückbrachte und Noishe versteckte. Doch dieses Mal sollte es anders kommen.

Kratos hatte gerade Noishe's gut verborgenes Nest liebevoll zurechtgemacht, als er plötzlich etwas hörte. Doch noch bevor er sich umdrehen konnte, war es schon zu spät.

»Was hat diese Missgeburt auf meinem Grundstück verloren?!«

Nebelas Sohn erstarrte und drückte Noishe aus einem Reflex heraus schützend an sich. Doch Erebos packte ihn grob an der Schulter und drehte ihn um. In seinen Augen lag reiner Jähzorn. Kratos war im ersten Augenblick wie gelähmt. Einmal mehr übermannten ihn die Erinnerungen an den Tod seiner Mutter. Und ehe er sich versah, hatte Erebos ihm Noishe auch schon entrissen. Erst der Schrei des Aeros' ließ ihn aus seiner Paralyse erwachen.

»Nein!«, schrie er. »Lass ihn los! Lass ihn laufen!«

»Vergiss es!«, fauchte Erebos. »Das Vieh bekommt den Platz, der ihm zusteht! Als Braten auf meinem Teller!«

»Nein!!!«

Kratos wollte gerade auf seinen Vater losgehen, als er ein schwaches Stöhnen hörte. Er blickte in die Richtung, aus der es kam. Yuan war von Erebos zu Boden geschlagen worden und blutete stark an seinem Kopf.

»Yuan ..:!«

Dann ging alles rasend schnell. Erebos hatte Hiroki gerufen und ihm Noishe in die Hände gedrückt. Das Aeros schrie aus lauter Angst nach seinem Freund, der erneut auf seinen Vater losging. Doch dieser holte mit seiner Eisenkralle aus und schlug seinen Sohn zu Boden. Dann packte er Yuan an den Haaren. Der Halbelf schrie auf, doch er konnte sich nicht aus dem Klammergriff befreien.

»Hiroki, sorg' dafür, dass das Vieh in der Küche landet! Und pass' auf, dass mein missratener Sohn mir nicht dazwischenfunkt. Der bleibt hier solange drin, bis ich fertig bin! Mir reicht es mit diesem Schlammblutpack!«

»Nein!«, schrie Kratos und wollte seinem Vater folgen, doch er bekam die Tür vor der Nase zugeknallt. »Ich habe mich an alles gehalten! Du darfst ihn nicht töten! Hör auf! HÖR AUF!!!«

Yuans Weinen war die einzige Antwort, die er bekam. Noishe's verzweifeltes Schreien wurde immer leiser, er wurde weggebracht. Kratos prügelte auf die massive Holztür ein, doch es brachte nichts. Dann hörte er, wie sein Vater Yuans Kleidung zerriss. Er ahnte, was geschehen würde. Um in die Stallungen zu kommen, musste man durch einen Gerümpelraum, an dessen Wänden die Peitschen hingen, mit denen die Halbelfen bestraft wurden. Wie von Sinnen prügelte er auf die Tür ein, doch Hiroki hielt sie fest verschlossen.

»Dir werde ich die Flötentöne beibringen!«, fauchte Erebos. Ein Knall ertönte und Yuan schrie vor Schmerz auf. Kratos verlor beinahe den Verstand.

»LASS IHN LOS!!!«

Doch der nächste Knall ertönte, auf ihn folgten zwei weitere. Yuans Schreie gingen Kratos durch Mark und Bein. Mit jedem Knall, jedem Schrei von Yuan brach etwas in dem Rothaarigen. Er fühlte sich urplötzlich schuldig und dreckig. Sein bester und einziger Freund wurde ausgepeitscht und er hörte tatenlos dabei zu. Verzweifelte Tränen rannen über seine heißen Wangen und er rutschte an der Tür herunter. Mit jedem weiteren Knall zuckte er zusammen. Yuan hatte aufgehört zu schreien. Die Schläge aber hörten nicht auf.

»Yuan …«, wisperte Kratos. »Es tut mir so leid …«

Plötzlich wurde es totenstill. Kratos blickte auf und lauschte. Hoffte, irgendeinen Laut von Yuan wahrzunehmen, der ihm zeigte, dass er noch lebte. Doch stattdessen erklang die Stimme seines Vaters von Neuem.

»Schaff' ihn weg. Und die Sauerei gleich mit.«

Kratos zuckte zusammen. Das durfte nicht sein. Hatte er wirklich innerhalb weniger Minuten seine einzigen Freunde an seinen Vater verloren? Die Freunde, für die er alles auf sich genommen hatte, weil sie ihm so viel bedeuteten?

Hiroki entfernte sich von der Tür und Erebos trat in den Stall. Kratos sah ihn an. An seiner Kleidung klebte Blut. Yuans Blut. Das Blut seines besten Freundes.

»Komm«, sagte er nur.

Kratos aber schüttelte den Kopf und ging instinktiv einige Schritte rückwärts.

»Komm jetzt!«, forderte Erebos.

Kratos aber verstärkte das Schütteln seines Kopfes. Dann drehte er sich um und rannte zum anderen Ende des Stalles, riss die Tür auf und lief davon.

»Kratos!«, brüllte sein Vater. »Komm sofort zurück!«

Kratos aber rannte. Rannte, so schnell in seine Beine trugen. Er wollte weg. Nur weg von diesem grauenhaften Ort. Von dem Platz, an dem seine Freunde ihr Leben verloren hatten. Durch die Hand des Menschen, der ihn gezeugt hatte. Seinen Vater. Weg von seinem Vater.

Kratos wusste nicht, wohin er lief. Er flüchtete nur. Er lief, blind für alles um sich herum. Plötzlich rannte er ihn jemanden hinein und fiel hin. Es war ein Halbelf. Er hob schützend seine Hände vor sich und zitterte vor Angst, als er erkannte, was Kratos war. Der junge Adelige sprang auf. Er stand mitten im Slum der Halbelfen. Einige starrten ihn an, gingen jedoch auf Sicherheitsabstand. Kratos begriff, dass sie ihn fürchteten. Sie hatten Angst, dass er das Gleiche mit ihnen tun würde wie es alle anderen taten. Sie quälen und peinigen, ja sogar töten. Wieder rannte er weiter. Er wollte nur noch weg. Er war nicht wie sein Vater. Er war nicht wie die anderen Menschen in Meltokio. Er wollte das alles nicht.

Irgendwann kämpfte er sich weinend durch mannshohen Schilf. Er schlug die Halme beiseite, ohne auf den Weg zu achten, bis er nicht mehr konnte. Er ließ sich auf die Knie fallen, ins flache Wasser des Flussufers, an dem er sich befand. Es war der Fluss, an dem Meltokio endete. Als er aufblickte, sah er die Stadtmauer neben sich, in das blutrote Licht der Abendsonne getaucht. Völlig erschöpft ließ er seinen Köpf hängen. Er weinte noch immer. Durch den Tränenschleier konnte er sein Spiegelbild erkennen. Wütend schlug er darauf ein. Er hasste sich in diesem Moment. Hasste sich dafür, dass er Yuan nicht hatte helfen können. Hasste sich dafür, dass Noishe durch seine Schuld den Tod erlitten hatte. Hasste sich dafür, dass Menschenblut durch seine Adern floss.

Als sich das Wasser wieder beruhigt, stand plötzlich jemand neben seinem Spiegelbild. Kratos sah erschrocken neben sich, doch niemand war da. Als er wieder zum Wasser blickte, stand niemand anderes als seine Mutter neben seinem Spiegelbild und lächelte ihn sanft an.

»Mama …«, weinte er. »Ich will zu dir. Ich will tot sein. So wie Yuan und Noishe … und wie du …«

Doch Nebela schüttelte den Kopf. Eine Windböe kam auf und umspielte den Jugendlichen, als plötzlich der Bernstein aus seiner Kleidung herausfiel.

»Ein Wesen stirbt erst, wenn man es vergisst …«, hörte er seine Mutter wispern. »Du hast mich nicht vergessen, also lebe ich weiter. In deinem Herzen.«

»Aber …«

Kratos' Mutter schüttelte erneut den Kopf.

»Ich bin immer bei dir, weil du ich nicht vergessen hast«, flüsterte sie. »Und auch deine Freunde werden bei dir sein … mehr noch als ich. Gib' nur niemals die Hoffnung auf, mein kleiner Rotschopf.«

Die Windböe strich über das Wasser und verwischte Nebelas Erscheinung. Kratos blickte traurig in sein, nun einsames Spiegelbild …

Wie sollte es nur weitergehen?

Alles, was er gewollt hatte, war seine Freunde bei sich zu behalten.

Und nun hatte er beide verloren.
 

Zerbrochen und gedemütigt kehrte er in das Haus zurück, in dem er geboren wurde. Mit dem festen Vorsatz, sich dieses Mal nicht von seinem Vater aufhalten zu lassen, machte er die Tür auf. Er wollte nur seine Sachen, sowie Silabél und Belias holen und verschwinden. Zu seinem Großvater.

Doch als er die Tür aufmachte, bot sich ihm ein Anblick, den er so schnell nicht vergessen sollte.

Yuan stand an die Flurwand gelehnt. Er hatte den Kopf gesenkt, als die Tür aufgegangen war.

»Bitte … Herr … straft mich, wie ihr wollt … aber lasst mich … auch nach Kratos-san … suchen …«

»Yuan! Du lebst!«

Kratos lief zu seinem Freund und fing ihn auf, da er sich nicht mehr allein auf den Beinen halten konnte. Sein ganzer Oberkörper war bandagiert. Yuan gab einen gequälten Laut von sich, als Kratos seinen Rücken berührte, blickte jedoch auf.

»Du … bist zurückgekommen …«

Ein schwaches Lächeln bildete sich auf Yuans Gesicht. Kratos nickte.

»Ich wäre nie weggegangen, wenn ich gewusst hätte, dass du noch am Leben bist …!«, behauptete er. »Es tut mir leid!«

»Heh … fang' nicht schon wieder … mit diesem senti … mentalen Kram an …«

Kratos schmunzelte gequält und half Yuan auf die Beine, um ihn in sein Zimmer zurückzubringen. Glücklicherweise schien Erebos nicht da zu sein. Wahrscheinlich suchte er nach ihm.

Als sie in Kratos' Zimmer angekommen waren, hielt Kratos auf sein eigenes Bett zu.

»Was … soll ich … hier …?«, fragte Yuan.

»Schlafen. Mein Bett wird deinem Rücken besser bekommen als die Pritsche im Stall.«

»Aber … dein Vater …«

»Überlass den mir. Noch einmal werde ich nicht zulassen, dass er dir so etwas antut.«

Vorsichtig half er Yuan aufs Bett und deckte ihn zu. Noch im gleichen Augenblick schlief er vollkommen erschöpft ein.
 

Yuan schreckte hoch, als plötzlich die Tür vom Zimmer aufging. Er sah nur noch einen roten Schemen ins Bad eilen, bevor er hörte, wie Kratos sich fürchterlich erbrach. Es klang, als würde er sich sämtliche Organe aus dem Leib würgen. Das ging fast eine Viertelstunde so. Dem Halbelfen war schon selbst übel, als Kratos aus dem Bad zurückkam. Leichenblass und mit tränenden Augen, die nicht von einem Weinkrampf stammten.

»Um der Götter Willen, was ist passiert?«, fragte Yuan, der sich nach dem Schlaf bereits ein wenig besser fühlte, abgesehen davon, dass er sich nie wieder bewegen wollte.

Kratos torkelte benommen zum Fenster seines Zimmers und öffnete es. Die frische Luft fegte durch sein rostrotes Haar. Erschöpft vom Erbrechen lehnte er sich mit dem Kopf gegen den Fensterrahmen. Er schloss die Augen und schwieg.

»Kratos …?«, fragte Yuan noch einmal, doch der Adelige antwortete nicht. Er fühlte sich grauenhaft. Am liebsten hätte er sich noch weiter übergeben, doch dazu hatte er keine Kraft mehr. Yuan blickte in seine Richtung, ohne sich zu bewegen.

»Ich …«, begann der Rothaarige mit heiserer Stimme. »Ich … ich habe …«

Er schluckte.

»Ich … habe … Noishe gegessen …«

»WAS?!«

Kratos drehte sich zu Yuan um.

»Mein Vater hat … mich gezwungen, zu essen … ich wollte es nicht!«

Der Halbelf starrte seinen Freund fassungslos an. Er ertrug diesen Blick nicht und senkte den Kopf.

»Ich wollte es nicht … er hat mich gezwungen …«

Kratos schloss die Augen. Erneut wollte er weinen. Er wollte nur noch weinen. Und schließlich tat er es auch. Er warf sich zu Yuan aufs Bett und weinte. Yuan ignorierte jeden Schmerz und umarmte seinen Freund, weinte mit ihm, bis sie Noishe, ihrem kleinen Freund, ein Abschiedsgeschenk gemacht hatten.

Einen See aus Tränen …
 

Yuan und ich trauerten Wochen um unseren Freund. Ich verweigerte das Essen, sprach kein Wort mit meinem Vater, erschien nicht zum Unterricht und verschanzte mich in meinem Zimmer. Ausschließlich Yuan ließ ich an mich heran. Und ihn hatte ich von jeglicher Arbeit befreit. Mein Vater war deswegen außer sich vor Zorn gewesen, doch ich hatte ihm einfach die Tür vor dem Gesicht zugeknallt. Ich mied sogar Silabéls Blicke. Zu groß war meine Angst, dass ich mich nicht mehr in ihnen spiegeln konnte.

Der Winter zog ins Land und Meltokio erlebte einen Rekordschneefall, den es viertausend Jahre lang nicht mehr geben sollte. Das stets trübe und dunkle Wetter passte zu meiner Stimmung. Es vergingen Monate, ohne ein einziges Lächeln von mir. Selbst Yuan konnte mich nicht aufheitern, ja nicht einmal der Heilige Abend rang mir ein richtiges Lächeln ab. Sogar Yuans Geschenk, eine selbstgeschriebene Geschichte, ließ meine Mundwinkel nur für den Bruchteil einer Sekunde nach oben zucken.

Die Zeit verstrich. Ich erholte mich nur sehr langsam von Noishe's Verlust. Als der Frühling sich ankündigte und ich mit Yuan ins Schloss zurückkehren musste, hatte ich es einigermaßen verkraftet.

Außerdem sollten Dinge geschehen, die meine gesamte Aufmerksamkeit forderten.

Aufbruch ins Unbekannte

Mit sechzehn Jahren war Kratos endgültig zum Mann gereift. Zumindest, was sein Äußeres anging. Ihm selbst bedeutete das nicht viel, den Frauen am Hof dafür umso mehr. Immer öfter spürte er ihre Blicke auf sich, hörte ihr Getuschel und Gekichere, wenn er an ihnen vorbeiging. Ihm ging das einfach nur auf die Nerven.

Yuan hingegen sah das völlig anders. Er war gerade vierzehn geworden und genoss durch sein elfisches Blut ebenfalls eine recht schnelle Reife. Im Gegensatz zu Kratos jedoch, wusste er das zu schätzen, wie er sagte. Er begann, Viviane zu umwerben – und er war gut darin. Die hübsche, junge Schlosszofe, die nichts von ihrer Herkunft wusste, fühlte sich selbst wie eine Prinzessin. Und Yuan schwebte einfach nur auf Wolken.

Kratos belächelte das alles voll freundschaftlicher Freude. Er jedoch hatte vollkommen andere Probleme.

Die beiden Freunde waren seit einem Monat wieder im Schloss und Liabela war ihm gegenüber regelrecht aufdringlich geworden. Sie besuchte ihn jeden Abend in seinem Zimmer und machte eindeutige Anspielungen darauf, dass sie allmählich von ihm verlangte, dass er seinen dynastischen Pflichten nachkam. Kratos war das sichtlich unangenehm, zumal er nicht wusste, wie er damit umgehen sollte.

Die absolute Höhe hatte Liabela jedoch an vorigen Abend erreicht.

Kratos war ausnahmsweise ernsthaft beschäftigt gewesen, da seine Lehrer ihm aufgetragen hatten, sich mit der aktuellen Situation des Krieges vertraut zu machen, als sie plötzlich in seinem Zimmer gestanden hatte, nur ein hauchdünnes Leinengewand am Körper, in dem sie wohl für gewöhnlich schlief. Während Kratos noch diesen Schock verarbeitet hatte, hatte sie den beinahe durchsichtigen Stoff einfach zu Boden gleiten lassen und gemeint, er solle sich ihrer bedienen. Kratos war so wütend geworden, dass er sie als Dirne beschimpft und aus dem Zimmer gejagt hatte.

Diesen Morgen stampfte er durch das Schloss in Richtung von Liabelas Gemächern. Seine Schritte hallten wie Donner in den Gängen wider. Er wollte endlich wissen, was es mit ihrer aufdringlichen Art auf sich hatte. Energisch klopfte er an die Tür ihres Zimmers. Als er keine Antwort bekam, ging er einfach hinein. Schließlich war er ihr Verlobter. Wenn auch wider Willen.

Doch der Anblick, der sich ihm bot, sollte alles ändern.

Niemand anderes als Avanel, Liabelas jüngerer Bruder, hielt seine Schwester in inniger Umarmung und küsste sie schon beinahe leidenschaftlich. Dieses Bild war so unrealistisch, dass Kratos die Geschwister vollkommen verwirrt anstarrte. Als Liabela und Avanel ihn bemerkten, lösten sie sich augenblicklich voneinander.

»K-Kratos-san …!«

Kratos schüttelte verwirrt den Kopf.

»Was bei allen Göttern geht hier vor?«, fragte er, als er seine Stimme wieder hatte.

Avanel, der inzwischen fünfzehn sein mochte, ging vor Kratos auf die Knie; eine Geste, die ein Königsohn nur seinem Vater gegenüber vollziehen musste.

»Ich bitte Euch, Kratos-san, verzeiht unser Verhalten und verratet uns nicht an unseren Vater!«, bat er.

»Warum … sollte ich?«, fragte der Rothaarige und meinte die Frage völlig ernst. Sein Verstand begann zu arbeiten. Wenn Avanel und Liabela soviel füreinander empfanden, blieben ihm seine dynastischen Pflichten erspart. Wenn er es richtig anstellte und keinen Fehler machte, hatte er gerade die Lösung für seine Probleme gefunden.

Avanel als auch Liabela sahen ihn verwirrt an. Kratos schloss nun endlich die Tür hinter sich.

»Lasst … uns reden.«

Sie taten es.

Liabela und Avanel gestanden Kratos, dass sie einander schon geliebt hatten, als Chephren beschlossen hatte, Liabela mit einem Adeligen zu verloben. Da Avanel damals nicht zugegen gewesen war, da er außerhalb von Meltokio und dem Schloss unterrichtet wurde, erfuhr er erst durch einen Brief Liabelas davon und durfte die Entscheidung seines Vaters nicht in Frage stellen, indem er um Liabelas Hand anhielt. Die erste Zeit hatten sie versucht, ihre Liebe zueinander zu vergessen, doch keiner von beiden hatte Ruhe gefunden. In einer Winternacht dann waren sie einander verfallen und Liabela hatte sich ihm hingegeben. Wenig später hatte ihr Leibarzt, dem sie blind vertraute, festgestellt, dass sie schwanger war.

»Deswegen habe ich dich derart bedrängt …«, gestand die Prinzessin. »Ich wollte sagen können, dass es dein Kind ist. So wäre unsere verbotene Liebe verborgen geblieben.«

Kratos hatte die ganze Zeit zugehört, doch nun ergriff er selbst das Wort.

»Ich werde dieses Kind nicht als mein eigenes ausgeben«, sagte er. »Das würde bedeuten, dass ich König werde: Und das will ich nicht.«

Avanel sah ihn erstaunt an.

»Ihr … wollt die Krone nicht?«

»Nein«, bestätigte Kratos und schüttelte den Kopf. »Ich hatte andere Gründe, um der Verlobung zuzustimmen. Aber unter den gegebenen Umständen bin ich geneigt, sie zu lösen. Ich empfinde nichts für Liabela und habe andere Ziele als den Thron.«

»Welche Ziele?«, fragte Avanel.

»Das werdet ihr früh genug erfahren«, meinte Kratos. »Ich weigere mich, ein Teil dieser Lüge zu werden. Ich werde beim König vorsprechen und ihn über die Umstände aufklären. Es bleibt euch überlassen, ob ihr mich begleitet.«

Avanel und Liabela sahen Kratos entsetzt an.

»Ich bitte dich, Kratos!«, sprach nun Liabela. »Unser Vater wird dieser Verbindung niemals zustimmen!«

»Woher wollt ihr das wissen?«, fragte Kratos. »Ich habe bereits einen Plan. Und ich denke, er ist auch im Sinne des Königs …«
 

Chephren saß seinen Kindern und seinem eigentlichen Schwiegersohn stirnrunzelnd gegenüber. Seine Frau, Königin Elhana, saß neben ihm. Ihre Mimik verriet nichts über ihren Gemütszustand. Kratos aber blieb ruhig. Gefährlicher als Erebos konnte ihm der König nicht wirklich werden. Töten konnten ihn beide. Und bei Erebos war es wahrscheinlicher, dass er es tat.

Sie saßen im privaten Audienzsaal des Palastes, an einem großen, hölzernen Tisch, dessen Elfenbeinintarsien Kratos über alle Maßen bewunderte. Er hatte dem König berichtet, was geschehen war und auch, dass er selbst nicht der Schwiegersohn war, den Chephren sich wünschte. Inzwischen hatte sich ein unheimliches Schweigen im Raum ausgebreitet. Dann aber ergriff der König endlich das Wort.

»Avanel, Liabela, euer unzüchtiges Verhalten ist unentschuldbar. Allerdings kann ich euch nicht wirklich zürnen, da Kratos seinen dynastischen Pflichten nie nachgekommen ist«, sagte Chephren ruhig. »Jedoch sehe ich keine Möglichkeit, die Verlobung zu lösen und deine Hand Avanel zu geben, Liabela«, fuhr er fort. »Das Volk hat Kratos bereits als zukünftigen Thronfolger kennengelernt.«

»König Chephren, bitte, erlaubt mir zu sprechen«, bat Kratos.

»Du hast das Wort.«

Kratos wählte seine Worte mit großem Bedacht. Er hatte sie am Vorabend mit Yuan mehrere Male durchgesprochen. Er durfte keinen Fehler machen. Mit etwas Glück war er seine Probleme dann für immer los.

»König Chephren, ich empfinde nichts für Eure Tochter. Natürlich ist sie reich an Schönheit und Liebreiz, jedoch kann mein Herz nicht für sie schlagen, meine Lenden begehren sie nicht«, begann er. »Außerdem sehe ich meine Zukunft nicht auf dem Thron Tethe'allas. Ich wäre kein guter König, da ich vollkommen andere Ziele verfolge. Liabela trägt bereits den ersten Teil einer neuen königlichen Linie in sich. Bedenkt, wie rein das Blut dieses Kindes ist. Es könnte kaum legitimer sein. Ich hingegen habe einen Protozoon zum Großvater, einen Tiermenschen. Wollt ihr einen derartigen Schandfleck im königlichen Stammbaum sehen?«

Selbstredend verbog Kratos die Wahrheit. Schließlich war er stolz darauf, Tiberius' Enkel zu sein und er hielt nichts von Geschwisterliebe und reinem Blut, jedoch machte er sich den Rassismus und die Eitelkeit des Königs zu Nutze.

»Ich bitte Euch untertänigst, König Chephren, lasst uns gemeinsam nach einer Lösung suchen. Sodass alle ihren Frieden und ihr Glück finden können.«

Chephren schwieg lange Zeit. Elhana hatte ihre Stirn in Falten gelegt. Kratos wartete und hoffte, dass seine Worte Anklang gefunden hatten.

»Deine letzten Worte erinnern mich sehr Antaris. Er war mir der Liebste unter meinen Söhnen, sein Blutsverrat schmerzte mich tief. Und damit so etwas nicht erneut geschieht, bin ich geneigt, auf deinen Vorschlag einzugehen. Allerdings müssen wir alles gut durchdenken. Das Volk darf nicht erfahren, dass du Liabela verschmäht hast und du zudem unreines Blut in dir trägst.«

Liabela und Avanel sahen einander verliebt lächelnd an. Kratos schmunzelte. Sollten sie einander haben, solange er nicht mehr zu Dingen gezwungen wurde, die er nicht wollte.

»Wie lautet Euer Vorschlag, Vater?«, fragte Avanel.

Elhana bat Chephren mit einem Blick um das Wort. Er gab ihr ein zustimmendes Handzeichen.

»Kratos, du würdest unter normalen Umständen sehr bald einberufen werden, um deine militärische Ausbildung zu absolvieren. Der Krieg tobt noch immer und fordert große Opfer. Wenn wir dem Volk berichten, dass du beschlossen hast, Tethe'alla zu verteidigen, wird kein schlechtes Licht auf das Königshaus fallen. Wenn wir wenig später die erneute Verlobung mit Avanel bekanntgeben, wird niemand nachfragen, denn jeder wird denken, du fandest auf dem Schlachtfeld deinen Tod. Das einzige, was du dafür opfern müsstest, wäre dein Name. Dir würde der Adelstitel aberkannt werden, um dich zu tarnen. Niemand wird sich über den Namen Kratos Aurion wundern und denken, du wärst ein ferner Verwandter der Aurion-Familie.«

Kratos gefiel, was die Königin sagte. Wenn er einberufen wurde, müsste er Erebos nie wiedersehen. Er würde seine Ausbildung vollenden und dann seinen eigenen Weg gehen. Endlich frei von allen Ketten des Adels.

»Allerdings«, fuhr Chephren fort, der ebenfalls zugehört hatte. »Würde ich dich vom Hauptmann beobachten lassen. Du besitzt das Wissen über diese Intrige und kannst dem Königshaus schaden.«

Kratos schüttelte den Kopf.

»Ich versichere Euch, dass ich mich ins eigene Fleisch schneiden würde, sollte ich mein Wissen hierüber gegen Euch verwenden, mein König«, behauptete Kratos. »Zumal es meinen sicheren Tod bedeuten würde.«

Erneut schwieg Chephren für eine Weile. Dann sah er Kratos ernst an.

»Ist es das, was du willst?«, fragte er.

Der Sohn von Erebos nickte.

»Ja, mein König.«

Chephren erhob sich.

»Dann soll es so sein!«
 

Yuan verschränkte die Arme vor seiner Brust und senkte nachdenklich den Blick.

»Das Militär also …«

»Es ist die einzige Möglichkeit«, erklärte Kratos.

»Du … würdest ein Soldat werden. Vielleicht sogar noch mehr. Und du würdest gegen Sylvarant kämpfen, das Königreich, das meine Rasse vom Joch der Unterdrückung befreien will.«

Kratos schüttelte den Kopf.

»Das habe ich nicht vor. Ich will nur meine Ausbildung absolvieren und dann meinen eigenen Weg gehen. Fern von Meltokio und allen Verpflichtungen des Adels«, sagte Kratos. »Außerdem dachte ich … dass du mich begleiten würdest.«

Während Yuan wie immer bei ernsten Unterredungen im Schneidersitz auf dem Sessel des Zimmers saß, saß Kratos in der gleichen Haltung auf dem Bett und sah aufmerksam zu seinem Freund. Das Feuer knisterte angenehm im Kamin, während der Rest des Zimmers von Schweigen erfüllt war.

»Bedenke«, wand Kratos ein. »Wenn du die Ausbildung eines Kriegers durchläufst, könntest du danach gehen, wohin du willst. Du wärst stark genug, um dich gegen Sklavenhändler zur Wehr zu setzen. Du wärst frei.«

Yuan schwieg, weiterhin in der nachdenklichen Pose verharrend. Kratos konnte förmlich hören, wie sein Hirn auf Hochtouren arbeitete.

»Es ist wegen Viviane, oder?«, fragte Kratos.

»Kannst du nicht mal die Klappe halten? Ich denke nach!«, fauchte Yuan.

Kratos hob abwehrend die Hände und griff einmal mehr nach Yuans Geduldsspiel. Dann ließ er sich auf den Rücken fallen und spielte damit. Er hätte sich wohl gefreut, wenn er sich sicher wäre, dass Yuan ihn begleitete. Doch das war es nicht. Die Entscheidung schien ihm schwer zu fallen. Immer wieder blickte er zu seinem Freund herüber. Dann jedoch stand er auf und ging ohne ein Wort aus dem Zimmer.

Kratos sah ihm lange nach.
 

Es war bereits weit nach Mitternacht, als Kratos noch immer vor dem Kamin saß und auf Yuan wartete. Er war nun schon Stunden weg. Selbst das Geduldsspiel lag nun auf seinem Schoß und er blickte nur noch ins Feuer. Als dann endlich die Tür aufging, schoss Kratos schon regelrecht nach oben.

»Da bist du ja endlich!«

Doch Yuan antwortete nicht, ja, sah ihn nicht einmal an. Er ging einfach an seinem Freund vorbei, direkt zu der Tür, die in sein eigenes Zimmer führte, da er gleich nebenan schlief. Sein Gesicht schmückte ein völlig paralysiertes Grinsen, seine Kleidung als auch sein Haar waren ganz zerzaust er nahm anscheinend nichts um sich herum wahr. Egal, was Kratos tat, er bekam keine Antwort. Als Yuan sich in sein Bett legte und die Augen schloss, gab er es auf.
 

»Ich werde dich begleiten.«

Das waren die ersten Worte, die Yuan am Morgen zu Kratos gesagt hatte. Es war der schönste Morgengruß, den Kratos je zu Ohren bekommen hatte.

»Warum so plötzlich? Was ist mit Viviane?«

»Wir haben uns … verabschiedet«, meinte er und ein Stich Wehmut klang in seiner Stimme mit. Allerdings schmunzelte er von Neuem. Dann blickte er auf.

»Wann werden wir fahren?«

»In zwei Tagen schon. Das Fort liegt im Fooji-Gebirge.«

»Was wird aus Silabél und Belias?«, wollte Yuan wissen.

Urplötzlich verstummte Kratos und er senkte seinen Kopf. Der Blauhaarige sah ihn fragend an.

»Was ist los? Habe ich was falsches gesagt?«

»Wir … halten bei Großvater … ich werde ihn bitten, auf die beiden aufzupassen …«

»Das ist eine gute Idee«, meinte der Halbelf. »Aber warum ziehst du deswegen so ein Gesicht? Du liebst deinen Großvater doch.«

Kratos' Hand ballte sich zu einer Faust.

»Wie soll ich ihm noch in die Augen sehen können, nachdem, was ich Noishe angetan habe?«

Da begriff Yuan und legte seinem Freund eine Hand auf die Schulter.

»Du kannst nichts dafür. Erebos ist Schuld. Er hat dich gezwungen …«

Doch der Rothaarige behielt den Blick am Boden.

»Dich geschlagen, dich auspeitschen lassen … Noishe's Sterben zugelassen, seine Überreste … gegessen … der verlogenen Königsfamilie versprochen, um das zu umgehen in den Krieg gezogen …«, zählte er auf. »Er wird mich hassen …«

»Das glaube ich nicht. Du bist immer noch ein Enkel. Und all das hast du weder in böser Absicht, noch freiwillig getan.«

Doch Kratos schwieg. Yuan seufzte und setzte sich neben ihn.

»Du bist manchmal echt schwer zu handhaben«, maulte er.

»Und du zu sorglos«, konterte der Jugendliche. »Hast du Noishe etwa schon vergessen?«

»Nein«, antwortete der Blauhaarige ernst. »Aber es bringt ihn nicht zurück, wenn man seinetwegen Trübsal bläst. Und glücklich macht es ihn bestimmt auch nicht.«

Der Adelige seufzte.

»Du hast vielleicht Recht …«

»Siehst du«, meinte Yuan. »Und nun freu' dich gefälligst. Du wirst Liabela los.«

Kratos blickte auf.

»Da fällt mir ein …«, sagte er und sah seinen Freund nun durchdringend an. »Was ist eigentlich heute Nacht zwischen dir und Viviane vorgefallen? Als ihr euch heute Morgen begegnet seid, habt ihr einander kaum angesehen.«

Yuan wurde feuerrot, was sich ziemlich mit seiner Haarfarbe biss.

»Das … das geht dich gar nichts an!«, fauchte er. Kratos legte seinen Kopf schief.

»Habt ihr euch etwa gestritten?«

Yuan schlug sich die Hand an die Stirn.

»Nein, haben wir nicht. Und jetzt frag' nicht weiter nach.«

»Wie du willst …«, meinte Kratos und erhob sich. Es war Zeit, sein Hab und Gut zusammenzupacken. Am nächsten Tag würde er noch ein letztes Mal zu seinem Vater zurückkehren, um auch von dort all seine Habe zu holen.

Und dann würde er Meltokio endlich den Rücken kehren.
 

Der Garten seines Großvaters war noch genauso wunderschön, wie Kratos ihn in Erinnerung hatte. Die Blätter der Ahornbäume strahlten in einem kräftigen Rot und der Duft von Tannen und Kräutern wurde vom Wind an seine Nase getragen. Und doch empfand er bei diesem Anblick keine Freude mehr, sondern blanke Scham und Angst vor der Begegnung mit seinem Großvater.

Yuan ging neben ihm her, schwieg jedoch ebenso. Letztendlich klopfte Kratos zögerlich an die Tür des Anwesens.

Tiberius öffnete. Sein Gesicht verriet Verwunderung über den plötzlichen Besuch, doch Kratos hatte eine ganz andere Frage.

»Was ist mit deinem Arm passiert?«

Der linke Arm des Protozoen war bandagiert und lag in einer Schlinge, die er um den Hals trug. Außerdem war sein Gesicht von Ernst geprägt und nicht wie sonst von einem ständigen Lächeln geschmückt.

»Es freut mich auch, dich wiederzusehen«, antwortete Tiberius, schmunzelte jedoch. »Das kann ich euch erklären, wenn ihr drin seid. Kommt rein, ihr Zwei.«

Kratos schluckte, folgte der Aufforderung jedoch. Er hatte dem Kutscher ohnehin gesagt, dass es ein wenig länger dauern könnte. Als die Tür wieder geschlossen war, lächelte Tiberius seinen Enkel an.

»Wie groß du geworden bist«, stellte er mit wohlwollender Stimme fest, da sein Enkel inzwischen mit ihm auf Augenhöhe war. »Ein richtiger Mann.«

»Erinnere mich nicht daran«, dachte Kratos. »Danke, Großvater …«, meinte er dann.

»Was führt euch beide zu mir?«, fragte er und blickte seine Besucher an, während er sie in die Küche des alten Gemäuers führte. Kratos sah sich aufmerksam um. Er hätte schwören können, dass es bei seinem letzten Besuch noch nicht ganz so verfallen ausgesehen hatte. Außerdem lagen einige Fensterscheiben in Trümmern und die Teppiche, die sonst den Boden bedeckt hatten, waren verschwunden.

»Bitte, sag' uns erst, was hier geschehen ist, Großvater«, bat Kratos. »Es sieht hier so anders aus als noch vor sechs Jahren.«

Tiberius stellte sich an seinen Herd und setzte Teewasser auf. Dann wandte er sich zu Kratos und Yuan um, die sich gesetzt hatten.

»Einige Soldaten haben mir einen Besuch abgestattet«, erzählte der Protozoon. »Sie vermuteten Flüchtlinge bei mir. Natürlich fanden sie keine, allerdings haben sie vorsichtshalber mein Haus in Brand gesteckt. Dabei habe ich mir einige Verbrennungen zugezogen.«

Tiberius hob seinen bandagierten Arm leicht an.

»Nun sagt mir aber, was euch hierher führt.«

Kratos schluckte hart und schwieg. Yuan seufzte und ergriff das Wort.

»Wir wollten dich bitten, Silabél und Belias bei dir aufzunehmen«, sagte er. Tiberius runzelte dir Stirn.

»Das tue ich gern«, antwortete er. »Aber warum auf einmal?«

Nun schwieg Yuan. Es war einfach nicht an ihm, hier zu sprechen. Stattdessen stieß er Kratos in die Flanke. Nach einem tiefen Atemzug, blickte der Rothaarige wieder auf.

»Weil Yuan und ich ins Militär einberufen worden sind.«

Der Protozoon hielt im Einschenken des Tees inne, was er gerade begonnen hatte. Nach wenigen Sekunden jedoch machte er weiter und stellte seinem Enkel und dessen Freund zwei Becher davon hin. Dann nahm er seinen eigenen und setzte sich. Kratos sah seinen schweigenden Großvater an. Dieser erwiderte seinen Blick.

»Wollt ihr mir nicht die ganze Geschichte erzählen?«, fragte er ruhig. Der Adelige hatte bereits geahnt, dass diese Frage kam. Deswegen hatte er sich seine Worte schon überlegt, doch die klaren, stechenden Augen seines Großvaters, die ihn so sehr an die seiner Mutter erinnerten, ließen ihn alles vergessen. Er legte einfach sein Herz auf die Zunge und begann, zu erzählen, was nach Yuans Rückkehr geschehen war. Erzählte von der Zwangsverlobung, seiner Zeit am Hof, der Vergiftung durch Chrion und der Liebe zwischen Liabela und Avanel, sowie dem Plan, um alles zu regeln. Und auch Noishe's Tod ließ er nicht aus. Tiberius hatte die ganze Zeit geschwiegen und tat es auch, nachdem Kratos geendet hatte. Dieser hatte den Kampf gegen die Tränen um ein Haar verloren, beruhigte sich aber langsam wieder.

»Es ist wirklich das Beste, wenn du Erebos nicht wiedersehen musst«, sagte der Protozoon schließlich. »Ich wusste, dass er ein Scheusal ist. Deswegen verwundert mich nicht, was er Noishe und Yuan angetan hat.«

»Du … hasst mich nicht?«, fragte Kratos kleinlaut. Tiberius schüttelte den Kopf.

»Natürlich nicht. Für all diese Dinge trägst du keine Schuld«, meinte er. »Noishe's Tod ist allein Erebos' Schuld. Du wolltest ihn an eben diesem Tag auswildern. Und was die Königsgeschwister angeht, erstaunt mich das nicht im Geringsten. Die Blaublütigen sind so in ihrer Arroganz versunken, dass sie nur noch im eigenen Fleisch Erfüllung finden können. Es ist ihr eigenes Blut, das Liabela in Avanels Adern rauschen hört. Das Gleiche gilt für ihn.«

»Und was ist mit der Einberufung ins Militär?«, fragte Kratos.

»Es ist die einzige Lösung, da hatte der König schon Recht. Außerdem wird dir die Ausbildung gut tun. Ich bezweifle, dass du jemals wieder nach Meltokio zurückkehren willst. Daher wirst du die Fähigkeiten eines Kriegers gebrauchen können.«

Kratos nickte.

»Das … habe ich auch schon gedacht.«

Tiberius erhob sich, nachdem er ausgetrunken hatte.

»Ich werde auf Silabél und Belias Acht geben. Allerdings werde ich sie selbstredend in die Freiheit entlassen, wenn sie es wollen.«

Kratos nickte. Sein Großvater begann, sanft zu lächeln.

»Zieh' nicht so ein Gesicht, Rotschopf«, meinte er. Dann ging er um den Tisch herum und tätschelte seinen Enkel durch sein Haar. »Es sind nur ein paar Jahre. Und ich glaube, wir werden uns noch einmal wiedersehen. Deine Bedenken sind also vollkommen unnötig.«

Kratos vergaß immer wieder, dass der Protozoon Gedanken lesen konnte. Er hatte nämlich befürchtet, dass sein Großvater vielleicht nicht mehr leben würde, wenn er seine Ausbildung beendet hatte. Doch nun zierte wieder ein Lächeln sein Gesicht.

»Ich vertraue dir, Großvater«, sagte er. »Ich werde zurückkommen.«

Tiberius nickte abermals und begleitete die beiden Freunde zur Kutsche zurück. Kratos umarmte seinen Großvater zum Abschied.

»Vergiss dein Versprechen nicht«, mahnte der Protozoon in vollendeter Form. »Ich werde dich erwarten.«

»Ich werde es nicht vergessen, Großvater.«

Mit diesen Worten stieg Kratos zu Yuan in die Kutsche. Wenig später setzte sich die Gleiche in Bewegung. Tiberius stand vor dem rosenüberwachsenen Torbogen und winkte seinem Enkel. Kratos erwiderte die Geste und behielt seinen Großvater solange im Blick, bis er verschwunden war. Dann setzte er sich gänzlich in die Kutsche und sah Yuan an.

»Wie sagen die Helden in den Büchern immer?«, fragte er. »Auf zu neuen Abenteuern!«

Kratos schmunzelte.

»Ja …«, meinte er. »Auf zu neuen Abenteuern …«
 

Ein Aufbruch ins Unbekannte und Ungewisse. Und doch eine Erlösung.

An diesem Tag begann ein neues Kapitel in meinem Leben. Ich war vom Jungen zum Mann gereift, hatte meinen freien Geist trotz aller Hindernisse und Widersacher bewahrt, meinen besten Freund an meiner Seite und war bereit, endlich mein eigenes Leben anzufangen. Ich wollte frei sein. Frei im Handeln und im Denken. Das war der einzige Wunsch, der mein so junges Herz beherrschte. Eine unglaubliche Euphorie machte sich in mir breit.

Endlich würde ich meinen eigenen Weg beschreiten können, so, wie ich es immer gewollt hatte.

Zumindest glaubte ich das …

Doch ich sollte nicht ahnen, was das Schicksal noch für mich bereithielt.

Die Freundschaft von Yuan und mir sollte auf eine harte Probe gestellt werden. Und außerdem erwartete mich noch etwas ganz Anderes …

Der Krieg.

Ein neues Leben

Kalter Regen prasselte auf das Dach der Kutsche, in der Kratos und Yuan saßen. Blitze zuckten durch die Dunkelheit der Nacht, die von einem fürchterlichen Sturm heimgesucht wurde. Den Adeligen kümmerte das nur wenig. Er spielte mit Yuans Geduldsspiel und unterhielt sich mit seinem Freund, der es sich auf seiner Sitzbank gemütlich gemacht hatte. Sie sprachen schon seit Stunden miteinander. Eine Eigenschaft, die Kratos sehr an Yuan schätzte. Die Konversation mit seinem Freund bedeutete ihm viel. Auch legte er großen Wert auf die Meinung des Halbelfen. Denn auch, wenn Yuan niemals eine gute Schuldbildung genossen hatte, war er ziemlich intelligent. Diesen Abend jedoch schien ihn etwas zu bedrücken.

»Was beschäftigt dich?«, fragte der Rothaarige, als sein Freund bereits seit einer Viertelstunde nachdenklich die Decke der Kutsche betrachtete.

»Nichts Wichtiges …«, meinte er. »Ich habe nur das Gefühl … mich an etwas zu erinnern.«

»An etwas erinnern?«, fragte Kratos. »Wie meinst du das?«

»Ich weiß es nicht … ich kann mich nicht an meine Kindheit erinnern. Während ich im Stollen arbeitete gab es schon mal einen Einsturz. Ich habe damals einen ziemlich schweren Felsbrocken an den Kopf bekommen. Seitdem kann ich mich an nichts erinnern.«

»Das hast du mir nie erzählt …«

»Du hast mich nie gefragt«, meinte Yuan und schnaubte belustigt. »Ist aber auch nicht weiter schlimm: Ich kann mich ja sowieso nicht daran erinnern.«

»Du meintest aber eben, du tust es.«

Der Blauhaarige seufzte.

»Ja, manchmal … unter gewissen Bedingungen habe ich das Gefühl, mich an etwas erinnern zu können. Und doch bleibt alles schwarz in meinen Gedanken.«

»Du hast mir aber doch erzählt, dass du aus einer Sklavenzucht stammst«, meinte Kratos dann. Yuan zuckte mit den Schultern, wodurch sich die Decke bewegte, die er sich bis zum Kinn hochgezogen hatte.

»Es ist eine logische Schlussfolgerung, da es kaum freie Halbelfen gibt, von denen ich abstammen könnte.«

»Hmm …«, machte Kratos. »Und woran glaubst du dich zu erinnern?«

»Wie schon gesagt: Ich weiß es nicht. Aber der Donner und die Blitze wecken irgendetwas in mir. Vielleicht hat es in der Gegend, in der ich gelebt habe, viel gestürmt.«

»Und du kannst dich wirklich an nichts erinnern?«, wollte Kratos wissen. »Nicht einmal an die Gesichter deiner Eltern?«

Yuan schüttelte den Kopf. Obwohl die Trauer darüber seinem Gesicht nicht abzulesen war, sah Kratos sie sehr genau in den grünen Augen seines Freundes.

»Nein, an nichts«, wiederholte er. »Aber woran auch?«, fragte er und lächelte. »Es wird nicht viel geben, an das es sich zu erinnern lohnt. Ich komme garantiert aus einer Züchtung, wie so viele andere Halbelfen auch.«

Kratos senkte den Blick, wie auch das Geduldsspiel.

»Ich hasse dieses Wort …«

»Huh?«, machte Yuan und sah seinen Freund fragend an. »Was meinst du?«

»Züchtung«, antwortete Kratos. »Ihr seid keine Tiere. Selbst bei denen ist es unfair, von "Züchtung" zu reden. Schließlich sind sie auch fühlende Wesen. Aber bei Halbelfen … ihr seid doch wie wir! Wie kann man euch züchten? Ich kann es mir nicht vorstellen, selbst, wenn ich es wollen würde.«

»Ich auch nicht«, meinte Yuan. »Und ich will's auch gar nicht.«

Kratos seufzte schwer.

»Ich wünschte, ich hätte die Macht, etwas zu ändern …«, sagte er. »Vielleicht hätte ich den Thron nicht so leichtfertig ausschlagen sollen …«

»Vielleicht ist ein ziemlich böses Wort, weißt du das?«, fragte Yuan. »Du hast es getan und ich glaube, es war richtig. Die Krone hätte dir eh nicht zu Gesicht gestanden.«

»Du bist ein guter Freund …«, sagte der Rothaarige. »Großvater hatte damals Recht, als er sagte, du hättest eine gute Seele.«

Der Blauhaarige wurde rot und sah weg, damit Kratos es nicht sah.

»Hör' mit diesem sentimentalen Quatsch auf!«

Der Adelige schmunzelte und widmete sich wieder seinem Geduldsspiel, als plötzlich ein schrecklicher Ruck durch die Kutsche ging und sie zur Seite wegfiel. Yuan, der gelegen hatte und sich nicht schnell genug hatte abfangen können, stieß sich übel den Kopf, während Kratos sich gerade noch einmal abfangen konnte.

»Was war das denn?!«, stieß er hervor. Yuan rieb sich den schmerzenden Kopf.

»Wenn du mich fragst, ist eine Achse gebrochen«, vermutete der Halbelf. Keine Sekunde später ging die Tür der Kutsche auf und der Kutscher – der ausnahmsweise ein Mensch war – sah hinein.

»Kratos-san, seid Ihr wohlauf?«, fragte er sofort. Kratos nickte.

»Ja, aber mein Leibeigener hat sich den Kopf angestoßen …«

Yuan winkte ab.

»Ich bin unverletzt, Herr.«

Wenn die beiden Freunde etwas beherrschten, dann das Schauspiel von Herr und Diener. Der Kutscher nickte und bat die beiden hinaus. Es stürmte fürchterlich, der Regen peitschte den beiden Freunden ins Gesicht und durchnässte ihre Kleidung nur allzu schnell, selbst, als der Kutscher zumindest Kratos eine Decke gab und Yuan zu sich heran pfiff, damit er ihm half, das gebrochene Rad wieder aus dem Schlamm zu befreien. Kratos aber konnte ihnen nicht tatenlos zusehen und packte mit an. Allerdings war das gebrochene Rad tief in der aufgeweichten Erde versunken.

»Was machen wir jetzt?«, fragte der Kutscher eher sich selbst. »In dieser Gegend gibt es weit und breit niemanden, der uns helfen könnte.«

»Bedeutet das, dass wir festsitzen?«, ging Kratos sicher. Der Kutscher nickte.

»Im wahrsten Sinne des Wortes …«

»Na fantastisch«, schnaubte der Rothaarige mit bitterer Ironie, während er überlegte, wie man den Schlamassel richten könnte, als Yuan auf einmal an seinen Rücken stieß.

»Ich weiß, es ist dunkel, aber kannst du nicht ein wenig aufpassen?«, fragte er und meinte es in diesem Moment auch so.

»Du … solltest dich umdrehen …«

Der Adelige tat, was Yuan gesagt hatte, woraufhin sein Herz für eine Sekunde stehen blieb. Drei in Kapuzenmäntel gehüllte Gestalten waren vor ihnen aufgetaucht. Der Kutscher schluckte. Kratos tat es ihm gleich.

»Wir können helfen«, sagte die männliche Stimme der Silhouette, die ihnen am nächsten war.

»Wer … seid ihr?«, fragte Kratos vorsichtig.

»Das braucht dich nicht zu interessieren. Ihr braucht Hilfe und wir können sie geben.«

Der Rothaarige sah Yuan an. Sein jüngerer Freund betrachtete die Fremden genau.

»Ich glaube … wir können ihnen trauen.«

»Glaubst du es, oder weißt du es?«, wollte der Adelige wissen.

»Ich … weiß es.«

»Ihr traut einem Halbelfen?«, empörte sich der Kutscher.

»Ja, das tue ich«, antwortete Kratos scharf und ignorierte ihn dann. Stattdessen wandte er sich den Fremden wieder zu.

»Wir wären euch für eure Hilfe sehr dankbar.«

Die Vorderste der Gestalten nickte.

»Geht wieder in die Kutsche hinein. Wir erledigen den Rest.«

Kratos sah Yuan an. Er schüttelte den Kopf.

»Wir würde gern mithelfen«, sagte Kratos dann.

Die Gestalten sahen einander schweigend an. Die Antwort hatte sie anscheinend verwirrt. Währenddessen flüsterte Yuan seinem Freund etwas ins Ohr. Die Augen des Rothaarigen weiteten sich und er sah den Blauhaarige ungläubig an, doch er nickte.

»Ihr seid Halbelfen, nicht wahr?«, fragte der Rothaarige dann, an die verhüllten Gestalten gewandt. Sie erschraken offensichtlich und wichen einige Schritte zurück.

»Habt keine Angst«, sagte Yuan sofort. »Ihr könnt ihm trauen. Er ist nicht wie die Anderen.«

Eine der Gestalten musterte Kratos einen Augenblick. Dann nahm sie ihre Kapuze ab.

Ein junger Mann kam zum Vorschein, dessen hageres Gesicht vom Hunger geprägt war. Sein Haar wäre wohl von flammendem Orange gewesen, hätte es nicht seinen Glanz und seine Geschmeidigkeit verloren. Die spitzen Ohren zuckten aufmerksam. Eine Gestik, die Kratos schon oft bei Yuan beobachtet hatte, wenn er seine Sinne geschärft hatte und auf der Hut war.

»Einem Menschen, der uns nicht verachtet, helfen wir gern«, meinte er dann freundlich. »Allerdings werden wir Magie einsetzen, um euch zu befreien, daher bitten wir dich, beiseite zu treten.«

Kratos verstand, nickte und tat einige Schritte beiseite. Yuan blieb bei ihm. Der Halbelf winkte seine Freunde zu sich heran und zwei von ihnen begannen, die Kutsche mit Windmana anzuheben. Der dritte Halbelf ließ den Schlamm gefrieren, damit das Rad nicht wieder darin versank.

»Sag deinem Menschenfreund, er soll die Kutsche jetzt ein Stück nach vorn bewegen«, sagte der Anführer der drei Helfer, da er wusste, dass der Kutscher auf ihn nicht hören würde. Kratos nickte und gab den Befehl weiter. Der Kutscher trieb die Pferde an, die die Kutsche zogen und sie bewegte sich problemlos nach vorn.

»Wir sind euch zu Dank verpflichtet«, sagte Kratos und verbeugte sich, doch der Halbelf winkte ab.

»Wir helfen gern. Nur leider erkennt deine Rasse das nicht. Uns ist es Lohn genug, wenn du uns nicht verrätst.«

»Warum habt ihr uns geholfen, wenn ihr Angst hattet, dass wir euch verraten?«, wollte Yuan wissen.

Der Halbelf bekam einen traurigen Blick und tätschelte den Blauhaarigen.

»Weil wir niemanden in Not sehen können …«

Der Satz traf Kratos mitten ins Herz.

»Yuan, hilfst du mir bitte kurz?«

Sein halbblütiger Freund erwiderte den Blick, den der Rothaarige ihm zuwarf und nickte dann. Kratos stellte sich hinter die Kutsche und deutete an, dass er ihm auf das Dach helfen wollte.

»Hol' mir bitte den kleinen Koffer herunter, in dem unser Essen ist.«

Yuan begriff, was sein Freund vorhatte und nickte deswegen. Die Halbelfen sahen ein wenig verwirrt dabei zu. Wenig später hatte Yuan den Koffer heruntergeworfen. Kratos machte ihn auf; er war mit den bekömmlichsten Leckereien gefüllt, die eine Reise heil überstanden. Ein duftender Schinken und frisches, knackiges Obst waren nur wenige davon.

Kratos nahm sich seinen Rucksack von den Schultern und packte einige Kleinigkeiten hinein. Dann schloss er den Koffer wieder und übergab ihn dem vordersten Halbelfen.

»Als Dankeschön für eure Hilfe. Ihr seht hungrig aus.«

Der Halbelf starrte ihn völlig entsetzt an.

»Ihr … schenkt uns diese Köstlichkeiten …?«, fragte er. Kratos nickte.

»Das tue ich. Unsere Reise ist nicht mehr weit, wir haben für derart viel Essen keine Verwendung. Es würde verderben. Nehmt nur. Ich denke mal, ihr drei seid nicht allein.«

Mit zittrigen Händen nahm der Halbelf den Koffer entgegen. Die Fassungslosigkeit war ihm anzusehen. Kratos aber behielt sein Lächeln.

»Lebt wohl«, sagte er noch und verneigte sich höflich. Dann wandte er sich ab, um mit Yuan zurück in die Kutsche zu steigen. Der Anführer der Halbelfen jedoch hielt ihn noch einmal auf.

»Wir sind dir zu tiefem Dank verpflichtet«, meinte er und verbeugte sich tief. Als er wieder aufsah, erwiderte der Rothaarige seinen Blick. »Dürfen wir den Namen des Menschen erfahren, der uns nicht verachtet?«

Kratos überlegte einen Augenblick lang, wobei der peitschende Wind durch sein rotes Haar tobte. Dann nannte er sich selbst das erste Mal bei dem Namen, den er noch über viertausend Jahre lang tragen würde.

»Ich bin Kratos Aurion.«
 

Das Fort der tethe'allanischen Armee lag hoch oben im Fooji-Gebirge. Als Kratos und Yuan dort ankamen, war es früher Morgen und über den Bergen lag seichter Nebel. Mit ihnen warteten noch einige Andere darauf, dass ihnen gesagt wurde, wohin sie zu gehen hatten. An den Kutschen konnte man sehen, aus welcher Schicht die Insassen kamen. Während die Kutsche von Kratos weiß gewesen und mit vielen Verzierungen geschmückt worden war, war die Kutsche neben ihm aus Holzlatten zusammengezimmert worden. Davor standen zwei junge Männer, die wohl auch in Kratos' Alter waren. Ein Stück weiter entfernt stand eine etwas bessere Kutsche, aus ihr war anscheinend noch niemand ausgestiegen.

Das Fort selbst war riesengroß. Während etwas weiter abseits reihenweise Hütten standen, die allesamt nicht sehr einladend aussahen, fand man in deren Nähe ein großes Zelt, in der Kratos die Küche vermutete. Ein weiteres, weißes Zelt stand daneben, auf dem ein rotes Kreuz abgebildet war. Der Arzt des Forts. Der Rest bestand aus einem riesigen Platz, auf dem mehrere Hindernisse aufgestellt waren. Ein Schlammloch und eine Art Schwimmbecken gehörten auch dazu.

Kratos musterte seine beiden Kameraden. Beide hatten kurze, blonde Haare und schienen Zwillinge zu sein. Allenfalls sahen sie sich sehr ähnlich. Yuan blieb dicht bei seinem Freund.

»Kratos … ich habe irgendwie ein ungutes Gefühl …«, meinte er und begann, seine Ohren unter seinem Haar zu verbergen.

»Das brauchst du nicht zu haben«, antwortete Kratos. »Ich sorge schon dafür, dass dich niemand anfässt.«

Yuan sah den Rothaarigen skeptisch an.

»Wenn du dich dem Ausbilder und Befehlshabenden wiedersetzt, darfst du schneller die Latrinen putzen, als du Scheiße denken kannst.«

Kratos schauerte.

»Könntest du diese Fäkalsprache sein lassen?«, bat er.

»Sei nicht so zimperlich, daran wirst du dich gewöhnen müssen. Wir sind hier nicht mehr in Meltokio. Hier interessiert es niemanden, ob dein Blut blau oder rot ist.«

»Woher weißt du das?«, fragte Kratos.

»Stell' dir vor: Ich weiß, wie es außerhalb deiner nach Rosen duftenden Adelswelt aussieht. Hier gibt’s auch kein Rührei von singenden Hühnern und Speck von glücklichen Schweinen zum Frühstück. Hier gibt's allerhöchstens Haferschleim.«

»Irgendwie wird mir dieser Ort gerade unsympathisch …«

»Du hast es noch gut«, meinte Yuan.

»Wie meinst du das?«, wollte der Rothaarige wissen.

»Nichts weiter«, winkte der Halbelf ab.
 

Wenig später war ein junger Kadett zu den Neulingen gekommen und hatte sie zu den Hütten geführt, die für die sogenannten "Frischlinge", also die Neuankömmlinge, gedacht waren. Er erklärte ihnen, dass die Unterkunft von Grad zu Grad komfortabler wurde. Als Anfänger war "Dreck fressen" angesagt.

Kratos drehte sich der Magen um, als er die Hütte betrat, die er sich mit Yuan und den Zwillingen teilte. Das Holz, aus der sie zusammengezimmert worden war, war feucht und begann teilweise schon zu vermodern. Die Hochbetten sahen alles andere als bequem aus, die Decken waren aus kratziger, brauner Wolle und die Kissen mit Heu gefüllte Jutesäcke. Yuan strahlte auf.

»Das ist ja besser, als ich gedacht habe!«, entfuhr es ihm.

»Bitte?«, fragte Kratos. »Das ist mit Abstand das Widerlichste, was ich jemals gesehen habe. Ich werde mich noch heute bei unserem Vorgesetzten beschweren. Diese Umstände sind unzumutbar.«

Schallendes Gelächter ertönte nicht nur von Yuan, sondern auch von ihren Mitbewohnern, den Zwillingen.

»Wie bist du denn drauf?«, fragte einer von ihnen.

»Bist du irgendwie adelig oder so?«, fragte daraufhin der Andere.

»Jop, ist er«, flachste Yuan gleich los. »Der kommt von ganz oben.«

Kratos zog seinem Freund eine über.

»Das muss nicht jeder wissen!«, fauchte er.

»Wenn du dich weiter so benimmst, weiß das hier aber bald jeder«, meinte der erste der Zwillinge. »Mit der Einstellung kommst du nicht weit.«

Kratos sah seinen Gesprächspartner verständnislos an. Der Gleiche seufzte und hielt ihm seine Hand hin.

»Ich bin Luca«, stellte er sich vor. Kratos schlug ein. Der zweite der Zwillinge kam dazu und gab ihm ebenfalls die Hand.

»Und ich bin Lucian. Dass wir Brüder sind, könnt ihr euch sicher denken.«

»Das war nicht schwer zu erraten«, meinte der Rothaarige und schmunzelte. »Mein Name ist Kratos. Und das hier ist mein Freund Yuan.«

»Schicke Haarfarbe«, meinte Luca, als er auch Yuan die Hand gab. Kratos bemerkte den unsicheren Blick seines Freundes sofort.

»Haben doch eigentlich nur Halbelfen, oder?«, meinte Lucian und gab nun seinerseits Yuan die Hand. Die beiden Brüder bemerkten Yuans Blick nun ebenso und begannen zu lachen.

»Du schaust vielleicht dumm aus der Wäsche!«, lachte Luca. »War doch nur'n Scherz!«

Ein gekünsteltes Lachen befreite sich aus Yuans und Kratos' Kehlen. Dann aber wechselten sie das Thema.

»Habt ihr schon etwas von unserem Ausbilder gehört?«, wollte Kratos wissen, während er sich die Kleidung anzog, die für jeden von ihn bereitgelegt worden war. Sie bestand aus einer Art kurzem Kimono und einer dunklen Hose. Beides wurde vom selben Gürtel zusammengehalten und war in Kratos' Fall rötlich gehalten. Die von Yuan war bläulich. Die der Zwillinge wiederum lila. Luca und Lucian schüttelten ihre Köpfe.

»Nein«, meinte Lucian. »Wir wissen nur, dass wir die letzten waren, die angekommen sind.«

»Und in unserem Kommando sind wohl an die fünfzehn Kadetten«, fügte Luca hinzu.

»Sind ja nicht viele …«, meinte Kratos.

»Kunststück. Die meisten dürften schon im Krieg gestorben sein«, antwortete Yuan.

Während Kratos schluckte, sah Luca zu Yuan.

»Du hast ein ganz schön freches Mundwerk. Ich glaube nicht, dass unserem Chef das gefällt.«

Der Blauhaarige zuckte scheinbar unbeeindruckt mit den Schultern. Seine furchtlose Art beeindruckte Kratos noch immer so manches Mal. Obwohl er ihn so manches Mal deswegen in Schwierigkeiten gebracht hatte, beneidete er ihn ein wenig darum. Er selbst war nicht so frei, sondern hemmte sich immer selbst. Plötzlich ertönte ein lauter Glockenschlag. Die vier sahen sich fragend an.

»Das wird der Apell sein«, meinte Lucian. »Wir sollten lieber hingehen.«

Allgemeines Nicken war zu sehen und die vier Kameraden gingen nach draußen.
 

Das Licht der Morgensonne fiel auf die schieren Muskeln des Mannes, der vor dem Kommando von Kratos und Yuan stand. Während einige ziemlich verschlafen dastanden, sahen andere gelangweilt aus. Wieder andere betrachteten den muskulösen Mann vor sich, der mit freiem Oberkörper vor ihnen erschienen war.

»Stillgestanden!«

Nur die Hälfte des Kommandos reagierte überhaupt auf den Ruf und nahm einigermaßen Haltung an. Der Rest sah ihn nur desinteressiert an.

»Was soll das werden? Wir sind hier nicht beim Sportunterricht! Ich habe gesagt: Stillgestanden!«

Wieder reagierten nur wenige der Anwesenden. Kratos und Yuan, sowie die Zwillinge waren einige der Wenigen, die nun gerade standen und nach vorne sahen. Der Ausbilder, der sich noch nicht einmal vorgestellt hatte, wurde anscheinend schon sauer.

»Sagt mal, hat man mir Töchter statt Söhne geschickt?!«, fauchte er und wendete sich dem ersten zu, der in der Reihe stand. Kratos wagte es, dorthin zu schielen. Es war ein schmächtiger Kadett, der schon beinahe zierlich wirkte. Seine Haare waren schwarz und bereits sehr kurz geschnitten.

»Was machst du hier?«, fragte der Ausbilder.

»Ich bin einberufen worden …«, antwortete sein Gegenüber.

»Ich bin einberufen worden, SIR!«, korrigierte er. »Und was willst du hier? Wenn ich einmal tief Luft hole, hängst du mir quer vor der Nase!«

»Ich … ich bin stärker als ich aussehe …!«, behauptete der Schmächtige.

»Ich bin stärker als ich aussehe, SIR!«, wiederholte er, schnaubte den Schmächtigen an und ging weiter. An zweien, die ebenso Haltung angenommen hatten, ging er vorbei. Dann fiel sein Blick auf einen der jungen Männer, der stark übergewichtig war.

»Ah, die Dampfwalze, die ich angefordert habe«, scherzte er. Restlos jeder, außer der Betroffene selbst, begannen zu kichern. Selbst Kratos konnte es sich nicht verkneifen. Dann aber wurde der Ton des Ausbilders wieder forsch. »Was soll ich mit einem Fettwanst wie dir hier?! Die Gegner plattwalzen, oder was?«

»Was fällt Ihnen ein, mich derart zu beleidigen?!«, fuhr der Schwerere von beiden auf. »Ich bin Noel Ramon von Meltokio! Ich bin der Cousin fünften Grades der königlichen Familie!«

»Das sieht man«, flüsterte Yuan zu Kratos. Der Rothaarige hielt sich den Mund zu, um nicht loszulachen. Der Ausbilder jedoch schien gänzlich unbeeindruckt zu sein.

»Dein Name ist mir scheißegal«, meinte er. »Ich hoffe nur, dass du so viele Halbelfen abstichst, wie du Kilos auf den Rippen hast!«

Yuan, wie auch Kratos verging das Lachen. Der Blauhaarige bekam es mit der Angst zu tun, das sah Kratos sofort.

Der muskulöse Mann ging die Reihe weiter ab. Er blieb bei einigen weiterhin stehen, bis er bei Kratos ankam. Er stand gerade und blickte seinem Gegenüber in die stahlgrauen Augen.

»Die Zottelmähne will ich Morgen nicht mehr sehen, klar?«

»Jawohl, Sir!«, antwortete Kratos sofort. Dann schielte er zu Yuan. Der Ausbilder blieb auch vor ihm stehen. Obwohl Yuan Angst hatte, stand er wie Kratos kerzengerade vor dem imposanten Mann.

»Hier bist du falsch, Kleiner. Die Krabbelgruppe ist in Meltokio.«

Kratos wollte sich einmischen, doch Yuan bedeutete ihm mit einem Blick, es sein zu lassen.

»Es kommt nicht immer auf die Größe an, Sir«, sagte der Blauhaarige mit dem üblichen Stachel in der Stimme. »Sondern auf die Technik.«

»Provozier' ihn nicht …«, dachte Kratos inständig. Der Ausbilder runzelte die Stirn.

»Soso, ein ganz Schlauer«, meinte dieser. Mit Reflexen, die so schnell waren wie die eines Raubtieres, packte er Yuan an seinem Zopf und zog daran.

»Mädchen gehören an den Herd und nicht in die Armee!«, schnauzte er. »Schneid' dir die Zotteln ab! Du siehst ja aus wie …«

Schweigen. Kratos entdeckte augenblicklich den Grund dafür: Der Ausbilder hatte Yuans Ohren entdeckt. Nun war er derjenige, der Angst um Yuan bekam. Obwohl er sich sicher war, dass er genügend Angst für sie beide hatte.

»… ein Halbelf …«

Der Rest des Kommandos fing sofort an zu tuscheln, doch der Ausbilder wusste das zu unterbinden.

»Schnauze! Für jeden Mucks, den ich höre, werden eine Woche die Latrinen geputzt!«

Dann wandte er sich wieder Yuan zu.

»Ein bediensteter Halbelf, der sich als königlicher Krieger Tethe'allas ausbilden lassen will? Der Elite dieser Bauertrampel, die beinahe nichts gegen die drohende Übermacht Sylvarants ausrichten können, die dein Volk erlösen will?«, fing er an und umkreiste den Halbelfen, den er nach vorn gezerrt hatte. Kratos spannte seinen ganzen Körper an, bereit, im Notfall einzugreifen.

Und doch sagte ihm sein Gefühl, dass er keine Angst zu haben brauchte.

»Ich kenne niemanden aus Sylvarant, Sir«, antwortete Yuan mit beachtlich fester Stimme. »Und im Grunde führt auch Sylvarant einen sinnlosen Krieg. Es ist egal, zu welcher Seite ich halte. Beide begehen dieselbe Dummheit.«

Kratos hätte sich am liebsten die Hand an die Stirn geschlagen. Wie konnte Yuan es in so einer Situation wagen, Kritik an Tethe'alla zu üben? Doch dann fiel ihm ein, dass Yuan immer das sagte, was er dachte. Es war seine grundehrliche Art, die sie damals hatte Freunde werden lassen.

Er hoffte nur, dass sie ihm dieses Mal nicht das Leben kostete.

Der Ausbilder war stehen geblieben. Der kurze Zopf seines dunkelblonden Haars glänzte leichte bronzefarben, wenn Sonnenlicht darauf fiel und seine stahlgrauen Augen musterten Yuan ausgiebig.

»Ein Halbelf mit Grips«, sagte er dann. »Welch Freude würdest du mir machen, wenn du ein Mensch wärst. Im Kopf eines Halbelfen ist Wissen immer fehlplatziert.«

»Nicht in meinem Kopf«, behauptete der Blauhaarige. »Schließlich bin ich zur Hälfte das Gleiche wie Ihr, Sir: Ein Mensch.«

Nun wurde erneut ein Raunen laut. Kratos schluckte hart. Yuan hatte es übertrieben. Selbst, wenn der Ausbilder ein Mensch war, der Halbelfen nicht als Tiere sah, würde er sich das nicht gefallen lassen.

Der muskulöse Mann schnaubte belustigt.

»Du hast Mut«, meinte er. »Doch Mut kann manchmal tödlich sein.«

Kratos wollte noch dazwischen gehen, doch der ausgebildete Krieger war zu flink. Schnell wie ein Blitz hatte er sein Schwert gezogen und einen Streich in Yuans Richtung ausgeführt. Für den Bruchteil einer Sekunde fürchtete Kratos, dass der Kopf seines Freundes gleich von seinem Rumpf fallen würde. Doch alles, was zu Boden fiel, war Yuans Zopf.

Der Blauhaarige war stehengeblieben, ohne sich auch nur einen Millimeter zu rühren. Er hatte nicht einmal geblinzelt. Der Ausbilder sah ihm nun direkt ins Gesicht.

»Du hast die Privilegien eines Menschen gefordert«, sagte er. »So nimm' auch seine Bürden auf dich.«

Yuan verbeugte sich und stellte sich zu Kratos zurück. Böse und bewundernde Blicke wurden ihm zu Teil. Kratos war jedoch vorerst damit beschäftigt, sein Herz davon abzuhalten, seinen Dienst einzustellen.

Der Ausbilder hingegen baute sich vor dem Kommando zu seiner vollen und imposanten Größe auf.

»Mein Name ist Flavius und ich bekleide den Rang eines Feldwebels. Meine Aufgabe ist es aus euch jammernden Flaschen eisenharte Krieger zu machen«, begann er. »Wenn ich mit euch fertig bin, werdet ihr die Augen und die Reflexe eines Raubvogels haben, ihr werdet so schnell sein wie die Pfeile, die euch in den Schlachten um die Ohren fliegen werden, euer Herz wird so hart sein wie das legendäre Metall Mytrill, Gnade wird aus eurem Wortschatz gestrichen.«

Flavius ging die Reihe der Kadetten bei seiner Rede immer wieder auf und ab. Seinem stechenden Blick entging dabei nichts.

»Gleichzeitig werden ihr eure Kameraden mehr lieben als eure Geschwister und mich mehr als eure Väter.«

»Das ist bei mir nicht schwer …«, dachte Kratos bei sich.

»Ihr werdet euer Schwert als Körperteil ansehen, ihr werdet wissen, aus welchem Stahl es gefertigt wurde, wenn es euren Körper durchbohrt.«

Nach diesen Worten blieb Flavius stehen und besah sich seiner Schützlinge.

»Jeder von euch Waschlappen wird dieses Fort als Mann verlassen.«

Luca, der zwischen Kratos und seinem Bruder stand, stieß seinem Bruder mit dem Ellenbogen in die Rippen.

»Nicht, dass der die Seife rausholt.«

Während Kratos den Witz nicht verstand, prustete Lucian leise. Flavius bemerkte das schneller, als ihnen lieb war.

»Anscheinend haben wir hier zwei Spaßvögel«, sagte er laut und deutlich. »Wir würden gerne mitlachen.«

Die Zwillinge schwiegen augenblicklich. Kratos konnte ihre Kehlköpfe tanzen sehen, so hart schluckten sie.

»Ihr glaubt anscheinend, das hier sei ein Spiel oder so etwas«, meinte Flavius. »Bitte, lacht darüber, solange ihr es noch könnt. Aber eines sage ich euch: Euch wird das Lachen vergehen, wenn der Erste von euch auf dem Schlachtfeld sein Leben verliert!«

Restlos jeder schwieg jetzt und sah zu Flavius nach vorn.

»Wir sind im Krieg. Ihr werdet ausgebildet, um auf dem Schlachtfeld zu kämpfen. Ihr werdet um euer Leben kämpfen. Um euer nacktes, reines Überleben! Aber das wird euch schon noch früh genug klar werden.«

Mit diesen Worten ging Flavius einige Schritte nach vorn. Erst jetzt fielen Kratos die Stäbe auf, die in ihrer Nähe lagen. Als der Feldwebel einen davon aufhob, entdeckte er zusätzlich noch Sandsäcke, die an beiden Enden befestigt waren. Flavius nahm sich einen davon und legte ihn auf seine Schultern.

»Diese Sandsäcke imitieren das Gewicht eurer Muskeln, die ihr haben werdet, wenn ich mit euch fertig bin. Wenn ihr es damit nicht schafft, diesen Berg zu erklimmen, könnt ihr eigentlich gleich wieder nach Hause fahren«, erklärte Flavius und zeigte nach oben. Die Kadetten hoben ihre Blicke. Kratos wurde allein beim Hochschauen schwindelig, denn die Spitze des Berges verschwand in den Wolken.

»Da rauf?!«, dachte er entsetzt. »Ist der von allen guten Geistern verlassen?!

»Nehmt euch die Gewichte und folgt mir. Und trödelt nicht!«, befahl Flavius und ging einfach los. Nach und nach folgten ihm seine Schützlinge. Als Kratos sich die Gewichte auf die Schultern legte, keuchte er vor Anstrengung.

»Sind die schwer!«

»Huh?«, machte Yuan, der durch seine Sklavenarbeit wesentlich muskulöser war als sein adeliger Freund. »Finde ich gar nicht …«

»Hört auf zu schnattern wie die Mägde!«, fauchte der Feldwebel. »Ihr braucht eure Luft noch!«

Grummelnd folgte Kratos Yuan, der das Tempo von Falvius anscheinend problemlos einhalten konnte. Ihm selbst schmerzten schon nach wenigen Schritten die Schultern, doch er biss die Zähne zusammen und ging weiter.

Nach und nach zeichnete sich ab, welcher der Kadetten gut auf das Training vorbereitet war und wer nicht. Während Yuan Flavius mit wenigen anderen auf dem Fuße folgte, ging hinter Kratos nur noch der übergewichtige Noel her. Der etwas zierlichere Kadett war mit Kratos und Noel zurückgefallen.

»Ist … der noch … ganz dicht …?«, keuchte er mit einer Stimme, dir irgendwie gar nicht zu einem Mann passen wollte. Kratos sah stirnrunzelnd zu ihm, ignorierte seine Stimme dann aber. Zum Denken fehlte ihm die Luft, die von Schritt zu Schritt immer dünner wurde. Mit jeder Biegung, die er hinter sich brachte, rebellierten seine Schultern mehr gegen das schwere Gewicht, das auf ihnen lastete, mit jedem Meter wuchs der Schmerz in seinen Füßen.

»Was seid ihr denn für ein lahmer Hauen?!«, rief Flavius, der inzwischen einige Meter höher war als seine neuen Schützlinge. Selbst Yuan war zurückgefallen und keuchte schwer. Der Feldwebel hingegen gab einen tiefen Seufzer von sich.

»Wir haben noch einen langen Weg vor uns …«, murmelte er und meinte damit nicht die Spitze des Berges zu erklimmen.

Kratos sank erschöpft zusammen und lehnte sich an den Felsen. Schweiß tropfte von seinem Gesicht und er zitterte vor Anstrengung.

Worauf hatte er sich da nur eingelassen?

Die Tugenden eines Kriegers

Flavius hatte den Rest des Tages damit zugebracht, seinen Soldaten zu zeigen, was sie nicht konnten. Der erst so euphorische Kratos war vollkommen fertig und am Ende seiner Kräfte. Als er abends in seiner Pritsche lag, taten ihm Muskeln weh, von denen er noch nicht einmal wusste, dass er sie besaß.

Yuan ging es zwar nicht ganz so schlecht, doch auch er war körperlich am Ende. So war es auch kein Wunder, dass Kratos mitten im Satz einschlief, als sie sich noch unterhalten hatten.

Als am nächsten Morgen die Weckglocke ertönte, wollte Kratos alles, nur nicht aufstehen.

»Ich fühle mich, als hätte Silabél mich einmal kräftig durchgekaut …«, grummelte er, als er aufstand.

»Du übertreibst mal wieder maßlos«, antwortete Yuan, der ein wenig fitter war als sein adeliger Freund. »Mach lieber dein Bett, sonst streicht dir Flavius noch das Frühstück.«

»Feldwebel Flavius, wenn ich bitten darf!«

Yuan fiel beinahe aus seinem Bett, dass er gerade machte. Augenblicklich salutierten alle Anwesenden im Raum.

»Guten Morgen, Feldwebel!«, sprachen sie im Chor, wobei Kratos der Einzige war, der noch nicht angezogen war.

»Anziehen!«, fauchte Flavius auch sofort. »Und zwar im Eilschritt! Danach wird das Bett gemacht und dann ab zum Apell! Das gilt für jeden!«

Mit diesen Worten ging Flavius wieder. Luca schnitt ihm Grimassen hinterher.

»Idiot …«, murmelte er.

»Ganz meine Meinung«, gab Kratos dazu.

Er konnte ja nicht ahnen, dass Flavius noch viel gemeiner sein konnte …
 

Nach dem spärlichen Frühstück, das aus Haferschleim bestanden hatte, stand Kratos' Kommando in Reih und Glied vor ihrem Ausbilder. Flavius hatte ein Grinsen im Gesicht, das keinem seiner Schützlinge so wirklich gefallen wollte. Nach einer kurzen Rede, in der Flavius sie allesamt als Mädchen bezeichnet und Kratos angeschnauzt hatte, weil seine Haare noch immer nicht geschnitten waren, befahl er ihnen, ihm in Reih und Glied zu folgen. Kratos und Yuan marschierten nebeneinander her.

»Ich will nicht wissen, was uns heute erwartet …«, maulte Kratos leise.

»Ein Spaziergang wird es nicht«, meinte Yuan. »Aber wir sind in der Armee und du warst derjenige, der hierher wollte. Also hör' auf zu maulen.«

Kratos schnaubte nur und ging weiter hinter Flavius her. Vor ihnen marschierten die Zwillinge, hinter ihnen Noel und der zierliche Soldat, der den Namen Sora trug. Die Landschaft um sie herum war karg. Nichts als Gestein und hier und da ein trockener Strauch. Mit Glück sah man sogar ein paar windschiefe Bäume. Aber die waren so selten, wie vierblättrige Kleeblätter.

Allein von dem langen Marsch wurde Kratos allmählich müde. Schließlich war er längere Strecken bisher immer geritten oder in Kutschen gefahren. Yuan hatte – wie fast überall – wesentlich weniger Probleme damit.

Nach dem Stand der Sonne war es früher Vormittag, als sie ihr Ziel endlich erreichten: Ein Bergwäldchen.

Die Tannen, die diesen Wald bildeten wuchsen schief und krumm, hatten sich jedoch dieses kleine Gebiet mit Erfolg erobert. Kalter Wind pfiff durch ihre Nadeln. Kratos musste unwillkürlich an den Wald des Einhornes denken, den sein Großvater ihm einst gezeigt hatte. Wie gern wäre er jetzt bei ihm, frei von allen Sorgen und Verpflichtungen …

»Ich sollte aufhören zu jammern … ich hab's mir schließlich ausgesucht.«

Flavius bezog seine Stellung vor seinen Schützlingen. Noch immer hatte er dieses gemeine Grinsen im Gesicht, dass Kratos den Magen umdrehte.

»In diesem Wald«, sagte er und zeigte mit einer Hand hinein, »leben wilde Hühner. Eure Aufgabe ist es, eines von Ihnen – wohlbemerkt lebend – zu fangen. Wer von euch keines fängt, geht heute Abend mit leerem Magen in die Pritsche. Strengt euch also an. Ich werde hier warten.«

Die gesamte Truppe stand wie angewurzelt da.

»Hühner fangen?«, meinte Luca. »Ich dachte, wir sind hier, um das Kämpfen zu lernen!«

Flavius fixierte seinen Kritiker mit seinen grauen Augen und seine Pupillen verkleinerten sich soweit, dass man meinen konnte, seine Augen seien aus Stahl.

»Bevor ich dir ein Schwert in die Hand gebe, muss ich sichergehen, dass du nicht nach zwei Hieben damit krepierst«, sagte er drohend. »Ihr werdet schon sehen, wozu das gut ist. Wer keine Lust dazu hat, kann gern nach Hause zu Mami gehen.«

Keiner sagte noch etwas. Stattdessen marschierte die Gruppe in den Wald hinein.

»Das Klügste ist, wir trennen uns«, meinte Yuan zu Kratos und grinste. »Möge der Bessere von uns gewinnen.«
 

Der Wald war unübersichtlich, ungewöhnlich groß und vor allem eine einzige Stolperfalle. Kratos wusste nicht, wie lange er nun schon durch die Bäume streifte, auf der verzweifelten Suche nach den besagten Hühnern von Flavius. Währenddessen fragte er sich, wozu diese Übung gut sein sollte. Wollte Flavius sie erniedrigen? Wollte er, dass sie ihre Frechheiten sein ließen und taten, was er sagte, ohne zu widersprechen? Oder hatte diese scheinbar alberne Aktion vielleicht doch einen sinnvollen Hintergrund?

Der Rothaarige seufzte. Er hatte bisher nur einmal geglaubt, ein Huhn gefunden zu haben. Doch als er sich darauf gestürzt hatte, war er auf Sora gelandet, der in einem Busch auf seine Beute gelauert hatte.

»Was würde wohl Großvater jetzt tun?, fragte er sich. »Der würde so ein Huhn mit Sicherheit innerhalb einiger Minuten fangen …«

Bei seinem nächsten Schritt zertrat er einen kleinen Ast. Und da plötzlich kam ihm die Idee, dass er ziemlich laut und wilde Tiere sehr scheu waren. Also versuchte er, sich leiser zu bewegen, was mit seinen Schuhen jedoch so gut wie unmöglich war. Also zog er sie sich kurzer Hand aus. Als er den Waldboden an seinen nackten Füßen spürte, fühlte er sich auf eine seltsame Art und Weise ein wenig sicherer. Mit vorsichtigen Schritten ging er weiter und rollte seine Fußballen langsam ab, um kleine Äste und Kieselsteine möglichst lautlos zu übergehen. Dabei lauschte er aufmerksam auf jedes Geräusch in seiner Nähe. Hier und da sang ein Vogel, der Wind raschelte in den Tannennadeln und weiter entfernt hörte er seine Kameraden durch den Wald gehen. Aus einer Intuition heraus, blieb der Adelige stehen und rührte sich nicht mehr. Er lauschte. Selbst sein Atem passte sich dem wehenden Wind an und sein Herzschlag wurde langsamer.

Wie lange er so dort stand wusste er nicht, allerdings hörte er endlich, was er hören wollte: Das leise Gackern eines Huhns.

Langsam und vorsichtig bewegte er sich in die Richtung des Tieres und entdeckte es auch. Ahnungslos schabte es im Boden nach Futter. Kratos spannte seine Muskeln an und stürzte sich auf den Vogel. Das Huhn jedoch war schneller geflohen, als Kratos hingefallen war. Fluchend sprang er auf und rannte dem Huhn hinterher, so schnell ihn seine Füße trugen. Der Vogel jedoch war wesentlich schneller; und urplötzlich riss ihn etwas von den Füßen und die Welt stand Kopf.

Kratos schüttelte den seinen, um eventuelle Fehleinbildungen zu verscheuchen, jedoch blieb die Welt weiterhin falsch herum. Als er zu seinen Füßen sah, entdeckte er, dass einer von ihnen in einer Schlinge gefesselt war.

»Haha! Endlich hab' ich dich, du Mistvieh!«

Als der Rothaarige die Stimme seines halbblütigen Freundes erkannte, verschränkte er die Arme vor der Brust.

»Ich verbiete mir solche Beleidigungen!«

Als Yuan vom Baum herunter sprang und den Adeligen in seiner Falle entdeckte, sah er einen Augenblick völlig überrascht drein, bevor er schallend anfing zu lachen.

»Ich wusste schon immer, dass du ein Spatzenhirn bist!«, prustete er.

»Hättest du vielleicht die Güte, mich hier runter zu lassen?!«, schimpfte Kratos mit feuerrotem Gesicht, da ihm das Blut allmählich in den Kopf stieg. Yuan aber brauchte noch einige Momente, um sich wieder einzukriegen. Erst dann zerriss er das Seil, das er sich aus Blättern gebastelt und mit Baumharz verklebt hatte. Unsanft landete Kratos auf dem harten Waldboden und rieb sich den Hals, den er sich beim Sturz verdreht hatte. Yuan prustete noch immer in seine Faust, half seinem Freund dann jedoch auf die Beine.

»Lass dich nicht wieder einfangen«, meinte Yuan noch.

»Keine Sorge«, antwortete Kratos. »Viel Glück noch.«

Mit diesen Worten entfernte sich Kratos wieder. Seufzend und über den Verlust des Huhns enttäuscht, begann er von Neuem zu lauschen und sich auf die Lauer zu legen. Die Sonne war inzwischen ein gutes Stück weiter über den Himmel gewandert und änderte allmählich ihre Farbe. Kratos hatte das ungute Gefühl, dass er einer derjenigen sein würde, die hungrig einschlafen würden, als das Glück im förmlich in die Arme sprang. Luca und Lucian jagten einem Huhn hinterher, das direkt an Kratos vorbeirannte. Der Rothaarige packte die Gelegenheit beim Schopfe und nahm die Verfolgung auf. Wenn er das Huhn fing, hätte er wenigstens ein Drittel der Essensration für sich gewonnen. Luca und Lucian verstanden tauchten – reichlich verdreckt und mit einigen Kratzern am ganzen Körper – hinter ihm auf und verstanden, dass er in die Jagd mit einstieg. Mit der Ausdauer eines ausgehungerten Wolfrudels verfolgten sie ihre Beute, die ihnen wenigstens halbwegs gefüllte Bäuche bescheren würde. Das Schicksal, oder viel mehr die Landschaft, schien es gut mit den drei Soldaten zu meinen: Das Huhn stand vor einer Felswand und musste entweder nach links oder rechts fliehen. Kratos lachte sich schon ins Fäustchen, da er wusste, dass die meisten Tiere einen ausgeprägten Linksdrall besaßen. Er bedeutete den Zwillingen, dass sie es auf der linken Seite abfangen sollten, beide nickten und wechselten ihre Richtung. Sie wollten sich gerade auf das Huhn stürzen, als niemand anderes als Noel scheinbar aus dem Nichts auftauchte, über eine Baumwurzel stolperte und direkt auf das verschreckte Huhn fiel.

Kratos wollte noch bremsen, doch die Zwillinge rannten ihm in den Rücken und er landete das zweite Mal auf dem Waldboden. So langsam verstand er, was der Soldat, der sie zu ihren Hütten geführt hatte, mit "Dreck fressen" gemeint hatte.

Unter Noels Fettschwarten guckte noch ein zuckendes Hühnerbein heraus. Der Rothaarige stützt sein Gesicht auf seiner Handfläche ab und trippelte mit den Fingern auf den Boden, während Luca und Lucian sich mühsam aufrappelten.

Heute war einfach nicht sein Tag.
 

Yuan sah Kratos mitleidig an.

»Tut mir echt leid …«

»Halt einfach nur das Maul und friss' deine Suppe …«

Luca schlug Kratos auf die Schulter.

»Du lernst das Fluchen, ich bin stolz auf dich!«

Kratos grummelte, was nur vom Knurren seines Magens übertönt wurde. Weder er, noch die Zwillinge hatten es geschafft, ein Huhn zu fangen. Die drei hungerten nun gemeinsam mit Sora, der genauso erfolglos gewesen war. Flavius hatte den siegreichen Jägern verboten, den Hungernden etwas abzugeben. Er behauptete, dass der Hunger sie erst zu Bestleistungen antreiben würde.

Yuan beeilte sich mit seinem Essen, damit Kratos und die anderen nicht solang zusehen mussten. Das half jedoch nicht viel, da die anderen mit großem Genuss aßen und niemand aufstehen durfte, bis nicht der Letzte fertig war.

»Wie im Kindergarten«, murmelte Lucian nur. Er war zwar wie sein Bruder ein Spaßvogel, doch auch der Ernstere von beiden. So war es auch kein Wunder, dass Kratos Lucian und Yuan Luca bevorzugte. Die Vier an sich jedoch waren schon eine eingeschworene Gemeinschaft, obwohl sie sich erst zwei Tage kannten. Bei den harten Bedingungen, die hier herrschten, blieb einem gar nichts anderes übrig, als sich mit seinen Kameraden zu verbrüdern.

Und der kluge Kratos ahnte, dass das auch ein Grund war, warum Flavius so streng mit ihnen umging. Er wollte, dass sie zu einem Team wurden. Auch den Sinn der Hühnerjagd hatte er durchschaut, als Noel mit seinem Huhn zum Fort stolziert war. Flavius hatte es nämlich für unmöglich gehalten, dass der übergewichtige Soldat so schnelle Reflexe besaß, dass sie ausreichten, um ein Huhn zu fangen.

Als sie endlich aufstehen durften, beschlossen die Vier, im nahe gelegenen Bergsee schwimmen zu gehen, da sie allesamt völlig verdreckt waren. Doch als sie ihre Handtücher geholt hatten und sich auf den Weg machten, stieß ihr gesamtes Kommando dazu – bis auf Sora.

»Der hat sich schon hingelegt«, meinte Lounel, ein durchtrainierter und drahtiger Soldat. »War ziemlich k.o.«

»Also bei dem ist sowieso irgendwas nicht ganz sauber«, behauptete Luca.

»Er riecht wie ein Mädchen«, meinte Yuan, der als Halbelf eine sehr feine Nase besaß.

»Und spricht auch so«, fügte der Zwilling hinzu.

»Ihr lästert doch selbst wie die Mägde«, sagten Lucian und Kratos gleichzeitig.

Yuan und Luca verstummten und grinsten verlegen.

Wenig später hatten die jungen Männer den See erreicht, der nahe einer heißen Quelle lag und aus diesem Grund immer warm genug zum Schwimmen war. Die meisten rannten schon voraus, warfen ihre Kleidung einfach achtlos beiseite und sprangen in die Fluten. Kratos hätte wohl der Mund offen gestanden, hätte er sich nicht beherrscht. Yuan grinste breit bei seinem Blick.

»Schämst du dich etwa, Blaublut?«, spöttelte er und zog sich selbst aus. »Wir sind unter uns. Die können dir nichts abkucken.«

Mit diesen Worten folgte er den anderen ins Wasser. Kratos zierte sich. Ihm war seine Privatsphäre in gewisser Art und Weise heilig. Andererseits konnte er sich selbst nicht mehr riechen und fühlte sich ziemlich schmutzig.

»Jetzt komm schon rein, du Mädchen!«, rief Yuan und spritzte Wasser in seine Richtung. »Das Wasser ist herrlich!«

Der Rothaarige seufzte und begann, sich auszuziehen. Wenig später watete er vorsichtig ins Uferwasser hinein, eine Hand schützend über seinem Unterleib haltend. Als Yuan das sah, grinste er breit und begann, Luca und Lucian etwas zuzuflüstern. Die Zwillinge nickten und zogen Lounel hinzu, dem sie ebenfalls leise etwas zu murmelten. Kratos bekam das nicht mit. Er war zu sehr damit beschäftigt, seine Blöße zu verdecken.

Alle Vier schlichen sich an eine andere Seite des Ufers und verschwanden kurze Zeit im gelblichgrauen Schilf, das den See umgab. Kratos konnte nicht einmal so schnell »Hilfe!« schreien, wie Yuan, Lonuel und die Zwillinge über ihn herfielen. Jeder packte einen Arm oder ein Bein vom Rothaarigen. Kratos zappelte wie ein Fisch.

»Lasst mich runter!!! Hört auf mich dem Unsinn!!!«, brüllte er. Die Soldaten aber lachten nur und begannen, ihn zu schwingen.

»Zugleich!«, riefen sie alle Vier.

»Hört auf! Lasst mich los!!!«, forderte Kratos, der immer wütender wurde.

»Zugleich!«, riefen sie nur wieder im Chor.

»Lasst mich runter!!! Yuan, ich weiß, wo du schläfst!!!«

»Zugleich!«, riefen die Vier noch einmal und warfen ihren Kameraden unter lautem Gelächter ins Wasser. Kratos hatte sogar noch in der Luft gezappelt, als wolle er fliegen, was ihm noch zusätzlich den Spott der Anderen einbrachte. Als der Rothaarige wieder auftauchte, war sein Gesicht so rot wie seine Haare, die ihm nun wie plattgedrückt am Kopf klebten. Yuan, Lounel und die Zwillinge standen noch immer am Ufer und bogen sich vor Lachen. Und auf einmal, Kratos wusste nicht, warum es so war, verflog seine Wut und verwandelte sich ins Gegenteil: Er begann, mit ihnen zu lachen.

Yuan sprang als Erster wieder zurück in die Fluten und kraulte zu seinem Freund, der sich in diesem Moment fragte, wo Yuan hätte schwimmen lernen können. Hatte er sein Leben nicht in einem Stollen verbracht?

Doch er war zu munter, um wieder ins Grübeln zu geraten. Mit gespieltem Zorn sah er Yuan an.

»Was denn?«, fragte der Gleiche. »Du hast es doch förmlich drauf angelegt!«

Kratos sagte nichts und sah ihn weiter mit versteinerter Miene an. Yuan legte seinen Kopf schief.

»Du bist doch jetzt nich' wirklich sauer, oder? Hast doch selbst mitgelacht.«

»Lachen willst du also?«, fragte Kratos. »Dann geb' ich dir was zu lachen!«

Mit dieser Drohung, die eher einem Versprechen ähnelte, stürzte er sich auf Yuan und fing eine wilde Rangelei mit ihm an. Die Zwillinge und Lounel, die inzwischen auch wieder im Wasser waren, machten sich einen Spaß daraus, zu wetten, wer gewinnen würde.

Kratos und Yuan dagegen hatten fast alles um sich herum vergessen. Lachend rauften sie sich, schmissen den jeweils anderen ins Wasser, zogen ihm die Beine weg und boxten sich sogar. Als Yuan auf Kratos' Rücken sprang, um ihn unter Wasser zu drücken, drehte Kratos den Spieß um, packte Yuans Beine und drehte sich unter Wasser so, dass er auf seinem Freund lag. Dafür kassierte er einen Tritt in die Flanke. So ging es die ganze Zeit weiter. Irgendwann stolperte Yuan in Lonuel hinein, der daraufhin in die Rangelei mit einstieg. Die Zwillinge grinsten einander an und warfen sich mit ins Getümmel.

Kratos lachte aus vollem Herzen, als sie irgendwann in der Nacht aus dem Wasser kamen und zurück in ihre Hütten gingen. Müde, aber glücklich schlief der Rothaarige in seiner Pritsche ein.
 

Ich erinnere mich gern an diese Zeit zurück. Flavius' Ausbildung war hart, aber sie schweißte uns auch zusammen. Yuan, Lonuel, die Zwillinge und ich wurden schnell zu einer eingeschworenen Gemeinschaft. Und auch die anderen Soldaten verdienten sich nach und nach ihren Platz in dieser Gemeinschaft.

Caleb war der Gutmütigste von uns und zugleich unser Ruhepol. Er stammte aus einer Priesterfamilie und verbrachte fast seine gesamte Freizeit mit Meditation.

Lux war ein Raufbold, der gern kämpfte und seine Stärke bewies, auch war er nicht besonders klug, aber er hatte ein gutes Herz und einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn.

Fyn, der eigentlich Fynnchenzo hieß, den Namen aber nicht mochte, zeichnete sich durch seine strategischen Fähigkeiten aus. Sein Vater hatte ebenfalls im Militär gedient und ihm vieles beigebracht.

Thalaimo, von uns nur "Tai" gerufen, war der Beste der Soldaten. Seine Ausdauer wie auch seine Muskelkraft waren bemerkenswert. Er beherrschte die Schwertkunst bereits in ihren Grundzügen und übte diese tagtäglich – mit einem Stock.

Doch auch bei uns gab es Querschläger und Außenseiter.

Noel konnte einfach nicht von seiner Arroganz ablassen und glaubte, durch seine Verwandtschaft mit der königlichen Familie besondere Privilegien zu haben. Wir mieden ihn, da wir seine ständigen Beschwerden nicht mehr hören konnten. Außerdem war er unbeliebt, da er mit Abstand der Schlechteste der Soldaten war und uns bei Märschen immer im Tempo zügelte und Flavius' somit zur Weißglut brachte.

Sora war der Zurückgezogenste unserer Truppe. Er sprach nur wenig und verbrachte nur selten Zeit mit uns. Eigentlich nur, wenn er es musste.

Und dann gab es noch Midas und seine Schergen …

Midas war ein Mensch, der Halbelfen verachtete. Während viele Yuan als festen Teil der Truppe ansahen, machte Midas ihm das Leben schwer. Er ging ihn ständig an, demütigte und provozierte ihn. Und hier kam das große Manko derjenigen an den Tag, die Yuan sonst eigentlich mochten.

Sie besaßen keine Courage.
 

Es waren inzwischen einige Wochen vergangen und der Sommer erreichte seinen Höhepunkt. Das Training von Flavius' brachte selbst die, die sonst gut waren, an ihre körperlichen Grenzen. Kratos hatte sich bisher im guten Mittelfeld befunden, doch durch die Hitze fiel er wieder weiter zurück.

Die Ausbildung bezog sich noch immer auf rein körperliches Training. Waffen hatte noch keiner der Soldaten von nahem gesehen.

Flavius trieb sie gerade durch ein, durch die Hitze, wahrhaft höllisches Zirkeltraining. Drei Minuten lang musste jeder die aufgebaute Übung machen: Und die hatten es in sich.

Kratos joggte zusammen mit Lonuel und Lux gerade über weichen, feinen Sand, der das Laufen anstrengender machte, als die Sommersonne es erlaubte.

Yuan, Midas und Luca plagten sich mit einarmigen Liegestützen, Noel, Sora und Lucian mussten sich mit Rumpfbeugen quälen. Caleb, Fyn und Tai hingegen mussten unter einem Netz hindurchkriechen, das mit Farbe besprüht war, sodass Flavius sehen konnte, wer wie oft das Netz berührt hatte.

Erneut ertönte Flavius' scharfer Pfiff, was einen Stationswechsel bedeutete. Während Kratos mit den einarmigen Liegestützen anfing, konnte sich die letzte Gruppe jetzt den "Spaß" machen, mit Hanteln zu hantieren. Kratos schwitzte so sehr, dass seine Hand schon abzurutschen drohte. Das hätte drei Strafminuten bedeutet, auf die er alles andere als scharf war, weshalb er sich kurzerhand auf einen Kieselstein stützte. Das bereitete ihm zwar Schmerzen, war aber angenehmer als diese Tortur nochmal drei Minuten auszustehen.

Dann endlich ertönte der von allen ersehnte, dreifache Pfiff von Flavius'. Er bedeutete, dass es eine Pause gab. Restlos jeder der Soldaten sank erleichtert zusammen. Kratos blickte auf seine Handinnenfläche, doch der Kieselstein hatte nur eine kleine, blutende Wunde zurückgelassen. Das war hier nichts. Die meisten waren froh, wenn sie am Abend ohne Prellungen und Quetschungen davonkamen.

Flavius war verschwunden. Vermutlich war er in sein Zelt gegangen um die nächste Übung vorzubereiten. Yuan hatte sich gerade unter dem Netz herausgewunden, als Midas sich einen Spaß daraus machte, ihm in die Flanke zu treten.

»Na endlich hast du deinen rechtmäßigen Platz vor meinen Füßen gefunden.«

Der Rothaarige blickte wütend in Midas' Richtung, doch Yuan erhob sich schweigend und klopfte sich den Sand von der Kleidung. Der schwarzhaarige Midas jedoch ließ sich nicht sonderlich einfach ignorieren; und warf Yuan um.

»Küss' den Boden, den ich betrete, Halbelf!«, forderte Midas. »Du bist es nicht mal wert, die gleiche Luft zu atmen wie wir!«

»Du kannst dir ja welche abfüllen«, meinte Yuan trocken und wollte wieder aufstehen. Midas aber trat ihn erneut nieder.

Kratos stand auf, doch Yuan bedeutete ihm mit einem Blick, sich nicht einzumischen.

»Werd' ja nicht frech, Schlammblut!«

»Nichts liegt mir ferner, Herr von … wie hieß dein Königreich doch gleich?«

Dafür bekam Yuan einen Tritt mitten ins Gesicht. Kratos sah nur noch Blut spritzen. Sein Freund hielt sich schützend die Hände vor die Nase, gab jedoch keinen Ton von sich. Der Rothaarige sah sich um, doch niemand wollte für Yuan Partei ergreifen. Und Flavius war wie vom Erdboden verschluckt.

»Entschuldige dich!«, befahl Midas.

»Ich denk' ja gar nicht dran«, sprach Yuan näselnd, weil seine Nase anscheinend anschwoll. »Aber ich kann mich bedanken. Jetzt muss ich deine Arroganz wenigstens nicht mehr riechen.«

Midas bebte, ließ es sich aber nicht anmerken.

»Dich sollte man anketten, wie die anderen Halbelfen. So, wie es sich gehört.«

Kratos wusste, was Midas meinte. Der Koch wie auch der Heiler des Kommandos waren Halbelfen. Beide waren mit einer Kette am Fuß ausgestattet. Sie war gerade lang genug, damit sie zwei Schritte vor ihr Zelt gehen konnten.

»Ich steh' nicht auf Fesselspiele«, meine Yuan nur, dessen Nase eine ungesunde Färbung angenommen hatte und immer noch blutete. Midas trat erneut nach Kratos' Freund. Yuan ließ es sich bedingungslos gefallen. Kratos ballte hingegen seine Hände zu Fäusten.

»Wehr' dich gefälligst!«, verlangte Midas.

»Ich mache mir deinetwegen die Hände doch nicht noch schmutziger, als sie es ohnehin schon sind«, antwortete der Blauhaarige frech. Das reichte Midas. Er holte mit der Faust weit aus und verpasste Yuan einen mächtigen Schlag ins Gesicht. Er holte gerade zum zweiten Schlag aus, als plötzlich jemand sein Handgelenk packte und ihn festhielt.

»Wag' es nicht, ihn noch ein einziges Mal zu schlagen«, drohte Kratos, dessen Stimme eine gefährlich tiefe Tonlage angenommen hatte.

Midas sah über seine Schulter und grinste süffisant.

»Unser Halbelfensympathiesant«, spöttelte er. »Ist er dir ein so guter Sklave, dass du ihn vor mir verteidigst?«

Kratos wusste nicht, woher er die Kraft nahm, doch er riss Midas – allein mit seinem Handgelenk – auf den Boden.

»Er ist nicht mein Sklave!«, fauchte der Rothaarige.

»Was dann?«, wollte Midas wissen. »Ersetzt er dir die Mädchen?«

Nun ertönte teilweise Gelächter. Inzwischen hatte sich das ganze Kommando um die drei versammelt. Yuan hatte noch versucht, Kratos mit Gestiken davon abzuhalten, sich einzumischen, doch es war sinnlos gewesen.

»Er ist mehr Mann, als du je sein wirst«, ertönte Flavius' Stimme. Restlos jeder wandte sich um, damit sie ihren Ausbilder sahen, der auf die Szenerie zukam.

Kratos schluckte. Er ahnte bereits, dass Flavius, der es hasste, wenn eine Situation wie diese entstand, ihm eine Strafe aufbürden würde. Yuan hielt sich inzwischen nur noch die angeschwollene und blutende Nase.

Der muskulöse Feldwebel stellte sich in die Mitte des Kreises, der sich um Kratos, Yuan und Midas gebildet hatte.

»Das, was wir hier gerade gesehen haben«, begann Flavius. »Nennt sich Courage.«

Mit ernstem Blick sah er in die Gesichter seiner Schützlinge, die aus Respekt und vielleicht auch Angst vor ihm schwiegen und zuhörten.

»Zu einem Schwächeren zu stehen, obwohl er vom Großteil der Gesellschaft zutiefst verachtet wird, ist ein Charakterzug, den man in der heutigen Zeit kaum noch findet. Über der Meinung anderer zu stehen und seinen eigenen Idealen zu folgen braucht Mut, innere Stärke, Selbstvertrauen und Courage.«

Während er sprach half Flavius dem verletzten Yuan auf. Dieser war – wie der Rest der Anwesenden – reichlich über seine Worte verwundert.

»Einem Verletzten die helfende Hand zu reichen, einem weinenden Kind Schutz zu bieten, einem alten oder kranken Menschen in Sicherheit zu bringen, auch, wenn man selbst in Gefahr schwebt und es einem vielleicht das Leben kosten könnte. Der Gewalt auszuweichen, das Töten zu verhindern, wenn es möglich ist. All das sind die Tugenden, die ein wahrer Krieger besitzen muss.«

Gebanntes Schweigen hatte sich über dem Platz ausgebreitet. Kratos sah seinen Ausbilder schon beinahe bewundernd an. Flavius' Worte hatten eine unglaubliche Wahrhaftigkeit in sich. Man musste einfach zuhören.

»Körperkraft allein ist wertlos, wenn sie nicht von einem klugen Geist und einer guten Seele gelenkt wird. Zusammenhalt, Mut, Charakterstärke und Courage sind Dinge, die ich euch nicht lehren kann. Ihr müsst sie ganz von allein entwickeln. Allerdings werde ich euch ein paar Hilfestellungen geben.«

Mit diesen Worten wandte sich Flavius an Midas.

»Bedankt euch also bei eurem Kameraden, da ihr heute Abend mit leeren Mägen schlafen werdet. Hunger schärft nämlich den Geist«, meinte Flavius grinsend. Nun wurde Gemaule laut und Midas sah Flavius hasserfüllt an. Dieser jedoch sagte nichts weiter dazu und blickte Kratos und Yuan an.

»Und ihr Zwei«, meinte er mit einem Schmunzeln, »habt Latrinendienst.«

»Wofür das denn?«, beschwerte sich der Blauhaarige.

»Ich mag keinen Aufruhr in meinem Fort«, meinte Flavius, als er ging.

Kratos und Yuan warfen ihrem Ausbilder böse Blicke hinterher, während der Rest ihres Kommandos Midas mit den Gleichen bedachte.

Soras Geheimnis

Kratos fiel vollkommen erschöpft in seine Pritsche. Ihm taten Muskeln weh, von dessen Existenz er noch nicht einmal gewusst hatte.

»Das liegt daran, dass du sie vorher noch nicht hattest«, scherzte Yuan, als sein adeliger Freund ihm sein Leid klagte. Der Blauhaarige war jedoch ebenso erledigt wie er. Den Zwillingen erging es nicht anders.

»Flavius ist ein Sadist …«, stöhnte Luca.

»Wenn der 'ne Frau hat, tut sie mir verdammt leid«, gab Lucian hinzu.

»Der steht garantiert auf Sadomaso …«, vermutete Yuan.

»Was soll das denn sein?«, fragte Kratos. Seine drei Mitbewohner lachten, wie so oft. Der Rothaarige war auf manchen Gebieten so herrlich naiv, dass sie die Strapazen des Tages oftmals vergaßen. Während Yuan ihn grinsend aufklärte, begutachtete der junge Soldat seine Wunden. Er hatte einige blaue Flecken davongetragen und war der Meinung, sich eine Rippe gequetscht zu haben. Flavius hatte heute mit dem Kampfkunsttraining begonnen; und restlos jeden Soldaten zu Boden geprügelt. Selbst Thalaimo, der eigentlich der Begabteste von ihnen war. Als Yuan mit seiner Erläuterung fertig war, verzog Kratos das Gesicht.

»Woher weißt du solche Sachen eigentlich?«

»Im Gegensatz zu dir halte ich mich nicht daran, was die Großen zu mir sagen«, antwortete der Blauhaarige mit seinem frechsten Grinsen. Kratos wusste ganz genau, dass das eine Anspielung auf seinen Großvater war. Luca und Lucian verstanden den Witz zwar nicht ganz, ahnten aber, was dahintersteckte, weshalb sie ebenfalls zu lachen begannen.

Kratos schnaubte. Auf dem Gebiet verstand er nur sehr wenig Spaß.

»Ich bin bei Mesah«, sagte er nur noch und verschwand aus der Hütte.

Mesah war der Heiler des Kommandos. Ein gutmütiger, alter Halbelf, den Yuan sehr mochte. Er hatte langes, schlohweißes Haar, das er jedoch immer zu einem strengen Zopf gebunden trug und beruhigende, meerblaue Augen, die einem meistens die Angst vor der Behandlung nahmen. Behandelte man ihn gut, war er auch bereit, sein Bestes bei jeder Verletzung zu geben.

Das Zelt von Mesah stand ein wenig abseits der Hütten und da die, die er bewohnte, ganz am Ende des Lagers stand, musste er immer die kleine Wohnsiedlung durchqueren. Der Priestersohn Caleb saß vor seiner Hütte und meditierte, wie so oft. Lux, einer seiner Mitbewohner, schnarchte so laut, dass man es durch's ganze Fort hörte. Das war auch einer der Gründe, warum Caleb sein Mitbewohner war; kein Anderer hielt diese Geräuschkulisse aus.

Nach wenigen weiteren Schritten hatte er das Zelt des Heilers erreicht und ging hinein. Mesah saß in einer Ecke des Zeltes – und meditierte.

»Das scheint hier ja zum Fortsport zu werden …«, meinte der Rothaarige mit einem Schmunzeln. Der Halbelf sah auf.

»Kratos«, sagte seine melodische, tiefe Stimme und er lächelte milde. »Welch angenehmer Besuch zu so später Stunde.«

»Zu dir komme ich immer gern«, antwortete der junge Soldat. »Hat Caleb dich auf das Meditieren gebracht?«

»Nein, ich mache es selbst sehr gern. Es entspannt ungemein und bringt Körper und Seele in Einklang miteinander.«

Kratos setzte sich auf das Feldbett, auf dem die Patienten generell Platz nahmen, egal, welchen Rang sie bekleideten. Es war für einen jungen Soldaten wie Kratos einer war irgendwie ein erhebendes Gefühl, dort zu sitzen, wo auch seine Vorgesetzten saßen. Bei Mesahs Worten schnaubte er belustigt.

»Das könnte mir nützlich sein«, meinte er daraufhin. »Dann würde mir sowas hier vielleicht erspart bleiben.«

Der Rothaarige deutete auf den dunklen Bluterguss auf seiner Rippe, die er, wie den Rest seines Oberkörpers, frei zur Schau trug. Mesah ließ seine geschulten Augen auf dem lilablauen Fleck ruhen und tastete wenig später vorsichtig daran.

»Ich befürchte, die Rippe ist angebrochen«, diagnostizierte der Halbelf. »Aber das haben wir gleich.«

Mesahs Hand wanderte vorsichtig über die Verletzung und er begann, Heilmana auszuströmen. Kratos genoss das warme, fließende Gefühl, dass das Mana dabei bewirkte. Der Schmerz verschwand allmählich und wich nur dieser angenehmen Wärme. Mesah schmunzelte.

»Man sagt, dieses Gefühl soll der Berührung einer Geliebten gleichen«, meinte der Halbelf. Kratos, der apathisch gelächelt hatte, errötete bei diesem Satz so sehr, dass man hätte meinen können, er hätte Fieber. Allmählich fragte er sich, warum dieses Thema so allgegenwärtig war.

»So toll kann das nicht sein«, dachte er, als er aus dem Zelt trat. »Sonst hätte Liabela damals keine Angst gehabt.«

Damit war für Kratos die Angelegenheit erledigt; dachte er zumindest.

Die Gedanken des jungen Mannes kreisten jedoch weiterhin um dieses Thema herum, das ihn jedes Mal so unangenehm berührte. Er war sogar so sehr ins Grübeln vertieft, dass er gar nicht merkte, wie er am Badesee ankam. Erst, als er schon bis zu den Knien im Wasser stand, schreckte er aus seinen Gedanken auf und blickte auf die Wasseroberfläche, die sich langsam beruhigte.

Es waren inzwischen fast drei Monate vergangen, seitdem er und Yuan ins Fort gekommen waren. Ihm war gar nicht bewusst geworden, wie sehr er sich seitdem verändert hatte.

Die nackten Schultern, auf denen ein Handtuch ruhte, waren um einiges breiter geworden, seine Brust und seine Arme hatten beachtlich an Muskelmasse zugelegt. Seine untere Gesichtspartie war markant und männlich geworden, eine kleine Narbe, die er sich beim Rasieren zugezogen hatte, zierte die rechte Seite seines Kinns. Das kurzgeschnittene Haar unterstrich diese männliche Ausstrahlung noch einmal. Durch das harte Training war auch das letzte Gramm Fett an seinem Körper verschwunden, sodass sein Brustbein sich ein wenig hervorhob. Kratos erkannte sich selbst kaum wieder, hatte das Spiegelbild in diesem See doch rein gar nichts mit dem Jungen zu tun, der bis vor Kurzem noch in Meltokio gelebt hatte. Zwar sahen sie sich ähnlich, doch das, was er hier sah, war der Körper eines beinahe ausgewachsenen Mannes.

Er schüttelte leicht den Kopf und ging wieder aus dem Wasser heraus, um sich seiner restlichen Kleidung zu entledigen, die er, samt seinem Handtuch, über einen herunterhängenden Ast warf. Danach gönnte er es sich, in das abendlich kühle Wasser zu gleiten. Er schwamm einige, kräftige Züge und ließ sich dann einfach nur noch treiben.

Es war angenehm still, nur einige Grillen, die sich in die hohen Gefilde verirrt hatten, waren gemeinsam mit Lux's Schnarchen zu hören. Der junge Soldat atmete genüsslich die Abendluft ein und schloss die Augen. Ein wenig Entspannung war in seiner Ausbildung der pure Luxus. Meistens war er zu müde, um sich nach dem Abendessen überhaupt noch einmal aus seiner Pritsche zu bewegen.

»Echt schön heut' Nacht, was?«

Kratos erschrak sich beinahe zu Tode, als er die Stimme seines Freundes erkannte. Der blauhaarige Halbelf saß, wie die Götter ihn geschaffen hatten, auf einem Felsen, der aus dem Wasser ragte.

»Wie zum Donnerwetter kommst du hierher?!«

»Zu Fuß?«, fragte Yuan grinsend.

»Und was machst du hier?«, fragte Kratos zu seinem Freund hinaufschauend.

»Nun, ich denke, das Gleiche wie du«, meinte er. »Baden.«

Der Rothaarige seufzte.

»Hat man hier nicht mal fünf Minuten seine Ruhe?«

Yuan ließ sich vom Felsen zurück ins Wasser gleiten und begann, sich zu waschen. Kratos begab sich von Neuem in Rückenlage und ließ sich wieder treiben. Es tat gut, sich einmal nicht aus reiner Körperkraft zu bewegen. Völlig entspannt hing er seinen Gedanken nach, bis er irgendwann keine mehr hatte. Es war schwarz und still in seinem Kopf. Und das genoss der junge Soldat, der am Tage nur Schreien und Stöhnen zu hören bekam. Als er nach einer Weile die Augen wieder öffnete, begrüßte silbriges Mondlicht seine braunen Augen. Er war so entspannt, dass er nicht bemerkte, wohin er trieb; weshalb es auch kein Wunder war, dass er gegen einen der Felsen stieß, die aus dem Wasser ragten.

»Autsch«, fluchte er leise und rieb sich die Schädeldecke, als er plötzlich etwas hörte. Es waren Schritte von der anderen Seite des Seeufers. Dass er soweit hinausgetrieben war, war ihm gar nicht aufgefallen. Doch was machte einer seiner Kameraden so spät hier draußen? Neugierig geworden verbarg sich der werdende Soldat hinter dem Felsen, an den er gestoßen war.

»Was hast du denn so Interessantes entdeckt?«, fragte Yuan, der hinter ihm aufgetaucht war.

»Shhht!«, machte Kratos nur und der Blauhaarige verstummte. Stattdessen lugte er in die gleiche Richtung wie sein Freund.

Niemand anderes als Sora stand am Seeufer und sah sich mehrere Male nach allen Seiten um. Mit einer beachtlich hellen Stimme flüsterte er erleichtert einige Worte, die Kratos jedoch nicht verstand. Der Kamerad der beiden Freunde begann, sich auszuziehen; woraufhin Kratos, wie auch Yuan beinahe die Augen ausfielen.

Unter Soras Oberteil verbarg sich ein eng geschnürter Verband, den er allmählich löste um seine darunter versteckte Brust zu befreien.

Sora war ein Mädchen.

Während Kratos puterrot zur Seite blickte, gingen Yuan beinahe die Augen über.

»Nun stell' dich nicht so an, du verpasst doch das Beste!«, flüsterte er.

»Sei still' und sieh' gefälligst weg! Sie weiß nicht, dass wir hier sind!«

Yuan aber antwortete etwas verzögert.

»Whoa, ist die …«

Für das darauffolgende Wort kassierte der blauhaarige Halbelf einen heftigen Schlag auf den Hinterkopf. Da Yuan damit nicht gerechnet hatte und durch die Wucht des Schlages mit dem Gesicht unter Wasser kam, machte er dementsprechend viel Lärm – was Sora nicht verborgen blieb. Sie stand inzwischen bauchtief im Wasser und tauchte augenblicklich soweit unter, dass nur noch ihr Hals zu sehen war.

»Wer ist da?!«, rief sie mit verstellter Stimme.

»Das hast du wirklich super hingekriegt, Mann«, maulte Yuan.

»Sei du mal ganz still!«, fauchte Kratos leise zurück.

»Wer von uns beiden hat mir denn die Kelle verpasst?!«

»Wenigstens habe ich im Gegensatz zu dir Anstand!«

»Das ist kein Anstand, dass ich Verklemmtheit!«

»Ihr Zwei?!«

Kratos und Yuan schrien erschreckt auf, als Sora plötzlich vor ihnen schwamm und fielen beide rücklings ins Wasser.

»Wir wollten dir nicht nachspionieren …!«, war der erste Satz, den Kratos zu Stande brachte. Yuan spuckte einen kleinen Fisch aus, der sich in seinen Mund verirrt hatte und hustete kräftig.

»Konnt' ja auch keiner ahnen … dass du 'ne Frau bist!«, keuchte er daraufhin.

Sora gab einen erschreckten Laut von sich.

»Ihr … ihr habt …?«

»Er hat gar nichts gesehen«, winkte Yuan mit einem Fingerzeig auf Kratos ab. Der Gleiche sah Sora nun ebenfalls an.

»Wieso bist du hier?«, wollte er wissen. »Du bist ein Mädchen!«

Yuan schielte.

»Darauf wäre sie ohne deine Hilfe nicht gekommen.«

»Bitte, verratet mich nicht!«, bettelte Sora. »Es wäre mein Tod, wenn Flavius' rausbekommt, was ich bin!«

»Müsste es Mesah nicht wissen?«, fragte Yuan. Das Mädchen schüttelte den Kopf.

»Ich bin nie zu ihm gegangen …«

»Nie?«, wollte Yuan wissen. »Du bist ganz schön zäh, für'n Mädchen.«

Sora lächelte gequält.

»Mir blieb nichts anderes übrig …«

»Aber warum bist du hier?«, mischte Kratos sich wieder ein.

»Kann ich euch das erklären, wenn ich mich wieder angezogen habe?«, bat Sora.

»Sicher«, nickte der Rothaarige und wollte sich umdrehen, als Yuan stehenblieb. Der Adelige seufzte.

»Verzeih', er hat keine Manieren«, meinte er und zerrte den Halbelfen unsanft mit sich.

»Du bist so ein Spielverderber!«, maulte Yuan, als sie am anderen Ufer, wo sie ihre Kleidung hingelegt hatten, ankamen.

»Ich bin anständig«, korrigierte Kratos erneut.

»Nein, verklemmt«, widersprach Yuan ein weiteres Mal.

»Habt ihr mir irgendetwas zu sagen?«

Es war Flavius, der das gesagt hatte. Ohne nachzudenken, salutierten die Freunde vor ihrem Vorgesetzten. Der muskulöse Feldwebel konnte nicht anders, als zu grinsen, wurde jedoch innerhalb von Sekunden wieder ernst.

»Da ich euch nun gefunden habe …«, meinte er noch ruhig, holte dann aber Luft. »Wenn ich euch noch einmal hier draußen erwische, trete ich euch sowas von in eure Hinterteile, dass ich drei Wochen lang nicht mehr sitzen könnt! Nach Sonnenuntergang wird das Fort nicht mehr verlassen! Habt ihr mich verstanden?!«

Kratos und Yuan waren ganz klein geworden, was man durch die kalte Nachtluft auch noch im doppelten Sinne behaupten konnte. Beide aber nickten.

»Jawohl, Sir!«, antworteten die angehenden Soldaten.

»Und jetzt sagt mir, ob ihr wisst, wo Sora ist. Er fehlt auch.«

Kratos schluckte, während Yuan in seine Richtung schielte. Ein einziger Blick reichte den Beiden aus, um sich zu verständigen.

»Nein, Sir«, sagten beide gleichzeitig.

Flavius musterte seine zwei, noch immer unbekleideten Schützlinge einen Augenblick lang. Yuan hielt dem Blick stand und auch Kratos riss sich zusammen, obwohl die stahlgrauen Augen seines Ausbilders ihn zu röntgen schienen; mal ganz abgesehen davon, dass er noch immer nackt war und ihm die Schamesröte im Gesicht stand.

»Wie ihr meint …«, sagte er. »Zieht euch an und dann geht ohne Umwege in eure Hütte zurück.«

Flavius wandte sich zum Gehen um. Kratos und Yuan sanken erleichtert zusammen. Als ihr Ausbilder sich abermals umdrehte, standen sie jedoch sofort wieder stramm.

»Ach ja: Ihr habt Latrinendienst, samt Sora. Sagt es ihm, wenn ihr ihn seht.«

Dann endlich verschwand er. Yuan sank erneut zusammen, Kratos aber sah seinem Vorgesetzten nach.

»Warum zum Teufel hat er uns nicht fertig gemacht, wenn er doch wusste, dass wir lügen …?«, dachte er, während er sich anzog. Wenig später tauchte Sora aus dem dichten Schilfwald auf.

»Danke, dass ihr mich nicht verraten habt …«, sagte sie.

»Gern geschehen«, winkte Yuan ab. »Aber dafür hilfst du uns wirklich bei den Latrinen, klar? Frauen können schließlich besser putzen als wir Männer.«

Yuans Grinsen verflog zwar nicht mit Kratos' Schlag auf seinen Hinterkopf, jedoch mit Soras traurigem Gesicht.

»Hab' ich was Falsches gesagt?«

Das Mädchen lächelte traurig.

»Es ist in Ordnung … so sollte es wohl sein, nicht wahr?«

»Wie meinst du das?«, fragte Kratos.

»Nun, ein Mädchen sollte wohl Zuhause sein und für ihren Mann und ihre Kinder sorgen …«

»Finde ich nicht«, meinte der Rothaarige und schnitt damit Yuan das Wort ab. »Und trotzdem ist es ungewöhnlich, dass eine Frau beim Militär ist.«

Sora schmunzelte.

»Du hast wirklich eine sehr gepflegte Ausdrucksweise«, meinte sie. »Ungewöhnlich ist außerordentlich nett ausgedrückt. Es ist eigentlich …«

»… total verrückt und lebensgefährlich«, vollendete Yuan den Satz.

»Das trifft es«, meinte das Mädchen und setzte sich. Yuan und Kratos taten es ihr gleich.

»Was hat dich hierhergeführt?«, wollte der Adelige nun endlich wissen.

Sora schwieg einen Augenblick. Dann aber blickte sie auf. Ihre sonst so sanften, blauen Augen waren auf einmal so kalt wie Eis.

»Rache«, antwortete sie.

»Ra … che …?«, wiederholte Yuan. »Wofür?«

»Für meine Familie. Mein Name ist Soraya dé Laphino und ich bin die einzig Überlebende meiner Familie. Mein Vater wurde im Krieg durch die Magie eines Halbelfen zum Krüppel und quälte sich jahrelang mit der Verletzung, bis er letztendlich daran starb. Meine Mutter und meine Geschwister wurden durch sylvarantanische Soldaten getötet … eigentlich hätte ich bei meinem Verlobten leben können … doch ich bin nicht das, was man eine gewöhnliche Frau nennt. Er jagte mich fort.«

»Weil du deine Unschuld nicht durch ihn verloren hast, richtig?«, vermutete Yuan.

»Woher weißt du das?«, fragten Kratos und Sora gleichzeitig.

»Eine Frau nennt sich selbst erst eine solche, wenn sie einen Mann hatte«, erklärte der Blauhaarige. »Natürlich gibt es Ausnahmen. Aber die meisten bevorzugen solange noch die Bezeichnung eines Mädchens.«

»Hat Viviane dir das erzählt?«, versuchte Kratos zu witzeln.

»Nein. Das habe ich schon viel früher gelernt. Du musst wissen, dass weibliche Halbelfen genauso als Tiere angesehen werden wie männliche. Nur, dass ihnen teilweise schlimmere Schicksale blühen.«

Der plötzliche Ernst von seinem Freund machte dem Rothaarigen klar, dass ihn Soras Schicksal mitnahm. Auch, wenn er ein Scherzbold war und mit allem und jedem seine Späße trieb, so hatte er ein gutes Herz. Er wusste es nur zu verbergen.

»Vielleicht auch ein Teil seiner Vergangenheit …«, vermutete Kratos.

»Das ist aber nicht der einzige Grund«, meinte Sora. »Selbst, wenn das nicht gewesen wäre, ich bin einfach nicht … normal.«

»Das ist Ansichtssache«, meinte der Adelige. »Warum denkst du das?«

Sora hob ihren Blick.

»Ich bin einfach nicht die typische Frau. Ich widerspreche ständig und hinterfrage alles. Ich kann nicht besonders gut kochen und ich hasse nichts mehr, als im Haus eingesperrt zu sein und es zu putzen. Dafür lese ich gerne Bücher und bin auch gerne unterwegs, um etwas von der Welt zu sehen …«

Das Mädchen seufzte.

»Ich will frei sein …«

»Das wollen wir alle«, schnaubte Yuan mit Sarkasmus in der Stimme. Kratos nickte zustimmend.

»Wir werden dich nicht verraten«, versprach Kratos.

»Und Mesah wird es auch nicht, wenn wir ihm die Situation erklärt haben«, fügte Yuan hinzu. »Du kannst ihm trauen.«

»Aber er ist …«

»… ein Halbelf?«, fragte Yuan. »Das bin ich auch. Und ich werde dich nicht verraten, nur, weil du ein Mensch bist und die Menschen mein Volk unterdrücken.«

»Wenn man sie gut behandelt, sind auch die Halbelfen gut zu dir«, meinte Kratos. »Dass sie sich wehren, wenn man schlecht zu ihnen ist, ist doch nur verständlich, oder?«

»Ja … schon …«

»Aber?«, wollte Yuan wissen. Sora schwieg einen Augenblick, bevor sie antwortete.

»Kein aber. Ich werde euch vertrauen.«

Yuan schmunzelte.

»Gut. Wir werden dich nicht enttäuschen.«
 

Kratos und Yuan hielten ihr Wort und verrieten Soras Geheimnis nicht. Sie halfen ihr sogar, es zu verbergen. Mesah jedoch hatten sie eingeweiht, damit Sora ihre Verletzung behandeln lassen konnte. Kratos bewunderte die junge Frau. Er hatte bisher nur Mädchen kennengelernt, die dazu erzogen worden waren, irgendwann zu heiraten und Kinder zu bekommen. Sora aber war eigenwillig und gebildet. Und außerdem besaß sie ungeheuren Mut.

»Sollte ich mich jemals auf eine Frau einlassen«, dachte er sich einmal, »dann sollte sie genau so sein. Sie sollte ihren eigenen Willen haben und nicht so schlicht im Denken sein wie diese adeligen Gänse in Meltokio.«

Obwohl Sora diesen Anforderungen gerecht wurde, konnte sie Kratos' junges Herz nicht berühren. Er wusste selbst nicht, warum es so war, doch mehr als Freundschaft konnte und wollte er nicht für sie empfinden. Vielleicht war es auch die Tatsache, dass solche Gefühle beide in große Schwierigkeiten gebracht hätte, die ihn zügelte. Aber er mochte sie und das war immerhin ein Fortschritt, hatte er bisher doch rein gar nichts von Mädchen gehalten.

»Tut mir echt leid, dass ihr meinetwegen diese Drecksarbeit machen müsst …«, meinte Sora, während sie mit Kratos und Yuan die Latrinen säuberte. Die beiden jungen Männer sahen sich nur kurz schmunzelnd an.

»Wir sind das schon gewohnt«, meinte Yuan. »Flavius verdonnert uns ständig dazu.«

»Meistens weil du deine Klappe nicht halten kannst«, gab Kratos hinzu.

»Du redest doch inzwischen selbst, wie dir der Schnabel gewachsen ist.«

»Das ist mir auch aufgefallen«, behauptete Sora. »Du hast dich sehr verändert, seitdem du hier bist.«

Der Rothaarige mied die Blicke seiner Freunde.

»Na und? Bei dem schlechten Umgang neben mir …«

Während Yuan gespielt schmollend dreinblickte, kicherte Sora.

»Ich glaube eher, dass du dich hier ganz wohlfühlst.«

Während Kratos sich fragte, woher Sora das wusste, sah Yuan sie verwirrt an.

»Wie kommst du denn da drauf?«

»Ist dir nicht aufgefallen, dass er viel öfter lächelt? Als ihr angekommen seid, sah er immer aus wie sieben Tage Regenwetter. Und außerdem gefällt es ihm, seinen Muskeln beim Wachsen zuzusehen.«

Yuan begann, zu lachen und Kratos errötete. Der Blauhaarige gab seinem Freund den Aborteimer, damit er ihn draußen ausleeren konnte. An den Gestank gewöhnte man sich hier schnell.

»Dir fällt ganz schön viel auf«, meinte der Adelige.

»Ich bin ja auch ein Mädchen«, antwortete sie grinsend.

Kameradschaft

Erstmal: Vielen lieben Dank für eure Treue! Ich freue mich jedes Mal riesig, wenn ich eure Kommis lese~ Die motivieren Nici und mich nämlich zum Weiterschreiben~

Das hier ist das bisher längste Kapitel. Ich verspreche, dass das nächste kürzer wird, aber das Ende von diesem MUSSTE ich einfach noch reinbringen >.< Ich find's nämlich voll süß.

Viel Spaß beim Lesen, ich freue mich auf eure Kommis!

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Wenig später ertönte die Glocke, die zum Nachmittagsapell aufrief. Kratos und Yuan schafften es gerade noch rechtzeitig, ihren Platz einzunehmen. Beiden tropfte noch das Wasser ihrer Dusche vom Gesicht.

Flavius hatte seine übliche Position vor seinen Schützlingen bezogen.

»Heute fällt das Kampfkunsttraining aus«, verkündete er.

Yuan gönnte es sich, erleichtert auszuatmen. Kratos schmunzelte leicht, da er den Grund kannte. Der Blauhaarige war seitdem Kampfkunsttraining zunehmend in seinen Leistungen heruntergesunken. Warum das so war, gab Yuan vor, nicht zu wissen. Jedoch wurde er tagtäglich von Flavius zu Boden geprügelt und kam grün und blau zu Mesah ins Zelt.

»Dafür aber«, sprach Flavius weiter. »Werden wir uns noch einmal an den Bergpfad wagen.«

Man konnte hören, wie die Kadetten alle miteinander hart schluckten. Kratos gehörte dazu. Der letzte Gewaltmarsch war noch vor der Hälfte des Weges geendet. Keiner der Anwesenden wollte sich das noch einmal antun. Doch sie wussten, dass Flavius nicht mit sich reden ließ.

»Wer es bis zum Gipfel schafft, bekommt von mir ab jetzt einen Tag im Monat Freigang. An diesem Tag dürft ihr runter nach Fooji und euer Geld ausgeben, dass ihr während eurer Zeit hier verdient habt.«

Allgemeines Raunen wurde laut. Anscheinend hatte niemand gewusst, dass sie durch ihre hiesigen Leistungen Geld verdienten. Doch für die Meisten war eher die Aussicht, nach Fooji, einer kleinen Stadt um Fuß des Fooji-Gebirges, zu kommen wesentlich reizvoller. Die Stadt war nämlich für ihr anrüchiges Viertel bekannt.

Flavius deutete wie einst an ihrem ersten Tag auf die Gewichtstäbe, die sie sich wieder auf die Schultern legen sollten und nahm sich selbst einen davon.

»Wie ihr nach oben kommt ist mir egal, solange ihr die Gewichte nicht abnehmt und keine Hilfsmittel benutzt. Und jetzt Abmarsch!«

Kratos und Yuan seufzten schwer und nahmen sich, wie ihre Kameraden auch, die Gewichte, um sie sich auf die Schulter zu legen. Kratos sah den Berg hinauf. Der Pfad, der sich durch das bräunliche Gebirge schlang war schmal und brüchig. Außerdem wurde die Luft in Richtung Gipfel zunehmend dünner.

Da es jedoch keinen Ausweg gab, sich darum zu drücken, marschierten die Soldaten einfach los. Kratos, Yuan, Sora, die Zwillinge und Lounel hatten beinahe alle das gleiche Tempo, weshalb sie sich während des Marsches leise unterhielten. Flavius hörte es nämlich nicht gern, wenn man sich während des Trainings unterhielt.

»Nach Fooji, Leute«, schwärmte Luca. »Da können wir uns mal richtig volllaufen lassen!«

»Ich bezweifle, dass Flavius uns das erlaubt«, gab Lucian zu bedenken. »Es ist Gesetz, dass ein Soldat den anderen verpfeifen muss, wenn er ihn trinken sieht. Ansonsten fliegen beide, wenn das rauskommt.«

»Da gibt es Mittel und Wege«, meinte Yuan.

»Ich freue mich auf was Anderes«, grinste Lounel. »Ihr wisst schon, dass das horizontale Gewerbe da unten sehr verbreitet ist, oder?«

»Genau so verbreitet wie die Geschlechtskrankheiten«, meinte Kratos, der nicht vorhatte, sich in dieses Viertel von Fooji vorzuwagen.

»Stimmt. Wenn Flavius rauskriegt, dass wir Matrosen am Mast haben – und das kriegt er raus. Ihr glaubt gar nicht, wie das juckt – schmeißt der uns achtkantig raus.«

»Sprichst du aus Erfahrung?«, spöttelte Luca.

»Leider«, stöhnte Yuan. »Aber nicht, weil ich mich nicht zügeln konnte. Das hatte andere Gründe.«

»DAS sagen sie alle«, meinte Lucian.

»Ey, was kann denn ich dafür, wenn irgendein Idiot meine Seife benutzt?«, beschwerte sich der Blauhaarige.

Nun wurden die Witze richtig schmutzig. Kratos seufzte und Sora ging schweigend neben ihm her.

Nach einer Weile jedoch verstummten ihre Kameraden, da er Weg allmählich beschwerlich wurde. Der Pfad wurde immer steiler und man musste höllisch aufpassen, wohin man trat. Kratos bemerkte nun, wie gut im das Training der letzten Monate getan hatte. Sie waren ungefähr auf gleicher Höhe wie an ihrem ersten Tag. Er schwitzte zwar und kam auch allmählich außer Atem, doch wenn er sich zusammenriss, konnte er noch ohne Probleme weitergehen.

Der Holzstab, an dem die Gewichte befestigt waren, drückte sich jedoch unangenehm in seine Schultern und auch seine Füße begannen allmählich wieder zu schmerzen. Die dünner werdende Luft tat ihr übriges dazu. Sora war schon ein ganzes Stück zurückgefallen, Lounel ging inzwischen vor ihm, die Zwillinge und Yuan waren noch immer auf seiner Höhe, wobei Yuan jedoch allmählich den Anschluss verlor. Kratos wagte es, einen Blick nach oben zu werfen. Die Wolken, die den Gipfel verdeckten, schienen noch genauso weit weg zu sein wie am Fuß des Berges. Stöhnend setzte er seinen Weg fort.

Plötzlich jedoch drang ein Unheil verkündendes Geräusch an seine Ohren. Es war Stein, der wegbrach und der Schrei einer seiner Kameraden. Erschrocken wandte er sich um.

Niemand anderes als Noel, der wie immer das Schlusslicht gebildet hatte, hatte den Halt verloren und klammerte sich nun verzweifelt an einem Feldvorsprung fest. Geistesgegenwärtig, ohne auch nur eine Sekunde nachzudenken, ließ Kratos seine Gewichte fallen und eilte seinem Kameraden zu Hilfe. Sora folgte ihm. Yuan und die Anderen hingegen sahen ihnen schon beinahe verwirrt nach.

»Halt' dich fest!«, rief Sora.

»Ich glaube nicht, dass er loslassen wollte«, meinte der Rothaarige und ließ sich auf die Seite fallen, um seinen Arm nach Noel auszustrecken. Der Übergewichtige versuchte, nach der rettenden Hand zu greifen, doch er kam nicht ran.

»Bitte, hilf' mir …!«, bettelte er.

»Ich bin dabei!«, beschwerte sich Kratos. »Sora, halt mich fest!«

Während Flavius das Szenario von oben gespannt, jedoch bereit, einzugreifen, verfolgte, mischte Yuan sich ein.

»Lass den Fettsack doch hängen! Der landet weich!«

Kratos aber versuchte sich vorsichtig zu Noel vorzuarbeiten, während Sora ihn an den Füßen festhielt.

»So, wie er fett ist, bist du halbblütig!«, fauchte der Rothaarige. »Wenn du das nächste Mal Hilfe brauchst, werd' ich auch sagen, dass du es nicht wert bist!«

Man sah Yuan an, dass ihm das einen Gongschlag versetzte. Nun ließ auch er seine Gewichte fallen und eilte den dreien zu Hilfe. Wenig später kamen auch die Zwillinge und Lounel dazu. Während Letzterer sich an Sora hängte, packten die Zwillinge Lounels Beine. So war es Kratos endlich möglich, den verzweifelten Noel zu erreichen.

»Nimm' meine Hand!«, forderte der Rothaarige. Noel packte die Gleiche mit beachtlicher Kraft. Der Adelige musste sich auf die Zunge beißen, um nicht aufzuschreien.

»Zieht!«, rief er dann und seine Freunde befolgten seinen Befehl. Langsam aber sicher zogen sie Noel wieder nach oben – bis seine verschwitzte Hand abrutschte.

Ein panischer Schrei befreite sich aus Noels Kehle. Kratos reagierte, bevor er nachdenken konnte und warf sich dem Übergewichtigen hinterher, wobei in reißender Schmerz seine Brust durchzog. Durch den Schwung und das Gewicht, das er mit Noel wieder auffing, riss die Anderen mit in die Tiefe. Allein Luca klammerte sich jetzt noch einarmig an einem spitzen Felsen fest. Kratos war für einen Moment vor Schmerzen blind gewesen. Jetzt sah er wieder in Noels Gesicht und bemerkte, dass Blut auf seinen Kameraden herunter tropfte. Er spürte an seiner Brust, dass es sein eigenes war.

»Lux, Thalaimo, helft Luca! Caleb, Fyn, stützt die beiden!«

Es war Flavius, der das gerufen hatte und nun endlich aktiv wurde. Mit seinen Anweisungen schafften sie es endlich, alle wieder sicher auf den Pfad zu ziehen. Keuchend und leichenblass sanken diejenigen, die an der Felswand gehangen hatten, zusammen. Kratos hielt sich die blutende Brust. Es war nicht so schlimm, wie es aussah. Er hatte sich eine Schürfwunde zugezogen, die über seine linke Brusthälfte reichte. Geblutet hatte es nur so stark, weil er kopfüber gehangen hatte. Jedoch waren die Schmerzen stark genug, um ihm die Tränen in die Augen zu treiben, die er sich aber wegwischte. Sein anschwellender Fußknöchel war dabei jedoch keine große Hilfe.

»I-ihr …«, stotterte Noel. »Ihr habt … mir das Leben … gerettet …«

Yuan, der sich erschöpft an den Fels hinter sich gelehnt hatte, schnaubte belustigt.

»Blieb uns denn … nach Kratos' Moralpredigt … was anderes übrig?«, keuchte er.

»Aber er … hatte Recht …«, gestand Luca außer Atem.

Noel sah Kratos an, der sich die verletzte Brust hielt.

»Du bist verletzt …«

»Das merke ich …«, antwortete er mit leicht sarkastischer Stimme. »Bist du … in Ordnung …?«

»Ja … ich denke schon …«, meinte Noel. »Ich … es … ich meine …«

»Du brauchst … dich nicht bedanken, wenn's dir … so schwer fällt …«, sagte Kratos und winkte ab, da Flavius gerade zu ihm kam. Unsanft, aber darauf bedacht, die Wunde nicht zu reizen, besah sich der Feldwebel der Verletzung. Kratos verzog das Gesicht, als Flavius in die Wunde fasste, um zu fühlen, wie tief sie war.

»Du musst zu Mesah«, stellte er fest. »Die Wunde ist zu tief, als dass du weitergehen könntest.«

»Es geht … schon …«, schnaufte der Rothaarige.

»Nein, wir gehen zurück zum Fort. Keine Widerrede.«

Damit war für Flavius das Thema beendet. Er gönnte seinen Schützlingen eine Verschnaufpause, bevor sie sich zum zweiten Mal erfolglos auf den Rückweg machten. Noel hatte kein Wort mehr gesagt, doch er war gleich der Erste gewesen, der Kratos an die Seite geeilt war, um ihn zu stützen. Das für den Rothaarigen Dank genug.
 

»Nein!«

Gemaule wurde laut. Flavius stand vor seinem – inzwischen wieder geheilten – Kommando, die Arme vor der muskulösen Brust verschränkt.

»Das ist unfair!«, maulte Luca. »Wir hätten es locker geschafft, wenn Noel nicht abgestürzt wäre!«

Flavius nahm sich Luca zur Brust, in dem er ihn am Kragen packte. Wohlbemerkt einhändig.

»Wag' es ja nicht noch einmal, das Wort gegen mich zu erheben …«

Damit ließ er seinen Schützling wieder los und wandte das Wort wieder an alle.

»Ihr habt den Gipfel nicht erreicht und damit ist der Freigang nach Fooji für jeden von euch gestrichen.«

»Sir!«, sagte Caleb und bat damit um das Wort. Flavius gab es ihm schielend mit einem Händewink.

»Haben wir nicht bewiesen, zu welch starkem Team wir inzwischen zusammengewachsen sind? Sollte das nicht honoriert werden?«

»Was soll ich honorieren? Dass ihr hier steht wie ein Haufen Kleinkinder, die wie im Kindergarten um einen Ausflug in den Zoo betteln?«

Schweigen.

»Ihr könnt es vergessen«, wiederholte sich der Feldwebel. »Es ist mir egal, unter welchen Umständen ihr es nicht geschafft habt, fest steht, dass ihr es nicht geschafft habt.«

Da Flavius nicht alle auf einmal grob anfassen konnte, begannen jetzt alle zu maulen, bis auf drei: Kratos, Sora und Yuan.

Während Kratos den Aufstand nachvollziehen, aber nicht verinnerlichen konnte, hielt Sora generell lieber den Mund. Dass Yuan nichts dazu sagte, wunderte seinen adeligen Freund dagegen eher. Doch er stand einfach nur da, blickte in den bewölkten Himmel und drehte Däumchen.

»Das ist unfair!«, rief Thalaimo.

»Und nicht mein Problem«, erwiderte Flavius.

»Das ist doch nur Noels Schuld! Warum werden wir für seine Fresssucht bestraft?!«, fauchte Lux.

»Damit ihr nicht den gleiche Fehler macht wie er«, antwortete der Feldwebel.

»Und was ist mit unserem Geld? Was haben wir davon, wenn wir es nicht ausgeben können?«

»In dem halben Jahr, indem ihr hier seid, habt ihr eh nicht viel verdient«, behauptete ihr Ausbilder.

»Sie gehen doch auch runter nach Fooji!«, mischte sich nun Luca wieder ein.

»Ich bin auch Feldwebel und kein blutiger Anfänger, so wie ihr.«

Lucian wollte gerade noch etwas sagen, als Flavius ihm den Mund verbot.

»Ich sage es jetzt noch ein letztes Mal …«

Just in diesem Moment schlug ein Blitz neben dem Feldwebel ein. Restlos jeder war verstummt und teilweise erschrocken. Kratos war heftig zusammengezuckt und bemerkte erst jetzt, dass Sora sich an seinen Arm geklammert hatte. Er räusperte sich leise, woraufhin sie losließ.

Eine dünne, schwarze Rauchschwade stiegt neben Flavius, der mit den Reflexen eines Ninjas beiseite gesprungen war und sich in Kampfhaltung begeben hatte, aus dem Boden auf. Der Ausbilder blickte schweigend auf den kleinen Krater, der sich durch den Blitz gebildet hatte.

»… wer morgen früh zum Apell nicht wieder hier ist, braucht gar nicht erst wiederzukommen.«

Nun wurde Jubel laut. Das ganze Kommando freute sich über die plötzliche "Göttliche Fügung" und stimmte den Lobgesang des Elementargeistes Volt an. Nur Yuan ging selbstzufrieden vor sich her schmunzelnd neben seinen Freunden her. Kratos begriff, dass er den Blitz beschworen hatte und schüttelte resignierend den Kopf. Als Flavius verschwunden war, entglitt Yuan die selbstzufriedene Coolness jedoch wieder. Es war einfach nicht sein Stil.

Grinsend sah er gespielt beiläufig auf seine Fingernägel.

»So unpraktisch, wie ihr Menschen immer sagt, sind wir Halbelfen gar nicht, oder?«

Lucian blickte zu ihm.

»Warst du das etwa?!«

»Ich?«, fragte Yuan, wobei sich seine Stimme vor Ironie bald überschlug. »Ich doch nicht! Wie kommst du bloß darauf?«

Luca nahm nun auch am Gespräch Teil; oder verbreitete es viel mehr.

»Ey, Leute, der Blaue war's!«

Alle sahen den blauhaarigen, inzwischen ziemlich drahtigen Halbelfen verwundert an. Als Lucian erklärt hatte, was sein Bruder damit gemeint hatte, war Yuan so schnell, wie sein Blitz es gewesen war, von seinen Kameraden umringt, die ihn alle auf einmal ziemlich cool fanden. Plötzlich aber unterbrach ein lauter Pfiff die allgemeine Freude. Kratos lief ein eiskalter Schauer über den Rücken. Hatte Flavius etwa mitgehört, dass Yuan den Tod neben seine Füße hatte einschlagen lassen?

»Aurion, ich will mit dir reden!«, rief er. »Beweg' dich! Aber im Eilschritt!«

Damit verschwand Flavius wieder in seinem Zelt, aus dem er für diese Ansage getreten war. Verwundert sahen die Anderen zu Kratos.

»Was hast du bitte angestellt, dass er mit dir reden will?«, fragte Luca.

»Ich … weiß es nicht«, meinte der Rothaarige. »Aber das wird sich wohl gleich ändern.«

Mit einem flauen Gefühl in der Magengegend begab sich Kratos im Eilschritt zu Flavius' Zelt und trat hinein. Der Sitte nach salutierte er vor seinem Vorgesetzten.

»Sie wollten mich sprechen, Sir?«, fragte er.

»Ja, das wollte ich. Setz' dich.«

Kratos folgte der Bitte und nahm auf dem Stuhl Platz, den sein Ausbilder ihm gezeigt hatte. Flavius saß hinter einem Tisch, der ihm wohl als Arbeitsplatz diente. Darauf lag eine Weltkarte ausgebreitet und verschiedenfarbige Figuren standen darauf. Ein Blick von Kratos genügte, um festzustellen, dass sie roten Figuren Tethe'alla angehörten. Die Blauen hingegen Sylvarant. Was ihm seltsam erschien, war, dass die blauen Figuren auf der Karte Überhand zu nehmen schienen. Und das eine Gruppierung von roten und blauen Figuren zwischen Fooji und Meltokio aufgestellt worden war. Tobte etwa so unmittelbar in ihrer Nähe eine Schlacht …?

»Hier spielt die Musik«, mahnte Flavius, als er bemerkte, dass der Blick seines Schützlings nicht auf ihm ruhte. Kratos blickte auf.

»Verzeiht, Sir.«

»Dir sei verziehen …«, sagte Flavius. Er hielt etwas in der Hand, das wie ein Umschlag aussah. Eben diesen legte er nun zusammen mit einem kleinen, klimpernden Beutel auf die Karte und schob beides quer über Sylvarant hinweg auf Kratos' Seite des Tisches.

»Das ist dein Verdienst und ein Brief von deinem Vater«, erklärte Flavius.

Die Tatsache, dass sein Vater ihm einen Brief geschrieben hatte, verwunderte Kratos ziemlich. Doch die andere, nämlich, dass Flavius ihm seinen Verdienst in einem persönlichen Gespräch übergab, verwunderte ihn noch viel mehr.

»Danke …«, sagte er und nahm beides entgegen. »Hat … es einen besonderen Grund, warum Sie mir meinen Lohn persönlich geben?«

Flavius schmunzelte.

»Du bist ein kluger Kopf. Das ist mir schon früh aufgefallen«, meinte er. »Ja, es hat einen besonderen Grund.«

Der Feldwebel sah Kratos aufmerksam an.

»Ich kann dich nicht mit den Anderen nach Fooji schicken.«

Erebos' Sohn sah seinen Vorgesetzten mehr als nur verwirrt an. Er blieb jedoch ruhig.

»Warum, wenn ich fragen darf, Sir?«

»Ich habe meine Befehle vom König persönlich erhalten«, begann Flavius zu erklären und Kratos dämmerte, um was es ging. »Das bedeutet nicht, dass ich seine Meinung teile. Ich wurde damit beauftragt, dich unter meine Fittiche zu nehmen und dich zu beobachten. Und das kann ich nicht, wenn du dich mit diesen Chaoten da draußen in Fooji herumtreibst.«

»Ich habe nicht vor, mich herumzutreiben«, sagte Kratos bestimmt. »Ich möchte mich dort lediglich umsehen.«

Flavius schnaubte leicht belustigt.

»Du willst mir erzählen, dass du nicht vorhast, zu versuchen, dich heimlich zu betrinken und vielleicht die ein oder andere Frau von diesem Geld zu haben?«, fragte Flavius amüsiert.

»Ja, weil es der Wahrheit entspricht«, antwortete der Rothaarige trocken wie Wüstensand. Flavius amüsierter Blick verlosch.

»Du meinst das ernst«, stellte er fest.

»Ja, das tue ich. Ich habe bisher noch nie Alkohol getrunken, bis auf leichten Wein, der mir in geringen Mengen das geistige Arbeiten erleichtert. Und außerdem hege ich eine Abneigung gegen … bezahlte, körperliche Dienste, zumal ich weiß, dass Fooji nicht gerade für seine Seriosität in diesem Milieu bekannt ist.«

Flavius hob seine Augenbrauen. Kratos hätte schwören können, eine Art Mitleid in den grauen Augen zu sehen. Doch er redete sich ein, sich das einzubilden.

»Wie auch immer«, meinte Flavius dann. »Der König berichtete mir, dass du Dinge über die königliche Familie weißt, die nicht an die Öffentlichkeit gelangen sollen. Und da Alkohol und schöne Frauen bekanntlich auch den widerstandsfähigsten Männern die Zunge lockern, sehe ich mich gezwungen, dir den Freigang nach Fooji zu verbieten.«

Kratos schwieg. Er hatte sich gefreut, zusammen mit Yuan und Sora ein wenig Spaß zu haben. Aber das war nun einmal die Bürde, die sein Vater ihm mit der Zwangsverlobung auferlegt hatte …

Er blickte auf den Brief hinab, den er in den Händen hielt. In der feinen, säuberlichen Handschrift seines Vaters stand sein Name darauf.

Kratos Erebos von Aurion.

»Wollte ich nicht anders sein als mein Vater?«, dachte er, wobei ihm eine Idee kam.

»Werden Sie gehen, Feldwebel?«, fragte er.

»Nein«, antwortete Flavius. »Ich habe zu arbeiten. Du hast diesen Abend frei und darfst dich auch frei bewegen, sofern du den Bergpfad nach Fooji nicht nimmst.«

Kratos stand auf.

»Zu Befehl, Sir«, sagte er und salutierte. »Bitte, abtreten zu dürfen, Sir.«

»Erlaubnis erteilt«, meinte sein Ausbilder und schickte ihn mit einem Wink seiner Hände hinaus.

»Ach, noch etwas.«

Der Rothaarige drehte sich um.

»Ja, Sir?«

»Ich werde heute Abend sehr beschäftigt sein«, sagte Flavius und seine Mundwinkel zuckten nach oben. »Natürlich hat für mich ein Befehl des Königs oberste Priorität, doch auch ich habe Kameraden da draußen, die sich auf mich verlassen …«

Der junge Soldat begriff, worauf Flavius hinauswollte. Einmal mehr wurde ihm klar, dass der Feldwebel nicht viel vom Königshaus und seinen Intrigen hielt. Warum das so war, wusste er jedoch nicht. Fest stand aber, dass sein Vorgesetzter ihm auf eine Weise klar gemacht hatte, dass er gehen konnte, wenn er sich geschickt anstellte, die Flavius weder seinen Job noch seinen Kopf kosten würde. Und Kratos verstand, dass er genauso wenig zu befürchten hatte, solange er den Mund hielt. Ein stilles Einverständnis, das keine Worte brauchte.
 

Flavius war mir wirklich mehr Vater gewesen, als mein leiblicher es je gewesen war. Es tat gut, sich jemanden wie ihn zum Vorbild nehmen zu können und sich nach ihm zu richten. Ich sollte ja nicht ahnen, dass Flavius und mich später noch eine enge Freundschaft verbinden würde …

Den Brief meines Vaters beachtete ich nicht. Dafür freute ich mich viel zu sehr.

Ich berichtete meinen Kameraden von dem Verbot und auch von meinem Vorhaben, es nicht einzuhalten. Dass Flavius es mir indirekt erlaubt hatte, verschwieg ich aus Sicherheitsgründen. Alle Anwesenden waren ziemlich verwundert darüber gewesen, dass ausgerechnet ich, der sonst so anständige und geradlinige Adelige, eine Regel brechen wollte. Doch sie waren selbstredend einverstanden und halfen mir.

Die Tatsache, dass Flavius sich, meinen Ausflug nach Fooji betreffend einfach dumm stellen würde, wollte ich ihm mit Vertrauenswürdigkeit danken. Ich hatte fest vor, zwar mit den anderen nach Fooji zu gehen, Alkohol jedoch nicht anzurühren, damit ich Herr meiner Sinne und vor allem meiner Zunge blieb.

Yuan jedoch hatte die Eigenschaft, mir solch edle Gesinnungen, die mir den Spaß verdarben, ziemlich schnell wieder auszutreiben.

Aber das zeichnet einen wahren Freund wohl aus …
 

Fooji war eine typische Soldatenstadt. Kneipen, Bars und eben solche, die besondere Nebenangebote hatten, reihten sich hier aneinander. Man brauchte die Stadt nur betreten, um sich zu fühlen, als hätte man ein Verbrechen oder – je nach Glaubensrichtung – eine Sünde begangen. Da es zudem Abend war, strahlte die Stadt ihre ganze, zwielichtige Schönheit aus; von den Straßenschönheiten mal ganz abgesehen.

Die durchtrainierten und ordentlichen Soldaten von Flavius kamen sich beinahe etwas verloren vor. Sie waren in dieser Stadt wohl das Einzige, was sauber war.

»Wenn ich mir hier umsehe, fühle ich mich wieder wie eine Jungfrau …«, meinte Luca.

»Was heißt hier "wieder"?«, fragte Lucian und grinste seinen jüngeren Bruder an. Der Gleiche war jedoch schlagfertiger.

»Ich weiß, ich sehe dir ähnlich, aber hör' bitte auf, mich wie dein Spiegelbild anzusprechen.«

Gelächter wurde laut.

»Flavius hat gesagt, wir sollen uns anständig benehmen«, meinte Thalaimo. »Also wollen wir ihm mal alle Ehre machen, was?«

»Aber immer doch«, grinste Lounel. »Wo gibt's hier den besten Wodka?«

»Fragen wir doch einfach«, mischte Yuan sich ein.

»Wen denn?«, fragte Lux. »Die Schnitte dahinten vielleicht?«

Der junge Soldat zeigte auf eine Kurtisane, die sich nahe eines eindeutig benannten Gebäudes ein wenig in der kühlen Abendluft räkelte, um männliche Kundschaft anzulocken.

»Warum nicht? Hat einer 'n Galdstück?«, grinste Yuan in die Runde.

»Nix da! Zahl' schön allein!«, geizte Luca.

»Nicht für mich!«, tat der Blauhaarige pikiert und legte einen Arm um Kratos, wobei er ihm auf die Schulter klopfte. »Für unsere Jungfrau, hier. Der muss doch mal auf Tuchfühlung gehen, damit er weiß, was ihm entgeht!«

Kratos duckte sich unter Yuans Arm heraus.

»Vergiss' es«, verlangte er. »Mach du's. Du hast ja schon reichlich Erfahrung mit sowas«, versuchte er zu witzeln.

»Eben!«, stritt Yuan ab. »Das wäre doch unfair von mir, dir den ganzen Spaß vorwegzunehmen. Nach dir«, sagte er und verbeugte sich, wobei er in die Richtung des Freudenmädchens zeigte.

»Ich lasse dir aber gern den Vortritt«, winkte Kratos ab.

»Wenn ihr so weiter macht, sind wir in drei Stunden immer noch nüchtern«, mischte Lounel sich sein, zückte seinen Galdbeutel, nahm sich ein Stück heraus und warf es Thalaimo zu. »Pass' mal kurz drauf auf. Nicht, dass ich schneller arm, als betrunken bin.«

Kratos sah demonstrativ weg, als sein Kamerad sich der Dirne näherte und sie mit recht eigenwilligen Methoden fragte, wo man sich Alkohol besorgen konnte, der nicht mit irgendetwas gestreckt oder verseucht war. Fooji war nämlich auch für seine Schwarzbrennerei bekannt. Dabei fiel ihm auf, dass Sora Abstand von Ihnen hielt. Er ging zu ihr.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte er besorgt. Sie nickte.

»Ja, aber du kannst dir vorstellen, dass ich das nicht gerade erpicht darauf bin, zuzusehen, wie die hier … du weißt, was ich meine.«

Der Rothaarige schmunzelte.

»Ja, kann ich verstehen. Bleib' einfach in meiner Nähe, in Ordnung? Ich habe nicht vor, mich sinnlos zu betrinken.«

Sora lächelte ihren Kameraden an, wie nur ein dankbares Mädchen es konnte. Dem jungen Soldaten stieg die Schamesröte ins Gesicht und er sah dann doch lieber, ob Lounel wieder da war. Er war es.

»So, Leute, hier gibt's 'ne nette kleine Piesel um die Ecke, da können wir rein«, verkündete er.

»Pass du mal auf, dass du nicht woanders reinkommst«, scherzte Thalaimo, da das Freudenmädchen ihm ein kleines Andenken auf der Wange hinterlassen hatte. Lounel wischte sich den Lippenstift grinsend ab und nahm seinen Galdbeutel wieder entgegen.
 

Wenig später hatten es sich die jungen Soldaten in der Bar gemütlich gemacht, die ihnen das Freudenmädchen als "für den Anfang gut geeignet" genannt hatte. Die Tatsache, dass man die Gläser hier vom Tisch abbrechen konnte, hatte sie jedoch verschwiegen.

Kratos und Sora jedoch waren die Einzigen, die sich unwohl fühlten. Für den Rest der Gruppe, zu der sogar Noel, Midas und Caleb zählten, schien es genau das Richtige zu sein. Sie warteten gerade alle auf ihre Bestellung, weshalb sie sich unterhielten.

»Tut mal gut, nicht ständig stramm stehen zu müssen«, sagte Luca.

»Och, ich steh' gerne stramm«, meinte Thalaimo. »Nur woanders.«

Gelächter brach aus. Kratos schielte und beschloss, zu versuchen, ein anderes Thema anzuschneiden.

»Was habt ihr eigentlich nach der Ausbildung vor?«, fragte er deswegen in die Runde. Kurzes Schweigen trat ein, doch es hatte nichts Negatives an sich. Die meisten überlegten.

»Mein Vater ist Tischler«, sagte Thalaimo. »Ich habe bei ihm eine Lehre angefangen, als ich einberufen wurde. Die wollte ich danach eigentlich fertigmachen.«

»Geht mir ähnlich«, warf Lounel ein. »Nur, dass ich es bei meinem Onkel mache und der wiederum Drachenzüchter ist.«

»Was ganz edles«, spottete Luca. »Wär gar nix für mich. Ich brauche meine Körperteile noch.«

»Spuck' nicht so große Töne«, meinte Lucian. »Du hast dir ja noch keine Gedanken darüber gemacht.«

»Fass' dich mal an die eigene Nase«, gab sein Bruder zurück.

»Ihr solltet zum Zirkus gehen«, warf Yuan ein und meinte es anscheinend ernst. »Mit eurer Kabbelei habt ihr Clowntalente.«

Lucian lachte.

»Kleine Kinder konnte ich schon immer gut zum Weinen bringen.«

»Vor allem mich«, behauptete sein Zwilling.

»Und was ist mit dir?«, fragte Lounel und sah Kratos an.

»Ich bin mir auch noch nicht ganz sicher«, antwortete der Rothaarige. »Aber ich habe daran gedacht, Söldner zu werden.«

»Sauerei!«, schimpfte Yuan. »Davon hast du mir gar nichts erzählt!«

»Bist du mein Kindermädchen?«, fragte der Adelige. Ein Teil der Gruppe prustete.

»Du hast mir ja auch nicht erzählt, was du hiernach planst«, fuhrt Kratos fort.

»Nicht wieder in Ketten gelegt werden«, antwortete der Halbelf. Das anfängliche Gelächter verstummte, als die Anwesenden begriffen, dass er es ernst meinte.

»Du könntest bei meinem Onkel anfangen«, schlug Lounel vor. »Wenn ich ein gutes Wort bei ihm einlege, wird er dich bestimmt einstellen.«

»Das Gleiche gilt für meinen alten Herren«, pflichtete Thalaimo seinem Freund bei.

»Bei mir könntest du auch anfangen«, ergriff Noel nun das Wort. »Mein Koch sucht schon lange einen Lehrling.«

»Oder, wenn du gläubig bist, kannst du es auch in der Kirche zu etwas bringen«, warf Caleb ein. »Mein Vater ist der Hohepriester zu Flanoir und hält nichts von der Diskriminierung der Halbelfen. Er würde dich mit offenen Armen empfangen.«

Kratos wurde ganz warm um's Herz, als er den plötzlichen Einsatz seiner Kameraden für Yuan zu Ohren bekam. Seinem Freund hingegen kam gerade etwas ganz anderes: Die Tränen.

»Ey, Leute, das ist … echt klasse von euch … danke …«, hauchte er schon fast. Kratos sah ganz genau, dass er kurz vor einem Heulkrampf stand. Deswegen wunderte es ihn auch nicht, als er rief: »Wo bleibt'n unser Bier?! Mir wird die Luft hier zu feucht!«

Die Runde lachte heiter und Yuan wischte sich die Tränen aus den Augen.

»Meine Fresse, musst du's hart gehabt haben, wenn du deswegen gleich heulen musst«, vermutete Luca. »Sind doch nur Vorschläge.«

Der Blauhaarige musste erst einmal tief durchatmen, bevor er wieder mit fester Stimme sprechen konnte.

»Man ist es innerhalb meiner Rasse eben nicht gewöhnt, Hilfe angeboten zu bekommen«, meinte der junge Soldat.

»Also wenn ihr mich fragt, ich find's Scheiße, was die mit den Halbelfen machen«, sagte nun Lux. »Ich mein', seht euch Yuan doch mal an. Ist doch'n total netter Kerl.«

»Halt's Maul, Alter!«, fauchte Kratos' Freund. »Du willst wohl, dass ich heule?!«

Lux grinste.

»Okay, okay, ich nehm's zurück und behaupte das Gegenteil.«

Daraufhin wurde ihr Gespräch kurz unterbrochen, da eine Kellnerin ihnen endlich ihr Bier brachte. Sie beugte sich zwischen Yuan und Kratos hindurch, da diese mit dem Rücken zum Tresen saßen. Der Blauhaarige nutzte die Gelegenheit, um sich abzulenken und gönnte sich einen ausgiebigen Blick in das Dekolleté der Bedienung, während der Rothaarige fest das Bier fixierte, dass die Frau ihm hinstellte. Nach einigen sonderbaren Komplimenten seitens seiner Kameraden über ihre Figur, sah er, wie Thalaimo der Kellnerin auf ein Körperteil schlug, dass Kratos bis zu diesem Zeitpunkt immer als Tabuzone angesehen hatte. Doch als er die vielen Handabdrücke auf der Kleidung der Kellnerin sah, wurde ihm klar, dass man hier von Gepflogenheiten nicht viel hielt.

»Und jetzt?«, fragte Lonuel in die Runde. »Wenn wir uns trinken sehen, müssen wir uns gegenseitig verpfeifen. Das is'n Ehrenkodex unter Soldaten.«

Yuan nahm seinen Bierkrug in die Hand.

»Ihr seid ja solche Anfänger«, grinste er und drehte seinen Kameraden den Rücken zu. »Seht ihr mich etwa trinken? Also ich euch nicht.«

»Heh, das ist gut!«, lachte Lucian.

»Los, Leute, umdrehen!«, rief Thalaimo aus.

»Solange wir uns nicht bücken müssen«, scherzte Lounel. Erneut lachte die ganze Truppe, bis auf Kratos. Selbst Sora stieg, wenn auch gespielt, mit ein.

»Ich bin aber Lux' Meinung«, kam Lonuel auf das Thema zurück, als sich alle umgedreht hatten. »Yuan is'n cooler Typ. Cooler, als manch anderer hier.«

»Stimmt«, pflichtete Luca ihm bei. »Also wenn ihr mich fragt, ich fand's auch schon immer Scheiße, was man mit den Halbelfen abzieht.«

»Ich auch«, stimmte Lucian zu. »Die können doch nichts dafür, dass sich'n Mensch und 'n Elf ineinander verknallt haben.«

»Heh, lasst uns darauf anstoßen«, schlug Caleb vor und reichte seinen Bierkrug über seine Schulter in die Mitte des Tisches, selbstredend wegsehend.

»Gute Idee«, sagten Kratos und Sora gleichzeitig und machten es Caleb gleich. Restlos jeder folgte.

»Auf die Halbelfen!«, riefen alle im Chor und stießen an. Man hörte zwar, dass jeder etwas trank, aber da sie sich alle voneinander abgewendet haben, was wunderbar funktionierte, da sie im Kreis saßen, sah es keiner, wenn man es nicht wollte. Kratos und Sora hörten jedoch auch, dass Yuan erneut den Tränen nahe war. Der Rothaarige klopfte ihm tröstend auf die Schulter. Sora schien es auszunutzen, dass keiner ihrer Kameraden sie beobachtete und umarmte den Blauhaarigen.

Kratos schmunzelte in sein Bier. Er freute sich, dass Yuan ein vollwertiges Mitglied ihrer Gruppe war. Mehr wahrscheinlich noch, als er selbst, denn er gönnte es seinem Freund von ganzem Herzen.

Die Feinde eines Mannes

»Der Alohol, der Alohol«, lallte Luca.

»Der is' mein Feind, das weiß ich wohl!«, stieg Lucian mit ein.

»Doch wie hab'n's die Götter g'schrieben?«, fragte Caleb.

»Du solls' auch deine Feinde lieben!«, antwortete ein Chor, wie er schräger nicht sein konnte. Kratos schmunzelte und schielte belustigt, während der Rest lauthals lachte. Er war der Einzige, der noch gerade sitzen konnte.

Sie waren nun schon drei Stunden in der Bar und mit der Zeit wurden nicht nur die Gemüter weicher, sondern auch die Getränke härter. Yuan war mit fast allen anderen auf Rum umgestiegen. Nur die Zwillinge teilten sich gerade eine Flasche Whiskey und Noel berauschte sich mit Birnenschnaps. Einzig und allein Kratos saß noch immer an seinem zweiten Bier. Doch er fühlte sich wohl. Ihm war warm und er war irgendwie gut gelaunt. Auch lachte er inzwischen über die schmutzigeren Witze seiner Kameraden. Yuan kam gerade vom Tresen zurück, wo er noch ein paar Erdnüsse geholt hatte und blickte zu seinem rothaarigen Freund.

»Och ne«, meinte er. »Säufs'u immer noch so'n Mädchenzeuch?«

Kratos wich der Alkoholfahne aus, die ihn aus Yuans Mund entgegen wehte.

»Was hast du gegen Bier?«, fragte er.

»Das knallt nich'!«, behauptete er. »Sogar Sora säuft was anständ'ges!«

Der junge Soldat sah zu seiner Freundin. Sie hing mehr auf ihren Stuhl, als dass sie saß und himmelte ihre Wodkaflasche an.

»Sora, geb's ma' rüba da!«, verlangte er.

»Bissu bewölkt?«, fragte sie. »'s mein's!«

»Gib' rüber …!«, forderte Yuan noch einmal.

»Menno … bist'n Scheißkerl, weißte das?«, lallte Sora und reichte dem Halbelfen die halbleere Wodkaflasche. Der Blauhaarige nahm sie – nach zwei Fehlgriffen – entgegen und hielt sie Kratos hin.

»Da«, sagte er. »Das's 'n Männeresöff!«

»Nein, danke«, winkte der Rothaarige ab. »Ich bleib' lieber bei meinem Bier.«

»Säuf'su's jetz' oder mussich nachhelf'n?«

Kratos sah seinen Freund an. Er traute ihm zu, dass er in seinem Zustand eine Schlägerei mit ihm anfing, so betrunken wie er war. Er seufzte und griff nach der Wodkaflasche.

»So schlimm kann es ja nicht sein …«, dachte er in seinem jugendlichen Leichtsinn.

Damit Yuan endlich Ruhe gab, trank er einen kräftigen Schluck aus der Flasche; und hatte das Gefühl, ihm würde die Kehle verbrennen.

»Was ist das denn?!«, hauchte er, so scharf war der Alkohol gewesen. Restlos alle lachten.

»Das!«, tönte Yuan. »is'n richt'ges Männer'tränk!«

»Das ist Gift, aber kein Getränk!«

»Dann gib's halt wieder her!«, verlangte Sora. »Is' mein's! Hab's 'zahlt!«

Der Rothaarige wollte seiner Kameradin die Flasche zurückreichen, doch Yuan hielt ihn zurück.

»Das trink'su jetz' aus!«, befahl er schon fast. »Du bis' so 'ne Spaßbremse!«

»Stimmt!«, hickste Lux. »Runder damit!«

»Is' aba mein's!«, jammerte Sora, doch niemand hörte auf sie. Kratos schüttelte den Kopf.

»Nur über meine Leiche trinke ich das aus!«

Plötzlich wurde es still am Tisch. Dass sie sich gegenseitig nicht beim Trinken sehen durften, hatten sie inzwischen vergessen – so, wie sie am nächsten Morgen wahrscheinlich einen Filmriss haben würden. Stattdessen grinsten die meisten breit. Der junge Soldat ahnte ja nicht, was ihn jetzt erwartete …
 

Wenn Kratos in seinem Leben auch noch nie betrunken gewesen war, so war er es jetzt. Ihm war speiübel, die Welt drehte sich nur noch um ihn, wie es schien, was Anstand war, hatte er völlig vergessen und das Wort "Züchtigkeit" aus seinem Vokabular gestrichen; und das alles fand er ziemlich toll, was er im Übrigen seinen Kameraden zu verdanken hatte, die ihm Soras Wodka verinnerlicht hatten.

Wie Flavius gesagt hatte, lockerte Alkohol die Zunge eines jeden Mannes. Trotzdem, oder gerade weil Kratos so betrunken war, fragte er sich, was dann wohl schöne Frauen lockern würden.

Diese Frage sollte ihm sehr bald beantwortet werden.

Die Truppe schlenderte – "leicht" alkoholisiert – durch Fooji. Das Ziel war allen, bis auf dem jungfräulichen Kratos bekannt. Dass er dort etwas sehen würde, das er bisher immer verschmäht hatte, ahnte er noch nicht.

Doch vorher galt es, Yuan am Türsteher vorbei zu bekommen. Denn Halbelfen war es strengstens verboten, Lokale zu betreten. Es sei denn, sie arbeiteten dort.

»Stehengeblieben«, verlangte der Türsteher, als der Blauhaarige vor ihm stand, der allein durch seine Haarfarbe auffiel. Unsanft griff er ihm ins Haar, um seine Ohren zu entblößen.

»Ein Halb-«

Weiter kam er nicht, da niemand anderes als Luca ihm einen Beutel voll Münzen vor die Nase hielt.

»Halt's Maul un's g'hört dir«, meinte er. Yuan sah ihn fassungslos an.

»Haben 'wa zusamm'legt, als'u wech warst«, grinste Lucian. »Nett, oder?«

Der Türsteher schnaubte und gewährte der Gruppe Einlass. Yuan bedankte sich so oft und viel, wie er inzwischen Promille im Blut hatte.

Kratos jedoch schaute nicht schlecht, als er die Bar betrat. Um eine längliche Bühne, die in einem Kreis endete, standen runde Tische, die zum größten Teil mit männlichen Wesen jeden Standes besetzt waren. Die Bar selbst war so schäbig wie die vorherige, jedoch gab die indirekte, rötliche Beleuchtung dem ganzen eine noch zusätzlich verruchte Nuance.

»Wo sin' wir'n hier 'landet?«, fragte Kratos seinen Freund. Yuan setzte sich breitbeinig auf einen Stuhl in der Nähe der Bühne und grinste.

»'s wird dir g'fallen«, meinte er nur.

»Un' wie!«, meinte Luca.

Obwohl Kratos vollkommen betrunken war, wurde ihm mulmig zu Mute. Doch wiederum nicht so sehr, dass seine Vernunft über ihn hätte siegen können. Daher setzte er sich neben Yuan und bestellte – zusammen mit den anderen – die nächste Runde Alkohol.

Ein Mann traut auf die Bühne und grinste zu seinem Publikum herunter.

»Ein herzliches Willkommen an unsere neuen Gäste!«, begann er. »Wenn ihr die wohl angenehmste Zerstreuung sucht, die die Götter je erfanden, seid ihr hier richtig! Unsere nächste "Schaustellerin" …«

Dreckiges Gelächter ertönte.

»… ist wahrlich ein exotischer Edelstein! Allein ihr Name verspricht die süßeste aller Sünden! Begrüßt nun mit mir unsere Wüstenrose: Salomé!«

Der Mann verschwand scheinbar spurlos in einer Wolke aus Rauch. Daraus jedoch befreite sich mit einer eleganten Drehung die schönste Frau, die Kratos, dem der Mund offen stand, in seinem jungen Leben jemals gesehen hatte.

Unter dem lauten Gejohle der Männer, begann Salomé zu tanzen. Ihre karamellfarbene Haut wurde von einem roten Kleid geschmückt, das sich wie Wasser um ihren grazilen Körper schmiegte und zugleich so transparent war, dass das männliche Auge mit ihrer ungemeinen Weiblichkeit gestreichelt wurde. Ihre geschmeidigen Bewegungen verschmolzen ineinander wie die einer Raubkatze, ihr langes, wallendes schwarzes Haar betonte nicht nur ihr schönes, ebenmäßiges Gesicht mit den hohen Wangenknochen, sondern auch ihre katzenhaften, grünen Augen, in denen die Leidenschaft nur so loderte. Leichtfüßig tänzelte sie im Takt der Musik, wobei die Kettchen um ihre Fesseln funkelten wie Diamanten. Doch Kratos, wie auch alle anderen achteten viel mehr und lieber auf ihre weiblichen Merkmale.

Als Salomé – unter einem goldenen Regen von Galdstücken – ihren feurigen Tanz für einen Augenblick mit langsamen, fließenden und sinnlichen Bewegungen unterbrach, um sich ihres Kleides zu entledigen, bemerkte Kratos, dass ihm ungewöhnlich warm wurde, was nicht an dem Alkohol lag, den er bereits im Blut hatte. Er lockerte den Kragen seines Oberteiles ein wenig, da ihm die Hitze leichte Atembeschwerden bereitete. Er fragte sich, warum er nicht einfach hinaus ging, doch Salomés Tanz zog ihn einfach zu sehr in seinen Bann. Ihre lasziven Bewegungen fraßen sich regelrecht in seine Fantasie hinein, die Bilder hervorrief, die Kratos für gewöhnlich ein Gefühl des Ekels bereiteten.

Die Hitze breitete sich inzwischen in seinem ganzen Körper aus, ein mehr oder weniger angenehmer Schauer lief durch ihn hindurch – und endete in einem langsam anschwellenden Schmerz zwischen seinen Beinen.

Als Kratos an sich heruntersah und begriff, dass sein Körper inzwischen sichtbar auf Salomé reagiert hatte, schoss ihm die Schamesröte ins Gesicht. Und, wie es der Zufall wollte, fiel Yuan, der neben ihm saß, ein Galdstück runter, das er Salomé zuwerfen wollte. Als er sich danach bückte, fiel ihm das Malheur seines Freundes auf; und er begann heftig zu prusten.

»Das ist nicht witzig!«, fauchte Kratos leise, dem seine Zunge wieder ein wenig besser gehorchte.

»Doch, das isses!«, prustete Yuan. »Zum schießen komisch!«

Über den unzüchtigen Wortwitz noch mehr amüsiert, musste der Blauhaarige sich sichtbar beherrschen, um nicht laut loszulachen. Da er jedoch betrunken war, viel ihm das doppelt schwer. Kratos war der Spaß jedoch vergangen. Seine Fantasie spielte verrückt und sein Körper machte mit. Während er gegen das Bedürfnis ankämpfte, seine schmerzende Männlichkeit zu richten, wurde Salomés Tanz immer freizügiger. Niemand anderes als Lounel nutzte das für sich aus und zog sie auf seinen Schoß, als sie sich zu ihm heruntergebeugt hatte. Es war ein ungeschriebenes Gesetz in Fooji, dass derjenige, der einer Tänzerin die meisten Galdstücke zuwarf, sich mit ihr vergnügen durfte, wie es ihm beliebte. Und da Lonuel die Hälfte seines Geldes "gespendet" hatte, wollte er sich jetzt sein Recht nehmen. Doch Thalaimo unterbrach das leidenschaftliche Treiben der beiden.

»Sach ma', hassu noch alle Latten am Zaun?!«, fauchte er, wobei Yuan bei dem Wort "Latten" zu Kratos' Unwohlsein nochmal losprustete. »Du bis' vergeb'n!«

Lounel schielte.

»Ey, wir sin' doch hier, um Spaß zu hab'n!«, lallte er. »Was Lydia nich' weiß, macht'se nich heiß!«

Thalaimo erhob sich – und das allein reichte, um die Anwesenden einzuschüchtern. Der muskulöse Soldat zog Salomé unsanft von Lounel herunter und zog ihn am Kragen hoch.

»Was sachstu da über meine Schwester?!«

Kratos fiel ein, dass Thalaimo ihm mal erzählt hatte, dass Lounel mit seiner Schwester zusammen war. Jetzt verstand er auch, warum er so sauer wurde.

»Ey, zieh' mir nich' am Wrack!«, wurde Lounel nun ungemütlich. »Was is'n schon dabei?«

»Ich hab' dir gesacht, wenn du meiner Schwester wehtust, bring' ich dich um!«, erhob Thalaimo die Stimme.

»Wenn du wüssest!«, meinte Lounel. »Der habbich scho wehetan!«

Das Grinsen des Soldaten verriet, dass er es anders meinte, als es klang. Die Erklärung folgte.

»Was hassu?!«, brüllte Thalaimo nun.

»Du wirs' Onkel«, summte sein Freund. »Ich hab ihr nämlich 'n Brat'n in die Röhre 'schoben!«

Auf einmal wurde es still. Kratos hatte das Bedürfnis, sich zu übergeben. Ein uneheliches Kind galt auf Tethe'alla als Sünde und wurde einem Halbelfen gleich behandelt. Generell vor der Ehe galt es eigentlich als Schande, sich mit dem jeweils anderen Geschlecht einzulassen.

Thalaimo, der ohnehin leicht wütend wurde, packte Lounel mit einer Hand und schliff ihn aus der Bar. Der Rest ihrer Kameraden sahen sich an. Das reichte zur Verständigung, alle, bis auf Midas, standen auf und folgten den beiden. Denn Flavius hatte ihnen inzwischen ungefähr zwanzig Arten beigebracht, zu töten.

Als die Gruppe aus der Bar kam, prügelten Thalaimo und Lounel sich bereits aufs Übelste. Obwohl es restlos jeder verstehen konnte, sogar Kratos, der nicht einmal richtige Geschwister hatte, wussten auch alle, dass solch eine Prügelei zum Ausschuss aus der Armee führen konnte. Doch niemand schien den Mut zu haben, dazwischen zu gehen. Das war auch kein Wunder. Thalaimo und Lounel waren beide muskulöse Soldaten, die die Schwachpunkte ihresgleichen kannten. Lonuels Nase blutete stark, als Rache dafür, verpasste er Thalaimo einen so heftigen Kinnhaken, dass sein Freund drei Schritte zurücktaumelte.

Kratos sah Yuan und Sora an. Beide nickten.

Während der Blauhaarige sich zwischen die beiden warf und ihre nächsten Fausthiebe abfing, packte Kratos Thalaimo und Sora den reichlich lädierten Lounel.

»Leute, das bringt nichts!«, versucht Kratos zu vermitteln. »Klärt das, wenn ihr wieder nüchtern seid!«

»Nix da!«, fauchte Thalaimo. »Den bring' ich um!«

Sora hatte nicht weniger Probleme, den nun sauren Lounel zu bändigen. Er wehrte sich mit Händen und Füßen gegen den Klammergriff des Mädchens.

Und dann geschah etwas, das restlos alle wieder zur Besinnung bringen sollte.

Lonuel hatte sich von Sora befreit und wollte erneut auf Thalaimo losgehen, als er stolperte. Aus Reflex hielt er sich an Soras Kleidung fest; und riss sie ihr samt dem Verband, den sie darunter versteckt hatte, herunter.

Restlos jeder starrte Soras entblößte Brust an. Zu allem Überfluss kam niemand anderes als Midas aus der Bar heraus. Als er Sora sah, fielen ihm fast die Augen aus dem Kopf.

»Geil …«, entfuhr es ihm. Lux schlug ihm schon beinahe aus Reflex ins Gesicht. Er fiel ohnmächtig um.

Sora hatte inzwischen begriffen, was geschehen war und schützend ihre Arme um sich geschlungen.. Kratos schüttelte kurz den Kopf und baute sich vor ihr auf, damit sie nicht länger den entsetzten Blicken ausgesetzt war. Yuan war der nächste, der ihr half, indem er Lounel ihr Oberteil wegnahm und es ihr zurückgab.

»Der … is'n Mädchen?!«, entfuhr es Luca.

»War doch eben deutlich zu sehen, oder?«, meinte Yuan genervt. Kratos wusste nicht so wirklich, was er jetzt tun sollte. Er spürte, wie Sora hinter ihm am ganzen Leib zitterte. Und das lag nicht daran, dass sie fror.

»Das ist nicht gut …«, meinte Caleb. »Wenn das rauskommt …«

»Es wird nicht rauskommen«, unterbrach Kratos ihn.

»Wird es doch. Wenn die mal zu Mesah …«, wollte Lux ansetzen, wurde jedoch von Yuan unterbrochen.

»Mesah weiß Bescheid, genau wie Kratos und ich«, erklärte er.

Thalaimo stand auf. Er blutete am Mundwinkel und war ziemlich verdreckt, da er sich mit Lounel auf dem Boden gewälzt hatte.

»Sie is'n Mädel. Die hat hier nichts verloren«, gab er seine Meinung ab.

»So, wie sie ein Mädchen ist, bin ich ein Halbelf. Und mich habt ihr auch akzeptiert.«

Kratos schmunzelte, als er seine eigenen Worte in denen von Yuan wiedererkannte.

»Das ist doch was anderes!«, meinte Luca nun. »Sie ist … ein Mädchen!«

»Und hat dich des Öfteren besiegt, wenn es um die Kampfkunst ging!«, verteidigte Kratos seine Freundin. »Sie ist ein vollwertiges Mitglied unserer Gruppe und hat mehr durchgestanden als wir alle zusammen!«

»Das stimmt«, gab Yuan hinzu. »Wir haben selbst erst vor Kurzem rausgekriegt, was sie ist. Bis zu dem Zeitpunkt ist sie trotz des harten Trainings nicht einmal zu Mesah gegangen. Das haben wir dann für sie geregelt.«

Kratos nickte.

»Und außerdem …!«

»Es reicht …«

Sora hatte das gesagt. Der Rothaarige sah verwirrt über seine Schulter. Das Mädchen trat hinter ihm hervor und sah mutig in die Gesichter ihrer Kameraden.

»Ich bin dem Militär beigetreten, weil ich meine Familie rächen will, die im Krieg umkam. Wenn ihr der Meinung seid, dass ich kein Recht dazu habe, nur, weil ich eine Frau bin, dann geht zu Flavius und sagt ihm, was ich bin. Aber ich dachte, das solltet ihr wissen.«

Mit diesen Worten wandte sich Sora zum Gehen um. Kratos und Yuan überlegten nicht lange.

»Wenn ihr sie verratet, gehen wir mit ihr«, sagte der Rothaarige. Sein halbblütiger Freund nickte.

Die Gruppe sah sich an. Lounel und Thalaimo hatten einen gebührenden Abstand zueinander genommen. Zwischen ihnen war das letzte Wort noch nicht gefallen. Doch der Rest der Gruppe schien das Für und Wieder abzuwägen. Noel war der Erste, der sich auf die Seite der beiden Freunde stellte. Lux und Caleb folgten, genau wie die Zwillinge. Und so nickten auch Thalaimo und Lonuel zustimmend. Kratos strahlte richtig, als er das sah. Dann rief er nach Sora, die verwirrt dreinschauend zu ihnen zurückkam.

»Du bist unsere Kameradin und bleibst es auch«, sagte Yuan. »Einer für alle …«

»… und alle für einen!«, erwiderten die Anderen.

Sora war den Tränen nah und zudem vollkommen sprachlos. Der Blauhaarige klopfte ihr auf die Schulter.

»Ich weiß, wie du dich fühlst«, meinte er und grinste.

»Wie wär's, wenn wir uns auf'n Rückweg machen? Mein Schädel brummt …«, meinte Lux. Allgemeine Zustimmung erklang.

»Was mach'n wir mit Midas?«, fragte Caleb.

»Lass ihn liegen«, meinte Luca. »Der macht doch eh bei nix mit.«

»Argument«, nickte der angehende Priester. »Lasst uns verschwinden.«

Während die meisten gingen, blieben Kratos, Yuan und Sora zurück. Die junge Frau war ganz überwältigt. Yuan grinste vor sich her, da er vor wenigen Stunden die gleichen Gefühle hatte wie sie. Kratos lächelte sie an.

»Wir sollten gehen. Flavius reißt uns sonst den Kopf ab.«

Sie nickte und die drei Freunde folgten ihren Kameraden aus der Stadt hinaus.
 

Kratos' Träume erschienen ihm wild und fremd. Alles drehte sich um die schöne Salomé und ihren Tanz, der dem jungen Soldaten nicht nur den Kopf verdreht hatte. Was er in diesen Träumen mit ihr tat und tun wollte, würde er im wachen Zustand nicht einmal zu denken wagen.

»Whoa, Kratos, hör' auf zu stöhnen …! Ich hab Kopfschmerzen!«

Es war Yuan, der das geknurrt und sein Kissen auf seinen Freund geworfen hatte. Der Rothaarige wurde jäh aus seinen Träumen gerissen und war nicht unglücklich darüber. Abgesehen davon, dass sein morgendliches Problem mehr schmerzte. Doch diese Schmerzen waren nichts im Vergleich zu denen, die sein Kopf ihm bereitete. Seine Behauptung, Flavius würde ihnen den Kopf abreißen, kam ihm auf einmal wesentlich weniger unangenehm vor, als vor wenigen Stunden.

Die Glocke zum Apell, die wenig später ertönte, schien seinen Kopf zu sprengen. Doch alles Flehen an die Götter brachte nichts, sie läutete unbarmherzig weiter und klang dabei wie Fingernägel auf einer Schiefertafel. Das Ächzen und Stöhnen, das von Yuan und den Zwillingen her erklang, verbesserte die Geräuschkulisse nicht unbedingt.

Nachdem Kratos beinahe umgefallen wäre, als er sein Bett machen wollte, torkelte er mehr schlecht als recht zum Sammelplatz. Flavius hatte die Arme vor der Brust verschränkt und sah ziemlich wütend aus.

»Götter, Ahnen, irgendein Wesen, das unser Schicksal bestimmt: Wenn es dich gibt, lass ihn nicht …«

»Was seid ihr denn bitte für ein erbärmlicher Haufen?!«

»… wieder brüllen …!«, vollendete Kratos seinen Gedanken und hielt sich, wie der Rest seiner Kameraden, den Kopf.

»Stillgestanden! Rührt sich auch nur einer von euch einen Millimeter, darf er zehn Runden ums Fort marschieren: Auf den Händen!«

Jeder wusste, dass Flavius das ernst meinte. Also bemühten sich alle, ihre gewohnte Haltung anzunehmen. So wirklich gelingen wollte es aber keinem.

»Ihr steht da wie Schwangere kurz vor der Geburt! Was seid ihr nur für Waschweiber?!«

»Lieber ein Waschweib als taub …!«, dachte der Rothaarige und beherrschte sich, nicht zu wimmern, so sehr schmerzte sein Kopf.

»Ich habe euch ausdrücklich verboten, Alkohol zu trinken!«, fauchte er. »Und jetzt steht ihr hier, verkaterter als jeder Obdachlose! Und natürlich hat keiner von euch seine Kameraden trinken sehen?«, fragte Flavius rhetorischer Weise, während er die Reihe seiner Schützlinge abging. Niemand antwortete.

»Das dachte ich mir …«, meinte er und grinste kurz, wurde jedoch in der gleichen Sekunde wieder ernst. »Ihr seid gestern Abend mit den aller schlimmsten Feinden eines Mannes zusammengetroffen: Alkohol und schöne Frauen!«

»Muss der jetzt auch noch damit anfangen?«, fragte Kratos sich.

»Beide lassen selbst den eisernsten Krieger seine Disziplin, seine Ehre und sogar seine Kameraden vergessen!«

Flavius' Blick wanderte zu Thalaimo, der einen gebührenden Abstand zu Lounel hielt, der nicht nur blaue Flecken, sondern auch einen Knutschfleck frei zur Schau trug.

»Merkt euch das und macht diesen Fehler nie wieder! Und damit sich das auch in eure weichgesoffenen Hirne auch einprägt …«

Flavius drehte seinen Schützlingen den Rücken zu und holte tief Luft. Sein folgender Befehl ging allen durch Mark und Bein.

»Kompanie! Ein Lied!«

Ein Jaulen, das kein Wolfsrudel übertreffen konnte, wurde laut. Doch ein Blick von Flavius reichte, um die Soldaten verstummen zu lassen. Stattdessen begannen sie, ihrem Ausbilder in Reih und Glied zu folgen – und zu singen.

Kratos schleppte sich neben Yuan her und sang brav jede Strophe mit. Sein Kopf schien zu zerspringen und er schwor sich eines: Er würde niemals wieder Alkohol trinken. Und noch viel weniger schönen Frauen hinterher sehen.

Was er jedoch nicht mitbekam, war der Blick, den Flavius schmunzelnd auf ihn warf. Seine Mimik hatte schon beinahe etwas Väterliches. So, als wolle er sagen:

»Jetzt weißt du wenigstens, was dir entgeht, wenn ich es euch verbiete.«

Das Erbe der von Aurion

Nach SO einem aufmunterndem Kommentar meiner Co-Autorin MUSS ich ja einfach weitermachen ;) Danke nochmal, Nici~

Ich wünsche euch viel Spaß, Leute. Und wenn ihr weiterlesen wollt, kommentiert fleißig. Nici erlaubt mir das Hochladen nämlich erst nach fünf Kommis xD

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Haferschleim war nicht gerade Kratos' Leibgericht, jedoch das Einzige, was einem im Fort Morgens vorgesetzt wurde. Er löffelte seine Portion immer mit mäßigem Appetit. Yuan und seine Kameraden hingegen fraßen ihn wie ausgehungerte Tiere. Um genau zu sein wie Schweine.

Es waren seit dem Ausflug nach Fooji erneut zwei Monate vergangen. Über ein Jahr waren Kratos und Yuan nun schon in der Ausbildung und endlich hatte eben diese eine entscheidende Wendung bekommen: Sie trainierten jetzt mit Waffen.

Im Moment waren Schwerter an der Reihe. Flavius hatte ihnen gesagt, dass er sie noch im Bogenschießen und im Axtkampf unterrichten würde, bevor jeder von Ihnen seine feste Waffe bekam. Er wollte sich ein Bild des Talentes und des Könnens von jedem machen.

Kratos sah zu seinem Ausbilder, der am Kopf des Tisches saß und – wohl bemerkt manierlich – seinen Haferschleim aß. Er rechnete es Flavius hoch an, dass er bei seinen Schützlingen speiste. Das war nicht selbstverständlich.

Während er die süßliche Pampe, die sich in seinem Mund wie Erbrochenes anfühlte und eigentlich nur Magenkranken verabreicht wurde, mit wenig Appetit zu sich nahm, dachte er über die vergangene Zeit nach …

Ihm war gar nicht bewusst gewesen, wie viel Zeit schon verstrichen war. Ihm gefiel das einfache, harte Leben eines Soldaten. Nichts erinnerte ihn an seine adelige Herkunft. Sogar Yuan hatte aufgehört, ihn "Blaublut" oder ähnliches zu nennen. Er war einfach er selbst und er war glücklich damit. Er hatte Freunde gefunden, die Ausbildung ließ ihn geistig wie körperlich reifen. Er war zufrieden.

Er beherrschte Karate, Kung Fu und Taekwondo in ihren Grundzügen, kannte inzwischen dreißig Arten zu töten, hatte die Ausdauer eines wandernden Wolfes und die Willenskraft eines Mönches. Die Präzision, mit welcher er töten können sollte, würde der eines Adlers gleichen, der sich auf seine Beute herabstürzt, wenn ihre Ausbildung beendet war, wie Flavius es formuliert hatte. Kratos war wohl mit der Einzige, der das ernst nahm und somit ein mulmiges Gefühl im Bauch hatte. Sie wurden hier darauf gedrillt, ihre Feinde zu töten. Irgendwie schien das seinen Kameraden nicht bewusst zu sein. Oder sie verdrängten es. Er wusste es nicht.

Da sie im Freien aßen, fiel Kratos auf, dass der Himmel sich allmählich mit Wolken bedeckte. Er seufzte. Irgendwie war heute nicht sein Tag. Ihm war schon am Morgen nicht besonders gut gewesen. Irgendetwas schlug ihm auf den Magen. Er wusste nur nicht was.

Wie es der Zufall wollte, zuckte ein Blitz über den Himmel, auf den ein lautes Donnern folgte. Keine Sekunde später begann es wie aus Eimern zu regnen. Seine Kameraden begannen zu fluchen und zu maulen, da sie wussten, dass solch ein Wetterumschwung Flavius keineswegs dazu bewegte, das Training abzusagen. Im Gegenteil. Er behauptete, es sei gesund. Es gab nur eine Regel beim Regentraining – das Oberteil wurde ausgezogen. Da das für Sora jedoch wegfiel, übergab sie sich einfach. Es war zwar etwas auffällig, dass sie dies immer bei Regen tat, doch Mesah hatte Flavius erklärt, dass Sora einfach wetterfühlig war und sich sehr schnell eine Lungenentzündung einfing. Da die junge Frau sich im restlichen Training als brauchbar bewiesen hatte, beließ es der Feldwebel sogar dabei.

»Das Schwert ist ein Teil eures Körpers«, erklärte Flavius, als er vor ihnen stand. »Spürt, wie das Metall erbebt, wenn es auf die Waffe, oder gar den Körper eures Gegners trifft. Fühlt, wie sich die Klinge durch Fleisch und Sehnen frisst. Wer das nicht verträgt, weiß, wo der Ausgang des Forts ist.«

Dieser Satz fiel ziemlich oft von ihrem Ausbilder, doch bisher hatte ihm niemand Beachtung geschenkt. Niemand von Ihnen war aus der Armee ausgetreten. Zu eng war ihre Verbundenheit zueinander. Flavius schwang das Schwert in seiner Hand einige Male und erklärte, dass man die Angriffe seines Gegners immer entgegengesetzt parieren musste. Schlug er waagerecht zu, parierte man senkrecht, worauf natürlich auch der Umkehrschluss zutraf. Der Rothaarige betrachtete die Klinge in seiner Hand. Sie war stumpf, damit niemand ein Körperteil verlor. Doch dazu waren Schwerter erfunden worden. Um die Gegner zu töten oder wenigstens zu verstümmeln. Kratos fragte sich, was gnädiger war, während er sein Spiegelbild betrachtete, an der die Regentropfen herabliefen.

»Aurion!«, fauchte Flavius. »Bist du etwa der Meinung, du brauchst meine Ratschläge nicht?«

Kratos sah auf.

»Doch, Sir, natürlich, Sir«, antwortete er.

»Dann zeig' mir doch mal, ob du aufgepasst hast«, verlangte sein Ausbilder. Kratos trat nach vorn und umklammerte den Griff seines Schwertes, während er nicht aufhören konnte, zu denken. War es letztendlich richtig gewesen, dem Militär beizutreten? War es auf abstrakte Art und Weise nicht feige? Warum hatte er Liabela so sehr verschmäht? War es wirklich besser, Leben zu beenden, als es zu zeugen? Wohl kaum.

Flavius griff an. Kratos riss seine Waffe hoch und parierte den Schlag. Seine Arme hatten sich noch nicht an das zusätzliche Gewicht gewöhnt und so brauche er beide Arme, um den Schlag von seinem Ausbilder abzuwehren. Dieser ließ die Klinge abgleiten und schlug sie ihm in die Seite. Kratos fiel zu Boden.

»Tot«, schnaubte der Feldwebel und hielt seinem Schützling die Klinge an die Kehle, während er zu seinen Kameraden sprach. »Habt ihr seinen Fehler gesehen?«

Schweigen kam als Antwort. Flavius seufzte.

»Er hat beide Arme benutzt, um meinen Schlag parieren, so war seine Seite ungeschützt und ich konnte ihn töten. Es ist klüger, wenn euer Gegner stärker ist, die Angriffe nur abzuwehren und nicht zu parieren. Im Zweikampf geht es nicht unbedingt um körperliche Stärke. Die geistige Stärke hingegen kann euch hier das Leben retten.«

Kratos stand auf und wollte zu seinen Kameraden zurückgehen, doch Flavius hielt ihn zurück.

»Nicht so schnell. Ich bin noch nicht fertig mit dir.«

Der Rothaarige sah seinen Ausbilder fragend an. Für gewöhnlich reichte es, einen Fehler zu begehen, damit er jemand anderen dran nahm. Doch Kratos blieb stumm. Flavius würde schon seine Gründe haben.

»Versuchen wir es noch einmal«, meinte er und nahm die Grundhaltung ein. Kratos tat es ihm gleich. Regen prasselte auf die nackten Oberkörper von Lehrer und Schüler hinab. Flavius bedeutete ihm mit einer lockenden Bewegung seiner Hand, dass er dieses Mal angreifen sollte. Kratos musterte seinen Lehrer einen Augenblick. Er hielt das Schwert in der rechten Hand, ein Bein leicht nach hinten gestellt, um sich abfedern zu können. Die grauen Augen schienen ihn einmal mehr zu röntgen. Der junge Soldat beschloss, seitlich anzugreifen und ließ sein Schwert von links auf Flavius' Flanke zusausen. Der Feldweben wehrte den Schlag ab und tänzelte einige Schritte zurück. Kratos setzte nach. Warum tat er das? Ihm war nicht einmal danach, zu trainieren und doch schien das Gewicht der Klinge in seiner Hand ihn dazu zu verleiten. War es die Macht, die ihm diese Waffe gab?

Er schlug erneut nach Flavius, dieses mal mit hoch erhobenem Schwert. Wieder parierte sein Ausbilder den Schlag; und das so kräftig, dass der Rothaarige im Schlamm landete.

»Tot«, wiederholte Flavius. »Du bist zu offensiv.«

Während sich seine Kameraden über die Fehler von Kratos amüsierten, flammte Wut in dem jungen Soldaten auf. Erneut erhob er sich. Dieses Mal griff wieder Flavius an. Seitlich. Kratos wehrte den Schlag ab und wich dem Radius seiner Klinge aus.

»Nicht schlecht«, nickte Flavius, »für einen Anfänger.«

Der Regen wurde immer schlimmer, Kratos immer wütender. Was war mit ihm los? Er wusste nicht, warum er auf einmal so aggressiv wurde. Er hatte das Bedürfnis, das Schwert in seiner Hand zu seiner vollen Stärke zu entfalten. Und deswegen griff er Flavius erneut an, wieder parierte sein Ausbilder den Schlag und holte für einen eigenen Angriff aus. Doch Kratos war nicht schnell genug. Er wollte sich ducken, um der Klinge zu entkommen, bekam sie stattdessen aber an den Kopf. Ein weißer Blitz flammte vor seinen Augen auf. Und da war es. Das Gesicht seines Vaters. In seinen Augen lag der gleiche, stolze Blick, mit dem er seinen Sohn bedacht hatte, als er Yuan geschlagen hatte.

Der Rothaarige schüttelte den Kopf und legte sich eine Hand daran.

»Steh' auf«, verlangte Flavius. »Weiter.«

Kratos stand auf und sah seinen Ausbilder an. Dann jedoch steckte er sein Schwert in den Schlamm, drehte sich um und ging. Restlos jeder seiner Kameraden sah ihm verwirrt nach. Midas aber grinste.

»Ist das Prinzchen zu feige?«, höhnte er, als der Rothaarige an ihm vorbeiging. Kratos sah ihn hasserfüllt an. Seine braunen Augen waren dabei so kalt wie die eines Mörders.

»Halt den Mund, wenn dir an der Form deines Hohlkopfes etwas liegt …«, knurrte er nur und ging weiter. Midas' höhnischen Kommentar und Flavius Befehl, wieder zurückzukommen, hörte er gar nicht mehr.
 

Der Regen war so heftig, dass Geistige ihn wahrscheinlich als Tränen der Götter bezeichnet hätten. Doch die Götter waren nicht die Einzigen, die weinten. Kein Wetter hätte Kratos' Gemütszustand besser treffen können als der Regen, der im Moment auf ihn niederfiel.

Er saß auf einem Felsen am Ufer des Badesees, der schon über die Ufer trat. In seiner Hand hielt er ein Stück Papier.

Es war der Brief seines Vaters, der Kratos durch den Vorfall beim Training wieder eingefallen war.
 

Dies schreibt Dir, Kratos Erebos von Aurion, Dein Vater Leutnant Erebos Alexandrius von Aurion, reich an Jahren und Ehren.
 

Das Schicksal nötigt mich, Dir diese Zeilen zu senden, Sohn. Ich habe vor Kurzem erfahren müssen, dass eine Krankheit meinen Körper heimsucht, die mir im Laufe der nächsten Jahre den Tod bringen wird. Daher fühle ich mich gezwungen, Dich trotz Deines Verrates an der Familie von Aurion, von dem ich durch meine Kontakte zur königlichen Familie erfuhr, mit der Aufgabe zu betrauen, mein Hab und Gut von nun an zu verwalten, denn ich werde die letzten Jahre meines Lebens im Dienste Tethe'allas verbringen, bereit für mein Vaterland ehrenvoll zu sterben und nicht durch meine Krankheit dahinzusiechen.

Kehre, so schnell es Dir möglich ist, nach Meltokio zurück. Ich werde Dich erwarten.
 

Es grüßt Dich im Jahre Achthundertdreiundneunzig des großen Krieges,

Erebos Alexandrius von Aurion
 

Die Vorstellung, dass sein Vater sterbenskrank auf ihn wartete, um ihm die Verantwortung für den Familienbesitz zu übertragen, trotzdem er ihn so schwer enttäuscht hatte, weckte etwas in dem jungen Soldaten. Es war die Hoffnung auf die Anerkennung seines Vaters, nach der er tief in seinem Inneren noch immer dürstete. Und doch widerstrebte es ihm, seine Kameraden, mit denen er über die Zeit so zusammengewachsen war, im Stich zu lassen und in Meltokio sicher und wohlbehalten auf das eventuelle Ende des Krieges zu warten, während seine Freunde dafür starben.

»Hier steckst du also. Ich hab' dich schon überall gesucht.«

Es war Yuans Stimme, die das gesagt hatte. Niemand anderes wäre so verrückt gewesen und hätte bei diesem Wetter nach ihm gesucht. Doch Kratos wollte ihn nicht sehen. Er wollte niemanden sehen. Er wollte seine Ruhe.

»Warum bist du abgehauen?«, fragte er, als er den Felsen erreicht hatte, auf dem sein Freund saß. »Flavius ist stinksauer auf dich.«

»Ich weiß«, meinte der Rothaarige.

»Wir haben deinetwegen ganz schön was einstecken müssen«, sagte Yuan.

»Tut mir leid«, antwortete Kratos mit monotoner Stimme.

»Wirklich?«, fragte der Halbelf.

»Nein.«

»Dachte ich mir … was ist denn los?«

»Das geht dich nichts an.«

»Willst du darüber reden?«

»Nein.«

»Sicher?«

»Ja.«

»Ganz sicher?«

»Nein.«

Yuan schnaubte belustigt.

»Ist das ein Scheißwetter …«

»Stimmt.«

»Ist dir kalt?«

»Nein.«

»Warum so einsilbig?«

»Weiß nicht …«

»Soll ich dich in Ruhe lassen?«

»Ja.«

»Wirklich?«

»Nein.«

»Du bist seltsam …«

»Weiß ich.«

»Mach' mal Platz.«

Kratos rückte ein Stück, um seinem Freund Platz zu machen. Den Regen ignorierend, setzte Yuan sich neben den Rothaarigen.

»Wir könnten uns den Tod holen, wenn wir noch lange hier draußen bleiben …«, meinte der Halbelf.

»Ich weiß …«, meinte Kratos.

»Es geht um deinen Vater, richtig?«

Erebos' Sohn sah seinen Freund verwundert an.

»Woher zum Teufel weißt du das schon wieder?«, fragte er.

»Weil du nur, wenn es um ihn geht, diese Weltuntergangsstimmung verbreitest.«

»Hmpf …«

»Also?«

Wortlos drückte Kratos Yuan den zusammengeknüllten Brief in die Hand. Im Schutz seines Oberteils las der Halbelf den Brief, wofür er bedeutend länger brauchte als man vermutet hätte. Er hatte es immer noch nicht so mit den Buchstaben.

»Das … ist nicht gut …«, meinte er dann und blickte zu seinem Freund. »Du … willst gehen, richtig?«

Kratos nickte.

»Warum?«

»Er ist mein Vater.«

»…«, Yuan seufzte. »Ich weiß nicht, wie es ist, einen Vater zu haben … aber ich denke … es ist richtig.«

Der Rothaarige sah seinen Freund lange an. Die grünen Augen waren gefüllt mit Trauer, jedoch auch mit Verständnis. Das Lächeln, das der Halbelf ihm schenkte, zeigte Mitgefühl, jedoch kein Mitleid. Von seinem Gesicht tropfte der Regen, der noch immer unbarmherzig auf die beiden Freunde niederprasselte.

»Danke …«, sagte er dann.

»Gern geschehen. Aber wenn du dich wirklich bedanken willst, komm mit mir. Der Regen bringt dich sonst noch um.«

»Um nicht unbedingt, aber sicherlich zu Mesah«, meinte der Rothaarige und sprang von dem Felsen. »Aber bevor ich wieder zu dir und den Anderen gehe, muss ich mit Flavius sprechen.«

»Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist«, warf Yuan ein. »Er ist immer noch sauer.«

»Das ist mir egal«, sagte Kratos. »Ich hätte nicht gedacht, dass ich das je sage, aber: Das ist ein familiärer Notfall.«
 

Als Kratos sein Anliegen vorgetragen hatte, sah Flavius seinen Schützling lange an. Auch den Brief hatte er gelesen. Nun schwieg er schon eine ganze Weile, das energische Kinn auf seine zusammengefalteten Hände gelegt. Kratos hielt den Blick der grauen Augen einmal mehr stand.

»Was erwartest du von mir, Kratos?«, wollte Flavius wissen, wobei es das erste Mal war, dass sein Ausbilder ihn mit Vornamen ansprach. Eine Vertraulichkeit, die der Rothaarige nicht erwartet hatte.

»Dass Sie mich vom Dienst freistellen, Sir«, antwortete er ruhig.

»Für wie lange?«

Die Frage traf Erebos' Sohn nun doch kalt. Er hatte geglaubt, Flavius würde ihn verstoßen, wenn er sich gegen die Armee entscheiden sollte. Doch wie es schien, hatte er dies nicht vor.

»Ich … weiß es nicht, Sir.«

Flavius holte einen Bogen Papier aus seinem Schreibtisch, während er weitersprach.

»Ich weiß, dass dein Vater ein einflussreicher Mann ist«, begann er. »Er besitzt viele Landgüter und beschäftigt viel Personal. Jedoch kenne ich dich. Du bist klug und hast in jüngeren Jahren mit Sicherheit gelernt, wie du damit umzugehen hast. Ich gebe dir einen Monat Zeit, diese Dinge zu regeln. Kehrst du nicht zurück, sehe ich dich nicht mehr als Teil meines Kommandos an.«

Kratos schluckte hart. Ein Monat war wenig.

»Wird Yuan dich begleiten?«, wollte sein Ausbilder wissen.

»Nein, Sir«, antwortete der junge Soldat sofort.

Flavius hob die Augenbrauen, sagte jedoch nichts. Energisch, wie nur ein stolzer Krieger es tat, unterschrieb er das Schriftstück und reichte es seinem Schützling.

»Du hast einen Monat Zeit«, wiederholte der Feldwebel noch einmal. »Enttäusche deine Kameraden und mich nicht.«

»Nichts liegt mir ferner, Sir.«
 

»Wie bitte?«

»Kommt dir der Haferschleim schon zu den Ohren raus? Ich will nicht, dass du mitkommst.«

Yuan sah seinen Freund fassungslos an. Er war gerade in ihre Hütte zurückgekehrt, die sie sich noch immer mit den Zwillingen teilten, die jedoch gerade nicht da waren, und hatte angefangen zu packen. Da der Blauhaarige seinen Freund bisher überallhin begleitet hatte, hatte er angefangen, das Gleiche zu tun, doch Kratos hatte ihn zurückgehalten.

»Aber warum nicht?«

»Weil ich es nicht will. Bleib' hier, bei den Anderen«, meinte der Rothaarige, während er seine Kleidung zusammenlegte.

»Das ist für mich keine Begründung!«, beschwerte sich der junge Halbelf.

»Das ist dein Pech. Flavius hat nur mich freigestellt. Es wäre Fahnenflucht, würdest du mich begleiten.«

Damit war Yuan Schachmatt gesetzt.

»Du wirst nicht zurückkommen. Das ist der Grund, warum ich nicht mit soll, richtig?«

Kratos hielt für wenige Augenblicke in seiner Bewegung inne, machte dann jedoch weiter.

»Ich habe nur einen Monat. Es kann sein, dass ich das zeitlich nicht schaffe«, antwortete er.

»Von wegen!«, wurde Yuan nun laut. »Du weißt doch nur nicht, ob du es hinkriegst, deinem Vater die Stirn zu bieten!«

Wieder schwieg Kratos und packte weiter. Er besaß nicht viel, daher war relativ schnell fertig. Einen Augenblick lang blieb er stehen, eine Hand an seine Brust gelegt.

Hatte Yuan Recht? War es die Furcht, seinem Vater wieder nicht die Stirn bieten zu können?

Durch Zufall berührte er den Bernstein, den er noch immer um den Hals trug.

»…«

Der Rothaarige drehte sich zu seinem Freund um und nahm den Bernstein ab, um ihn Yuan zu geben.

»Pass für mich drauf auf«, sagte er und klopfte dem Blauhaarigen auf die Schulter. Dann schwang er sich seinen Rucksack über und ging aus der Hütte in den strömenden Regen. Der sprachlose Yuan folgte ihm bis zur Tür, den Bernstein in seiner Faust umschlossen. Flavius erwartete den Rothaarigen bereits.

»Am Ausgang des Forts bekommst du ein Pferd«, erklärte der Feldwebel. »Gute Reise.«

»Danke, Sir«, antwortete Kratos und salutierte. Dann wandte er sich zum Gehen um. Der Sturm erinnerte den jungen Soldaten an seine Ankunft im Fooji-Gebirge. So etwas nannte sich wohl Ironie des Schicksals.

Wie Flavius es gesagt hatte, wartete am Ausgang des Forts ein Pferd, angebunden an einen Felsen. Das arme Tier war vom Regen völlig durchnässt und zitterte am ganzen Leib. Kratos tätschelte es beruhigend.

»Tut mir leid, dass du dir das antun musst«, entschuldigte er sich. »Wenn wir in Meltokio sind, bekommst du dafür besonders viel Hafer.«

»Und du bist sicher, dass ich nicht mitkommen soll?«

Kratos drehte sich um. Yuan stand vor ihm, eine Decke über seinem Kopf ausgebreitet, damit er nicht nass wurde.

»Ja, ich bin mir sicher. Dein Platz ist hier, du brauchst die Ausbildung.«

»Du etwa nicht, wenn du mit uns auf dem Schlachtfeld stehst?«

Der Rothaarige schwieg und stieg auf den Rücken des Pferdes. Yuan seufzte und gab ihm die Decke, mit der er sich geschützt hatte.

»Viel Glück«, meinte Yuan. »Und vergiss nicht, dass wir auf dich warten.«

»Das werde ich nicht vergessen«, versprach Kratos.

Mit diesen Worten trieb er das Pferd an und es galoppierte davon.
 

Es war früher Morgen, als Kratos in Meltokio ankam. Sein Pferd war mindestens so erschöpft wie er selbst und auch genauso durchgefroren. Der Regen hatte erst vor wenigen Stunden aufgehört. Doch die Strapazen des Weges schienen vergessen, als er sah, was mit Meltokio passiert war. Denn es lag in Schutt und Asche.

Wie einst, als seine Heimatstadt angegriffen wurde, waren viele Häuser niedergebrannt und eingestürzt. Es stank nach verbranntem Holz und Fleisch, Weinen und Wehklagen war in der ganzen Stadt zu hören. Kratos stockte der Atem, als er all das sah. Und urplötzlich erinnerte sich an die Karte, die vor Flavius gelegen hatte, die Gruppierung der Figuren in der Nähe von Meltokio. Sylvarant hatte die Schlacht gewonnen. Halbelfen hatten dieses Leid verursacht.

Eilig, die Augen verschließend, ritt er durch die Straßen seiner Heimatstadt. Doch als er vor seinem Elternhaus stand, erwartete ihn der nächste Schock; es stand nur noch zur Hälfte.

Das große Foyer war niedergebrannt nur noch eine der beiden Treppen, die nach oben geführt hatten stand noch. Und wie beim letzten Angriff schienen alle Halbelfen verschwunden. Der junge Soldat fasste kaum, was er hier sah.

Er brachte das Pferd in den noch halb stehenden Stall und gab ihm das versprochene Hafer, das zum Glück noch an Ort und Stelle war. Dann trat er ins Innere des Hauses.

»Vater …?«

Eine Antwort bekam er nicht. Vorsichtig, aus Angst, das Dach könnte über ihm zusammenstürzen, setzte er seinen Weg fort. Kaum etwas erinnerte an das prunkvolle Anwesen der von Aurion-Familie. Es war regelrecht geisterhaft.

»Wer ist da?«, erklang dann die Stimme seines Vaters aus dem Arbeitszimmer. Es lag in dem Teil des Hauses, der nicht eingestürzt war. Kratos öffnete die Tür.

»Ich bin es. Dein Sohn«, sagte der Rothaarige.

Erebos saß hinter seinem Schreibtisch und stand auf, als er den Namen seines Sohnes vernahm. Dieser erschrak, als er seinen Vater zu Gesicht bekam.

Es war nichts mehr von dem imposanten Mann übrig geblieben. In den vier Jahren, die sie einander nicht begegnet waren, hatte Erebos sichtbar abgebaut. Sein Haar war von grauen Strähnen durchzogen, das Gesicht war blass und eingefallen. Außerdem sah man an den vielen Äderchen im Gesicht, dass Erebos seine offensichtlichen Schmerzen mit Alkohol betäubte.

»Es wurde Zeit, dass du kommst. Ich habe dich erwartet.«

Die kalte, tiefe Stimme ging dem Rothaarigen durch Mark und Bein. Sie weckte unschöne Erinnerungen an seine Kindheit. Doch er blieb aufrecht stehen und sah seinem Vater ins Gesicht.

»Ich weiß. Verzeiht, dass ich erst jetzt kam, Chichiue. Meine militärischen Pflichten nehmen mich sehr ein«, log er, ohne mit der Wimper zu zucken.

»Dir sei verziehen«, sagte Erebos. »Wie du siehst, hat diese Schlammblutlawine von Sylvarant verheerenden Schaden angerichtet. In Anbetracht dieser und jener Tatsache, dass ich schwer an Schwindsucht erkrankt bin, will ich dir den Verrat an der Familie vergeben und dir hiermit mein gesamtes Hab und Gut vererben.«

Erebos schob einen Bogen Papier über den Schreibtisch zu seinem Sohn. Der Rothaarige las ihn sich kurz durch. Es waren wenige Zeilen, in denen Erebos das eben Gesagte offiziell machte: Er überschrieb Kratos all seine Besitztümer.

»Du kannst damit tun und lassen, was immer dir beliebt«, sagte Kratos' Vater. »Ich werde noch heute meinen erneuten Dienst in der Armee antreten und Tethe'alla in diesem Kampf zur Seite stehen. Dein Vater wird ehrenvoll sterben.«

Die letzten Worte von Erebos hatten etwas an sich, dass wohl tröstend klingen sollte. Nicht, dass Kratos Trost gebraucht hätte.

»Ich denke, Ihr habt eine gute Wahl getroffen, Vater.«

Erebos nickte. Dann sahen sich Vater und Sohn noch einmal in die Augen. Obwohl Kratos' Verstand ihm sagte, dass es das letzte Mal war, dass sie sich gegenüberstanden, sagte ihm sein Gefühl etwas anderes. Der kalte Blick von Erebos erwärmte sich nicht einen Moment lang. Er ging schweigend, ohne ein weiteres Wort des Abschiedes. Kratos betrachtete die Intarsien der schweren Eichentür noch Weile, nachdem Erebos sie geschlossen hatte. Dann blickte er auf das Papier in seiner Hand.

»Das soll es gewesen sein?«, fragte sich der Rothaarige. »Das war alles?«

Er schnaubte. Jedoch handelte er nicht unklug. Statt das Papier im angefachten Kamin zu verbrennen, verstaute er es in seinem Rucksack. Dann ging zu dem Tresor, von dem er wusste, dass er hinter dem Bücherregal verborgen lag, welches hinter dem Schreibtisch seines Vaters stand. Die Kombination kannte er noch aus Kindheitstagen, da Erebos gewusst hatte, dass sein Sohn es nicht einmal im Traum gewagt hätte, ihn zu bestehlen. Im Tresor selbst befand sich das Gesamtvermögen seiner Familie. Als er in den Tresorraum trat, waren die Regale noch immer mit Münzsäcken gefüllt. Kratos dankte seinem Großvater im Geiste für seine vorausschauende Denkweise, als er ihm den Flügelrucksack geschenkt hatte. Er fasste ohne Probleme jeden der wertvoll gefüllten Lederbeutel, die der Rothaarige darin verstaute.

Während schales, kaltes Licht durch das einzige Fenster im Arbeitszimmer seines Vaters schien, las er sich die Wertpapiere durch, die er ebenfalls gefunden hatte. Es waren die Besitzurkunden für das Anwesen, sowie die Landgüter und – was Kratos einmal mehr einen Schauer über den Rücken jagte – die Halbelfen seines Vaters. Er zerriss augenblicklich jede einzelne von ihnen, bis auf eine Einzige.

Es war die von Yuan.

Obwohl er das Bedürfnis hatte, sie zu zerreißen, tat er es nicht. Wer wusste schon, zu was sie ihm noch nützlich sein konnte? Behutsam legte er sie zu den Besitzurkunden von Haus und Hof. Wenig später verschwanden auch die Schriftstücke in seinem Rucksack.

Nachdem er alles, was Wert besaß, an sich genommen hatte, begann er, sich durch die letzten Akten seines Vaters zu lesen. Denn auch, wenn er hier nie ein Zuhause gehabt hatte, so hatte er jetzt einen Ort, an den er, wenn es nötig sein sollte, fliehen konnte. Und außerdem war Kratos nicht dumm. Und es wäre töricht gewesen, aus seinen Emotionen heraus zu handeln und die Besitztümer seines Vaters verkommen zu lassen. Er würde alles regeln.

Innerhalb eines Monats.

Von Elfenblut und Menschenblut

Neunundzwanzig Tage waren seit Kratos' Abreise aus dem Fort vergangen. Und nun endlich befand er sich auf dem Rückweg dorthin. Im eiligen Galopp über die weiten Ebenen preschend, dem Wind im Gesicht spürend, ließ der Siebzehnjährige den letzten Monat noch einmal Revue passieren.

Das Erste, was er als neuer Hausherr des Aurion-Gutes getan hatte, war Aufbauhilfe zu leisten. Er hatte von seinem Familienvermögen eine beachtliche Summe darin investiert, Ärzte und Heiler, sowie Nahrung und Baumaterial nach Meltokio kommen zu lassen. Mit dieser Tat allein hatte er sich bereits einen Namen gemacht. Besonders, weil sein Vater nicht gerade für seine wohltätigen Aktivitäten bekannt gewesen war. Dann hatte er dafür gesorgt, dass die Felder weiterhin bestellt wurden und das Haus wieder in Stand gesetzt wurde. Außerdem hatte er sich den Luxus gegönnt, seinem Großvater einen Brief zu schreiben.

Nachdem er das Wichtigste geregelt hatte, hatte er angefangen, sich nach einem Verwalter umzusehen, der ihn nicht über den Tisch ziehen wollte. Die Suche hatte sich ziemlich hingezogen, doch schließlich hatte er die drei Verwalter, die er eingestellt hatte, so geschickt gegeneinander ausgespielt, dass sie in ihrem Konkurrenzkampf um die größten Erträge von Land, Haus und Finanzen ausschließlich ihm in die Tasche spielten. Außerdem hatte er veranlasst, nur Opfern des Angriffs die Arbeit auf den Feldern und im Haus zu geben. So half er den Bewohnern von Meltokio und konnte Yuan in die Augen sehen, da er ihm sagen konnte, dass nicht ein einziger Halbelf mehr für die von Aurion-Familie arbeitete.

Und nun endlich befand er sich auf dem Rückweg zum Fort. Er freute sich bereits, seine Kameraden wiederzusehen und war gespannt, welche Fortschritte sie gemacht hatten. Ihm war klar, dass er das alles nachholen musste, doch er hatte gemerkt, wie sehr viel mehr Erfüllung er in dem Zusammenleben mit seinen Kameraden fand. Es hatte ihm zwar auch Freude bereitet, wieder einmal sein Wissen und seine geistige Gewandtheit unter Beweis zu stellen, doch er vermisste es, sich körperlich zu ertüchtigen. Und vor allem vermisste er Yuan.

Als er gegen Mittag das Fort erreicht hatte, hörte er von weitem die Geräusche von Kämpfen. Er schmunzelte. Offenbar war er mitten ins Waffentraining hineingeplatzt. Eilig ging er in seine Hütte zurück, warf seinen Rucksack auf sein Bett, zog sich seine Trainingskleidung an und eilte im Laufschritt zum Trainingsplatz.

Doch das, was er sah, sollte ihn wenig erfreuen.

Seine Kameraden hatten Paare gebildet und kämpften miteinander. Er war froh, Yuan wiederzusehen, doch sein Anblick war alles andere als angenehm. Er hatte viele Platz- und Schürfwunden im Gesicht, beide Augen waren von Blutergüssen umgeben. Verzweifelt versuchte er sich, gegen Soras Angriffe zu wehren, doch seine Bewegungen schienen im Vergleich zu denen von Sora in Zeitlupe abzulaufen. Kratos zerriss es das Herz, als er seinen Freund so lädiert sah. Er wollte sich gerade einmischen, als Flavius ihn entdeckte.

»Na sieh' einer an. Unser Ausreißer hat seinen Weg zurückgefunden. Und das sogar einen Tag zu früh.«

Restlos jeder wandte seinen Blick nun zu dem Rothaarigen, der am Rand des Trainingsplatzes stand. Und dann wurden Freudenrufe laut und eine Flut von begrüßenden Händen kam auf ihn zu.

»Willkommen zurück!«

»Kratos, altes Haus! Wir dachten schon, du kommst nicht mehr!«

»Einfach abgehauen, ohne uns was zu sagen!«

»Meine Fresse, 's kommt mir vor, als hätten wir uns Jahre nich' gesehen!«

»Wo warst du denn? Keinen Bock mehr gehabt?«

»Unsinn, der doch nich! Der musste wahrscheinlich was mordswichtiges erledigen!«

»Ist doch auch egal! Er is' wieder da!«

Wer was gesagt hatte, wusste Kratos nicht. Er versuchte nur, sich aus der Menge rauszuschlagen und zeigte auf adelige Art und Weise seine Zähne; er lächelte.

Dann endlich stand er vor Flavius und salutierte.

»Melde mich zurück, Sir! Bitte, den Bericht am Abend abgeben zu dürfen!«

»Erlaubnis erteilt«, meinte Flavius und nickte. »Willkommen zurück, Soldat.«

Mit einem ehrlichen Lächeln wollte der Rothaarige gerade bitten, sich rühren zu dürfen, als die Glocke zum Mittagessen ertönte. Erleichtert, endlich ein Wort mit Yuan wechseln zu können, wandte er sich um. Doch die erhoffte Gelegenheit blieb aus. Er wurde von allen belagert, nur nicht von dem Halbelfen. Er saß teilnahmslos an seinem Platz und aß für seine Verhältnisse überaus wenig. Außerdem schien er Probleme mit dem Kauen zu haben. Doch wann immer Kratos das Wort an ihn richten wollte – was nicht leicht war, da er nicht mehr ihm gegenüber saß – wurde er von einem seiner Kameraden unterbrochen. Ehe er sich versah, begann das Nachmittagstraining. Eigentlich hatte er versucht, den Halbelfen wenigstens als Kampfpartner zu kriegen, doch Flavius bestand darauf, dass er mit ihm kämpfte. Der Grund war simpel: Er musste Kratos in die Führung einer Axt einweisen, da eben diese die momentane Übungswaffe war.

Dann, am Abend, startete er einen neuen Versuch, mit seinem Freund zu sprechen, doch selbst in der Dusche redeten noch die anderen auf ihn ein und überhäuften ihn mit Fragen. Selbst, als er in seine Hütte geflohen war, hielt das Luca und Lucian nicht von weiteren Unterredungen ab. Yuan stand irgendwann auf und ging. Dann reichte es dem Rothaarigen.

»Jetzt haltet endlich mal eure Mäuler!«

Völlig verwirrt über die plötzliche Wut ihres Kameraden, nutzte Kratos die momentane Stille aus, um Yuan zu folgen.
 

Es dauerte eine Weile, bis Kratos seinen Freund gefunden hatte. Er saß auf dem gleichen Felsen, auf dem der Rothaarige vor einem Monat mit ihm gesessen hatte. Seine Arme um seine Knie geschlungen, das Kinn daraufgelegt saß er zusammengekauert da. Als Kratos ihm näherkam, sah er, dass sein Freund zitterte. Da es jedoch nicht kalt war, musste es einen anderen Grund dafür geben.

»Yuan …?«, fragte Kratos vorsichtig. Der Blauhaarige rührte sich nicht.

»Was willst du?«, fragte er leise, wobei es ihm schwerfiel, zu sprechen.

»Mit dir sprechen …«, antwortete der Rothaarige. »Wir haben uns lange nicht gesehen.«

»Ich … will nicht mit dir sprechen …«

Kratos fragte sich, was um alles in der Welt passiert sein mochte, dass Yuan ihn so von sich abwies. Und genau das fragte er auch. Yuan jedoch schwieg. Dann griff er in eine Tasche seiner Kleidung und holte etwas hervor.

»Ich habe dich enttäuscht. Und das gleich zweimal …«

»Wovon redest du?«

Yuan hielt ihm seine geschlossene Faust hin. Kratos hielt seine Hand darunter. Ohne ihn anzusehen, öffnete der Blauhaarige die Faust. Heraus fielen die Scherben des Bernsteins, den Kratos seinem Freund anvertraut hatte. Nebelas Sohn sah auf die Splitter hinab, in denen sich das Mondlicht brach. Doch statt sich in den Augen seiner Mutter widerzuspiegeln, sah er nur noch die Fragmente seines eigenen Gesichtes darin. Nun schloss er seine Faust mit den Splittern, sowie seine Augen. In seinem Geist zogen die blassen Erinnerungen an seine Mutter vorbei. Die zärtlichen Berührungen ihrer Hände, die liebliche Stimme, die ihm Geschichten vorlas, die bernsteinfarbenen Augen mit dem warmen Schimmern darin.

Dann aber holte er aus und warf die Überreste des Bernsteins in den See.

»Was …?!«

»Es war nur ein Stein«, sagte Kratos auf den See hinausblickend. »Es gibt Dinge, die wichtiger sind, als Erinnerungsstücke an vergangene Zeiten. Meine Mutter ist tot und wird es bleiben. Du bist es nicht.«

Lächelnd sah der Rothaarige zu seinem Freund hinauf.

»Gräme dich nicht deswegen.«

»Aber er hat dir doch soviel bedeutet!«, behauptete der Halbelf.

Kratos sah wieder auf den See hinaus, da er den folgenden Satz nicht zu Yuan selbst sagen konnte.

»Es gibt jemanden, der mir mehr bedeutet.«

Nach einem weiteren Schweigen, sah Nebelas Sohn seinen Freund wieder an.

»Und jetzt erzähl' mir, warum du aussiehst, als hätte dich ein Drache durchgekaut.«

Das Lächeln auf Yuans Gesicht erlosch.

»Ich … komme nicht mehr mit …«

Kratos schwang sich auf den Felsen, auf dem Yuan saß.

»Wie meinst du das?«

Yuan sah auf seine Hände.

»Mein Körper … ist dafür nicht gebaut. Das Elfenblut in mir ist daran Schuld.«

Kratos runzelte die Stirn und sah seinen Freund verwirrt an.

»Was hat das mit deinem Blut zu tun?«

»Elfen sind Magier. Sie mögen gute Jäger sein, aber sie sind nicht für den Kampf gebaut. Meine Reaktionen sind zu langsam. Ich habe alles versucht, Flavius hat mir sogar Zusatzstunden gegeben. Aber … es war sinnlos.«

Kratos hörte aufmerksam zu, doch er ahnte, worauf es hinauslief.

»Flavius sagte … ich müsste gehen … er würde nicht wollen, dass ich als Pfeilfutter sterbe.«

Der Rothaarige schluckte hart. "Pfeilfutter" wurden unfähige Soldaten genannt, die man im Kampf voranschickte, damit sie die Pfeile der Gegner abfingen. Meistens wurden dafür Bauern oder Halbelfen rekrutiert. Letzteres galt jedoch nur für Tethe'alla.

»Ich bat ihn, mir noch Zeit zu geben, bist du wieder da bist, weil … ich nicht weiß, wohin ich gehen soll. Also gab er mir die Zeit. Aber jetzt … bist du hier. Nicht, dass ich mich nicht freuen würde, aber …«

»Du musst nicht gehen«, unterbrach Kratos ihn entschlossen. »Es wird schon eine Möglichkeit geben, hier einen Nutzen für dich zu finden. Wenn es der Kampf nicht ist, könnte Mesah dich doch in der Heilmagie unterweisen, oder du wirst Koch, oder …«

»Das habe ich ihm auch schon vorgeschlagen«, unterbrach Yuan ihn. »Er sagte aber, dass er seine Vorschriften hat. Mesah und der Koch dürfen keine Lehrlinge nehmen. Wir sind nur zum kämpfen hier. Und wenn alle außer mir sterben, wäre das genauso mein Todesurteil, weil den Vorgesetzten von Flavius klarwürde, dass ich nicht gekämpft habe. Ich bin ihm schon dankbar genug, dass er mich vor denen als Mensch deklariert hat.«

Nun verfiel Kratos ins Schweigen. Yuan tat es ihm gleich. Der Rothaarige blickte auf den See hinaus.

Konnte er nicht einmal etwas Gutes erfahren, wenn er irgendwo ankam?
 

Nun war ich zu meinen Freunden zurückgekehrt und erfuhr, dass ausgerechnet mein bester von ihnen mich bald verlassen würde.

Unter normalen Umständen hätte ich Yuan einfach zurück nach Meltokio geschickt, jetzt, wo ich der Herr des Hauses war, doch die Stadt war erneut von Sylvarant in Schutt und Asche gelegt worden. Ein Halbelf würde sofort in tausend Stücke gerissen werden.

Also beschloss ich, Flavius um Rat und Aufschub für Yuan zu bitten … den Aufschub gewährte er mir gern, doch mit dem Rat sah es schlecht aus. Er wusste nichts über Halbelfen. Jedoch versprach er, Yuan und mir soviel Zeit wie möglich zu verschaffen. Also begannen wir, eine Möglichkeit zu suchen, Yuans Defizit auszugleichen.
 

Während Yuan mehr trainierte als irgendeiner seiner Kameraden, unterstützte Kratos ihn dabei, wo er nur konnte. Er sorgte dafür, dass Mesah seine ständigen Wunden regelmäßig versorgte und der alte Halbelf ihm einfache Heilmagie beibrachte. Außerdem bekam Yuan mehr zu Essen als seine Kameraden und das auch noch heimlich, damit kein Neid entstand.

Der Rothaarige selbst nutzte es, dass Flavius der Truppe einmal in der Woche anbot, etwas von seinem Ausflug in die Stadt mitzubringen. Kratos bat ihn, ihm Bücher über Manalogie, die Wissenschaft des Manas, und alles, was ihm irgendwie nützlich erschien, mitzubringen. Während Yuan abends erschöpft vom Training entweder schlief, oder sich von Sora massieren ließ, wälzte Kratos die Bücher, die Flavius ihm jede Woche mitbrachte. Doch so sehr sich beide auch anstrengten, es brachte kaum Erfolg hervor. Yuan blieb zu langsam und keine der drei Waffen, die Flavius sie lehrte, schien ihm zu liegen.

Es waren drei Wochen vergangen, als der Feldwebel zu den beiden kam. Es war früher Abend und sie hatten noch ein Extratraining angelegt, was Kratos auch half, seine Fehltage aufzuarbeiten. Die beiden jungen Soldaten lieferten sich gerade ein Kräftemessen Klinge an Klinge, als der Feldweben sie unterbrach.

»Es ist zwar lobenswert, dass ihr soviel trainiert, jedoch fürchte ich, dass es nicht mehr viel bringen wird.«

Kratos und Yuan verließen ihre salutierende Position. Während Yuan schluckte, sah Kratos seinen Ausbilder ungläubig an.

»Sie haben doch gesagt, Sie verschaffen uns soviel Zeit wie möglich! Waren drei Wochen schon alles?«, beschwerte er sich.

»Nicht in diesem Ton, Aurion«, mahnte Flavius. »Ihr habt noch eine Woche, danach kann ich ihn nicht mehr länger durchfüttern und versorgen. Und da er so gut wie keine Fortschritte gemacht hat, wollte ich euch unnötiges, kräftezehrendes Zusatztraining ersparen. Geht ins Bett, sowie die anderen. Morgen fangen wir an, mit verschiedenen Waffen zugleich zu arbeiten.«

Damit ging Flavius. Kratos sah ihm einen Augenblick nach, bis er wütend gegen einen Stein trat.

»Verdammt nochmal!«, fluchte er. »Das gibt es doch nicht! Warum um alles in der Welt kriegen wir das nicht hin?!«

»Weil ich ein Halbelf bin«, sagte Yuan resignierend. »Ich bin weder so gut wie ein Mensch, noch so gut wie ein Elf. Reg' dich nicht auf. Du weißt, wie das endet.«

»Ich soll mich nicht aufregen?! Was wird denn aus dir, wenn man dich aus der Armee entlässt?!«

»Kratos, beruhige dich«, versuchte der Blauhaarige, seinen Freund zu beschwichtigen. »Ich bin weitergekommen als so manch anderer Halbelf. Ich komme zurecht. Du hast alles für mich getan, was du tun konntest. Und dafür bin ich dir sehr dankbar.«

Der Blauhaarige lächelte. Kratos sah genau, dass es nicht echt war. Dann ging sein Freund, anscheinend völlig demotiviert von der Nachricht. Der junge Soldat trat abermals gegen den Stein. Es musste doch eine Möglichkeit geben, seinem Freund zu helfen!

Er wusste nur nicht, welche …
 

Die Woche verging schnell. Zwar trainierten die beiden Freunde weiterhin jede freie Minute, doch der einzige, der davon Vorteile zog, war Kratos, der sein versäumtes Training nachholen konnte. Yuan blieb auf seinem Stand. Er verschlechterte sich nicht, verbesserte sich jedoch auch kein Stück. Am letzten Abend der Woche kam Flavius wieder zu den beiden Freunden. Sein Blick sprach Bände.

Yuan jedoch erwiderte den Blick stolz. Und er konnte es auch sein. Er hatte alles versucht, was in seiner Macht gestanden hatte.

»Morgen räumst du deinen Platz«, sagte Flavius. »Es tut mir leid, aber es steht außerhalb meiner Macht, dich noch länger hierzubehalten.«

Yuan nickte und salutierte vor Flavius.

»Ich danke Ihnen für ihre Hilfe, Sir …«

Der Feldwebel nickte und legte seine Hände auf die Schultern und Kratos und Yuan, um beide noch einmal aufmunternd anzusehen. Dann wandte er sich um und verschwand in seinem Zelt. Yuan sah Kratos an, dass er etwas sagen wollte.

»Es ist vorbei«, sagte der Blauhaarige. »Ich gehe schlafen. Morgen wird ein harter Tag …«

Damit ließ der Halbelf seinen besten Freund allein. Kratos blieb stehen und sah ihm nach, wie er in den Reihen der kleinen Hütten verschwand. Der Rothaarige spürte eine unglaubliche Verzweiflung in sich. Yuan war seit über fünf Jahren an seiner Seite. Was für andere nicht viel erschien, war für Kratos sein halbes Leben. Yuan und er hatten soviel durchgestanden, soviel zusammen erlebt, dass es für ihn unmöglich erschien, ohne seinen blauhaarigen Meter Katastrophe zu leben.

Schwer seufzend setzte er sich an eine nahgelegene Felsenklippe. Das Licht des allmählich aufgehenden Vollmondes fiel auf den wabernden Nebel, der sich im Tal ausbreitete. In weiter Ferne heulte ein Wolf. Der lange, wohlklingende Laut weckte in dem Rothaarigen die Erinnerung an seinen Großvater …

Während er dem Wolf bei seinem Heulen lauschte, sah er zum Vollmond hinauf und ließ seinen Gedanken freien Lauf. Sie waren wie ein Fluss, der vor seinem geistigen Auge vorbeizog. Erinnerungen an die angenehmen Tage seiner Kindheit. Die Geburt von Belias, das Wettreiten mit Yuan, den Fund und die Aufzucht von Noishe. Die schon beinahe liebevolle Pflege des Blauhaarigen, als er vergiftet wurde, seine Verliebtheit in Viviane, seine ständigen Sticheleien …

Als der Wolf endlich eine Antwort auf sein einsames Heulen bekam, bogen Kratos' Gedanken erneut zu seinem Großvater ab. Begonnen bei seinen Worten über Yuan, weiter zu Noishes Fund.

Kratos seufzte schwer. Noishe war auch schon über drei Jahre tot. Trauer überkam ihn, als er in die Sterne blickte. Ob er irgendwo dort oben zu ihm hinuntersah?

Und was würde aus Yuan werden? Was, wenn er wieder gefangen genommen würde? Ihm kamen Gedanken, die ihm nicht kommen wollten. Um sie loszuwerden, schüttelte er den Kopf.

Traurig blickte er über den Nebel und die Berge. Plötzlich musste er an etwas denken, das sein Großvater ihm einst beigebracht hatte …
 

»Alles in der Welt besteht aus Gegensätzen«, sagte Tiberius, lächelnd auf seinen Enkel sehend. »Das fängt bei Gut und Böse an. Eigentlich gibt es kein Böse. Das Gute wäre nicht gut, wenn es das Böse nicht gäbe. Also ist das Böse auch gut. Verstehst du das, kleiner Rotschopf?«

Kratos sah seinen Großvater an.

»Nicht ganz …«

Tiberius überlegte einen Augenblick lang.

»Hmm … du weißt doch, was Gegensätze sind, oder?«

»Natürlich«, antwortete der Rothaarige. »Himmel und Erde, Wasser und Feuer …«

»… Liebe und Hass, Gut und Böse«, nickte Tiberius. »Aber was wäre der Himmel ohne Erde? Oder das Wasser ohne Feuer?«
 

»Und was wäre ein Mensch, wenn es die Elfen nicht gäbe?«, fiel es Kratos ein. »Yuan hat zwei Gegensätze in sich. Aber ohne Gegensätze, was wäre die Welt denn dann? Er muss sie nur irgendwie in Einklang bringen …!«

Der Rothaarige öffnete die Augen, die er bei der Erinnerung geschlossen hatte. Und dann fiel ihm etwas ein. Eilig griff er in seinen Rucksack, den er, seitdem darin ungefähr die Hälfte seines Familienvermögens lag, nicht mehr aus den Augen ließ und suchte ein Buch darin. Nach kurzer Suche fand er es und schlug das Inhaltsverzeichnis auf. Es war ein Buch über die verschiedenen Waffen der Welten. Er erinnerte sich, dass er dort eine Waffe gesehen hatte, die mit den Worten beschrieben wurde "Für Menschen und Elfen gleichwertig gut zu handhaben". Und dann endlich fand er sie.

Die Abbildung zeigte einen langen, stabilen Stab, an dessen Enden zwei mächtige Axtblätter befestigt waren. Der Kampftab war eine Erfindung der Elfen, die Axt hingegen eine Errungenschaft der Menschen. Welche Waffe wäre also besser für Yuan geeignet als das mächtige und berüchtigte Axtschwert?

Kratos sprang auf und lief ins Fort zurück. In Flavius' Zelt brannte kein Licht mehr, was dem Rothaarigen jedoch gerade recht war. Leise schlich er hinein und sah sich suchend nach dem Schlüsselbund seines Vorgesetzten um. Nach wenigen Augenblicken entdeckte er ihn an der Taille von Flavius. Er fühlte sich zwar nicht wohl dabei, seinen Vorgesetzten zu bestehlen, doch der Zweck heiligte bekanntlich die Mittel.

So vorsichtig, wie ein Mann es sein konnte, löste er den Schlüsselbund von Flavius' Gürtel und hing seinen Briefbeschwerer daran, damit der sogar im Schlaf wachsame Soldat keinen Verdacht schöpfte, sollte er sich umdrehen.

Als er die Schlüssel endlich in Händen hielt, eilte er so schnell ihn seine Beine trugen zum Waffenlager. Er wusste, er hatte nur noch diese eine Nacht Zeit und der Mond war schon vor einer Stunde aufgegangen.

Endlich stand er in dem kleinen Lager, in dem die Waffen verwahrt wurden. Stumpfe, wie scharfe Klingen waren hier zu finden. Ganze Reihen von Speeren, Äxten und Bögen reihten sich hier aneinander, alle verschieden schwer und groß, auf jede Art von Kämpfer zugeschnitten. Doch Kratos interessierte im Moment etwas anderes.

Er ging zu den Speeren suchte sich einen mittelschweren heraus, dessen Holz stark genug zwar, um zwei Axtblätter zu tragen, ohne in der Mitte zu zerbrechen. Dann löste er die Speerspitze, die mit einem besonders stabilem Band und mehreren, festen Knoten angebracht wurde. Als er damit fertig war, verstärkte er den Stab in der Mitte vorsichtshalber noch, indem er ein dünnes Seil mehrfach darum band. Schließlich legte er die Hände darum und schwang den Stab einige Male. Als er feststellte, dass das Seil sich nicht zu sehr in die Handinnenflächen hineinfraß, führte ihn sein Weg zu den Äxten. Auch hier bediente er sich der mittelschweren Art und suchte eine Zwillingsaxt, dessen Blatt sich mittig so wenig wie möglich verkleinerte. Nach kurzer Suche wurde er fündig und montierte auch diese Waffen auseinander. Flavius hatte ihnen vor einiger Zeit beigebracht, wie man Waffen im Notfall reparierte, oder sogar selbst baute. Daher war es für Kratos kein Problem, ohne Verletzungen Speere und Äxte auseinander zu bauen.

Schließlich fing er an, die Axtblätter an den Enden des Stabes zu befestigen und so fest zu verknoten wie es ihm möglich war. Yuan war handwerklich ein wenig geschickter als er, genauso wie die meisten anderen seiner Kameraden, doch es genügte. Als er fertig war, betrachtete der Rothaarige sein Werk und probierte aus, wie es zu handhaben war. Die Waffe war ziemlich schwer, doch er merkte, dass man sie nur gut ausbalancieren musste, um sie kraftvoll schwingen zu können.

Jetzt musste er nur noch Yuan von seinem Plan überzeugen.
 

»Yuan! Yuan, wach' auf!«

Der Blauhaarige knurrte.

»Sora … lass mich noch 'n bissl … die Nacht war so anstrengend …«

Während Kratos sich gerade veralbert fühlte, kuschelte sich Yuan noch enger in seine Decke ein. Der Rothaarige schnaubte und zog ihm die Decke weg; worauf hin der Halbelf aus dem Bett fiel.

»Sag mal spinnst …!«

»Schhhh!«, machte Kratos und Yuan verstummte. Der Adelige deutete mit dem Kopf nach draußen und ging, da Yuan sich noch anziehen musste. Wenig später stand sein Freund dann vor ihm.

»Warum um alles in der Welt …?!«

Ohne auch nur ein Wort zu sagen, hielt Kratos seinem Freund das Axtschwert vor die Nase.

»Was ist …?«

Erneut verbot der Rothaarige ihm den Mund und bedeutete nur, ihm zu folgen. Dann ging er los, ohne ein Wort der Erklärung oder ähnliches. Kratos wusste, dass Yuan ihm folgen würde, bis sie weit genug von den Unterkünften weg waren, um miteinander sprechen zu können. Dafür mussten sie am offenen Waffenlager vorbeigehen. Yuan staunte nicht schlecht, als er die offene Tür sah, fragte jedoch erstmal nicht weiter nach. Als Kratos dann aber auf den Berg zuhielt, dessen Besteigung das Kommando noch immer nicht geschafft hatte, blieb der Blauhaarige stehen.

»Hättest du mir die Güte, zu erklären, was das Ganze hier soll? Das Waffenlager aufgebrochen? Das halbe Inventar zu einem … Dingsda zusammengebastelt? Mich mitten in der Nacht aus dem Bett geholt mit dem Vorhaben, den Berg zu besteigen? Haben dir die Träume von Salomé das Hirn vernebelt?!«

Kratos war ebenso stehen geblieben und sah Yuan ernst an.

»Dieses Dingsda, wie du es nennst, ist ein Axtschwert. Das ist eine Waffe, die von Menschen und Elfen gleichermaßen geführt werden kann«, begann er zu erklären. »Es wäre dein Tod, wenn Flavius dich rauswirft, es wäre dein Tod, wenn ich dich nach Meltokio schicke, es wäre der Tod meines Großvaters, wenn du zu ihm gehst, da sie ihm schon ohne Grund das Haus in Brand gesetzt haben und es wäre unser Tod, wenn wir beide gemeinsam abhauen, denn alleine lasse ich dich nicht gehen!«

Der Halbelf starrte den Rothaarigen an, als würde er nackt vor ihm Samba tanzen. Kratos erwiderte den entsetzten Blick gefasst.

»Es ist unsere einzige und letzte Chance«, machte er klar. »Wenn wir Flavius zeigen, dass du mit dieser Waffe umgehen kannst, kann er dich hierbehalten!«

»Ja, aber … warum darauf?«, fragte Yuan und zeigte auf die Bergspitze.

»Da oben vermutet er uns Morgen früh nicht. Er wird erst das Fort und Fooji absuchen. Ein paar Stunden reichen, damit du lernst, es zu handhaben. Es müssen nur die Grundzüge sein, Flavius wird erkennen, dass du es kannst!«, behauptete Kratos.

»Aber nicht mal die Besten unseres Kommandos haben es darauf geschafft! Und du willst mal eben heute Nacht auf die Spitze marschieren?«

»Ja.«

Die einfache und klare Antwort ließ Yuans Widerworte verstummen. Der Rothaarige ging weiter. Auf einem Holzgestell lagen wie immer die Gewichte, die Flavius ihnen beide Male auferlegt hatte. Und da Yuan das Axtschwert trug, wollte er für ausgleichende Gerechtigkeit sorgen. Als er den Bambusstab mit den Sandsäcken auf seine Schultern gelegt hatte, sah er Yuan an. Der Halbelf nickte und legte sich das Axtschwert auf die Schultern. Nach einem letzten Blick auf den Gipfel marschierten die beiden Freunde los, nur begleitet vom spärlichen Schein des Mondes, der ihnen den Weg erhellen sollte …
 

Kratos keuchte schwer. Er kniete auf allen Vieren, seine Lunge brannte, er rang nach der dünnen Luft. Yuan kniete neben ihm, ebenso schwer nach Atem ringend. Der Rothaarige zitterte am ganzen Körper, Schweiß rann ihm aus jeder Pore.

Sie hatten es geschafft.

Vor ihnen erstreckte sich ein Wolkenmeer, wie es schöner kaum sein konnte. Darüber funkelten und strahlten die Sterne in all ihrer Pracht, der Vollmond tauchte das Plateau, dass die Bergspitze darstellte in ein geheimnisvolles, magisches Licht und schien gemeinsam mit den Wolken, die wie feiner Nebel durch die Luft waberten, das Mana, die Essenz allen Lebens, für sterbliche Augen sichtbar zu machen.

Doch die beiden jungen Männer hatten dafür keinen Blick. Nachdem sie trotz der dünnen Luft wieder zu Atem gekommen waren, erhoben sich beide wieder. Der Gewaltmarsch auf den Berg hatte sie den Großteil ihrer Kräfte gekostet, doch sie hatten nur sehr wenig Zeit und diese galt es, effektiv zu nutzen.

Kratos nahm das Schwert, das er am Gürtel seiner Kleidung trug zur Hand und erhob sich. Yuan stützte sich auf das Axtschwert, um aufzustehen. Dann stellten sie sich einander gegenüber, jeder auf die andere Seite des kleinen Plateaus.

Umgeben von Wolken, ins mystische Mondlicht getaucht, sahen sich die beiden Freunde ernst an. Beiden war klar, dass Yuan den Umgang mit dem Axtschwert lernen musste. Und sie hatten dafür nur wenige Stunden Zeit.

Kratos ging noch einmal in sich und sammelte all seine verbliebene Kraft. Ein letzter Blick der braunen und grünen Augen zueinander und die beiden Freunde schlugen ihre Waffen an.

Nur die Sterne waren Zeugen dieses Kampfes, der über Yuans Schicksal und vielleicht auch über sein Leben entschied …

Ein unvergesslicher Geburtstag

Ich … kann nicht … mehr …!«, keuchte Yuan. »Es geht nicht …!«

»Natürlich geht es! Du musst es nur wollen! Steh' auf!«

Der Blauhaarige lag schwer keuchend auf dem Boden. Er war von Kratos zum inzwischen vierten Mal besiegt worden. Auch das Axtschwert wollte ihm einfach nicht liegen, doch Kratos verbot es ihm ganz einfach aufzugeben. Erneut stand Yuan auf.

»Du kannst das«, behauptete der Rothaarige.

»Sagst du«, keuchte der Halbelf.

»Was fällt dir denn so schwer?«, fragte sein Freund noch einmal.

»Ich habe es dir schon tausend Mal erklärt: Ich bin zu langsam. Daran kann auch dieses komische Ding nichts ändern!«, fauchte er und trat gegen das Axtschwert, das auf dem Boden lag.

»Doch, das kann es«, meinte Kratos ruhig und hob es auf. Dann gab er es Yuan zurück, behielt seine Hände jedoch darauf.

»Was soll das werden? Ich steh' nicht auf Händchenhalten.«

»Sei still und mach' die Augen zu«, ließ der Adelige sich nicht beirren.

Yuan seufzte und schloss seine Augen. Nun schlüpfte Kratos das erste Mal in die Rolle eines Mentors. Er musste seinem Freund Mut machen, sonst konnte er sein so gut verborgenes Potenzial, das diese Waffe vielleicht entfalten konnte, nicht entdecken. Kratos nahm sich ein Beispiel an Flavius und begann mit ruhiger, monotoner Stimme auf Yuan einzureden.

»Konzentrier' dich jetzt«, verlangte er. »Konzentriere dich nur noch auf die Waffe in deinen Händen. Spüre die Gewichte an den beiden Seiten. Eine Seite«, er legte eine Hand auf das rechte Axtblatt, »ist dein Menschenblut. Die andere«, er legte seine andere Hand auf das linke Axtblatt, »ist dein Elfenblut. Alles, was du tun musst, ist sie in Einklang miteinander zu bringen«, fuhr er fort und nahm seine Hände wieder weg. »Spüre das Mana in dir. Spüre es und versuche es zu lenken. Lenke es in deine Arme, deine Beine …«

Yuan schlug die Augen auf.

»Ich bitte dich, was soll der Unsinn?«, fragte er.

Kratos sah ihn für einen Augenblick recht fassungslos an. Dann ließ er von ihm ab und wandte sich um.

»Weißt du was? Du kannst mich mal. Mach deinen Kram allein«, sagte er und meinte es auch so. Yuan sah zu ihm.

»Heh, so war das nun auch wieder nicht gemeint!«, versuchte er, seinen Freund zu besänftigen.

»Vergiss es«, sagte Kratos. »Ich habe für dich einen Monat lang Bücher gewälzt, ich habe mir für dich nächtelang den Kopf zerbrochen, ich bin für dich im Waffenlager eingebrochen und habe damit riskiert, dass Flavius mich zusammen mit dir rauswirft und ich bin für dich hier raufgeklettert. Und was ist der Dank dafür? Du bist nur am jammern!«

Kratos hatte sich umgedreht, als er das gesagt hatte. Yuan stand da und sah ihn an, bevor er zum Axtschwert blickte. Dann hob er es auf.

»Lass es uns nochmal versuchen«, bat er nun.

»Nein«, sagte der Rothaarige klar und holte nichts anderes als Yuans Besitzurkunde aus seinem Rucksack. Er hielt sie dem Halbelfen hin, der – mit der Geschwindigkeit eines Raubvogels – zuschlug. Kratos dachte im ersten Augenblick, seine Hand würde abfallen, doch sie tat es nicht. Stattdessen zerfiel die Besitzurkunde in zwei Teile und flog mit der nächsten Windböe davon. Der Rothaarige sah zu seinem Freund hinauf, da er kniete. Yuan sah wiederum zu ihm herunter.

»Was … war das …?«, fragte er.

»Du kannst es!«, freute sich Kratos auf einmal und erhob sich wieder. »Das war so schnell, dass ich es nicht einmal sehen konnte!«

Yuan sah fassungslos auf das Axtschwert hinab. Dann begann er auf einmal zu lachen.

»Ich kann es! Ich kann es tatsächlich!«, begriff er nun und strahlte seinen Freund an. Der Rothaarige strahlte zurück. Es dauerte keine Sekunde bis die beiden sich in die Arme fielen und anfingen, im Kreis zu tanzen und zu singen.

»Du kannst es~!«

»Ich kann es~!«

Das wiederholte sich noch einige Runden, bis sie sich wieder einbekamen. Dann hob Yuan das Axtschwert erneut auf und schwang die Waffe einige Male kraftvoll und schnell. Kratos nahm sein Schwert wieder zur Hand. Der Halbelf grinste ihn an.

»Bereit zu verlieren, Mensch?«, fragte er.

Der Rothaarige erwiderte das Grinsen.

»Nimm den Mund nicht zu voll, Halbblut.«

Mit diesen Worten stürzten die beiden aufeinander zu. Durch den Erfolg beflügelt, war Yuan zu neuen Kräften gekommen. Er schwang die Waffe so schnell, wie Kratos es noch nie zuvor gesehen hatte. Egal, von welcher Seite er angriff, Yuan konterte und parierte es.

Im Schein des Mondes, der allmählich unterging, trainierten sie miteinander, ohne Pause, ohne Gnade. Immer wieder fielen beide zu Boden, immer wieder halfen sie einander auf. Kratos versuchte alles. Er probierte jede Parade aus, die Flavius ihnen beigebracht hatte, er versuchte sogar, ohne Waffen zu kämpfen. Doch alle Fausthiebe, Tritte oder andere Angriffe brachten nichts. Yuans Muskeln schienen aus Stahl zu sein, nie wurden seine Arme müde. Solange das Mana durch seinen Körper floss, konnte er kämpfen. Immer und immer wieder griffen die beiden einander an. Yuans zweiseitige Waffe war für Kratos besonders heimtückisch, da er auf beide Axtblätter achten musste.

Als die Sonne aufging, standen sie einander keuchend gegenüber, jedoch noch immer grinsend. Während in Yuan das Mana pulsierte, war es bei Kratos das Adrenalin, das ihm die Kraft gab, so lange und ausdauernd zu kämpfen. Das Licht der aufgehenden Sonne fiel auf die inzwischen nackten Oberkörper der jungen Soldaten, über deren Muskeln der Schweiß rann. Nach einer kurzen Atempause gingen sie erneut aufeinander los.

Kratos griff mit seinem senkrechten Schwerthieb an, Yuan parierte ihn mit dem rechten Axtblatt. Dann wollte er das Linke auf seinen Freund niedersausen lassen, doch der junge Soldat wusste sich zu wehren; er sprang außer Reichweite. Das Axtschwert mit beiden Händen schwingend, rannte Yuan erneut auf seinen Freund zu, doch Kratos duckte sich und trat dem Halbelfen die Beine weg. Er jedoch stützte sich auf seine Waffe und machte einen Salto, um den Sturz abzufangen. Kratos setzte sofort nach und schwang sein Schwert wieder angreifend in Yuans Richtung. Doch der Halbelf parierte erneut und es kam zu einem Kräftemessen. Grün und braun funkelten sich kampfeslustig an. Dann stießen sie sich voneinander weg, begannen erneut, sich zu attackieren. Immer und immer wieder tauschten sie Paraden aus, bis es Yuan endlich gelang, Kratos zu Boden zu bringen und ihm die Klinge von einer der Äxte an den Hals zu halten.

Beide keuchten schwer. Sie waren völlig außer Atem. Und doch konnten sie nicht anders, als zu lachen.

Plötzlich ertönte Applaus. Langsamer, regelmäßiger Applaus von einem einzigen Paar Hände. Kratos und Yuan blickten sofort in die Richtung, aus der der Applaus kam. Niemand anderes als Flavius stand an einen Felsen gelehnt dort und klatschte den Beifall.

»Ich habe selten einen so interessanten Kampf verfolgen dürfen. Und dann noch mit einer solch außergewöhnlichen Waffe.«

»F-Feldwebel …!«, erschrak Kratos und schluckte hart. Yuan ließ ihn los, damit er aufstehen konnte und salutierte augenblicklich, wobei er vergaß, dass er das Axtschwert immer noch in der Hand hatte. Da der Rothaarige neben ihm stand, bekam er die Breitseite der Waffe gegen den Kopf und fiel fluchend zu Boden.

»Auf deiner Beerdigung sollte man Vergnügungsteuer erheben!«, schimpfte er, während Flavius es sich gönnte, in seine Faust zu prusten. Schließlich standen die beiden salutierend vor ihm. Er verschränkte seine Hände hinter seinem Rücken und ging auf die Freunde zu.

»Mal sehen …«, fing er an. »Ihr habt euch unerlaubt vom Fort entfernt, mir den Schlüssel gestohlen, seid ins Lager eingebrochen, habt dort Waffen demontiert und entfernt … es sieht übel für euch Zwei aus.«

Kratos rührte sich nicht, jedoch erhob er Einspruch.

»Ich habe es für einen Kameraden getan, Sir!«, sagte er. »Ich habe mich nur an ihre Lehren gehalten! Die Kameradschaft geht über alles, Sir!«

Flavius hob seine Augenbrauen.

»Du besitzt den Mut, mir die Worte im Mund zu verdrehen, Soldat Aurion?«

»Ich interpretiere sie nur frei, Sir!«

Der Feldwebel seufzte.

»Ihr macht mir ausschließlich Probleme, wisst ihr das eigentlich?«, fragte er. »Ein Halbelf den ich als Mensch deklarieren und dann doch rauswerfen muss, ein Blaublut, dass mit der königlichen Familie verbandelt ist, die mir ohnehin gegen den Strich geht … und doch sehe ich in euch beiden ein großes Potenzial.«

Kratos und Yuan schielten sich an, verblieben jedoch in ihrer salutierenden Position.

»Ihr könntet durchaus einst zu Rittern geschlagen werden, wenn ihr euch weiterhin für die militärische Laufbahn entscheidet«, meinte ihr Vorgesetzter.

»Sir, heißt das …«, fing Kratos an. »Dass Yuan bleiben darf?«

Flavius antwortete auf seine eigene Art und Weise.

»Zwei Wochen Latrinendienst! Alle beide! Und jetzt runter mit euch, aber im Laufschritt!«

Kratos und Yuan tauschten ein Lächeln aus, bevor sie hinter Flavius her marschierten. Der Blauhaarige wich seinem Freund erst wieder von der Seite, als er die Gelegenheit gehabt hatte, etwas loszuwerden.

»Danke, mein Freund.«
 

Nachdem Yuan wieder ins Kommando aufgenommen war, hatte sich meine Welt wieder in ihre Fugen eingefunden und ich war zufrieden. Flavius trainierte uns weiterhin unbarmherzig und gnadenlos, wurde für uns jedoch mehr und mehr eine Vaterfigur. Keiner von uns, nicht einmal Midas, der sich meistens aus allem raushielt, hätte auch nur einen Gedanken daran verschwendet, dem Kommando den Rücken zu kehren. Wir würden unser Leben füreinander geben, wenn es nötig sein sollte. Und unsere Freundschaft, das war uns ebenso klar, würde noch lange Zeit nach unserem Dienst anhalten.

Tage wurden zu Wochen, Wochen zu Monaten. Wir mauserten uns zunehmend zu dem, zu was Flavius uns ausbilden sollte: Der Division des Ifrit.

Die Armee Tethe'allas war in sogenannte Divisionen eingeteilt. Jede von ihnen hatte seine Besonderheit. Die Division des Ifrit wurde gemeinhin als die Beste bezeichnet. Nur die Origin-Division, die höchste Armee des Königshauses, galt als besser. Denn diese Division beherbergte Menschen, die mit Magie umgehen konnten. Wie das möglich war, war keinem bekannt. Allerdings waren sie kein Opfer der Diskriminierung; zumindest nicht öffentlich. Doch das sollte ich erst viel später erfahren.

Der Herbst näherte sich und mit ihm mein achtzehntes Lebensjahr. Die Volljährigkeit hatte für mich wenig Verlockendes an sich, da ich bereits alles, was man als Volljähriger tat, tun konnte. Meine Unterschrift war durch die Erbschaft als gültig anerkannt worden, geschäftsfähig war ich schon im jüngsten Teenageralter gewesen.

Doch ich ahnte nicht, dass dieser Geburtstag etwas wahrlich Besonderes werden sollte. Denn eines hatte ich in meiner Planung vergessen: Meine Kameraden.
 

Es war ein vollkommen gewöhnlicher Tag gewesen.

Bis auf die Gratulationen seiner Freunde – und sogar der von Flavius – war Kratos' achtzehnter Geburtstag sehr ruhig verlaufen. Da er auf einen Sonntag gefallen war, hatte er sogar freigehabt und hatte sich dem widmen können, was ihm neben dem Schwerttraining am liebsten war: Dem Lesen.

Doch nun war der Abend angebrochen. Kratos war aufgefallen, dass es verdächtig ruhig im Fort war, weshalb er nach draußen ging, um nachzusehen. Doch es war wie ausgestorben.

»Seltsam …«, dachte er bei sich. »Sonst ist um diese Uhrzeit hier doch meistens ziemlich viel los …«

Nichts ahnend ging er los, um der seltsamen Stille auf den Grund zu gehen, als ihm plötzlich Sora über den Weg lief.

»Da bist du ja«, begrüßte sie ihn mit offenen Armen. »Ich wollte dich gerade abholen.«

»Wozu?«, fragte Kratos und sah seine Freundin misstrauisch an.

»Flavius ist mal wieder im Hauptquartier, wir habend das Fort also für uns. Im Esszelt steigt 'ne kleine, gemütliche Runde. Und da du dich heute den ganzen Tag verzogen hast, dachten Yuan und ich, wir zwingen dich mal zu deinem Glück.«

Der Rothaarige seufzte. Er wusste, dass Sora ihn wirklich zwingen würde, weshalb er lieber freiwillig mitkam.

»In Ordnung. Aber nicht lange, mir ist nicht nach feiern.«

Das Mädchen machte eine abwinkende Handbewegung.

»Ach was. Wie sollten wir arme Soldaten uns denn auch eine Feier leisten können?«

Kratos konnte sich nicht helfen, irgendwie gefiel ihm Soras Stimmlage nicht. Doch dann schüttelte er den Kopf und folgte seiner Freundin. Er hatte ja Recht, viel verdienen taten sie nicht. Eine böse Überraschung erwartete ihn also nicht.

Dachte er.

Sora zog das Zelttuch beiseite, damit Kratos hineingehen konnte. Der Rothaarige folgte der Aufforderung – und fand sich in kompletter Dunkelheit wieder.

»Eh … Sora …«, wollte Kratos anfangen, doch er erhielt keine Antwort. Stattdessen fiel das Zelttuch zu und ein Schemen huschte an ihm vorbei. Dann ertönte eine unheimlich laute und durchdringende Stimme.

»Kratos Erebos von Aurion!«, begann die Stimme und vor ihm tauchte eine Gestalt auf, die in einen schwarzen Kapuzenmantel gehüllt war. Nur eine einzige Lichtquelle hinter seinem Rücken beleuchtete ihn selbst sehr spärlich. »Hier und heute ist es endlich soweit!«

Der Rothaarige wollte schon sein Schwert ziehen, als ihm einfiel, dass er keins besaß. Also wich er einen Schritt zurück.

»W-was ist soweit?«, fragte er.

»Hier und heute …!«, wiederholte sich die Stimme. »Erwartet dich das pure Grauen! Deine schlimmsten Alpträume werden Wirklichkeit werden, deine grausamsten Fantasien befreien sich direkt aus deinem Kopf in die Realität …!«

Die Stimme holte Luft.

»Mach dich bereit für …!«

Urplötzlich wurde es hell. Von allen Seiten regnete auf einmal Konfetti auf den jungen Soldaten. Niemand anderes als Yuan befreite sich aus der schwarzen Kutte, eine Narrenkappe und eine Augenmaske tragend.

»… deine Geburtstagsfeier!«, lachte er und machte einen Radschlag zu seinem Freund, dem er eine offenbar selbstgebastelte Krone aufsetzte. Restlos jeder des Kommandos war da und alle trugen die bunteste Kleidung, die sie besaßen. Das ganze Zelt war mit ebenso buntem Stoff dekoriert, fast alle Tische waren beiseite geräumt. Nur ein paar waren zu einer Art Bühne zusammengestellt worden. Darauf stand ein ebenso buntgeschmückter Stuhl, der entfernt an einen Thron erinnerte. Kratos begriff, dass er seinen Kameraden ganz gewaltig auf den Leim gegangen war.

Yuan sah nicht nur zum Schreien komisch aus, er benahm sich auch noch so. Die Rolle des Narren lag ihm hervorragend. Er sprang munter herum und leitete den Chor an, der dem Rothaarigen zu Ehren ein Geburtstaglied sang. Der Blauhaarige sprang auf seine Hände und marschierte zu seinem Freund, nur, um über ihn wegzuspringen und hinter ihm wieder auf den Füßen zu landen. Dann schubste er ihn immer weiter nach vorne. Seine Kameraden sangen noch immer und bildeten nun eine Gasse, durch die Yuan seinen Freund schob. Über ihm wurde mit großen Krügen auf sein Wohl angestoßen. Der Rothaarige wusste gar nicht, wie ihm geschah. Der Blauhaarige schubste ihn dann einfach in die Menge, wo er von jedem beglückwünscht wurde. Wie ein Blatt Papier, auf dem jeder unterschreiben sollte, wurde er rumgereicht. Und das Schlimme: Jeder wollte unbedingt mit ihm auf sein Wohl anstoßen. Und da Yuan das anscheinend ziemlich recht war, hüpfte er immer hinterdrein und schenkte seinen Bierkrug immer schön voll. Eigentlich hätte Kratos ihnen am liebsten allen nicht mehr nur einen Vogel, sondern ein ganzes Aeros gezeigt, doch die Stimmung war so ausgelassen und fröhlich, dass er es nicht über das Herz brachte, zumal die kleine Feier an sich bestimmt einiges gekostet hatte. Also machte er seinen Kameraden zuliebe mit.

Er sollte ja nicht ahnen, wie sehr er das noch bereuen sollte.

Lounel, der bereits ziemlich angetrunken war, wollte unbedingt mit ihm über künstliches Drachenleder diskutieren, weshalb er versuchte, so schnell wie möglich zum nächsten zu kommen. Luca nahm ihn auch schon in den Arm und zog ihn zwischen sich und seinen Bruder. Als er zu Yuan sah, der sich zwischendurch immer mal wieder die Bühne aneignete, sah er ihn gerade wie einen Gorilla umher trampeln. Jeder wusste, dass Flavius damit gemeint war, woraufhin sogar Kratos lachte.

»… ich meine, die Muskeln müssen doch nerven! Wenn der sich hinlegt, ist für den jedes Bett so hart wie ein Amboss!«, scherzte er. »Und seine Frauen tun mir leid, Leute …! Nicht nur, dass sie sich an ihm im wahrsten Sinne des Wortes die Zähne ausbeißen, nein! An dem ist restlos jeder Muskel durchtrainiert! Der hat kein Geschlecht mehr, der hat ein Gesehrschlecht!«

Dreckiges Gelächter ertönte und selbst Kratos prustete in sein Bier, schüttelte jedoch nur belustigt den Kopf.

»Du bist doch nur neidisch!«, behauptete Thalaimo.

Inzwischen war der Rothaarige bei Sora angekommen, die ihn übermütig auf die Wange küsste. Wie ein Kleinkind wischte sich der Adelige die Wange ab. Sie war eindeutig betrunken, er jedoch noch nicht genug, um sich sowas gefallen zu lassen.

Als ob er Teil einer Verschwörung gegen ihn wurde, wurde sein Krug neu aufgefüllt und eine erneute Runde durch seine Kameraden begann. Irgendwie hatte er das Gefühl, man wollte ihn abfüllen … doch auch, wenn er es wollte, er konnte gar nicht entkommen. Währenddessen machte Yuan mit seiner kleinen Aufführung weiter und diskutierte mit Caleb über die Natur.

»… irgendwie ist die Natur auch nicht belastbar. Wenn die Fjorde bei Flanoir schmelzen, macht das dem Meer nichts aus – Sybak aber schon!«

Als Kratos' nächste Runde bei Lounel angekommen war, fühlte er sich wie Kunstleder. Yuan schien das zu bemerken. Er warf sich auf die Gruppe und ließ sich zu seinem Freund tragen. Mit einem Salto stand er plötzlich vor ihm und stahl ihm den Bierkrug. Stattdessen drehte er ihn um und schob ihn nun selbst zur Bühne. Wenige Sekunden später fand er sich auf dem Thron wieder, neben der Krone auf seinem Kopf auch noch ein hölzernes Zepter in der Hand, unter ihm die kleine Menge seiner Kameraden. Yuan tanzte vor ihm umeinander, bis er es für richtig befand, das Wort zu ergreifen.

»Erst noch einmal: Herzlichen Glückwunsch zu einem achtzehnten Geburtstag!«, rief er laut aus. »Wir wünschen dir alles Gute und eben wünschenswerte für dein neues Jahr! Oder Leute?«, fragte er das Kommando. Alle antworteten mit lautem Jubel. Kratos machte es sich gemütlich. Die wohlige Wärme des Alkohols hatte dafür gesorgt, dass er sich den Spaß gefallen ließ – und das war bei ihm nicht einfach. Dann breitete Yuan seine Arme und bedeutete allen Anwesenden, nun zuzuhören.

»Es wird langsam Zeit, dass wir dir dein Geschenk überreichen!«, behauptete er und der Rothaarige horchte auf. Yuan ließ ihn jedoch nicht zu Wort kommen. In der Aufmerksamkeit regelrecht badend, begann der Halbelf den Höhepunkt des Festes anzukündigen.

»Seht alle her! Ihr habt euer hart verdientes Geld gut investiert! Denn auch, wenn unser Freund hier …«, erzählte der Blauhaarige und legte seine Hände verschwörerisch von hinten auf Kratos' Schultern, »… den Löwenanteil am Geschenk gebührt, so haben wir alle etwas davon!«

Mit einem Radschlag beförderte sich Yuan in die Mitte der Bühne. Kratos sah ihn gespannt an. Sein Freund richtete das Wort nun direkt an ihn.

»Wir alle wissen, dass du es dir schon ewig gewünscht hast!«, behauptete er. »Deine Träume werden wahr werden, mein Freund! Rein gar nichts wird unerfüllt bleiben! Du wirst dieses Zelt als glücklichster Mann der Welt verlassen!«

Da der Blauhaarige das Wort "Mann" besonders betont hatte, begann Kratos etwas zu ahnen. Und seine Ahnung ließ ihm den Magen flau werden.

»Ich will auch gar nicht lange um den – sehr heißen – Brei herumreden. Hier ist sie: Die Schönste der Schönen! Die Leidenschaft in den Augen, das Feuer im Körper! Die exotischste aller Blüten! Die einmalige, wunderhübsche, ewig blühende Wüstenrose!«

Yuan hob seine Hand, um die feuerrote Blitze sprangen.

»Tanz, schöne Salomé, tanz!«

Ein Blitz, so rot wie das Feuer der Leidenschaft schlug vor Yuan ein und ebenso roter Rauch verschlang ihn. Und wie damals in Fooji, befreite sich die wunderschöne Salomé, die Kratos so manch schlaflose Nacht bereitet hatte, mit einer eleganten Drehung daraus.

Dem Rothaarigen wich sämtliches Blut aus dem Gesicht, denn es fiel der Schwerkraft zum Opfer. Die exotische Tänzerin strahlte in all ihrer Schönheit. Das transparente, rote Kleid schmückte erneut ihren scheinbar makellosen, karamellfarbenen Körper. Ihr schwarzes Haar glänzte wie die Scheide eines Schwertes, ihre Augen, dessen jadehaftes Grün so transparent war wie ihr Kleid, flammten erneut vor Leidenschaft. Um ihre schlanke Hüfte schmiegte sich ein lilafarbener Seidenschal, in ihren grazilen Händen hielt sie ein Tamburin, auf welchem sie die Melodie schlug, die wie aus dem Nichts ertönt war. Dabei wackelte sie lasziv mit ihrer Taille, ihre Kehrseite zu Kratos gewandt, der wohl Mordgelüste für Yuan ausgeheckt hätte, hätte ihm Salomé nicht den Verstand geraubt.

Leichtfüßig tänzelte sie über die Bühne, die Arme mit dem Tamburin über sich, damit ihr Körper durchgestreckt war. Ihre Bewegungen erinnerten an ein Feuer, Flammen, die wild um sich schlugen. Als sie sich zu Kratos umdrehte und ihm einen Blick in ihre wollüstigen Augen gewährte, spürte der junge Soldat die bereits vertraute Hitze in sich aufsteigen. Salomé jedoch tanzte unbeeindruckt weiter. Sie warf das Tamburin mit einer Drehung von sich und befreite den Schal mit einer einzigen Handbewegung von ihrer Hüfte, sie sie dabei sinnlich kreisen ließ. Kratos schaffte es dann jedoch mit aller Kraft seines eisernen Willens, einfach von ihr wegzusehen. Ein Fehler, wie er feststellte.

Kaum war die Tänzerin aus seinem Blickfeld verschwunden, spürte er plötzlich etwas, oder viel mehr jemanden an sich. Salomé strich mit ihrem Bein das seine hinauf und setzte sich auf seinen Schoß. Die aufwallende Panik des Adeligen schien sie entweder nicht zu bemerken oder einfach zu ignorieren. Kratos war einer Frau noch nie so nah gewesen. Salomés Körper war unglaublich warm, ihre Haut unfassbar weich. Als sie ihren Oberkörper zu ihm beugte, um ihren Schal um den Nacken des Geburtstagskindes zu legen und seinen Blick wieder auf sie zu richten, bekam er zudem ihre Brust zu spüren. Mit einer Hand hielt Salomé beide Enden des Schals fest, mit der anderen streichelte sie über seine Wange, ihr Gesicht dicht an seinem. Mit einem neckischen Lecken über seine Nasenspitze sprang sie wieder von ihm weg, ließ den Schal jedoch an Ort und Stelle. Kratos konnte nun nicht mehr anders, als sie anzusehen. Er war ihrem leidenschaftlichen Zauber völlig verfallen, in ihren Händen geradezu dahin geschmolzen.

Als sie wieder etwas Abstand zu ihm gewonnen hatte, schlug sie ihr Kleid für den Bruchteil einer Sekunde hoch, so dass die Fantasie des Rothaarigen sich selbstständig machen konnte. Der Spagat, den sie daraufhin spielend in ihren Tanz einbaute, raubte Kratos den Atem. Sie zwinkerte ihm zu und erhob sich wieder, unaufhörlich weitertanzend. Die johlenden Rufe seiner Kameraden nahm er so gut wie überhaupt nicht wahr. Er hatte nur noch Augen für die katzenhafte Salomé.

Viel zu schnell, wie es ihm erschien, beendete sie ihren Tanz, hüpfte von der Bühne und verschwand aus dem Zelt. Kratos sah ihr nach wie ein Wolf, der seine Beute entdeckt hatte und um jeden Preis erlegen wollte.

»Sie gehört dir, Tiger«, raunte Yuan leise, jedoch hörbar grinsend und mit einer triumphierenden Stimmlage. Der Rothaarige schluckte seinen Speichel herunter. Er war betrunken und angeheizt genug, um dem Angebot zu verfallen. Mit zitternden Beinen stand er auf und torkelte der Tänzerin nach. Seine Kameraden lachten dreckig und bedachten ihn teilweise mit neidischen Blicken, doch all das lag außerhalb von Kratos' Wahrnehmung. Er wollte nur noch eines: Salomé!

Er hatte gerade den Ausgang des Zeltes erreicht, als eben dieser aufgeschlagen wurde und niemand anderes als Flavius ihn umrannte. Durch den Sturz kam der junge Soldat wieder zur Besinnung und schüttelte den Kopf. Was zum Teufel tat er hier eigentlich?

Der Feldwebel war außer Atem, was man wirklich selten sah. Und das er Kratos nicht aufhalf, bestätigte den Verdacht des Rothaarigen. Irgendetwas musste passiert sein. Die laute Stimme von Flavius verscheuchte auch das letzte, weibliche Hirngespinst aus Kratos' Kopf.

»Was auch immer hier vorgeht, es ist mir erstens egal und zweitens vorbei! Packt eure Sachen! Wir sind einberufen worden! Sylvarant marschiert erneut auf Tethe'alla zu! Morgen früh brechen wir auf!«

Mit diesen Worten verschwand der Feldwebel. Das Schweigen einer Grabkammer erfüllte das Zelt, sämtliche gute Laune war mit Flavius verschwunden. Denn eines war ihnen soeben klargeworden:

Der Krieg hatte sie erreicht.

Das Leid der Halbelfen

Seit einer langen Woche marschierte die Division des Ifrit nun schon in regelmäßigen Schritten durch die Landschaft. Flavius hatte ihnen am Tage ihres Aufbruchs die Rüstungen überreicht, die die königliche Armee trug. Sie war aus leichtem Metall gefertigt, das einige Schwerthiebe abfangen konnte und leichte Pfeile nicht durchließ. Der dazugehörige Helm schützte den Hinterkopf und den Nacken, sowie die Stirn vor Angriffen. An der Taille war ein stabiler Waffengürtel angebracht, an dem jeder entweder ein Schwert oder zwei Kampfäxte trug. Einige trugen auf dem Rücken einen Bogen und einen Köcher mit Pfeilen. Auf der Brustseite der Rüstung prangte das Wappen Tethe'allas. Außerdem durften sie sich jetzt "Gefreiter" nennen.

Kratos und Yuan marschierten Seite an Seite. Vor ihnen waren Sora und Lux, hinter ihnen die Zwillinge. Flavius führte den Trupp mit seinem Pferd an. Nachdem sie den ersten Schock überwunden hatten, dass sie nun wirklich in den Krieg zogen, war die Stimmung sogar sehr ausgelassen. Was sollten sie auch anderes machen? Ändern konnten sie die Tatsachen ohnehin nicht.

Yuan hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt und unterhielt sich mit seinem rothaarigen Freund.

»… was hast du denn auch dagegen?«, fragte er. »Du warst doch derjenige, der nicht wollte.«

»Ja, aber das ist doch kein Grund, das für sich auszunutzen …«

»Heh, wir haben sie dafür bezahlt. Und nur, weil das Abfüllen von dir nicht geklappt hat, muss man das schöne Geld doch nicht sausen lassen.«

»War sie wenigstens gut?«, knurrte Lucian.

»Und wie«, schwärmte Yuan. »Eine absolute Traumfrau.«

Es ging, wie schon so oft, um Salomé. Wie Kratos erfahren hatte, hatte Yuan für den "wohltätigen" Zweck gesammelt, die schöne Tänzerin mit sämtlichen Diensten anzuheuern. Der gesamte Abend war durchgeplant gewesen. Yuan hatte mit den Anderen abgesprochen, dass sie Kratos erst gut genug abfüllten, damit er Salomés kleine Tanzeinlage auch genießen konnte. Als Flavius dann in die Feier reingeplatzt war, war der Rothaarige wieder zur Besinnung gekommen. Und er war froh darüber. Yuan hatte sich dann den Spaß erlaubt, Salomé für sich zu beanspruchen, offiziell, um den Schock über Flavius' Nachricht zu verarbeiten. Allenfalls nahmen ihm das seine Kameraden schon seit Längerem übel.

»Nach was gehen denn bitte deine Maßstäbe?«, wollte Sora wissen, wobei ihre Stimmlage schon beinahe zickig wurde. Sie war seit diesem Abend ziemlich schlecht auf Yuan zu sprechen. Und allein Kratos ahnte, dass es ihr nicht um ihr Geld ging.

»Das würde mich auch mal interessieren«, gab er seine Meinung dazu, um die Situation zu entschärfen.

»Eine Frau sollte schön sein«, begann er. »Lange Haare, dunkle Augen, schön kurvig.«

»Mehr nicht?«, fragte der Rothaarige.

Yuan sah ihn an.

»Nö, wozu auch? Zum Reden habe ich ja dich«, grinste er.

Während Sora schnaubend wegsah, schüttelte Kratos den Kopf.

»Denkst du wirklich so schlecht über Frauen?«

»Was heißt denn hier schlecht?«, fragte Yuan. »Ich habe sie nicht schlecht gemacht. Sora zum Beispiel ist doch ein richtig kluges und aufgewecktes Mädchen.«

»Aber das gefällt dir nicht, oder wie?«, wollte der Rothaarige wissen.

»Naja … irgendwie schon«, gab er zu, wobei Sora offenbar wieder aufhorchte. »Aber sie ist wiederum so klug, dass sie durchaus was werden könnte. Sowas wie sie würde ich niemals an Haus und Herd fesseln. Das wäre grausam.«

»Ach so«, verstand Kratos nun. »Okay, die Denkweise ist logisch.«

Während Sora sich die Hand an den Kopf schlug, mischten sich die Zwillinge ein.

»Also meine Traumfrau sollte schön lachen«, meinte Luca. »Ich bin so ein Scherzbold, da möchte ich nicht denken, sie kratzt mit Fingernägeln über eine Schiefertafel, wenn sie lacht.«

»Du bist ja gar nicht arrogant«, scherzte Lucian. »Ich lege eher wert darauf, dass sie das Haus schön sauber hält und nicht zu viele Widerworte gibt. Wenn ich von der Arbeit nach Hause komme, will ich meine Ruhe und ein hübsches Frauchen, dass mir die Hausschuhe bringt.«

»Das hat was«, gab Lux zu. »Schön brav und artig, aber nachts kann sie gern aktiver werden.«

»Jaaa«, pflichtete Yuan bei. »Das trifft wohl bei uns allen zu.«

»Bei mir nicht«, sagte Kratos.

»Du bist auch nicht normal«, meinte der Halbelf.

»Sei nicht so hart mit ihm«, nahm Lucian ihn in Schutz. »Er ist noch Jungfrau.«

»Das meine ich doch!«, antwortete Yuan. »Aber bitte«, fuhr er fort, »wie müsste deine Traumfrau sein?«

»Intelligent«, kam es pfeilschnell von Kratos. »Mir ist wichtig, dass sie mir geistig gewachsen ist. Ich will mit ihr über Dinge sprechen können, die mich beschäftigen. Ordentlich sollte sie schon sein, da habt ihr Recht. Aber ich würde sie nie nur als Hausfrau ansehen. Ich finde, eine Ehefrau sollte ihrem Mann gewachsen sein.«

Nach kurzem Schweigen begannen seine Kameraden schallend zu lachen.

»Jungfrauen sind ja manchmal so niedlich!«, lachte Luca.

»Nun lasst dem Kleinen doch seine Illusionen«, nahm Lucian ihn in Schutz. Kratos schielte. Obwohl Yuan der Jüngste war, behandelten ihn alle, als wäre er ein kleines Kind. Und das nur, weil er noch keine Frau gehabt hatte.

»Was um alles in der Welt ist denn so schlimm daran, dass ich noch Jungfrau bin?«, regte er sich nun auf.

»Das verstehst du erst, wenn du keine mehr bist«, meinte Yuan. »Vorher wird das nichts.«

Der Rothaarige schnaubte und klinkte sich aus der Unterhaltung aus. Das wurde ihm zu dumm.
 

Am Abend schlugen die jungen Krieger ihr Lager auf. Die meisten verbrachten ihre Zeit damit, ihre wunden Füße zu massieren und ihre Blasen zu kühlen. Der Rest aß das, was es jeden Abend gab: Dicke Bohnen.

Kratos saß im Kreis seiner Kameraden. Sogar Flavius saß in Hörweite, jedoch nicht bei ihnen. Ihre Gespräche drehten sich das erste Mal um das, weshalb sie unterwegs waren: Die militärische Situation.

»… aber was erhoffen die sich von Sybak?«, fragte Luca in die Runde, da sie eben dorthin einberufen worden waren. Spione hatten herausgefunden, dass Sylvarant auf dem Vormarsch in die Hafenstadt war.

»Nun, Sybak ist eine Handelsmetropole«, erläuterte Kratos. »Das Aurion-Gut bezieht von dort alles, was es braucht. Samen, Dünger und früher auch Arbeitskräfte.«

Fyn, dessen Vater ebenfalls im Militär diente, nickte.

»Wenn Sylvarant es schafft, Sybak für sich einzunehmen, ist Tethe'alla seines größten Handelspostens beraubt. Denn auch, wenn wir uns größtenteilig selbst versorgen, so beziehen wir einige wichtige Waren aus Flanoir.«

»Das wiederum neutral ist und sich niemandem verpflichtet hat«, stellte Lucian fest.

»Würde ich auch nicht machen, wenn meine Stadt auf einem eigenen Kontinenten liegt«, gab Luca seine Meinung dazu.

»Einer der Gründe, warum so viele Halbelfen versuchen, dorthin zu gelangen«, meinte Yuan und blickte auf die Karte, die er mit einem Stock in den Boden gemalt hatte. »Einmal angenommen, Sylvarant schafft es, Sybak einzunehmen … was wäre ihr nächstes Ziel?«

»Stabilität schaffen«, schlug Kratos vor und klaute Yuan den Stock. »Sofern ich weiß, sind die sylvarantanischen Stützpunkte in der Nähe von Toize und auf der Insel Altamira«, erklärte er und malte an den entsprechenden Punkten ein "S" das für Sylvarant stand. »Wenn sie es schaffen, Sybak einzunehmen, haben sie eine Art Dreieck geschaffen, dass Meltokio fast komplett vom Rest Tethe'allas abschneidet.«

Fyn nickte.

»Durch Sybak und Altamira hätten sie den westlichen und den östlichen Ozean unter Kontrolle … das heißt, dass wir ihnen nicht nur in der Infanterie unterlegen sind, sondern auch nautisch.«

»Es sieht übel aus«, stellte Lucian fest. »Wenn wir Sybak verlieren, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis Sylvarant Meltokio erneut überrennt.«

Langsamer, regelmäßiger Applaus ertönte. Kratos erkannte sofort, dass er von Flavius kam. Er war aufgestanden und zu ihnen gegangen.

»Ich muss euch meinen Respekt aussprechen«, sagte er. »Ihr habt die Lage sehr gut analysiert.«

»Und herausbekommen, dass wir verdammt schlecht dastehen«, meinte Luca.

Flavius nickte.

»Ja, das muss ich zugeben … aber noch ist nicht alles verloren.«

»Welche Hoffnung haben wir denn noch?«, wollte Thalaimo wissen. »Verlieren wir Sybak, verlieren wir den Krieg.«

Der Feldwebel schüttelte den Kopf.

»Nicht unbedingt. In der Schlacht, in der wir kämpfen werden, geht es nicht darum, Sylvarant zurückzuschlagen.«

»Um was dann?«, fragte Kratos.

»Um Zeit«, erklärte Flavius. »Das königliche Forschungsinstitut arbeitet an einer geheimen Waffe von unglaublicher Zerstörungskraft. Genaueres weiß ich nicht. Alles, was ich euch geben kann, ist ein Name.«

»Der da wäre?«, mischte sich Sora ein.

»Thors Hammer«, verkündete ihr Vorgesetzter. »Den Informationen nach, die ich bekommen habe, reicht ein einziger Schlag damit aus, um die gesamte Armee von Sylvarant auszulöschen.«

»So eine mächtige Waffe gibt es nicht«, behauptete Fyn. »Sie müsste ja alle Kraft der Elementargeister in sich vereinen.«

»Nicht aller Geister, aber die der von Tethe'alla«, meinte der Feldwebel. »Ich habe euch lange Zeit ausgebildet. Fast zwei Jahre lang. Außerdem sind wir nicht allein. Bei unserer Überfahrt nach Altamira«, sagte er und zeigte auf den Kontinenten, auf dem Sybak lag, »kommt der Rest der Division des Ifrit hinzu. Sie wurden alle separat ausgebildet, insgesamt sind es etwa tausend Mann.«

»Ein … tausend?«, hauchte Lucian.

Flavius nickte und nahm Kratos den Stock weg. Dann begann er, die Tempel der Elementargeister in die Karte einzuzeichnen.

»Das Forschungsinstitut wurde nur für diese Waffe gebaut. Sie arbeiten seit über zweihundert Jahren daran. Es ist die bestausgefeilte Magietechnologie, die es jemals gab. Und wie ihr seht, liegt Sybak …«, erklärte er und umkreiste die Stadt, »im Zentrum der Tempel. Von dort aus können die Quellen der Macht der Elementargeister angezapft werden und Thors Hammer mit ihrer ungemeinen Kraft füllen. Außerdem«, fuhr er fort und macht ein Kreuz auf den heiligen Ebenen von Kharlan, »haben wir den Baum allen Manas auf unserer Seite.«

Die Gefreiten sahen zu der Zeichnung, die auf einmal nicht mehr so hoffnungslos wirkte.

»Die Waffe steht kurz vor ihrer Vollendung«, erläuterte Flavius weiter. »Es geht nur darum, Zeit zu schaffen.«

»Wie lange?«, wollte Kratos wissen.

Flavius sah ihn an.

»Sechs Monate.«

»Ein Belagerungskrieg?!«, regte sich Sora auf, die ihre Stimme inzwischen beachtlich tief stellen konnte. »Das ist Wahnsinn! Hunderte von Soldaten werden sterben!«

»Und Tausende Zivilisten werden überleben, dé Laphino«, antwortete der Feldwebel, der seine Schützlinge noch immer mit Nachnamen ansprach. »Und darum geht es.«

Kratos sah zu Yuan, der mit bedrücktem Gesichtsausdruck auf die Karte sah.

»Hast du ein Problem damit, Aurion?«, fragte Flavius den Blauhaarigen, der als Kratos' Sklave auch seinen Nachnamen trug.

»Nein …«, meinte er. »Mein Kopf ist ebenso tethe'allanisch wie meine Zunge.«

»Das mag sein«, sagte der Feldwebel. »Doch wie sieht es in deiner Brust aus?«

Yuan schwieg. Kratos verstand, dass ihr Ausbilder nach Yuans Herz gefragt hatte.

»Es gehört weder Sylvarant noch Tethe'alla«, antwortete er schließlich. »Ich kämpfe für den Frieden, nicht für den Sieg.«

»Gut gewählte Worte«, gestand Flavius und warf den Stock in das Feuer, um das alle saßen. »Legt euch jetzt schlafen, Morgen erreichen wir das Meer.«

Mit diesen Worten verschwand der Feldwebel und ließ sein Kommando zurück. Alle, bis auf Yuan, sahen sich an. Der Blauhaarige blickte in die Flammen.

Kratos fragte sich, ob das Feuer in seinem Herzen nicht schon längst erloschen war …
 

Am nächsten Morgen war die bedrückte Stimmung vergessen und das Kommando marschierte mehr oder weniger munter in Richtung Meer. Ihre momentane Route führte sie über scheinbar unendliche Wiesen, die sich im Wind wogen, der bereits die salzige Note des Meeres in sich trug. Viele Tiere grasten hier. Herden von Kühen und Schafen säumten ihren Weg. Kratos genoss die schöne Landschaft, während Yuan geknickt neben ihm ging. Ein überlautes Knurren riss den Rothaarigen aus seiner Tagträumerei.

»Was war das denn?«

»Mein Magen …«, jammerte Yuan. »Ich würde die Kühe viel lieber essen, als in einer Herde davon zu marschieren.«

»Danke«, schnaubte Sora, die wieder vor ihnen ging. Sie war in letzter Zeit reichlich schlecht auf den Blauhaarigen zu sprechen. »Und du bist der Bulle, oder was?«

Yuan prustete und schwoll stolz die Brust, doch die junge Frau sah beleidigt weg. Kratos verdrehte die Augen.

»Es wird nicht gequatscht, wie oft muss ich das denn noch sagen?! Ihr seid ja schlimmer als die Waschweiber!«, fauchte Flavius, der, je näher sie dem Meer kamen, immer aggressiver wurde. »In Reih und Glied marschieren! Und ich will euch singen hören!«

Yuan seufzte, während Kratos Luft holte und im Chor mit seinen Kameraden den Refrain ihres Marschliedes schmetterte. Der Blauhaarige stimmte mit ein.

So, wie sie es gelernt hatten, marschierten sie zügig voran, gerade aufgerichtet, mit stolz geschwellter Brust und hocherhobenem Kopf. Mit lauten, tiefen Stimmen sangen sie den Marsch, zu dem sie voranschritten. Es war ein Bild von einem Kommando. Angeführt von Flavius, der erhaben auf seinem Pferd thronte und die Flagge des tethe'alanischen Königreiches hochhielt, schienen sogar die Kühe ihnen respektvolle Blicke zuzuwerfen. Dass sich der Großteil von ihnen deswegen albern vorkam, bemerkte man nicht.

Nach und nach wurde ihr Weg steiler. Flavius verkündete ihnen, dass hinter dem Hügel, den sie gerade erklommen, endlich das Hafenlager liegen würde, wo sie das Schiff erwartete, dass sie über das Meer bringen sollte. Doch das, was dahinter lag, ließ den jungen Kriegern nicht nur den fröhlichen Gesang im Halse stecken, sondern auch das Blut in den Adern gefrieren.

Unter ihnen lag das Hafenlager, das stimmte wohl. Doch es sah anders aus, als sie es sich vorgestellt hatten.

Unmengen an Halbelfen, es mochten Hunderte sein, arbeiteten hier. Sie trugen nichts weiter am Leib als ein Tuch um die Hüfte und Narben auf dem Rücken. Kratos sah, wie Yuan das Blut aus dem Gesicht wich. In seinen Augen lag blankes Entsetzen. Und auch der Rothaarige kam sich vor, als hätte sich vor ihm der Schlund zur Hölle geöffnet.

Flavius führte sie jedoch unbarmherzig weiter. Sie gingen an einer Lehmgrube vorbei, in dessen Tiefen Halbelfen wahrscheinlich schon seit Tagen mit ihren Füßen in den Schlamm stampften. Immer wieder gaben Halbelfen von oben Sand, Stroh und Wasser hinzu, ohne darauf zu achten, ob sie ihre Mitgefangenen trafen oder nicht.

»Schneller!«

Neben dem Ächzen und Wehklagen der gebeutelten Lebewesen, die nur noch ein Schatten ihrer selbst waren, beherrschte Peitschenknallen die Geräuschkulisse. Riesige Mengen an Ziegeln wurden von viel zu kleinen Gruppen von Halbelfen mit Seilen in die Höhe gezogen, direkt neben dem marschierenden Kommando schleppten sich Sklaven mit Sandsäcken voran, die größer waren als sie selbst.

»Legt einen Zahn zu, ihr lahmen Viecher!«

Es stank bestialisch nach Schweiß, Fäkalien und auch Blut. Yuan ging dicht neben Kratos her und presste seinen Helm auf seinen Kopf, damit niemand seine Ohren entdeckte. Der Rothaarige bemerkte, dass er am ganzen Leib zitterte, sein Blick erinnerte an den eines eingesperrten Tieres. Kratos selbst zwang sich dazu, in die Augen von Yuans Artgenossen zu sehen. Sie waren matt und gebrochen. Einer der Sklaven erwiderte das Augenspiel des jungen Kriegers. Die Leere darin schien Kratos' Seele regelrecht in sich aufzusaugen.

»Ich habe gesagt schneller!«

Über dem Kommando erhoben sich die Grundzüge der wohl größten Brücke aller Zeiten. Sie sollte die Kontinenten Fooji und Altamira miteinander verbinden. Kratos hatte von diesem Projekt gehört, sein Vater hatte sogar darin investiert und Sklaven hierhin geschickt. Direkt in die Hölle.

Flavius behielt sein Tempo bei, egal, wie dicht ihm seine Schützlinge auf die Fersen rückten. Es war, als wolle er, dass sie das Elend sahen. Yuans Atem war flach und schnell. Er litt mit seinen Artgenossen, das merkte der Adelige.

Urplötzlich stieg Flavius' Pferd und das Kommando kam zum Stehen. Vor ihnen war eine alte Frau in den Dreck gefallen und hatte so die Kette unterbrochen, die sie mit ihren Leidensgenossen gebildet hatte. Einer der Aufseher ließ seine Peitsche knallen.

»Steh auf!«, forderte er. »Oder muss ich dir Beine machen?!«

Die abgemagerte Greisin zitterte unter der Anstrengung, die sie aufbrachte, um aufzustehen. Auf ihrem Rücken hatte sie ein Sandsack getragen, der nun weggerutscht war. Unendlich viele Narben bedeckten ihren Rücken und sie war so dünn, dass man ihre Wirbelsäule durch die vernarbte Haut sehen konnte.

»Ich habe gesagt, steh' auf!«, brüllte der Aufseher und ließ seine Peitsche nun auf ihren Rücken knallen. Die Frau schrie mit zittriger und heiserer Stimme. Doch ihre Artgenossen gingen einfach weiter. Sie wollten keinen Ärger. Auch Flavius ritt an der Szene vorbei. Kratos kämpfte mich sich. Er wollte dazwischen gehen, wollte der armen Frau helfen.

Doch Yuan war schneller.

»Aufhören!«

Der Blauhaarige hatte das Peitschenseil abgefangen und riss das Folterinstrument aus den Händen des Aufsehers. Dann half er der alten Halbelfe auf.

»Was bist du denn für einer?!«, fauchte der Aufseher. »Lass mich gefälligst meine Arbeit machen!«

»Schwächere zu verprügeln, oder was?!«, gab Yuan zurück, der Halbelfe etwas Halt gebend. »Vergreif' dich gefälligst an jemandem, der sich wehren kann!«

»Es … ist gut …«, wisperte die Greisin. »Danke …«

Yuan wie auch Kratos sahen mit geweiteten Augen zu, wie die alte Frau den schweren Sandsack wieder auf ihren Rücken zu heben versuchte. Doch sie brach unter der schweren Last erneut zusammen. Der Aufseher nahm Yuan die Peitsche wieder weg und holte erneut aus. Die alte Halbelfe zog schützend ihre Arme vor ihr Gesicht und wimmerte um Gnade. Nun griff Kratos ein und packte den Arm des Aufsehers. Der Gleiche beging die Dummheit, sich gegen den Druck zu stemmen, den der Rothaarige ausübte. Kratos war jedoch um einiges kräftiger und stieß ihn von sich. Der Aufseher verlor den Halt und fiel in die Lehmgrube hinter ihm. Die Halbelfen darin stoben so schnell auseinander, dass sie selbst hinfielen.

»Es ist genug!«

Flavius' Stimme hatte das gesagt. Der Feldwebel war zu ihnen zurückgeritten und sah wie ein Richter auf beide hinab.

»Ihr macht es nur noch schlimmer, begreift ihr das nicht? Sobald wir weg sind, werden sie sie dafür auspeitschen, bis sie stirbt«, stellte er fest, wobei seine Stimme keinerlei Emotionen verriet.

»Wir konnten doch nicht einfach zusehen, wie sie diese armen Wesen quälen!«, ereiferte Yuan sich.

»Hüte deine Zunge«, mahnte Flavius, da Yuan drauf und dran war, zu verraten, dass er selbst ein zu diesen armen Wesen gehörte. Er sah seinen Schützling durchbohrend an. »Es sind Halbelfen, Soldat.«

Kratos sah die Verzweiflung in Yuans Blick. Und er sah, dass der Aufseher sich aus der Lehmgrube befreit hatte. Deswegen stieß er seinem Freund in die Rippen. Der Blauhaarige sah in die Richtung, die der Adelige ihm deutete. Seine Hände hatte er so fest zu Fäusten geballt, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten.

»Kommt jetzt«, befahl Flavius und drehte sich um. Die beiden Freunde reagierten schnell. Yuan nahm seinen Wasserschlauch ab und gab der Greisin einige Schlucke davon. Kratos half ihr dann auf, bis sie wieder sicher auf den eigenen Beinen stand und Yuan legte ihr sehr behutsam den Sandsack auf den Rücken.

»Beeile dich, dann findet er dich nicht mehr«, sprach Yuan gütig. »Viel Glück.«

»Danke …«, hauchte die alte Frau und reihte sich wieder bei ihren Artgenossen ein. Dann beeilten sich die Soldaten, ihr Kommando einzuholen.
 

Etwas hatte sich an Yuan nach dieser Sache geändert. Seine sonst so fröhliche Art war wie abgestorben. Er dachte viel nach und sprach dafür umso weniger. Nur mir erzählte er davon, dass er anfing zu zweifeln. Nachdem er das Leid seiner Artgenossen gesehen hatte, fühlte er sich wie ein Verräter, wenn er weiter an unserer Seite blieb und gegen Sylvarant kämpfte, das schließlich die Freiheit seiner Rasse forderte. Es schmerzte mich, das zu hören, doch ich konnte ihn verstehen. Seine Treue zu mir hatte mich schon immer verwundert, ich wusste nicht, ob ich an seiner Stelle genauso gehandelt hätte.

Doch das, was wir gesehen hatten, war auch an mir nicht spurlos vorbeigegangen. Obwohl Flavius kein Feind der Halbelfen war, war er Tethe'alla treu ergeben. Das wurde mir erst jetzt richtig bewusst. Ich hatte ihn immer bewundert, doch aus welchem Grund? Im Grunde diskriminierte er die Halbelfen auch, indem er für Tethe'alla kämpfte.

Ich hätte wohl wie Yuan an meinen Motiven gezweifelt, wenn ich welche gehabt hätte. Mir fiel auf, dass ich kein festes Ziel besaß. Ich war in der letzten Zeit so glücklich gewesen, dass ich meine Perspektive völlig aus den Augen verloren hatte.

Ich begann, mich zu fragen, was ich eigentlich wollte. Einst war mein Ziel die Freiheit gewesen. Doch was bedeutete Freiheit?

Ich wusste es nicht …
 

Salziger Wind wehte durch Kratos' Haare. Er saß am Bug des Schiffes, dass sie nach Sybak bringen sollte. Es war Abend, die Sonne ging allmählich unter. Es war ein wundervolles Farbenspiel, das sich tausendfach in der Wasseroberfläche brach, doch der Rothaarige konnte es nicht genießen. Zu tief war er in seinen Gedanken versunken.

Was tat er hier? Er war Soldat geworden. Ein Mensch, der sein Geld damit verdiente, zu töten. Er kämpfte gegen Sylvarant, ganz im Sinne seines Vaters. Was war aus ihm geworden?

Gedankenverloren blickte er in den Sonnenuntergang. Hatte nicht sein geliebter Großvater immer wieder gesagt, wie falsch der Krieg war? Und war Kratos selbst es nicht gewesen, der anders sein wollte als sein Vater? Dem Rothaarigen wurde schlecht von sich selbst. Er hatte all seine Ideale, all seine Träume, ja sogar Yuan verraten. Der kleine Halbelf, der immer an ihn und das Gute in ihm geglaubt hatte musste jetzt an seiner Seite gegen seine Artgenossen kämpfen. Was hatte er seinem besten Freund nur angetan? Und noch immer hielt er zu ihm, obwohl Kratos so viele Fehler begangen hatte. Wie weit würde seine Treue noch gehen?

Der junge Soldat sollte es später zutiefst bereuen, diese Frage gestellt zu haben.

Plötzlich wurde es laut und Kratos wachte aus seinen Gedanken auf, um über seine Schulter zu sehen. Er runzelte die Stirn, als er das Klirren von Ketten hörte. Er hatte sich schon gewundert, warum ein Teil des Decks mit einer Absperrung abgeschirmt war, doch jetzt erfuhr er es.

Von einem zweiten Eingang, der unter Deck führte, kamen nach und nach abgemagerte, schwache Halbelfen ins Zwielicht der Dämmerung. Sie wurden bewacht, von Aufsehern mit einsatzbereiten Peitschen. Kratos blieb der Atem weg. Ein Halbelf nach dem Anderen kam hervor. Sein Kommando, dass nur aus fünfundzwanzig Mann bestand, hatte unter Deck schon kaum Platz. Die Halbelfen waren jedoch gute fünf Dutzend. Sie waren dreckig und stanken bestialisch nach Fäkalien und Verwesung.

»Schon wieder drei Tote«, hörte er einen der Aufseher rufen, der gerade in das Quartier der Halbelfen gegangen war. »Stinken wie die Schweine«, sagte er und sah sich in der Menge der verschüchterten Überlebenden um.

»Heh, ihr da«, schnauzte der Aufseher und zeigte auf drei Halbelfen, die halbwegs gesund aussahen. »Wenn ihr eure Leute nicht anstatt Brot und Wasser fressen wollt, bewegt euch nach unten und schmeißt sie über Bord, verstanden?«

Die Halbelfen beeilten sich, dem Befehl nachzukommen. Kratos sah der Szenerie fassungslos zu.

»Wie grausam können die denn noch werden …?«, murmelte er.

»Viel grausamer …«, hauchte Yuan, der neben ihm aufgetaucht war. Er war blass, seine grünen Augen voller Trauer. »Ich kenne das, was sie durchmachen … ich stamme aus Sylvarant. Ich habe Wochen auf einem Schiff wie diesem verbracht. Du lebst wie Vieh zusammengepfercht dort unten. Es ist dunkel, feucht und es riecht wie in einem Krematorium.«

»Was … ist ein Krematorium …?«, fragte Kratos.

»Ein riesiger Ofen für Leichen«, erklärte der Halbelf mit kühler Stimme. »Die Leichen meiner Rasse werden dort verbrannt. Einige sind nur bewusstlos und werden durch die Hitze wieder wach.«

»…«

Die drei Halbelfen trugen die erste Leiche aus dem Unterdeck raus und warfen sie über die Reling. Das Platschen ging dem Adeligen durch Mark und Bein.

»Und du … warst wirklich mal auf so einem Schiff?«

»Sicher«, antwortete Yuan. »Oder glaubst du, ich bin erster Klasse gereist?«

Der Blauhaarige sah seinen Freund an.

»Ich hasse die Menschen. Daran hat sich nichts geändert. Ich habe nicht vergessen, was sie meiner Rasse und mir selbst angetan haben.«

»Das kann ich verstehen …«

»Kannst du nicht«, behauptete Yuan. »Und ich bin froh, dass du es nicht kannst. Ich gönne es nicht mal meinen ärgsten Feinden.«

»Yuan … ich möchte dich etwas fragen.«

»Nur zu.«

Die zweite Leiche viel ins Wasser.

»Warum bist du immer noch an meiner Seite?«

Der Blauhaarige schwieg eine ganze Weile. Die dritte und letzte Leiche wurde währenddessen ins Wasser geworfen. Die Halbelfen schienen eine Art Ausgang zu haben. Und sie genossen es sichtlich, ein wenig Tageslicht abzubekommen.

Plötzlich rollte Yuan etwas vor die Füße. Er hob es auf, um zu sehen, was es war. Kratos erkannte es nur schwer. Es war wohl einst ein Stofftier gewesen. Vielleicht eine Puppe. Jetzt war es eher ein Lappen mit einem Knopfauge. Der Blauhaarige sah auf. Zwischen den Halbelfen war ein kleines Mädchen, das ganz nahe an der Absperrung stand und Yuan ängstlich ansah. Ihr liefen Tränen über die Wangen, doch sie wagte es nicht, etwas zu sagen. Der Blauhaarige stieß sich von der Reling ab, an der er gestanden hatte und ging auf die Absperrung zu. Kratos sah, dass die Aufseher ziemlich Aufmerksam waren. Also beschloss er, hinzugehen.

»Entschuldigung?«

Die beiden Aufseher sahen zu ihm.

»Was willst du?«

»Nur etwas fragen«, antwortete Kratos. »Warum werden diese Halbelfen nach Sybak gebracht?«

»Pfeilfutter«, meinte einer der Aufseher. »Die werden vorangeschickt, damit der erste Pfeilhagel nicht auf unsere Leute trifft.«

Der Rothaarige schielte zu Yuan, der das kleine Mädchen tätschelte und aufmunternd anlächelte. Außerdem schien er ihr etwas zu sagen.

»Ah, ich verstehe«, schauspielerte Kratos. »Gut zu wissen, dass man soviel für unseren Schutz tut.«

»König Avanel ist ein guter König. Der Nachfolge seines Vaters würdig.«

»König Chephren ist tot?«, fragte der Adelige, nun doch ernsthaft am Gespräch interessiert.

»Er ist vor zwei Wochen gestorben«, klärte der Aufseher ihn auf. »Sein Sohn Avanel trägt jetzt die Krone.«

»Vielen Dank für die Information«, war Kratos höflich und wandte sich nach wenigen weiteren Worten ab. Yuan hatte sich wieder an die Reling zurückgezogen. Das Mädchen war verschwunden.

»Danke«, meinte Yuan. »Und damit hast du auch deine Antwort.«

»Welche meinst du?«

»Warum ich noch immer an deiner Seite bin«, erklärte der Halbelf. »Du bist nicht wie die Anderen. Du bist anders.«

Kratos schwieg. War er wirklich so anders? War er wirklich besser als die anderen Menschen?

Er zweifelte daran …

Die Schlacht um Sybak

Hallo meine lieben und treuen Leser,

eigentlich hat mir meine liebe Freundin, Co-Autorin und Lektorin verboten, dieses Kapitel vor dem 10. April hochzuladen ^-^" Ich weiß, dass ich dafür gehörigen Ärger bekomme, aber das ist mir mal ganz gehörig schnuppe (zumal sie nicht da ist, weshalb ich mir das auch erlauben kann xD).

In diesem Kapitel hat mir -BlackRoseNici- einmal mehr weitergeholfen, als ich nicht weiterwusste, wie schon in sovielen anderen Kapiteln. Dies ist für die nächsten knappen zwei Wochen das letzte Kapi, das ich hochlade, da Nici, wie ich bereits erwähnte, nicht da ist und ich ohne meine Muse nicht arbeiten kann.

Lange Rede, kurzer Sinn: Danke für deine liebe Hilfe, Nici! Ohne dich wäre KL nicht das, was es ist!

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Wir haben ihn wieder!«

Kratos schlug die Augen auf. Dumpfer Kampfeslärm drang an seine Ohren. Er wollte hochschießen und sein Schwert ziehen, doch eine kräftige Hand hielt ihn zurück. Erst dann realisierte er, dass er nicht mehr auf dem Schlachtfeld lag. Über ihm stand Flavius, der seinen rechten Arm in einer Schlinge trug und sich mit dem linken auf einer Krücke abstützte.

»Bleib' liegen«, verlangte er.

Obwohl Schmerzen so ziemlich das einzige waren, was Kratos wahrnahm, schüttelte er den Kopf.

»Nein … nein, ich muss …«

»… liegen bleiben!«, fiel ihm sein Ausbilder ins Wort. »Du bist gerade dem Tod von der Schippe gesprungen.«

Der Rothaarige erinnerte sich. Er war mit Thalaimo und Noel umzingelt worden und hatte sich einen heftigen Kampf mit einem Nahkampfmagier geleistet. Das Letzte, an was er sich erinnerte, war ein furchtbarer Schmerz in seinem Bauch und viel Blut gewesen. Und die Klinge, in dem sich sein verletztes Gesicht gespiegelt hatte.

»Wo sind …?«

»Valynard ist tot«, berichtete Flavius und Kratos spürte einen Stich in seinem Herzen. Thalaimo war inzwischen der dritte Tote innerhalb ihres Kommandos. Lounel und Fyn hatte es auch schon erwischt.

»Er ist ehrenhaft gestorben. Auge in Auge mit dem Feind«, ertönte Noels Stimme neben ihm und der Rothaarige war erleichtert, ihn lebend zu sehen. Allerdings sah er auch, dass der übergewichtige Soldat sein Bein verloren hatte. Noch ein Invalide. Lux schwebte wegen seiner Verletzung noch immer in Lebensgefahr. Eine Axt hatte ihn vom Gesicht bis hin zum Oberbauch aufgeschlitzt.

Einen Monat waren sie nun schon hier. Für die Länge der Zeit waren von seinem Kommando verhältnismäßig wenige verletzt und getötet worden. Jeden Tag kämpften sie um ihr nacktes Überleben, immer und immer wieder wurden sie rausgeschickt. Schlaf war ein Fremdwort geworden. Das Einzige, was ihnen gegönnt wurde, war Mana. Ganze Ketten von Halbelfen waren nur dafür abgestellt worden, um die Krieger zu stärken. In regelmäßigen Abständen wurden die Divisionen gewechselt, damit sich die jeweils andere auffrischen konnte. Ihre Wunden wurden geheilt, sie bekamen etwas zu essen und ihre Ausrüstung wurde erneuert. Darunter war kostbares, magisches Wasser, das nicht nur den Durst und den Hunger für Stunden auslöschte, sondern auch die Müdigkeit und Erschöpfung vertrieb und Heilmittel in jeglicher Form: Gegengifte und Gele die Wunden verschlossen und Flüche vertrieben.

Kratos war unglaublich erschöpft. Über eine Woche hatte er mit seinen Kameraden draußen gekämpft, ohne einmal ins Lager zurückzukehren. Erdbraun, blutrot und Metall in allen Nuancen waren die einzigen Farben, die er in der letzten Zeit gesehen hatte. Obwohl er in Sicherheit war, tanzten noch immer Feuerpfeile vor seinen Augen. Doch egal, wie lang und ausdauernd Tethe'alla kämpfte, Sylvarant überrannte sie regelrecht. Auf dem Schlachtfeld verlor man nach wenigen Stunden zudem auch komplett die Orientierung und vor allem seine Kameraden aus den Augen. Ein Leben war dort wertlos. Kratos und Noel hatten das große Glück gehabt, von der Gruppe eingesammelt zu werden, in die Caleb eingeteilt worden war: Die sogenannten Engel. Diese Gruppe von Kämpfern rückte jeden Tag mehrere Male aus und sammelte die Verletzten ein. Das war ihre einzige Aufgabe. Doch auch die war nicht leicht, denn teilweise fielen die Soldaten im wahrsten Sinne des Wortes auseinander. Kratos hatte gesehen, wie ein Kämpfer, als man ihm die Rüstung ausgezogen hatte, seinen Arm verlor. Er war das Opfer eines Giftfluches geworden, der den Körper verfaulen ließ. Der Rothaarige selbst hatte schon einen Brandfluch abgekriegt, der das Blut innerhalb von Minuten zum Kochen brachte. Noel hatte zum Glück noch ein Gegenmittel dabeigehabt.

Yuan hatte er seit Tagen nicht mehr gesehen. Sie waren irgendwann getrennt worden. Seine Sorge war groß, jedoch zweitrangig. Würde er sich auf einzelne Freunde konzentrieren, wäre es sein Tod. Er konnte nur hoffen, dass sein treuer Gefährte noch am Leben war. Unverletzt wäre utopisch gewesen.

Kratos wartete ungeduldig auf die Heilereinheit. Im Moment war er nur wiederbelebt und verarztet worden. Die Heiler – ebenfalls Halbelfen – schlossen die Wunden und ließen Knochen wieder zusammenwachsen. Der Rothaarige wollte wieder auf das Schlachtfeld und seinen Kameraden beistehen. Seine Abneigung gegen Krieg und seine untreuen Gedanken gegenüber Tethe'alla hatte er nicht vergessen, doch sie waren im Moment einfach nur nutzlos und egal. Hier ging es um Leben und Tod.

Niemand anderes als Caleb tauchte wenig später auf, drei dampfende Schüsseln in den Händen. Flavius, Kratos und Noel griffen gierig danach. Feste Nahrung war hier so kostbar wie Gold. Wie ein ausgehungertes Tier fiel der Rothaarige über die Bohnen her, die mit Speck angereichert worden waren. Eine wahre Köstlichkeit in seinen Augen. Zwischen zwei Bissen fragte er Caleb nach den Anderen.

»Die Zwillinge leben«, berichtete er. »Sora ist angeschlagen, aber noch kampftauglich. Yuan habe ich auch gesehen. Er lebt und kämpft wie ein Löwe.«

»Wo ischt er?«, fragte Kratos kauend. Manieren waren hier fehl am Platze.

»Rechte Flanke«, antwortete Caleb. »Sein Axtschwert ist sogar von den Magiern gefürchtet. Ich habe gesehen, wie er es geschleudert hat. Wie einen Bumerang.«

Der Adelige lächelte. Etwas, das er selten tat, seitdem er hier war. Er war unglaublich froh, dass sein Freund wohlauf war.

Endlich kam der Halbelfentrupp in das Zelt, in dem die Drei lagen. Auch, wenn sie Gefangene waren, die Halbelfen taten ihr Bestes, um alle zu heilen. Kratos setzte sich auf, einer der Sklaven kam zu ihm und legte seine heilenden Hände auf den Bauch seines Patienten. Die Behandlung dauerte nur ein paar Minuten, war jedoch sehr kräfteraubend, weswegen die Heileinheit immer wieder pausieren musste. Als Kratos keine Schmerzen mehr hatte, stand er auf und legte sich seine Rüstung wieder an. Flavius tat es ihm gleich.

»Rechte Flanke?«, fragte sein Ausbilder, der seit ihrer Ankunft genauso ein Kamerad geworden war wie jeder Andere.

»Rechte Flanke«, antwortete Kratos und legte seinen Schwertgürel um. Unter seiner Rüstung und somit leicht geschützt vor Schwertern und Äxten, befanden sich die Heiltränke. Er kontrollierte, ob er alles dabei hatte und zog dann sein Schwert aus der Scheide. Mit Flavius an seiner Seite trat er aus dem Zelt und verließ das Lager, dass mit Mauern aus Holz von der Schlacht abgeschirmt war.

Der Anblick war grauenhaft, als sie es verließen, jedoch für Kratos inzwischen alltäglich. Vor seinen Augen starben in jeder Minute ungefähr fünf Menschen oder Halbelfen. Doch Krieg war etwas, dass den Egoismus eines Kriegers erforderte. Er konnte nicht jeden retten, das war eine Tatsache, an die sich der sonst so gerechtigkeitsliebende Menschenrechtler Kratos schnell gewöhnen musste. Mit gezogenem Schwert und Flavius an seiner Seite rannte er nach Osten, zur rechten Flanke der tethe'allanischen Armee. Er hatte seine Augen und Ohren überall. Ebenfalls eine Eigenschaft, die Flavius sie gelehrt hatte. Als er sah, dass ein Magier ihn fixiert hatte, drehte er sich pfeilschnell um und riss sein Schild hoch, das er an seinem linken Arm trug. Der heraufbeschworene Blitz wurde abgelenkt und ein Todesschrei ertönte. Der Rothaarige konnte nur hoffen, dass es niemand von seinen Leuten gewesen war. Nachsehen konnte er nämlich nicht.

Flavius köpfte einen Halbelfen, der mit hocherhobener Axt auf sie zugerannt war, Kratos schlug den weggeflogenen Kopf beiseite und lief weiter. Leichen und deren Teile säumten den Weg der beiden Krieger. So albern es klang, man musste aufpassen, weder darüber zu stolpern, noch darauf auszurutschen.

»Indignation!«

»Nach links!«, brüllte Flavius und Kratos gehorchte sofort. Das Kraftfeld, das bei dieser Attacke entstand, hinderte jeden, daraus zu fliehen, da eine magnetische Kraft entstand und die Rüstungen aus Metall waren. Wer nicht rechtzeitig floh, war tot.

Ein mächtiger Blitz schlug in den Boden ein und die Erde erbebte. Verzweifelte Todesschreie drangen an Kratos' Ohren, doch sie waren taub dafür. Die beiden rannten nur, so schnell sie konnten.

»Eruption!«

Kratos spürte die Hitze durch seine Füße, die Erde wurde weich. Er sprang, genau wie Flavius. Keine Sekunde zu spät, denn der Feuerzauber verwandelte die Erde in kochende Lava. Erneut starben Menschen, erneut schrien sie. Jeder einzelne Schrei ging dem Adeligen durch Mark und Bein, doch er konnte und durfte sich nicht darum scheren, wenn er selbst am Leben bleiben wollte. Ihr nächstes Hindernis waren vier Halbelfen mit Schwertern, auf denen ein Wasserzauber lag. Die Magie der Halbelfen war mächtig und Kratos verfluchte sie zutiefst. Doch auch die Menschen wussten sich zu wehren. Er zog das Visier seines Helmes herunter, welches die Augen vor Wasser, Gift und Feuer schützen konnte. Einen Schwertkampf konnte er vergessen, denn die wässrigen Klingen seiner Feinde konnte er nicht parieren. Stattdessen griff er an seinen Schwertgürtel, an dem unter Anderem kleine Kugeln hingen. Er biss den kleinen Stift ab, der darin steckte und warf sie gezielt in die Gruppe. Eine Explosion aus purem Mana entstand und zerriss die vier Sylvarantaner in ihre Einzelteile. Blut, Fleisch und Knochen flogen durch die Luft. Kratos und Flavius wichen den Leichenteilen aus. Sie hatten die rechte Flanke fast erreicht.

Und dann sah Kratos ihn.

Yuan schwang sein Axtschwert über seinem Kopf, enthauptete und zerteilte seine Feinde. An seiner Seite stand Sora, die sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. An ihrer linken Seite lief das Blut in Bächen herunter. Wie die Aasgeier griffen die Halbelfen seine Freunde an. Ein Pfeilhagel hielt auf die Zwei zu. Yuan drehte seine Waffe jedoch so schnell vor sich, dass nicht einer von ihnen ihn oder Sora traf.

Mit einem Schrei, der ihm seine eigene Angst nahm, ging Kratos auf einen Halbelfen los, der Yuan angreifen wollte. Flavius eilte an Soras Seite und verabreichte ihr ein Gel, damit sie aufhörte zu bluten.

»Wurde auch Zeit, dass du auftauchst!«, fauchte Yuan und köpfte einen weiteren Artgenossen.

»Entschuldige, der Tod hat vorbeigeschaut!«, gab Kratos zurück.

»Dafür siehst du aber noch sehr lebendig aus!«, konterte sein Freund. »Kopf runter!«

Der Rothaarige, sowie Sora und Flavius duckte sich. Yuan warf sein Axtschwert von sich und das tödliche Surren wurde laut. Kratos' Freund griff nach einer Axt, die er ebenfalls bei sich trug und begann, weiterzukämpfen. Der Adelige tat es ihm gleich. Mutig schwang er das Schwert in seiner Hand, das innerhalb kürzester Zeit vor Blut nur so triefte. Sobald Flavius Sora versorgt hatte, stiegen auch die beiden wieder ein und begannen, nicht Tethe'alla, sondern sich selbst und ihre Kameraden zu verteidigen.

Allerdings bekam Kratos es mit der Angst zu tun, als er die braungebrannten Krieger aus der Wüstenstadt Triet sah. Ihre Schwerter, Säbelschwerter, waren hinterlistige Waffen, deren Schwachstelle nicht einmal Flavius ihnen hatte verraten können. Als der erste von ihnen auf ihn zukam und er seinen Schlag parierte, reichte ein einziger Handgriff und er war seines Schwertes beraubt. Jetzt musste Kratos schnell handeln. Er griff an seinen Gürtel und holte eine für beide gefährliche Waffe heraus: Ein Nunchaku oder auch Würgeholz genannt. Es waren zwei Rundhölzer, die mit einer kurzen Kette verbunden waren. Der Rothaarige beherrschte nur die Grundzüge dieser Waffe. Bekam er eines der Hölzer selbst an den Kopf, war es vorbei.

Und doch, mutig wie eine Löwin, die ihre Jungen verteidigte, griff er den Trieter an. Dieser war sichtlich eingeschüchtert von diesem, ihm unbekannten Kampfstil, versuchte jedoch, den schnellen Bewegungen seines Gegners Einhalt zu gebieten. Kratos studierte die Abfolge seiner Bewegungen genau und entdeckte seine Chance: Als der Kämpfer ausholte, ihm ihn anzugreifen, schlug der Rothaarige ihm das Holz gegen den Schädel, der sofort brach.

»Kopf runter!«, schrie Yuan und Kratos duckte sich, was er ausnutze, um einem weiteren Kämpfer die Beine wegzutreten, der daraufhin in das Säbelschwert seines Verbündeten fiel. Yuan fing sein Axtschwert wieder auf, das einen verheerenden Schaden angerichtet hatte. Wie er es machte, dass die Waffe immer wieder zu ihm zurückkehrte, wusste er nicht.

Kratos hatte gerade sein Schwert wieder aufgehoben, als plötzlich ein scheinbar reiner Lichtstrahl vor seinen Augen erschien – und sein Schwert sauber durchbohrte.

»Was zum Teufel …?«
 

Das Letzte, an was ich mich erinnern konnte, waren gleißende Lichter und bestialische Schmerzen gewesen. Als ich neben Yuan, Sora und Flavius aufwachte fanden wir uns erneut im Krankenzelt wieder. Wir hatten mehr Glück als Verstand gehabt.

Die Lichter, die wir gesehen hatten, stammten aus einer Waffe, die die Krieger Sylvarants Laser nannten. Es war gebündeltes Lichtmana, das alles und jeden durchfraß, auf was es traf. Sora hatte dadurch eine Lähmung der Beine erlitten, da einer der Strahlen sie am Rücken gestreift hatte. Doch wer konnte schon Licht ausweichen?

Die Waffe erschwerte uns den Widerstand wesentlich. Immer und immer mehr Opfer gab es, immer und immer mehr Menschen starben. Wie ich erfahren hatte, war Luca gestorben, als er sich schützend vor seinen Bruder geworfen hatte. Der Lichtstrahl hatte ihn direkt zwischen den Augen getroffen.

Lucian war am Boden zerstört. Ich hatte schon oft gelesen und an den beiden auch gemerkt, dass Zwillinge eine besonders enge Geschwisterbindung besaßen. Wie grausam musste es sein, wenn einer starb?

Doch der Krieg war unbarmherzig. Monatelang kämpften wir für den Zweck, Zeit zu schinden. Ich erinnere mich nur noch sehr verschwommen an diese Zeit. Denn Schlaf fand ich kaum noch. Da wir immer weniger wurden, konnten wir auch nicht mehr einfach ausgewechselt werden. Die Taktik hatte sich geändert. Die Engel, die bisher nur die Verletzten eingesammelt hatten, verteilte nun auch Heiltränke an die Kampftauglichen, damit sie so lange wie nur irgendmöglich durchhielten. Ich entsinne mich, dass meine längste Zeit auf dem Schlachtfeld zwei Wochen betragen hatte. Einen Tag durfte ich durchschlafen, bevor ich erneut rausgeschickt wurde.

Wir alle waren nur noch Schatten unserer selbst, Kampfmaschinen, abgerichtet, so viele zu töten wie es uns möglich war.

Im sechsten Monat des Krieges erfuhren wir endlich, dass die Waffe, von der Flavius uns erzählt hatte, fertiggestellt war. Uns wurde gesagt, dass ein überlautes Horn dreimal ertönen würde, wenn es Zeit für den Rückzug war. Der Stützpunkt der Krieger baute währenddessen Wälle auf, die den Schall und das Licht der Explosion, die diese Waffe hervorrufen würde, abschirmten. Yuan, Sora, Caleb, Lux, Flavius und ich waren die einzigen Überlebenden unseres Kommandos. Und wir waren heilfroh darüber, dass die endlose Schlacht endlich ein Ende haben würde. Uns war sogar egal, dass dafür so viele Wesen sterben mussten. Wir wollten nur, dass es vorbei war.

Doch das Schicksal rächte sich bitter für unsere Gleichgültigkeit …
 

Drei lange Tage und Nächte waren Kratos und Yuan nun schon wieder auf dem Schlachtfeld. Lux und Flavius hatten sie komplett aus den Augen verloren, doch die beiden Freunde wichen einander nicht mehr von der Seite. Wie von Sinnen kämpften sie gegen ihre Feinde, ihre einzige Hoffnung war der Befehl des Rückzuges, auf den sie sehnsüchtig warteten.

Man merkte, dass Tethe'alla Ernst machte. Um die Freunde herum explodierten Manabomben, die Sylvarants Krieger in tausende Stücke rissen, Schreie, ersticktes Gurgeln, ja sogar das Flehen einiger drang an ihre Ohren. Die Bilder dieses Krieges brannten sich für immer in Kratos' Gedächtnis. Entstellte Leichen verdeckten die Erde, verkrüppelte Sterbende versuchten sich verzweifelt zum Lager zurück zu schleppen, obwohl sie auf dem Weg dorthin entweder niedergemetzelt wurden oder ihren Verletzungen erlagen. Besonders perfide Kämpfer – von beiden Seiten – benutzen Leichen oder Sterbende als Schutzschilde. Flüche wurden gesprochen, Gegenzauber ausgerufen. Krieger verfaulten bei lebendigem Leibe, Blut schoss jenen, die Opfer des Brandfluches geworden waren, aus allen Körperöffnungen, Paralyse machte es einigen unmöglich, dem Tode zu entrinnen.

»Gegengift!«, schrie Yuan verzweifelt. Kratos reagierte sofort und warf ihm eines zu, welches er gierig trank. Die blaugrüne Hautfarbe seines Armes verschwand und er hob sein Axtschwert wieder auf. Der Rothaarige enthauptete einen Magier und stahl ihm sämtliche Heilmittel. Ihm blieb nichts anderes mehr übrig. Die Reserven Sybaks waren erschöpft. Jeder riss sich alles unter den Nagel, was er bekommen konnte.

Kratos und Yuan waren weit vom Lager abgekommen, doch sie behielten sich jeweils eine Flasche "Wasser des Lebens" vor. Es war jenes Wasser, das Durst, Hunger und Erschöpfung vertrieb. Würde das Horn endlich ertönen, würden sie es trinken und so schnell sie ihre Beine trugen den Rückzug antreten.

Plötzlich packte Kratos etwas am Bein. Er fuhr herum und wollte es töten, als ihn ein Gesicht ansah, das höchstens einem Zwölfjährigen gehören konnte.

»Hilf mir …!«, flehte er. Der Rothaarige sah, dass er keine Beine mehr hatte. Sie waren verfault, die Wunden mit Wundbrand infiziert. Das Kind musste grausame Schmerzen haben. Ein Gegengift half hier nicht mehr.

»Ich werde dir helfen. Mach' die Augen zu«, sprach er sanft. Das Kind gehorchte. Kratos erhob sein Schwert und köpfte den Jungen. Ein schneller Tod war die einzige Hilfe, die er ihm hatte bieten können. Er hatte schon viele Verletzte getötet. Aus Gnade und Mitleid.

Kaum war die Hand an seinem Bein erschlafft, schrie er wildgeworden und metzelte die nächsten beiden Halbelfen nieder. Yuan war noch immer an seiner Seite, kämpfte jedoch seinen eigenen Kampf. Schließlich warfen sie sich Rücken an Rücken, um Luft holen zu können, ohne rücklings erstochen zu werden. Kratos sah sich um. Das Schlachtfeld um sie herum war ungewöhnlich leer. Das lag daran, dass sie ziemlich weit abgekommen waren. Nur aus der Ferne drang Kampfeslärm zu ihnen. An ihren Platz verliefen sich nur wenige Krieger. Und die beiden waren froh darüber. Sie und wenige andere hatten diese Flanke gerade zu leergefegt. Es schien Abend zu sein, da die Sonne dem Horizont nahestand. Kratos konnte jedoch nicht sicher sagen, ob der Tag anfing oder endete. Doch es konnte nicht mehr lange dauern. Bald würde das Horn ertönen.

Yuan gönnte es sich, nachdem er sich umgesehen hatte, seinen Helm abzunehmen und den Kopf zu schütteln. Ein Luxus, den sich beide seit Tagen nicht gegönnt hatten. Außerdem lagen Yuans spitze Ohren durch den Helm eng an seinen Kopf an, was ihm Schmerzen bereitete, wie Kratos wusste. Beklagt hatte sich sein Freund jedoch nie.

Und dann, als der Rothaarige gerade festgestellt hatte, dass die Sonne unter- und nicht aufging, geschah etwas, das diese Nacht zu einer der schlimmsten seines Lebens machen sollte.

»Halbelf …«

Es war eine tiefe Stimme. Brüchig. Schwach. Und doch vertraut. Kratos wollte seinen Ohren nicht mehr glauben. Wie konnte er noch leben?!

»Halbelfen …!!!«, rief die Stimme seines Vaters. Mit hocherhobenem Schwert rannte er auf die beiden Freunde zu. Er war völlig von Sinnen, ganz und gar wahnsinnig geworden. Yuan wollte noch ausweichen, doch Erebos war zu schnell. Kratos jedoch schaffte es das erste Mal in seinem Leben, gegen seinen Vater aufzubegehren. Er rannte dazwischen und parierte den Schlag seines Vaters mit seinem Schwert. Ein Kräftemessen entstand und Vater und Sohn blickten sich in die Augen.

»Verräter!«, brüllte Erebos, wobei Blut in Kratos' Gesicht spritzte. Die Schwindsucht hatte ihn völlig im Griff. »Du hast das Königreich verraten!«

Mit einer Kraft, die nur ein Wahnsinniger aufbringen konnte, schlug Erebos seinen Sohn beiseite, der auf einen Leichnam stürzte. Yuan hatte gerade sein Axtschwert erhoben, doch ein Schlag von Erebos reichte aus, um das schon angeschlagene, hölzerne Mittelstück zu durchtrennen. Nun stand Yuan unbewaffnet vor ihm, bereits zu erschöpft und verwundet, um sich noch zu wehren. Kratos sah das.

»NEIN!!!«

Doch Erebos durchstieß mit seinem Schwert Yuans Körper. Das Schwert bohrte sich durch seine linke Seite hindurch und trat aus seinem Rücken wieder aus. Dann riss Kratos' Vater es nach links wieder heraus.

Und genau in dem Moment ertönte das Horn zum Rückzug.

Kratos sprang auf, sein Schwert in Händen. Hass erfüllte ihn. Unglaublicher Hass. Er brannte vor Hass. Hass, der nur seinem Vater galt, der zum Rückzug ansetzen wollte. Hass, der sich nun endlich befreite.

Mit einem Schrei, den man über das ganze Schlachtfeld hören musste, stürzte er auf seinen Vater zu. Sein Schwert hatte er angeschlagen, sein unsäglicher Hass hüllte die Klinge in vernichtende Flammen. Wie in jener Nacht, in der seine Mutter gestorben war.

Das Schwert durchbohrte Erebos' geschundenen Körper, das Feuer darum bereitete ihm unsägliche Schmerzen. Doch Kratos gab sich vollkommen seinem Hass hin, die Schmerzen seines Vaters waren für ihn der höchste Genuss, seine Schreie die süßeste Melodie. Er entzog das Schwert seinem Fleisch wieder, nur, um erneut zuzuschlagen. Erst die Hand, dann den Arm. Daraufhin den anderen Arm. Er spürte, wie sich das Metall seines Schwertes durch das Fleisch, die Sehnen und die Knochen seines Vaters fraß. Und er genoss es. Er hieb immer wieder auf seinen Vater ein, wollte ihm Schmerzen und Leid bereiten. Er zerfetzte seinen Brustkorb, schlitzte seinen Bauch auf und durchschnitt seine Kehle, damit er an seinem eigenen Blut ertrank.

»Stirb!«, schrie er immer wieder. »Stirb wie meine Mutter und mein Bruder!«

Sein Vater war schon längst tot, die Worte erreichten ihn nicht mehr. Die Leiche stand in Flammen, die Organe quollen mit Bächen von verseuchtem Blut hervor. Erst, als sie auf den Boden aufprallte, kam Kratos wieder zur Besinnung. Er ließ sein Schwert fallen und rannte zu seinem besten Freund, der ihm zu jeder Zeit mehr bedeutet hatte, als er es auszusprechen vermochte.

»Yuan …! Yuan, hörst du mich?!«, flehte er verzweifelt.

Der Blauhaarige lebte. Noch schlug sein Herz. Doch jeder Schlag pumpte mehr Blut aus seinem verwundeten Körper.

»… ja …«, röchelte er. »… bin … ja … nicht … taub …«

Kratos musste schmunzeln, obwohl er es nicht wollte. Selbst im Angesicht des Todes, geplagt von unsäglichen Schmerzen, machte er noch Witze.

»Yuan … bitte, halt' durch! Ich bringe dich ins Lager!«

»Ich bin … zu langsam …«, schnaufte der Halbelf. »Wir schaffen … es … nicht … zusammen …«

Der Rothaarige begriff, worauf sein treuester Gefährte hinauswollte. Doch er schüttelte wild den Kopf.

»Nein! Ich lasse dich nicht zurück!«

»Du … musst …«, wisperte Yuan. »Sonst … stirbst … auch du …«

Tränen sammelten sich in Kratos' Augen. Es durfte nicht wahr sein. Yuan durfte nicht sterben. Nicht auch noch er!

Das Horn ertönte ein zweites Mal.

»Geh …«, flehte er. »Bring … dich … in Sicher … heit …«

»Ich kann nicht …!«, weinte der Rothaarige. »Ich kann dich nicht zurücklassen!«

Er umarmte den Halbelfen, der ihn so viele Jahre lang durch sein Leben begleitet hatte. Treu und unerschütterlich. Wie ein Bruder. Und genau das wurden sie in diesem Moment. Da Kratos auch verwundet war und er Yuan fest an sich drückte, vermischte sich ihr Blut miteinander.

»Ich kann dich nicht hierlassen …!«, wiederholte er sich. »Du bist doch alles, was ich noch habe! Du bist der Bruder, den ich niemals hatte!«

»Dann tu … es für … mich …«, bat Yuan schwach. »Geh … und … sei frei … für mich …«

Mit diesen Worten verlor Kratos' Blutsbruder das Bewusstsein. Zu groß waren die Schmerzen gewesen, zu hoch der Blutverlust. Kratos wusste, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb. Außerdem sah er, dass die Krieger Sylvarants ihnen näherkamen. Sie waren leichte Beute.

Und doch ließ er Yuan nicht einfach zurück. Er konnte es nicht. Der Adelige nahm den Siegelring seiner Familie von seinem Ringfinger ab und gab ihn in Yuans Hand, die er daraufhin schloss.

Dann sprach er den Schwur, den man leistete, wenn man sich mit jemandem verbrüderte. Er wollte, dass Yuan als sein Bruder starb und nicht als sein Leibeigener.

»Im Namen meiner Seele,

Meines Glaubens, meinem Tod!

Schwöre ich Dir Treue, Bruder,

Auch in allergrößter Not ...!«, begann er, noch immer weinend.

»Mein Blut soll dies besiegeln!

Ewig soll der Eid bestehen!«, rief er und hob seinen Blick zum Himmel.

»Origin, sei du mein Zeuge!

Niemals soll mein Wort vergehen!«

Dann sah er wieder auf seinen sterbenden Bruder hinab.

»Für Dich nur will ich sterben ...

Ohne Reue, ohne Angst ...

Mein Leben werde ich dir geben ...

Wenn Du es von mir verlangst ...«, fuhr er fort. Sein Griff nach Yuan verstärkte sich bei jedem seiner Worte, die nach und nach immer fester wurden.

»Dieser Schwur soll ewig währen!

Uns're Bindung will ich ehren!

Der Brüder treuer Einigkeit!

Bis zum Ende aller Zeit!«, versprach er so feierlich er es vermochte. Als der Schwur sich wie Yuans Leben dem Ende zuneigte, wurde seine Stimme leise und sanft. Er legte all die brüderliche Liebe hinein, die er für den Halbelfen empfand.

»Was immer auch geschehen mag ...

Niemals kommen wird der Tag

An dem ich breche diesen Schwur ...

Den von Herzen ich Dir gab ...«

Schließlich gönnte er sich einen letzten Blick auf seinen Blutsbruder, nahm das Wasser des Lebens aus seiner Rüstung heraus, öffnete es und hob es leicht an, als würde er auf den Schwur anstoßen. Dann trank er einen Schluck daraus. Den Rest flößte er Yuan ein, damit ihn in seiner Ohnmacht keine Schmerzen plagen konnten.

Schließlich ertönte das Horn ein drittes und letztes Mal, so, als ob es nur für Yuan spielte. Kratos stand auf, nahm sein Schwert wieder in die Hand und begann zu rennen, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Er fühlte sich leer. Unglaublich leer. Am liebsten hätte er sich neben Yuan gelegt und einfach darauf gewartet, zu sterben. Doch der natürliche Überlebensinstinkt der Menschen und auch Yuans letzte Worte, hielten ihn davon ab.

Er würde frei sein. Für seinen Bruder.
 

Als Thors Hammer einschlug, brach ich zusammen. Denn ich wusste, dass Yuan dort draußen lag. Einsam und allein.

Als ich Flavius und den Anderen berichtete, was geschehen war, trauerten sie mit mir um ihn, doch trotzdem fühlte ich mich unverstanden. Was wussten sie schon von Yuan und mir? Sie wussten nicht, was wir zusammen durchgestanden hatten. Sie wussten nichts von seinen Wünschen und seinen Träumen, die sich niemals mehr erfüllen würden. Und sie hatten nicht in seine Augen gesehen, als er sterbend in meinen Armen lag. Diese Augen brannten sich noch viel mehr in mein Gedächtnis, als alles Leid der Schlacht.

In den grünen Augen meinen Bruders hatte ich nämlich nur eines gesehen. Es war kein Vorwurf gewesen, nicht einmal Schmerz. Nur eines.

Treue, die bis in den Tod reichte.

Der Hauptmann der königlichen Garde

Nici ist wieder da! Ich kann wieder arbeiten! xD

Viel Spaß mit dem Kapi und danke für eure Kommis ;)

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Braune Augen blickten auf schwarzen Marmor. Goldene Buchstaben waren dort eingelassen worden, an der rechten Seite des Schriftzuges war ein Phönix abgebildet. Das Zeichen des Todes und der Wiedergeburt.
 

Dieses Denkmal wurde zu Ehren der mutigen Krieger erbaut,

die in der großen Schlacht um Sybak ihr Leben verloren.

Dies sind ihre Namen.
 

Kratos Blick blieb am zweiten Absatz der Namen stehen. Er kannte sie in- und auswendig. Für ihn jedoch war es ein Gefühl des Wiedersehens, sie zu lesen.
 

In der Division des Ifrit:

Luca und Lucian Kesmon, Thalaimo Valynard, Lounel Drandon, Fynchenzo Solice, Yuan Aurion
 

Der Name seines Blutsbruders ließ Kratos blinzeln, da ihm die Tränen in die Augen treten wollten. Dann legte er einen Strauß weißer Rosen auf das kleine Plateau nieder, auf dem das Denkmal errichtet worden war. Schließlich senkte er den Kopf und schloss die Augen, um in aller Ruhe und in angenehmer Dunkelheit einige stumme Worte an seine Freunde zu richten. Dann jedoch ergriff er den goldenen Helm, der neben ihm auf dem Boden lag und erhob sich. Zum Abschied salutierte er vor dem Denkmal. Erst dann wandte er sich ab.

Das Licht der Abendsonne fiel auf die ebenfalls goldene Rüstung, die Kratos trug. Mit metallischen Schritten machte er sich auf den Rückweg zum königlichen Schloss.

Vier lange Jahre waren seit der Schlacht um Sybak vergangen. Kratos war inzwischen zweiundzwanzig Jahre alt und noch immer im Militär tätig. Nur war er kein Gefreiter mehr. Er hatte eine steile Karriere hinter sich, die sogar in die Geschichtsbücher eingehen sollte.

Nachdem vernichtenden Schlag von Thors Hammer gegen Sylvarant, hatte das halbelfenfreundliche Königreich all seine Stützpunkte aufgegeben und sich zurückgezogen. Der Verlust hatte sie zu stark getroffen. Kratos und seine überlebenden Kameraden waren wie Helden gefeiert worden. Doch glücklich war darüber keiner von ihnen gewesen. Während Lux und Sora wegen ihrer Verletzungen den Armeedienst quittieren konnten und Caleb seine Lehre als Priester weiterführte, waren Flavius und Kratos zu Kriegshelden ernannt worden. Avanel hatte darauf bestanden, beide in seine Leibgarde aufzunehmen; was dem Ritterschlag gleichkam.

Innerhalb der vier vergangenen Jahre waren wenige Schlachten geschlagen worden, denn beide Königreiche mussten sich von ihren Verlusten erholen. Doch in denen, die getobt hatten, war Kratos dabei gewesen. Das hatte ihm immer mehr Ruhm und Ehre eingebracht, denn er war ein gnadenloser Kämpfer, genau, wie Flavius es sie gelehrt hatte. Inzwischen hatte er auf der militärischen Rangfolge sogar seinen Ausbilder eingeholt und somit die höchste Stufe erklommen: Er war der Hauptmann der königlichen Garde geworden.

Der Ritter in strahlendgoldener Rüstung war nicht besonders glücklich darüber. Er hatte gehofft, mit seinem wachsenden Einfluss den Halbelfen helfen zu können. Er hatte das Leid, dass ihnen auf den Weg nach Sybak begegnet war, nie vergessen. Genauso wenig wie seinen Blutsbruder.

Doch er hatte feststellen müssen, dass all sein Einfluss eigentlich eher das Gegenteil bewirkte. Er hatte zwar inzwischen eine eigene Einheit, über die er verfügen konnte, doch sie war für den Schutz des Königs abgestellt. Und Avanel hätte Kratos verbannt, hätte er es gewagt, Halbelfen, die schließlich die Feinde des Königreiches waren, dazu zu nutzen. Außerdem hatte ihm sein Ruhm auch jede Menge Verpflichtungen eingebracht. Denn, als er noch geglaubt hatte, Yuans Rasse helfen zu können, hatte er Avanel und Liabela in seiner Blauäugigkeit einen Eid geleistet, ihnen treu zu dienen. Verstieß er gegen diesen Eid, würde er sterben. Fantastische Aussichten, wie er sarkastischer Weise fand.

Das einzige, was sein Status als Hauptmann ihm eingebracht hatte, waren unverschämter Reichtum, der ihm nichts bedeutete und scharenweise Verehrerinnen, für die er sich nach wie vor nicht interessierte. Avanel hatte ihm sogar schon angeboten, ihn mit einer seiner vielen Töchter zu vermählen. Doch er hatte trotz der Beleidigung, die es mit sich brachte, abgelehnt.

Überhaupt waren die Einzigen, denen er vertraute, seine früheren Kameraden. Noel war trotz seines verlorenen Beines zum Burgvogt geworden. Und Flavius war seine rechte Hand. Es hatte eine ganze Weile gedauert, bis er sich daran gewöhnt hatte, dem Mann, vor dem er einmal nackt salutiert war, Befehle zu geben. Doch er hatte gelernt, dass man sich an vieles gewöhnen konnte. Flavius war ihm ein treuer Freund geworden, den er sehr schätzte. Doch Yuans Platz in seinem Herzen konnte niemand ausfüllen. Weder einer seiner früheren Kameraden, noch eine der vielen Frauen, die ihr Leben dafür geben würden, einmal mit ihm das Lager zu teilen. Was besagte weibliche Wesen an ihm fanden, konnte er nicht sagen. Sora hatte ihm zwar mal gesagt, dass er unverschämt gut aussah, doch das empfand er nicht so.

Das Schloss hatte sich in den Jahren nicht verändert. Das war auch so beabsichtigt. Die königliche Familie sollte den Anschein von Unantastbarkeit erwecken. Kein Krieg, keine Katastrophe, ja nicht einmal die Zeit konnte dem blaublütigen Geschlecht etwas anhaben. So zumindest sollte es das Volk wahrnehmen. Und das funktionierte auch ziemlich gut.

Die Wachen ließen ihn ohne Kontrolle passieren. Als Hauptmann der königlichen Garde konnte er sich frei im Schloss bewegen. Auch bezog er dort eigene Gemächer. Die erste Zeit hatte der Rothaarige sich noch von der Herrscherfamilie distanzieren wollen, doch mit der Zeit war es ihm zu zeitraubend geworden, ständig zwischen seinem Anwesen und dem Palast hin- und herzupendeln.

Seine Räumlichkeiten befanden sich im linken Flügel, in der Nähe der Räume, die die königliche Garde bezog. Er hatte drei Zimmer für sich. Ein Arbeitszimmer, dessen Wände mit Bücherregalen gesäumt waren und das einen großen Schreibtisch beherbergte, ein luxuriöses Bad, das mit weißen Marmorfliesen ausgelegt war und ein komfortables Schlafzimmer, mit einem großen Doppelbett. Es war eigentlich dafür vorgesehen, dass der Bewohner sich Damenbesuch mitnahm. Doch Kratos genoss es viel mehr, sich nach einem harten Tag darin ausstreckten zu können. Die Rüstung, die er tragen musste, sah zwar fantastisch aus und stand ihm ungemein, doch sie war unbequem und beengend. Etwas, das der Rothaarige gar nicht mochte.

Er hatte gerade die Treppen erklommen, die in den Flur führten, von dem seine Räumlichkeiten abgingen, als er plötzlich eine sehr vertraute Stimme hinter sich wahrnahm.

»Sir Kratos!«, rief Nereus, der sechsjährige Sohn von Liabela und Avanel. »Bitte wartet einen Moment!«

Der Ritter seufzte leise und drehte sich um. In den blauen Augen des jungen, blonden Prinzen war Kratos ein Held, den er über alle Maßen verehrte. Er nutzte jede Gelegenheit, um ihm nahe zu sein.

»Guten Tag, Prinz Nereus«, grüßte er, ließ die Verbeugung jedoch bleiben. Das tat er meistens, wenn niemand anwesend war, der ihn dafür hätte schelten können, zumal das sowieso die Wenigstens wagten. »Was führt Euch zu mir?«

»Ich wollte Euch fragen, wann die nächste Unterrichtsstunde stattfindet«, trug der Sechsjährige, der wie alle königlichen Kinder sehr streng erzogen wurde, sein Begehr vor. Liabela hatte Kratos gebeten, in seiner – sehr knapp bemessenen – Freizeit Nereus in Sachen Rítterlichkeit und Ehrenhaftigkeit zu unterrichten. Eine seiner lästigsten Pflichten, auch, wenn er Nereus mochte. Der kleine Prinz war für einen Sechsjährigen geistig sehr weit. Manchmal so sehr, dass Kratos sich fragte, ob es daran lag, dass seine Eltern Geschwister waren. Inzucht dieser Stärke konnte Wahnsinn verursachen, oder aber Genialität erzeugen. Doch obgleich der Rothaarige wusste, wie nah diese Eigenschaften beieinander lagen, schätzte er den kleinen Nereus zu Letzterem ein. Allerdings war der Unterricht zeitraubend.

»Ich werde Euch benachrichtigen lassen, wenn ich Zeit finde, junger Prinz«, versicherte er.

»Unsere letzte Stunde liegt schon zwei Wochen zurück«, stellte Nereus fest. »Was habt Ihr jetzt vor?«

Kratos hatte sich eigentlich darauf gefreut, ein Bad nehmen und ein Buch lesen zu können. Es hatte ihn einiges an organisatorischem Geschick gekostet, sich einige freie Stunden zu bescheren. Es war schon vorgekommen, dass er zwei oder mehrere Tage nicht dazu gekommen war, sich zu waschen. Körperhygiene wurde im Militär zwar nicht besonders groß geschrieben, doch Kratos wusste, wie wichtig sie war, um sich vor Krankheiten zu schützen. Da Nereus jedoch der Prinz war, wäre es eine schwere Beleidigung gewesen, ein Bad ihm gegenüber vorzuziehen. Und Lügen war ihm noch immer tiefst zuwider.

»Ich hatte vor, mich in meine Studien zu vertiefen«, sagte er deswegen. »Auch ich weiß nicht alles, habe jedoch vor, diesen Umstand zu mildern.«

»Könnt Ihr denn keine Stunde für mich aufbringen?«, bat Nereus mit großen Kinderaugen. »Ihr wolltet mich die Tugenden eines Kriegers lehren. Das habt ihr mir versprochen!«

Und genau in diesem Moment kam Kratos eine Idee.

»Eine der wichtigsten Tugenden eines werdenden Kriegers ist, sich in Geduld zu üben«, sprach er. »Nicht alles geht so schnell, wie man es gern hätte.«

Nereus seufzte. Er hatte die Anspielung offenbar verstanden.

»Wie Ihr wünscht, Sir Kratos«, sagte er dann. »Ich werde Eure Nachricht erwarten.«

Damit tapste der junge Prinz davon. Der Ritter schmunzelte ihm nach. Ein aufgewecktes Kind. Wenn er so etwas sah, spürte er manchmal den Wunsch, selbst einst Vater zu werden. Doch da ihm allein für solche Gedanken die Zeit fehlte, lag das noch in weiter Ferne.

Als er seine Gemächer endlich erreicht hatte, begann er, seine Rüstung abzulegen. Er trug sie schon wieder seit den frühen Morgenstunden. Sein durchtrainierter Körper schwitzte unter dem atmungsunfähigen Metall, zumal es Sommer war. Er war froh, als er sie endlich wieder los war.

Sein erster Gang führte ihn ins Bad, wo er das Wasser einließ. Dann zog er sich auch den Rest seiner Kleidung aus. Sein Körper war mit Narben geradezu übersät. Fast jede erzählte ihre eigene Geschichte von einer eigenen Schlacht. Eine von ihnen war noch recht frisch. Es war eigentlich mehr ein Geplänkel als eine ernst zu nehmende Schlacht gewesen, doch einer der Kämpfer hatte sein Handwerk verstanden und Kratos seine Axt in die Schulter gerammt.

Überhaupt wurde es in der letzten Zeit wieder unruhiger, was die politische Situation anging. Während sich der Ritter in das kochendheiße Wasser gleiten ließ, schweiften seine Gedanken ab. Mehrere Städte waren überfallen worden und alle berichteten, dass es Halbelfen gewesen waren. Und letztendlich waren auch alle versklavten Halbelfen befreit worden. Kratos konnte nicht sagen, dass ihn das sonderlich schockierte oder gar verärgerte. Im Gegenteil. Solange niemand zu Schaden kam, tat er so wenig wie möglich, um diesen Überfällen ein Ende zu bereiten, jedoch soviel wie nötig war, um nicht als Verräter dargestellt zu werden.

Der Rothaarige wollte sich gerade gönnen, einige Minuten nichts zu denken, als es laut und eilig an seine Tür klopfte. Er stöhnte genervt.

»Ich komme!«

Würde Yuan noch leben, hätte er jetzt ein »Dann lass dir Zeit!« zu Ohren bekommen. Er vermisste seinen Freund schmerzlich. Es war, als wäre ein Teil von ihm mit ihm gestorben. Seufzend erhob er sich aus dem Bad und band sich ein Handtuch um seine Hüfte. Da er die Abendstunden eigentlich für sich beanspruchte, um in Ruhe arbeiten zu können und jeder wusste, dass er es hasste, dabei gestört zu werden, musste es etwas Wichtiges sein. Deshalb beließ er es auch bei dem Handtuch. Er durfte sich sowas leisten, zumal es ohnehin nur ein Halbelf sein würde, der ihm irgendetwas sagen sollte. Er nahm sich ein Galdstück, das in einer kleinen Schale auf dem Beistelltisch neben seiner Tür stand. Jeder Halbelf, der ihm einen Gefallen tat, wurde von ihm entlohnt. Sein, wenn auch kleiner Beitrag, zum Wohle von Yuans Rasse.

Doch als er die Tür öffnete, stand kein Halbelf vor ihm, sondern niemand geringeres als seine rechte Hand und ehemaliger Ausbilder Flavius.

»Diese Aufmachung erinnert mich ein wenig an deine Ausbildung …«, bemerkte er.

»Was führt dich her?«, fragte Kratos freundlich, aber mit gereiztem Ton in der Stimme. »Jeder weiß, dass ich in den Abendstunden nicht gestört werden will.«

»Wenn du mich reinlässt, erkläre ich es dir«, meinte Flavius. Er wusste, dass er seinen ehemaligen Schützling nur aus dem Bad und nicht von einer Frau runtergeholt hatte. Daher erlaubte er es sich, so dreist um Einlass zu bitten, zumal er mit Kratos eine freundschaftliche Beziehung pflegte. Der Rothaarige gewährte ihm den Einlass, um den er gebeten hatte.

»Setz' dich«, meinte er und deutete auf einen der Sessel in seinem Arbeitszimmer. »Ich ziehe mich nur an.«

Damit verschwand er im Schlafzimmer. Wenig später kehrte er in Alltagskleidung zurück. Es war schon beinahe ungewohnt für ihn, etwas derart bequemes zu tragen. Flavius trug die Rüstung der königlichen Garde. Ebenfalls golden, jedoch nicht so prunkvoll wie die von Kratos.

»Avanel hat einen Auftrag für dich, der von höchster Wichtigkeit ist«, begann Flavius sogleich, während Kratos sich setzte. Sein ehemaliger Ausbilder gab ihm eine versiegelte Schriftrolle, sowie eine, die nur zusammengebunden war. Die zusammengebundene war an ihn adressiert. Mit gehobenen Augenbrauen entfernte er das Band und las sich die Nachricht durch.

»Es ist nichts weiter als ein Botengang«, erläuterte er sogleich, da er keinerlei berufliche Geheimnisse vor Flavius hatte. »Ich soll diese Schriftrolle zum Haus des Heils nahe Heimdall bringen.«

»Welch wichtige Aufgabe für einen Hauptmann der königlichen Garde«, neckte Kratos' ehemaliger Ausbilder ihn. Der Ritter schnaubte.

»König Avanel denkt anscheinend, nur, weil es zurzeit friedlich ist, kann er mich als Dienstboten missbrauchen«, vermutete er, wobei er aus seinem Zorn keinen Hehl machte. Er hatte nicht vier Jahre in Schlachten gekämpft und sich hochgearbeitet, um königlicher Postbote zu werden.

»Viel anderes wird dir nicht übrig bleiben«, meinte Flavius. »Wenn du ihm das persönlich sagst, wird er nicht sehr erfreut sein.«

»Sicher nicht«, murmelte Kratos und las den letzten Absatz des Schreibens, den er jetzt erst entdeckt hatte. Es war die persönliche Bitte von Avanel, die Schriftrolle persönlich zu überbringen. Er konnte es also auch nicht auf ein niederes Mitglied der Garde abwälzen. Er seufzte.

»Danke, dass du es mir gebracht hast. Übernimm' das Kommando, solange ich weg bin.«

»Natürlich«, bestätigte Flavius. »Wie lange, denkst du, wirst du unterwegs sein?«

Kratos rechnete. Der Ritt zur Südküste von Fooji würde ihn bereits drei Tage kosten. Die Überfahrt nach Latheon, dem Kontinenten, auf dem Heimdall lag, noch einmal zwei Tage. Je nach Wetterlage, würde er abermals zwei Tage brauchen, um das Haus des Heils zu erreichen.

»Zwei Wochen«, schätzte er. »Kommst du solange alleine zurecht?«

»Du sprichst mit deinem Ausbilder, Kratos«, schmunzelte Flavius. »Ich konnte euch in Schach halten. Dagegen ist die königliche Garde für mich Urlaub.«

Es stimmte nicht, doch Flavius hatte die Angewohnheit, alles etwas herunterzuspielen. Der Rothaarige nickte.

»Ich verlasse mich auf dich.«

»Wann brichst du auf?«, wollte Flavius noch wissen.

»Morgen früh. Ein paar Stunden Schlaf kann selbst Avanel mir nicht verwehren.«
 

Noch vor Sonnenaufgang machte Kratos sich auf den Weg in die Stallungen. Er war es gewöhnt, so früh aufzustehen, daher war es auch kein Wunder, dass er bereits alles gepackt hatte. Der Rucksack seines Großvaters war eigentlich das Einzige, was ihm aus seiner Kindheit geblieben war; bis auf eines.

Silabél begrüßte ihren Reiter mit einem sanften Summen, das sie aus ihrer Kehle befreite. Es war eine von Kratos' ersten Taten gewesen, als er festgestellt hatte, dass er länger im Militär bleiben würde: Er hatte Silabél wieder zu sich geholt.

Lächelnd trat er in ihre Box und streichelte ihr über die harten Schuppen.

»Guten Morgen, meine Schönheit«, begrüßte er sie schon beinahe zärtlich. Silabél war das einzigst weibliche Wesen, das sich ihm nähern durfte. »Hast du gut geschlafen?«

Das Drachenweibchen summte bestätigend und sah ihren Reiter an. In ihren dunklen Augen spiegelte sich sein Gesicht nicht mehr wieder. Ein Umstand, an den er sich inzwischen gewöhnt hatte. Doch er erinnerte sich noch gut daran, wie er das erste Mal wieder in Silabéls Augen gesehen hatte, ohne sein Spiegelbild darin wiederzufinden. Es hatte sich angefühlt, als würde sein Herz noch einmal zerreißen.

Er war ein Mörder.

Doch der Liebe von Silabél tat das keinen Abbruch. Sie umstrich ihren Reiter sanft.

»Wir haben eine weite Reise vor uns«, sagte er. »Ich hoffe, man hat dich gut gefüttert.«

Silabél deutete mit ihrem Kopf in eine Ecke ihres Stalls. Die blanken Skelette von sechs Hasen lagen dort. Sie war gut gefüttert worden.

Wenig später führte Kratos das Drachenweibchen, das wie immer nur eine Decke auf ihrem Rücke trug, aus den Stallungen hinaus. Er würde bis zu den Toren Meltokios noch zu Fuß gehen, bevor er aufstieg.

Meltokio hatte sich in den vier Jahren gut von dem Angriff Sylvarants erholt – nicht zuletzt durch Kratos' Hilfe. Seine Spenden, sowie seine Anweisung, Opfern des Angriffs Arbeit zu geben, hatten einen nicht unwesentlichen Teil dazu beigetragen, dass ich die Hauptstadt so gut hatte erholen können.

Als er den Rand von Meltokio erreicht hatte, stieg er auf den Rücken seiner treuen Gefährtin und schnalzte laut mit der Zunge. Silabél fauchte fröhlich und jagte los.

Kratos hob den Kopf und schloss die Augen, um den Wind zu spüren, der ihn umspielte. Es war eine der wenigen Berührungen, die er freiwillig und gern zuließ. Durch die lieblose Erziehung seines Vaters und auch durch den Krieg war er kein Mensch, der großen Wert auf Dinge wie Umarmungen und ähnliches legte. Aber den Wind im Gesicht und die Schuppen eines Drachen unter sich genoss er jedes Mal aufs Neue.

Die Landschaft um Meltokio herum hatte unter dem Krieg sehr gelitten. Die saftigen Felder, deren Pflanzen sich im Wind wogen, waren verschwunden. Es herrschte eine Dürre, die nunmehr seit zwei Jahren anhielt. Die Sommer davor waren bereits sehr trocken gewesen, doch es schien, als würde die Welt selbst den Krieg beenden wollen, der sie so ausbeutete.

Silabéls schnelles Tempo jedoch ließ die Umgebung mehr und mehr verschwimmen. Kratos war glücklich gewesen, das Drachenweibchen wiederzusehen. Allerdings hatte ihm der Mut gefehlt, sie persönlich abzuholen. Nach alldem, was auf seinem Gewissen lastete, all den Leben, die er auf dem Gewissen hatte, wagte er es nicht mehr, seinem Großvater in die Augen zu sehen. Überhaupt war es Kratos kaum möglich, ohne Scham in den Spiegel zu sehen. Das, was er tat, tat er nicht gern. Doch sein Eid band ihn an seine Position als Hauptmann. Der Rothaarige bereute es zutiefst, diesen Eid geschworen zu haben, auch, wenn er es aus gutem Willen heraus getan hatte.

Der Tag verging schnell auf Silabéls Rücken, trotzdem er ohne Gesellschaft reiste. Am Rande eines Waldes schlug der Ritter sein Lager auf und entzündete ein Feuer, um sein Abendessen zubereiten zu können. Als er das Gleiche verspeist hatte und auch Silabél ihren Anteil bekommen hatte, legte er sich einfach ins Gras, seinen Blick in den nächtlichen Himmel erhoben, wo die Sterne in unveränderter Schönheit funkelten. Sie waren wohl das Einzige, was vom Krieg unberührt blieb. Doch auch diesen Anblick konnte er nicht lange ertragen. Die fielen Gestirne erinnert ihn an die Augen seiner Vorfahren, die verächtlich auf ihn blickten. Schließlich drehte er sich auf die Seite, doch auch Silabéls Augen erinnerten ihn an seine Schandtaten. Letztendlich wand er dem Drachenweibchen den Rücken zu und schloss die Augen …
 

Mein Gewissen plagte mich schwer. Es lastete auf mir wie ein Joch aus Schuld. Und das Schlimmste war, dass wegen meinen Schandtaten wie ein Held gefeiert wurde. Doch was sollte ich tun? Ich hatte mein Wort gegeben. Leichtfertig und unüberlegt. Und dieses Wort war mit meinem Leben verbunden. Man sollte meinen, dass ich daraus gelernt hätte, doch ich sollte diesen Fehler zu späterer Zeit noch ein weiteres Mal begehen.

Meine Reise verlief ruhig und ohne erwähnenswerte Zwischenfälle. Ich erreichte das Haus des Heils am geplanten Tag. Doch erst dort erfuhr ich, dass dieser Botengang wichtiger war, als es den Anschein gehabt hatte. Denn der Empfänger des Schreibens war ein Informant aus Sylvarant. Als er die Schriftrolle gelesen hatte, betrachtete er mich einen Augenblick und verkündete mir dann, dass der König ihn in diesem Schreiben bat, mich mit einer wichtigen Aufgabe zu betrauen.

Er hatte herausgefunden, dass Sylvarant erneut plante, Tethe'alla zu unterwerfen. Nur dieses Mal wesentlich subtiler, um genau zu sein, aus den eigenen Reihen heraus. Eine Gruppe von Rebellen versteckte sich irgendwo im Königreich. Sie waren es gewesen, die die Überfälle auf die Städte befohlen und die versklavten Halbelfen befreit hatten, um sie in ihre eigenen Reihen aufzunehmen. Ein kluger Schachzug, wie ich gestehen musste. Nichts war treuer, als ein Sklave, dem man die Freiheit geschenkt hatte.

Meine Aufgabe war es nun, diese Rebellen ausfindig zu machen und zu zerschlagen. Eine Aufgabe, die mir widerstrebte, doch ich musste sie erfüllen, wenn ich selbst am Leben bleiben wollte. Und eine kleine Hoffnung, mit dem Anführer der Rebellen vielleicht ein Abkommen treffen zu können, das für beide Seiten akzeptabel war, erhielt ich mir. Auch, wenn sie sehr klein war.

Der Anfang meiner Nachforschungen führte mich zu einer Halbelfenzucht im Toize-Gebirge. Sie war dem Erdboden gleich gemacht worden. Also ritt ich dorthin, um einen Ansatz zu finden.

Ich sollte einen finden. Und das war der Beginn einer Suche, die mein Leben erneut gravierend verändern sollte …
 

Mondlicht fiel auf die Trümmer der einstmals großen Gebäude der Halbelfenzucht, die im Toize-Gebirge gelegen hatte.

Kratos stieg von Silabéls Rücken und näherte sich dem Ort vorsichtig. Restlos alles lag in Schutt und Asche, nichts war stehen geblieben. Das Surren von Fliegen war das Einzige, was die wahrlich totenhafte Stille unterbrach. Die Erde unter Kratos' Füßen war blutgetränkt, die wenigen Holzbalken, die noch standen, schwelten noch. Lange konnte er Überfall also nicht her sein. Bei der Hitze, die im Moment herrschte, höchstens einen Tag. Es war ein grauenvoller Anblick, der Kratos stark an die vielen Schlachtfelder erinnerte, die er bisher zu sehen bekommen hatte. Der bestialische Verwesungsgestank, der gerade bei Wärme besonders schlimm war, überdeckte jeden anderen Geruch. Lediglich in der Nähe des Leichenofens stank es noch schlimmer.

»Ist hier jemand?«, rief er laut, jedoch ohne Hoffnung auf eine Antwort.

Doch ganz widererwartend antwortete ihm tatsächlich eine schwache und gebrochene Stimme.

»Hier …«, röchelte die Gleiche und Kratos beeilte sich, ihre Quelle zu finden. Es war nicht einfach zwischen den ganzen Leichen einen Sterbenden zu finden. Doch schließlich hatte er den Mann erreicht. Blutende Wunden säumten seinen Körper, er selbst war blass und schwach. Der Ritter kniete sich neben ihn. Der erste Blick hatte ausgereicht, um zu erkennen, dass er dem Mann nicht mehr helfen konnte. Er würde ihm einen schnellen Tod bescheren, wenn er ihn mit Informationen versorgte. Weil Mitleid hatte er mit den Peinigern der Halbelfen nicht.

»Was ist hier geschehen?«, fragte er deswegen.

»Halbelfen … Scharen von ihnen …«, begann er. »Ganze Herden … sind hier eingefallen … haben uns … verflucht … und gelähmt …«, röchelte der Sterbende. »… haben alle … Gefangenen befreit …«

»Haben sie etwas von ihrem Anführer gesagt? Irgendetwas, wohin sie die Halbelfen bringen?«

»Nein … es war … als ob … der Zorn der Götter … über uns … einbrechen würde … Blitze … fuhren vom Himmel … tausende Blitze …«

»Sag' mir alles, was du weißt!«, verlangte der Rothaarige, doch der Sterbende war dem Tod zu nahe. Immer wieder wiederholte er, wie gewaltige Blitzgewitter die Züchtung zerstört hatten. Als Kratos das bemerkte, zog er sein Schwert und tötete den Mann schnell und schmerzlos. Dann erhob er sich und begann, sich nach Hinweisen umzusehen. Während Silabél geduldig wartete und sich an einer der Leichen satt fraß, sah der Ritter sich aufmerksam um, versuchte, die Waffen zu identifizieren, die die Menschen umgebracht hatten und suchte nach anderen Dingen, die ihm weiterhalfen. Viel fand er nicht, bis ihm etwas ins Auge stach, was er sogleich aufhob.

Es war ein Stofffetzen, der einst wahrscheinlich eine Puppe gewesen war. Und sie besaß nur noch ein Knopfauge.

Kratos umschloss den wohl einzigen Besitz des kleinen Mädchens auf dem Schiff. Wenigstens war sie jetzt in Sicherheit.

Einmal mehr verfluchte er sich für das, was er tun musste. Aber es brachte nichts, sich darüber zu beklagen. Er konnte nur versuchen, zum Wohle der meisten zu handeln.

Er behielt das kleine Andenken und machte sich schließlich wieder auf den Weg. Vorerst würde er nach Meltokio zurückkehren.

Doch wohin ihn sein Weg letztendlich führen würde, wusste er nicht …

Inkognito

Gaoracchia war eine ruhige, kleine Stadt, die am Rand des gleichnamigen Waldes lag. Hier lebten viele Bauern und Viehzüchter, die ein relativ friedliches Leben führen konnten. Die Stadt lag nördlich des Kontinents Altamira, weit entfernt von Meltokio und Sybak, den Handels- und Herrschmetropolen Tethe'allas.

Kratos saß im Wirtshaus des Städtchens und aß gerade die Spezialität des Hauses; Bohnen mit Speck. Einfaches Essen war ihm seit seiner Ausbildung lieber als die haute Cuisine des Adels. Erstens hatten diese einfachen Gerichte wesentlich mehr Nährstoffe und zweitens schmeckten sie besser.

Der Rothaarige selbst trug die landesübliche Kleidung eines Söldners. Sie war lilafarben, bestand auf einem ärmellosen Oberteil, einem spitzgeschnittenen Umhang, einer schlichten Hose und gleichfarbigen Stiefeln, die jedoch mit weißem Stoff umwickelt waren. Zwei breite Gürtel dienten dem Zweck, Waffen zu tragen. Um seine Arme und Hände vor dem Reitwind zu schützen trug er noch Armstulpen und Handschuhe. Alles zusammen zeugte zwar von hervorragendem Modegeschmack, verriet jedoch nicht, welche Position der Ritter bekleidete. Und das war auch der Sinn der Sache.

Kratos reiste inkognito. Seine Aufgabe, die Rebellen zu finden, würde sich ziemlich schwierig gestalten, wenn er als Hauptmann der königlichen Garde umherritt. Als einfacher Söldner verkleidet, würde es ihm wesentlich leichter fallen, Informationen zu sammeln.

Natürlich wussten Avanel und Flavius davon. Sie waren jedoch die einzigen. Der Auftrag war streng geheim, damit keiner der Rebellen Verdacht schöpfen und seinem Anführer Bescheid geben konnte. Den Kontakt zum Königshaus hielt der Rothaarige so gering wie möglich. Außerdem war nur Flavius sein Kontaktmann. Seine Berichte schickte Kratos über eine Errungenschaft der Magietechnologie: Einem Kommunikator.

Dieses praktische, kleine Gerät konnte Hologramme aufzeichnen und auch verschicken. So konnten Kratos und Flavius Nachrichten austauschen, ohne sich umständlich verabreden zu müssen.

»Darf es für den gutaussehenden Herren noch etwas sein?«, fragte die Bedienung, ein junges Mädchen, das höchstens sechzehn war.

»Nein, danke«, antwortete Kratos höflich. »Ich würde gern zahlen.«

»Sehr wohl«, sagte sie. »Einmal die Spezialität des Hauses und ein Wasser … das macht siebzehn Gald.«

Der Rothaarige holte seinen Geldbeutel hervor und zählte die Goldmünzen ab. Er gab drei mehr als die junge Dame von ihm verlangt hatte.

»Könnte ich noch ein wenig bleiben?«, fragte Kratos höflich.

»Aber natürlich, der Herr«, nickte die Bedienung. »Bleibt nur, solange Ihr möchtet.«

Damit verschwand sie und der Ritter sah sich im Wirtshaus um. Der Großteil der Kundschaft waren Landwirte und Viehzüchter. Nur wenige Besucher erregten sein Interesse. Als er auch diese seiner Meinung nach lange genug beobachtet und nichts Auffälliges bemerkt hatte, stand er auf und ging.

Er hatte gehofft in einem Dorf, wo so viele Sklaven arbeiteten, da sie für das Bestellen der Äcker und das Hüten von Vieh, sowie zu vielen anderen Arbeiten gebraucht wurden, etwas über die Rebellen herauszufinden, doch er hatte nichts in Erfahrung bringen können. Er hatte auch bereits einige Leute befragt, ob in letzter Zeit Sklaven entlaufen waren, doch in diesem kleinen Städtchen schien nichts Auffälliges passiert zu sein.

Da er keine Zeit verschwenden wollte, verließ der Ritter Gaoracchia noch am gleichen Tag, um am Abend unbeobachtet mit Flavius reden zu können. Der Kommunikator konnte nämlich nicht nur Aufzeichnungen verschicken, sondern machte auch reale Gespräche möglich. Und genau ein solches führte Kratos am Abend mit seinem ehemaligen Ausbilder.

»… in Gaoracchia also auch nichts …«, stellte Flavius fest, der seit geraumer Zeit versuchte, ein System in den Überfällen der Rebellen zu finden. »Der einzige, extrem halbelfenfeindliche Ort, der mir einfällt, ist Ozette.«

»Das Walddorf?«, fragte Kratos. Das kleine Hologramm von Flavius nickte.

»Die Halbelfen werden dort als Holzfäller gebraucht. Es ist schwere, harte Arbeit, die auch schon Kinder machen müssen. Das wäre ein sinnvolles Ziel der Rebellen.«

»Da muss ich dir Recht geben«, bestätigte Kratos. »Dann mache ich mich Morgen früh auf den Weg nach Ozette.«

»In Ordnung. Melde dich, wenn du etwas Neues weißt.«

»Werde ich«, versprach der Rothaarige und schaltete den Kommunikator ab, den er sogleich sicher verstaute. Dabei fiel ihm etwas in die Hände, das er schon längere Zeit nicht mehr gesehen hatte; das Geduldsspiel, das Yuan ihm einst geliehen hatte.

Kratos schmunzelte schon beinahe sanft und nahm es aus dem Rucksack heraus. Silabél sah ihn neugierig an, als er begann, damit zu spielen. Gelöst hatte er es noch immer nicht, aber es beruhigte ihn, als er anfing, es hin und her zu drehen. Und es weckte schon in Vergessenheit geratene Erinnerungen an seinen Blutsbruder, den er so schrecklich vermisste …
 

Der Gaoracchia-Wald war groß und teilweise so dicht bewachsen, dass kein Sonnenlicht den Boden erreichte. An diesen Plätzen wuchsen nur Moos und Pilze.

Kratos war müde. Er war früh am Morgen aufgebrochen und saß nun mit gesenktem Kopf auf Silabéls Rücken, um noch ein wenig Ruhe zu finden. Er vertraute dem Drachenweibchen voll und ganz, was den Weg nach Ozette betraf. Drachen hatten einen unglaublich feinen Orientierungssinn. Jedoch sollte er es bereuen, so unvorsichtig gewesen zu sein. Denn dadurch, dass er die Augen geschlossen hatte, fielen ihm die Schemen nicht auf, die seit einiger Zeit um ihn und Silabél herumtanzten. Es waren schwarze Schatten, die die Dunkelheit des Waldes zu ihrem Vorteil nutzten und Reiter, wie auch Drachen ausgiebig beobachteten. Silabél aber war selbst zu müde, um sie zu bemerken. Und so kam der Angriff dieser seltsamen Gestalt für die beiden Reisenden vollkommen unerwartet.

»Thunder Arrow!«

Kratos schoss aus seinem Halbschlaf hoch und trat Silabél kräftig in die Flanken, damit sie sprang. Keine Sekunde zu spät. Ein Dreieck aus Blitzen hatte sich um die Stelle gebildet auf der sie gerade noch gestanden hatten. Nun schlugen mächtige und vor allem tödliche Blitze darin ein. Im gleichen Augenblick gaben die Schatten ihre Tarnung auf.

Es waren Halbelfen.

Kratos zog sein Schwert, Silabél fauchte wütend und scharrte mit ihren Krallen auf dem Waldboden.

»Umkreist sie!«, schrie der offensichtliche Anführer der Halbelfen. Ungefähr zwanzig seiner Artgenossen kamen aus ihren Verstecken hervor und umkreisten Kratos und Silabél, selbstsicher grinsend. Der Rothaarige biss die Zähne zusammen. Er hatte kaum eine Chance gegen diese Überzahl, aber eine Flucht war unmöglich.

»Was wollt ihr?!«, fragte er deswegen. »Ich bin nichts weiter als ein Reisender!«

»Du bist ein Mensch«, klärte ihn der Anführer auf, dessen schlohweißes Haar er bis zur Hüfte trug. »Grund genug, um dich umzubringen, findest du nicht?«

»Da bin ich anderer Meinung! Ich habe euch nichts getan!«

»Jeder Mensch verachtet die Halbelfen!«, behauptete der Anführer. »Es wird Zeit, dass wir euch unser Leid auf Heller und Gald zurückzahlen!«

»Als ob das etwas bringen würde!«, fauchte Kratos zurück. »Was habt ihr von meinem Tod?!«

»Was habt ihr von unserem Tod?«, fragte der Weißhaarige zurück. »Und diskutieren bringt dir nichts, Mensch!«

Kratos' Feind begann zu grinsen.

»Schnappt ihn euch, aber lasst den Drachen am Leben!«

Damit stürzten die Halbelfen auf die beiden los. Kratos beeilte sich, Stand auf Silabéls Rücken zu finden und sprang mit einem gewaltigen Satz von ihr herunter, um hinter dem Kreis der Halbelfen zu landen. Der Weißhaarige hatte sein Schwert gezogen, doch Kratos schlug es ihm weg.

»Ich will dich nicht töten müssen!«, fauchte der Ritter. »Pfeif' deine Hunde zurück!«

Doch statt einer Antwort bekam Kratos die Beine weggetreten. Er rollte sich zwar ab, musste sich nun aber wieder gegeben mehrere Gegner behaupten. Nach einigen, schnellen Schwerthieben wurde ihm klar, dass ihm nur noch eine Möglichkeit blieb, wenn er am Leben bleiben wollte.

Er begann, an Yuans Tod zu denken. An seinen Hass auf seinen Vater, der den gleichen verschuldet hatte, der auch am Tode seiner Mutter schuld war und der ihn mit der Zwangverlobung geradezu gezwungen hatte, die militärische Laufbahn einzuschlagen, die er so hasste.

Im gleichen Augenblick hüllte sich die Klinge seines Schwertes in lodernde Flammen. Die Halbelfen wichen erschrocken zurück.

»Du kannst Magie einsetzen?!«, empörte sich der Weißhaarige. »Wie … wie ist das möglich?! Du bist ein Mensch!«

»Vielleicht nicht so sehr, wie du denkst! Und jetzt verschwindet, wenn ihr keinen brennenden Stahl in die Rippen kriegen wollt!«

Der Anführer der Gruppe war noch immer geschockt, reagierte jedoch sogleich.

»Rückzug!«, brüllte er.

Die Halbelfen gehorchten sofort – allerdings sprang einer von ihnen auf Silabéls Rücken und versuchte, das Drachenweibchen anzutreiben. Aus Panik allein rannte das Drachenweibchen los. Kratos fluchte und rannte hinterher.

Und urplötzlich ertönte ein Schrei, wie der Ritter ihn noch gut in Erinnerung behalten hatte.

Ein grünweißer Schemen stürzte aus den Baumwipfeln herab, packte den Halbelfen auf Silabéls Rücken mit seinen Krallen und warf ihn in die Richtung seiner Kumpanen. Kratos hatte das Drachenweibchen endlich eingeholt und beruhigte es mit wenigen Zischlauten.

Als Silabél sich beruhigt hatte, sah der Rothaarige sich nach dem seltsamen, ihm so bekannten Wesen um. Und schließlich entdeckte er es.

Es war ein Aeros, das so groß war wie er selbst und seinem alten Freund Noishe zum Verwechseln ähnlich sah. Das Vogelwesen landete direkt vor dem Ritter und sah ihn treu aus seinen lilafarbenen Augen an.

»… Noishe …?«, hauchte Kratos.

Das Aeros zirpte und knipste ihm spielerisch ins Ohrläppchen. Der Rothaarige traute seinen Augen nicht.

»Du … lebst …!«, entfuhr es ihm. »Aber wie …?«

Noishe klapperte aufgeregt mit dem Schnabel und gurrte zwischendurch. Es schien wirklich, als wolle er seinem alten Freund etwas erzählen.

»Du musst dem Koch entwischt sein«, vermutete Kratos schließlich und lächelte dann auf. »Du kleines Genie!«, freute er sich und tätschelte den riesenhaften Vogel. Noishe zirpte zufrieden.

»Wie groß du geworden bist …«, stellte er dann fest. »Wächst du immer noch?«

Das Aeros gackerte, was einem Lachen ähnlich war. Dann schüttelte es den Kopf. Kratos konnte seine Freude, das Vogelwesen gesund und munter wiederzusehen, kaum zähmen.

»Was wird Großvater sagen, wenn er sieht, dass ich mich geirrt habe?«, fiel es ihm ein. »Oh, Noishe, du glaubst ja gar nicht, wie sehr ich mich freue, dich wiederzusehen!«

In diesem Moment wurde Kratos in die schönen Tage seiner Kindheit zurückversetzt und er umarmte Noishe voller Freude. Das Aeros gurrte freudig und legte seine Flügel um seinen Freund. Silabél summte leise. Es war, als würde sie sich mit ihrem Reiter freuen.
 

Ozette war nicht viel größer als Gaoracchia. Ein Holzfällerdorf, wo viele Handwerker arbeiteten.

Kratos hatte Noishe aufgetragen, in der Nähe zu bleiben, damit er ihn im Notfall rufen konnte. Er hatte zwar gute Lust gehabt, auf ihm zu fliegen, doch das wäre zu auffällig gewesen.

Seine erste Anlaufstelle waren die Stallungen des Ortes, wo er Silabél abgab. Jeder Ort hatte Gastställe für Reisende. Gegen eine kleine Gebühr wurde das Reittier gut versorgt, bis man wieder abreisen wollte.

Als er Silabél in guten Händen wusste, suchte er das auf, was die Informationsquelle eines jeden Dorfes oder Städtchens war: Das Wirtshaus.

Es war klein, aber gemütlich, wie Kratos zugeben musste. Ohne Umschweife legte er seinen Mantel ab und setzte sich an die Bar. Der wenn auch kurze Kampf gegen die Halbelfen hatte ihn durstig gemacht.

»Was darf es sein?«, fragte eine massige Barkeeperin.

»Ein Glas Rotwein«, bat er. »Lieblich, wenn möglich.«

»Kommt sofort.«

Wenig später stand ein Glas purpurner Rotwein vor Kratos. Er roch daran, bevor er ihn probierte. Eine seichte Zedernote stieg ihm in die Nase. Der Ritter hatte in den letzten Jahren eine Vorliebe für das aus Trauben gewonnene Getränk entwickelt. Genüsslich ließ er seinen Gaumen von dem feinen Aroma kitzeln, bevor er ein Gespräch mit der Barkeeperin anfing.

»Gab es in dieser Gegend in letzter Zeit irgendwelche Vorkommnisse?«, fragte er. Die Frau mittleren Alters sah ihn kurz prüfend an. Dann lächelte sie.

»Ein Söldner auf Arbeitssuche«, stellte sie fest. »Es war unruhig in der letzten Zeit. Viele Halbelfen haben versucht, abzuhauen. Nicht, dass das ungewöhnlich wäre, aber in der letzten Zeit häuft es sich.«

»Interessant«, gab Kratos zu. »Ist der Grund bekannt?«

»Mir nicht«, meinte sie und fing an, ein Glas zu polieren. »Aber fragt doch mal im Holzfällerlager nach. Die können Euch da bestimmt mehr erzählen als ich.«

»Danke für den Rat«, war Kratos höflich und schwenkte seinen Wein ein wenig, bevor er erneut einen Schluck davon trank. Dann stellte er das Glas ab und holte einen Notizblock heraus, den er immer bei sich trug. Darauf verzeichnete er die Informationen, die er über die Rebellen gesammelt hatte – natürlich verschlüsselt, damit es niemand lesen konnte.

Viel war es nicht. Alles, was er in Erfahrung hatte bringen können, war, dass das scheinbare Ziel die Befreiung der Sklaven und somit auch die Schwächung Tethe'allas war. Außerdem bestanden die Truppen zum Großteil aus Nahkampfmagiern. Ein System, nachdem sie Ortschaften und Farmen überfielen gab es anscheinend nicht. Und wenn doch, hatte er es noch nicht entschlüsselt.

Seufzend trank er seinen Wein, legte einige Gald auf den Tresen aus und erhob sich. Sein nächstes Ziel war das Holzfällerlager auf der anderen Seite des Dorfes.

Doch kaum war er aus dem Wirtshaus herausgetreten, begegnete ihm jemand, von der er geglaubt hatte, sie niemals wiederzusehen.

»Kratos!«, ertönte Soras Ruf. Sie ging auf Krücken, da sie ihre Beine kaum noch benutzen konnte. »Götter, ist das lange her!«

»Shhht!!!«, machte der Rothaarige. »Nicht so laut!«

»Was ist denn los? Stimmt etwas nicht?« fragte das Mädchen, dass sogar weibliche Kleidung trug. Kratos musste zugeben, dass ihr das wesentlich besser zu Gesicht stand als eine Rüstung.

»Erkläre ich dir später, aber brüll' meinen Namen nicht herum!«, verlangte der Ritter leise.

»Okay …«, gab Sora von sich. »Lass uns zu mir nach Hause gehen. Da können wir reden.«
 

Wenig später fand sich Kratos in einer kleinen Hütte am Rande von Ozette wieder. Er hatte völlig vergessen, dass Sora aus Ozette stammte.

Die junge Kriegerin ging zu der kleinen Küchenzeile in ihrem Heim.

»Ich mache uns einen Tee«, beschloss sie. »Setz' dich nur.«

»Lebst du allein hier?«, fragte Kratos, als er sich setzte.

»Ja, tue ich. Wer will auch schon einen Krüppel heiraten?«, fragte sie mit leicht bitterer Ironie in der Stimme. »Aber reden wir nicht über mich. Was führt dich nach Ozette?«

»Darüber darf ich nicht sprechen«, antwortete der Rothaarige wahrheitsgemäß.

»Warum das nicht?«, wollte Sora wissen. »Geheimauftrag, oder was?«

»Genau«, nickte er.

Seine Kameradin brachte ihm mit einigen Umständen die Teetasse und setzte sich dann selbst.

»Wenn du's nicht erzählen willst, ist es in Ordnung«, behauptete sie. »Aber du kannst dich auf meine Verschwiegenheit verlassen. Ich kenne Ozette sehr gut. Vielleicht kann ich dir helfen.«

Der Einwand war gut, dass musste Kratos sich eingestehen, während er einen Schluck Tee trank. Er war genauso gut wie ihr Einwand.

»Nun gut«, sagte er dann. »Ich wurde mit der Aufgabe betraut, die Rebellen zu zerschlagen, die in letzter Zeit die Gegend unsicher machen.«

»Ach, kümmert sich das Blaublut auch endlich drum?«, schnaubte Sora. »Ich habe ja nichts gegen Halbelfen, aber diese Rebellen machen uns das Leben schwer. Ich hatte einen Halbelfen bei mir, den ich auch sehr gut behandelte. Er ging mir zur Hand, da ich einige Dinge nicht mehr kann …«, erklärte sie. »Du siehst ja, selbst eine Tasse Tee ist für mich schwierig.«

»Warum ist er dann mitgegangen, wenn du ihn gut behandelt hast?«, wollte Kratos wissen.

»Das frage ich mich auch«, seufzte sie. »Ich verdiene nicht gut, weißt du. Ich arbeite hier als Schneiderin. Ich kann mir keinen neuen Halbelfen leisten.«

Der Rothaarige nickte.

»Kannst du mir etwas über diese Rebellen erzählen?«

»Sie gehen recht gewaltlos vor«, berichtete seine Kameradin. »Sie fallen zwar in die Häuser ein, verletzen aber wenige, obwohl sie es anscheinend wollen. Ist 'ne ziemlich seltsame Sippe. Allenfalls nehmen sie jeden Halbelfen mit, restlos.«

»Haben sie irgendetwas signifikantes gesagt?«, hakte Kratos weiter nach. Sora überlegte und trank einen Schluck Tee.

»Eigentlich … doch, schon. Sie sprachen davon, dass es ihnen besser ginge, wenn sie mitkämen und sie nie wieder die Schmach des Sklavenstandes erleiden müssen. Sowas halt …«

Kratos seufzte.

»Das hilft mir nicht viel weiter …«

»Tut mir leid«, entschuldigte Sora sich.

»Dafür kannst du nichts«, meinte der Ritter und lächelte. »Es ist ja auch meine Aufgabe, sie zu finden und nicht deine.«

»Du arbeitest also tatsächlich noch für den König …«, stellte sie fest. Kratos nickte.

»Ja, tue ich.«

»Wolltest du nicht mal Söldner werden und dich nicht nur wie einer verkleiden?«

Der Rothaarige sah an sich herunter und seufzte erneut.

»Man kann sich im Leben nicht alles aussuchen. Ich verdiene gut und kann auf meine Art ein wenig was für die Halbelfen tun. Aber das bleibt bitte auch unter uns.«

»Natürlich«, versprach Sora.
 

»Schneller!«

Der Ruf des Sklaventreibers weckte unangenehme Erinnerungen aus Kratos' Gedächtnis wach, weshalb er, so schnell es ihm möglich war, weiterging. Um ihn herum litt Yuans Volk einmal mehr grausame Qualen. Einem jeden war eine Axt an die Hände gebunden worden, die zugleich als Gewicht diente, damit sie nicht fortlaufen konnten. Auch sie waren mager, auch ihre Augen waren gebrochen und stumpf. Der Rothaarige ertrug ihre Blicke nicht.

»Hey, was willst du hierrr, Söldner? Hierrr gibt es keine Arrrbeit für dich. Verrrschwinde!«

Allein schon, weil er es nicht gewohnt war, so angesprochen zu werden, blickte Kratos verwirrt auf. Vor ihm stand ein muskulöser, bärtiger Mann – der ungefähr gerade mal halb so groß war wie er selbst. Ein Zwerg, wie er schnell feststellte. Ein Wesen dieser Rasse hier zu treffen verwunderte den Ritter sehr. Für gewöhnlich lebten Zwerge unter der Erde und hielten sich, ähnlich den Elfen aus allen Angelegenheiten der Menschen raus.

»Ich suche nicht nach Arbeit«, nahm Kratos das Gespräch auf. »Ich suche nach Informationen.«

»Die gibt es hierrr auch nicht«, schnauzte der Zwerg und wandte sich ab. »Ich habe zu arrrbeiten. Geh mirrr aus dem Weg!«

»Ihr versteht nicht«, begann der Ritter. »Ich suche nach den Rebellen.«

Mit hochgezogenen Augenbrauen blickte der das kleinwüchsige Wesen über seine Schulter.

»Ihrrr meint dieses Halbelfenpack, das uns die Sklaven stiehlt?«

»Genau die«, bestätigte Kratos und nickte.

»Überrr die weiß ich nicht viel«, meinte der Zwerg. »Aberrr wenn es Euch hilft …«

Kratos' Gesprächspartner warf ihm etwas zu.

»Das hat einer von denen verlorrren. Ich hielt es für werrrtvoll, aber es ist nur Schund.«

Damit ging der Zwerg. Kratos sah auf seine Hände, mit denen er den Gegenstand aufgefangen hatte. Es war ein Amulett, das auf den ersten Blick aussah, als sei es aus Silber. Es war kreisförmig und lief in der Mitte zu einem "T" zusammen, welches von einem Blitz durchkreuzt wurde.

»Wenn das "T" für Tethe'alla steht, macht es Sinn …«, überlegte der Rothaarige. »Die Zerstörung Tethe'allas …«

Der Rothaarige umschloss das Amulett mit seiner Hand. Endlich hatte er einen ersten Hinweis!

Um es nicht zu verlieren, band sich der Ritter das Amulett um. Dann kehrte er nach Ozette zurück, um Silabél aus den Stallungen zu holen.

Diesen Abend konnte er Flavius wenigstens etwas berichten.
 

Das Amulett erwies sich als guter Wegweiser. Viele Menschen in den überfallenen Dörfern hatten das Zeichen auf der Brust der Rebellen gesehen und konnten mir genauere Beschreibungen geben. Damit Avanel mir jedoch keinen Strich durch meine Rechnung machte, bat ich Flavius, das Amulett ihm gegenüber zu verschweigen. Denn Avanel war ein junger König und noch sehr übermütig. Er hätte eine landesweite Suche nach den Rebellen gestartet. Und da ich versuchen wollte, eine friedliche Lösung zu finden, wollte ich nicht, dass er mir dazwischenfunkte.

Wochenlang reiste ich umher, immer auf der Suche nach einem handfesten Beweis, einem Hinweis auf ein Versteck. Doch wirklich viel bekam ich nicht heraus.

Bis ich Lucid traf …

Lucid

Kratos träumte …
 

In seinem Traum war Yuan noch am Leben. Er trug das Amulett der Rebellen um den Hals und sah seinen Blutsbruder traurig an. Er weinte nicht. Zumindest nicht mit Tränen. Doch sein Blick drückte soviel Schmerz und Verzweiflung aus, als würde er jeden Moment anfangen zu schreien.

Kratos wollte zu ihm, wollte seinen Freund und Bruder, den er vier lange Jahre vermisst hatte, endlich wieder an seiner Seite wissen. Doch je schneller er sich Yuan näherte, desto weiter entfernt erschien er ihm. Es war, als würde er einer Fata Morgana nachjagen.

Und plötzlich tat sich zwischen ihm und Yuan eine Schlucht auf, aus der unheimliches, rotes Licht drang. Als Kratos hinunter sah, blickte er auf eine furchtbare Schlacht, noch schlimmer als alles, was er in Sybak und all den anderen Kämpfen gesehen hatte. Als er wieder aufblickte, hatte sich der Blick seines Bruders verändert. Er war von Hass erfüllt. Das Amulett, das er getragen hatte, prangte nun auf einer Rüstung, die er am Körper trug.

Dann zeigte Yuan mit dem Finger auf ihn. Hinter dem Blauhaarigen erschien eine ganze Armada von Kriegern.

»Tötet ihn!«
 

Kratos schoss aus seinem Schlaf hoch. Er war völlig außer Atem, sein Herz raste, sein Körper war schweißgebadet. Panisch sah er sich um. Zu real war der Traum gewesen, zu lebendig die Augen seines Bruders. Erst, als er sich sicher war, dass er noch immer an Noishes Seite zu sein, beruhigte er sich langsam wieder.

Das Aeros gurrte leise, als wolle es seinen Freund beruhigen. Auch Silabél sah ihn besorgt an. Der Ritter fuhr sich durch sein rostrotes Haar und legte sich dann eine Hand auf die Stirn. Sein Schweiß war eiskalt.

Taumelnd erhob er sich und torkelte zum dem kleinen Fluss, an dem er sein Lager aufgeschlagen hatte. Dort kniete er sich ans Ufer und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Ein stummer Schrei entwich seiner Kehle, bevor er zum Himmel blickte. Es war mitten in der Nacht.

Etwas ruhiger kehrte er zu seinen beiden, tierischen Begleitern zurück und holte das Amulett unter seiner Kleidung hervor. Irgendetwas kam ihm daran bekannt vor. Er wusste nur nicht, was es war. Warum hatte Yuan es in seinem Traum getragen? War es möglich, dass vielleicht auch er noch am Leben war?

»Nein …«, ging es Kratos durch den Kopf. »Die Verletzung war zu tief. Und Thors Hammer ist wenig später eingeschlagen. Er kann nicht mehr leben.«

Aber warum hatte er dann so intensiv von ihm geträumt? Selbst kurz nach seinem Tod war er nicht derart präsent gewesen. Und was hatte es mit diesem Amulett auf sich? Was kam ihm daran so bekannt vor?

Auf einmal viel es ihm wie Schuppen von den Augen. Eilig kramte er in seiner Flügeltasche herum, bis er das Geduldsspiel seines Blutsbruders gefunden hatte. Die ineinander verschlungenen Stäbe waren aus haargenau dem gleichen Metall gefertigt wie das Amulett um seinen Hals.

Doch was bedeutete das schon? Es bewies lediglich, dass es aus Sylvarant stammte.

Und doch hatte Kratos ein flaues Gefühl in der Magengegend …
 

Die Stadt Latheon, nahe der Latheonschlucht war das nächste Ziel des Ritters. Und wie immer, wenn er in einer Ortschaft ankam, führte ihn sein erster Weg in die Stallungen. Silabél an seiner Seite trat er in den großen Stall hinein, fand jedoch niemanden vor. Nur aus dem hinteren Teil drangen auf den ersten Eindruck seltsame Geräusche. Stirnrunzelnd und denkend, jemand bei einem Schäferstündchen zu stören, sah Kratos nach. Doch das Erwartete blieb aus. Stattdessen sah er einen kleinen Halbelfen mit einem Stock auf eine anscheinend selbstgebastelte Trainingsfigur einschlagen. Es war offensichtlich, dass er den Schwertkampf trainieren wollte. Kratos schmunzelte und lehnte sich an den Eingang der Box, in der das Ganze stattfand.

»Kümmerst du dich auch um Drachen oder wirst du nur für das Verprügeln von … diesem Ding bezahlt?«

Der kleine Halbelf, er mochte zwölf sein, drehte sich erschrocken um. Als er Kratos sah, senkte er sogleich den Blick.

»Verzeiht, mein Herr!«, entschuldigte er sich. »Ich habe Euch nicht kommen hören!«

»Schon in Ordnung«, meinte der Ritter schmunzelnd. »Sieh' deinem Gegenüber immer in die Augen. So siehst du leichter, ob er dir nach dem Leben trachtet.«

Ängstlich blickte das Halbelfenkind auf. Es war seiner Rasse verboten, Menschen in die Augen zu sehen. Kratos aber lächelte und deutete mit dem Kopf auf Silabél.

»Ich werde nicht lange bleiben«, erklärte er. »Tränke und füttere sie. Und pass ein wenig auf. Sie ist sehr launisch.«

»Aber wunderschön …«, staunte der Jüngere. Der Ritter tätschelte sein Reittier.

»Wohl wahr.«

Silabél summte zufrieden. Endlich einmal jemand, der sie zu schätzen wusste. Der kleine Halbelf näherte sich ihr, verbeugte sich kurz und wollte eigentlich ihre Zügel nehmen, bis ihm auffiel, dass Silabél keine besaß.

»Uhm … wo … sind ihre Zügel?«, fragte er deswegen.

»Sie hat keine«, antwortete der Rothaarige im Gehen. »Sag' ihr einfach, was sie machen soll.«

Als Kratos aus den Stallungen hinaustrat, sah er sich um. Er hatte keine Lust, schon wieder in ein Wirtshaus zu gehen. Die betrunkenen Landsleute waren nicht gerade die Gesellschaft, die er bevorzugte. Deshalb beschloss er, dieses Mal woanders anzufangen; beim städtischen Sklavenhändler.

Das Gebäude war leicht zu erkennen. Vor ihm waren Halbelfen angebunden, sozusagen als "Schaufensterware". Davor stand ein Schild, auf dem stand: "Füttern verboten". Kratos schauderte, wie so oft.

Er ging hinein. Die meisten Sklavenhändler waren ziemlich edel eingerichtet, da Halbelfen eine Art Luxusware darstellten. Dieser schien vor kurzem überfallen worden zu sein, da ziemlich viele Einrichtungsstücke beschädigt waren.

»Kann ich Euch helfen?«, wurde er sogleich von einem Mann angesprochen. »Ich habe hervorragende Böcke im Angebot! Sind ganz frisch reingekommen!«

»Das glaube ich gern«, antwortete Kratos. »Sie scheinen vor nicht allzu langer Zeit überfallen worden zu sein.«

Der Händler grummelte.

»Ihr … habt eine gute Beobachtungsgabe.«

»Danke«, sagte der Ritter tonlos. »Aber genau deswegen bin ich hier.«

»Ich … verstehe nicht, mein Herr.«

Kratos holte das Amulett hervor, das er von dem Zwerg bekommen hatte. Der Händler reagierte, wie viele, denen er es zeigte; er wich instinktiv einen Schritt zurück.

»Ihr habt es also gesehen«, stellte der Rothaarige fest. »Wie lange ist es her?«

»Eine Woche …«, knurrte der Händler, der froh war, als Kratos das Amulett wieder wegsteckte. »Sind eingefallen wie die Wilden. Haben mir alle Sklaven geklaut und meinen Laden in Schutt und Asche gelegt!«

»Das sehe ich«, meinte der Ritter kühl. »Könnt Ihr mir mehr erzählen?«

»Was gibt es über diese Plage schon zu erzählen?«, kam die Gegenfrage. »Kann ich Euch nicht vielleicht doch für einen meiner …«

»Nein«, unterbrach Kratos ihn forsch. Am liebsten hätte er ihm jeden einzelnen Halbelf abgekauft. Aber damit förderte er den Sklavenhandel nur, statt ihn zu unterbinden. Der Händler schnaubte.

»Dann muss ich Euch bitten, mein Geschäft zu verlassen«, wurde er nun unfreundlich. Kratos aber kannte das und warf dem Händler eine Goldmünze hin.

»Sagt mir, was Ihr wisst«, verlangte er. »Es ist zu Eurem Wohl. Ich will etwas gegen sie unternehmen.«

Nun wurde der Händler freundlicher und schilderte Kratos den Überfall genau. Doch etwas Neues hatte er nicht für ihn parat. Seufzend verließ er das Geschäft. Wenn das so weiterging, würde Flavius Avanel nicht mehr lange hinhalten können. Er brauchte Informationen.

Als er auch im Wirtshaus nichts Brauchbares hatte erfahren können, beschloss er, keine Zeit zu verschwenden und Latheon zu verlassen. Als er die Stallungen betraf, drang plötzlich ein Geräusch an seine Ohren, das Peitschenschlägen ähnlich war; und das Wimmern eines Kindes.

»Nein, nicht …!«, flehte der Stallbursche.

»Du nutzloses Balg! Wie kann man nur so dämlich sein?!«, brüllte eine männliche Stimme.

»Aber sie war auf einmal so aufgeregt! Dafür kann …«

»Ruhe!«

Ein Knall ertönte und das Jammern des Halbelfenkindes ertönte. Kratos beeilte sich, hineinzukommen. Wie er es sich gedacht hatte, war von Silabél die Rede gewesen. Sie hatte ihre Box zertrümmert.

»Aufhören!«, ging der Ritter sofort dazwischen. Der offensichtliche Besitzer des Stalls war gerade dabei, seinen Stallburschen mit einem Stock zu verprügeln, als er einschritt.

»Mischt Euch nicht ein!«, fauchte der Besitzer des Stalles und erhob erneut seinen Stock. Kratos ergriff seinen Arm.

»Lasst den Jungen in Ruhe«, knurrte der Rothaarige. Der Besitzer sah den Ritter wütend an.

»Es ist mein Halbelf!«

»Und mein Drache, um den es geht«, argumentierte Kratos. »Der Kleine trägt keine Schuld. Silabél ist sehr wild. Ich werde Euch den Schaden ersetzen.«

Der Mann schubste den Jungen von sich.

»Hau ab!«, befahl er. Das Halbelfenkind wich einige Schritte zurück, wobei sein Blick auf den des Ritters traf. Seine Augen waren erstaunt, was nicht an seinem Einsatz lag, wie Kratos kurz darauf feststellte. Sein Blick galt dem Amulett der Rebellen, das er um den Hals trug.

Der Ritter holte seinen Galdbeutel hervor und gab dem Besitzer des Kindes eine mehr als nur großzügige Summe.

»Das dürfte reichen, um für den Schaden aufzukommen«, meinte er. »Und nun seid so gut und bringt mir eine neue Reitdecke. Die Alte macht es nicht mehr lange.«

Das war gelogen, doch Kratos hatte seine Gründe. Der Besitzer bedankte sich überschwänglich und verschwand. Augenblicklich wandte sich der Rothaarige dem Halbelfenkind zu.

»Kennst du die Träger dieses Amulettes?«, wollte er wissen.

»J-ja …«, antwortete der Junge, von der imposanten Erscheinung des Ritters eingeschüchtert.

»Was kannst du mir über sie sagen?«

»Sie … sie nennen sich "Ashyuka" … das kommt aus der alten Sprache der Elfen und bedeutet … "langlebig" … glaube ich.«

»Was weißt du noch?«, fragte Kratos. »Sag' mir alles, was du weißt. Es soll dein Schaden nicht sein.«

Das Halbelfenkind überlegte.

»Als sie hier waren, versteckte ich mich. Ich hatte Angst … aber ich hörte sie sprechen. Sie sagten etwas davon, dass sie die Sklaven ausbilden wollen. Für den endgültigen Schlag.«

Kratos nickte.

»Was noch?«

»Sie sollten niemanden verletzen, wenn es nicht nötig ist«, erinnerte sich der Jüngere. »Mehr weiß ich auch nicht.«

Kratos wollte sich gerade bedanken, als der Stallbesitzer mit einer Reitdecke wiederkam. Der Ritter nahm sie an sich und legte sie Silabél über.

»Hat er Euch belästigt?«, fragte der Besitzer und zeigte auf das Halbelfenkind.

»Nein, hat er nicht«, antwortete Kratos und sah zu dem lilahaarigen Jungen herunter. In seinen Augen lag Angst und der Schrei um Hilfe. Der Rothaarige schielte zum Stallbesitzer. Er war muskulös, hatte kalte Augen. Außerdem hatte er blaue Flecken auf der Haut des Kindes entdeckt. Silabél sah ihn aus ihren dunklen Augen an. Da er sich nicht mehr darin spiegeln konnte, sah er nun den leisen Vorwurf, der in ihnen lag. Ohne weiter nachzudenken, wandte er sich an den Mann.

»Wie viel kostet der Kleine?«, wollte er wissen und die Augen des Jungen strahlten auf.

»Wer? Der Bengel hier?«, fragte der Stallbesitzer. »Der ist unverkäuflich.«

Das Strahlen erlosch sofort wieder. Doch Kratos ließ nicht locker.

»Nennt mir eine beliebige Summe«, verlangte er. »Geld spielt keine Rolle.«

Der Stallbesitzer war sichtlich verwundert über das plötzliche Interesse seines Kunden. Dann aber blitzte Gier in seinen kalten Augen auf.

»Fünftausend Gald«, kam es sehr schnell.

»Fünftausend?«, fragte Kratos, der über die hohe Summe innerlich nur lächelte. »Ich bitte Euch, der Kleine ist mager, dreckig und auch sonst in schlechter Verfassung. Dreitausend und keinen Gald mehr.«

»Einverstanden«, sagte der Besitzer, der auf keinem Sklavenmarkt soviel Geld für ihn bekommen hätte. Er schubste das Kind in Kratos' Richtung, der ihn streng ansah.

»Steig' auf«, verlangte er. »Und mach' keine Faxen.«

Das Kind beeilte sich, der Aufforderung nachzukommen. Silabél ließ ihn bereitwillig aufsteigen und ging sogar in die Hocke. Der Ritter übergab dem Stallbesitzer die verlangte Summe, schnalzte mit der Zunge und führte das rote Drachenweibchen aus den Stallungen.

»Da-«

»Sei still«, unterbracht Kratos das Dankeschön des Kindes. Verwundert schwieg der Junge.

Erst, als sie Latheon verlassen hatten, schenkte der Ritter dem Kind wieder seine Aufmerksamkeit. Jedoch erst, als er selbst auf Silabél saß.

»Jetzt kannst du dich bedanken, wenn du es unbedingt willst«, meinte er. Der Lilahaarige blickte über seine Schulter, da er vor Kratos saß. Sein Lächeln war dem Ritter Dank genug, doch der Kleinere wollte es unbedingt in Worte fassen.

»Vielen, vielen Dank«, sagte er. »Ich stehe tief in Eurer Schuld, Herr.«

»Nenn' mich Kratos«, stellte der Rothaarige sofort klar. Er mochte es nicht, mit "Herr" oder "Meister" angesprochen zu werden.

»Wir Ihr wünscht, Kratos-san«, antwortete der Junge. »Ihr seid ein sehr netter Mensch.«

»Nur, weil ich dich gekauft habe?«, fragte der Ritter. »Es könnte schließlich auch sein, dass ich dich genauso misshandle wie dein ehemaliger Besitzer.«

Der Jüngere schmunzelte, wobei etwas Müdes darin lag. So, als hätte er es lang nicht mehr gemacht.

»Das werdet Ihr nicht tun«, behauptete er. »Ihr seid anders.«

»Langsam sollte ich anfangen, eine Strichliste zu führen«, dachte Kratos bei sich, da er diesen Satz sehr oft zu hören bekommen hatte. Dann aber wandte er sich wieder dem Kind zu.

»Wie ist dein Name?«, wollte er wissen.

»Lucid«, antwortete der Gleiche. »Meine Freunde nennen mich Lou – wenn ich welche hätte.«

Ein Knurren ertönte, dass das stetige stampfen von Silabéls großen Pranken übertönen konnte. Kratos hob seine Augenbrauen.

»War das dein Magen?«

Lucid lächelte entschuldigend.

»Verzeiht mir … ich bin hungrig.«

»Das höre ich …«, meinte der Rothaarige und schnalzte erneut mit der Zunge. Silabél blieb stehen.

»Sie hört sehr gut auf Euch«, stellte der Lilahaarige fest.

»Nur auf mich«, antwortete Kratos und nahm seinen Rucksack ab, um etwas darin zu suchen. Wenig später hielt er Lucid ein großzügiges Stück Trockenfleisch und seinen Wasserschlauch hin.

»Nimm, soviel du willst.«

Große Kinderaugen, von exotischer, rötlicher Färbung sahen Kratos dankbar an. Doch dem Ritter viel etwas auf. Sie waren nicht klar, nicht strahlend. Sie waren trüb. Nicht gebrochen, wie die der anderen Halbelfen, die er gesehen hatte. Er konnte es nicht richtig beschreiben. Aber sie drückten Trauer aus. Trauer und Angst.
 

Leise knisterte das Lagerfeuer um das Kratos, Lucid, Silabél und Noishe saßen. Der kleine Halbelf saß neben dem Aeros, das sich offensichtlich bei ihm wohlfühlte. Der Lilahaarige aß genüsslich das Kaninchen, dass Kratos für ihn erlegt hatte. Der Ritter selbst blickte schon eine Weile schweigend ins Feuer. Erst, als Lucid aufgegessen hatte, begann er ein Gespräch.

»Woher kommst du?«, war seine erste Frage.

»Aus Sylvarant«, antwortete Lucid.

»Hast du dort Familie?«, wollte Kratos wissen. Das Halbelfenkind nickte.

»Ja, habe ich. Meine Eltern und Geschwister leben noch dort.«

»Wie bist du dann hierhergekommen?«

Lucids Gesicht wurde traurig. Er zog seine Beine enger an seinen Körper.

»Ich bin in den Wald gegangen, um mit meiner Freundin Luna, einem Fenrirla zu spielen … dann kamen ein paar Soldaten und haben mich gefangen genommen und hierhergebracht.«

Kratos horchte auf.

»Auf Sylvarant gibt es noch freilebende Protozoen?«, wollte er wissen, da auch das Fenrirla eine Entwicklungsstufe dieser Rasse war.

»Ja, sie werden von uns Halbelfen beschützt. Viele Protozoen schließen sich einer Familie an. Aber Luna … wurde von den Soldaten umgebracht.«

Noishe gurrte mitleidig und schmiegt sich etwas dichter an das Kind heran, um es zu trösten. Kratos schluckte seinen Groll herunter. Die Protozoen wurden auf Grund ihres Felles, Gefieders, ihrer Zähne und Krallen, sowie ihres Blutes gejagt. Alle fünf Dinge besaßen starke, magische Eigenschaften, die sich die Krieger Tethe'allas zu Nutze machen wollten.

Um die Trauer des Kleinen nicht weiter zu schüren, wechselte der Ritter das Thema.

»Möchtest du Nachhause zurück?«

Lucid blickte auf. In seinen roten Augen funkelte die Hoffnung.

»Nichts will ich mehr!«, antwortete er.

Kratos schmunzelte.

»Ein paar Tagesreisen von hier entfernt ist ein Hafen. Ich bringe dich dorthin und sorge dafür, dass du nach Sylvarant kannst. Den Rest musst du allein schaffen.«

»Das würdet Ihr für mich tun, Kratos-san?«, fragte das Kind ungläubig.

»Ich hätte es dir sonst nicht angeboten«, antwortete der Krieger. »Meine Reise ist gefährlich. Es fällt mir schon schwer, auf mich selbst aufzupassen. Außerdem habe ich genügend Geld, um dir die Überfahrt zu bezahlen.«

Lucids Lächeln wurde sanft, ja schon beinahe gütig.

»Ihr seid ein großartiger Mensch, Kratos-san …«, meinte er. »Ich wünschte, alle Menschen wären wie Ihr …«

»Wünsch' dir das nicht …«, dachte Kratos bei sich. »Dann wäre die gesamte Menschheit zu feige, um sich gegen diesen Krieg aufzulehnen …«
 

Wenige Tage später erreichten Kratos und Lucid ein kleines Fischerdorf an der Küste von Latheon. Da es die einzige Hafenstadt dieses Kontinents war, verkehrten hier auch größere Handelsschiffe. Und den Kapitän eines solchen suchte der Ritter nun dort, wo man sie meistens fand: Im Wirtshaus.

Lucid blieb dicht an seiner Seite. Er hatte Angst vor Menschenmengen und verbarg seine Ohren so gut er nur konnte. Kratos entdeckte die Kapitäne schnell an ihrer Uniform. Jedoch sprach er nicht den Erstbesten an. Er beobachtete sie einen Augenblick und ging dann auf den zu, der ihm am Vertrauenswürdigsten schien.

Nach einer kurzen Unterhaltung erklärte sich der Mann bereit, Lucid als Schiffsjungen mitzunehmen und in Sylvarant auszusetzen. Kratos musste sich auf sein Wort verlassen, Lucid gut zu behandeln. Bezahlt hatte er dafür mehr als genug.

Der Ritter begleitete seinen jungen Freund noch bis zum Hafen. Da das Schiff erst in einer Stunde abfuhr, blieb ihnen noch Zeit, sich zu verabschieden.

Kratos stand auf einem der Piere und blickte auf das himmelblaue Meer hinaus, das im Sonnenlicht glitzerte wie abertausende von Kristallen. Lucid stand neben ihm.

»Ich stehe tief in Eurer Schuld, Kratos-san«, meinte er.

»Nein, das tust du nicht«, widersprach der Gleiche. »Das ist nur ein Tropfen auf dem heißen Stein, für das, was meine Rasse der deinen antut.«

»Nehmt nicht die Schuld für etwas auf Euch, das andere verschuldet haben«, meinte das Halbelfenkind. »Ihr seid ein guter Mensch.«

»Wenn das deine Meinung ist, will und kann ich dir diese Illusion nicht nehmen«, antwortete Kratos mit ruhiger Stimme, noch immer aufs Meer hinausblickend. »Vielleicht nimmt es dir den Hass auf meine Rasse ein wenig.«

Lucid schwieg nun und sah ebenfalls auf den Ozean, dessen Wellen sich im Wind wogen und leise rauschten. Wie lange sie genau dort standen, wusste Kratos nicht mehr. Aber es musste lang gewesen sein, denn der Kapitän rief schließlich nach dem Halbelfenkind. Lucid sah noch einmal zu seinem Retter hinauf.

»Vielen Dank für alles, Kratos-san«, sagte er noch einmal.

»Es ist gern geschehen«, meinte der Rothaarige und schenkte dem Kind ein Lächeln. »Viel Glück.«

Lucid nickte und lief davon. Kratos blieb an Ort und Stelle stehen und sah zu, wie das Schiff ablegte, langsam wendete und 'gen Osten fuhr – nach Sylvarant. Dem Land, in dem die Worte "Freiheit" und "Gleichheit" anscheinend noch nicht in Vergessenheit geraten waren. Schließlich wandte er sich um.

»Kratos-san!«

Der Ruf bewegte den Ritter dazu, sich noch einmal umzudrehen. Lucid stand am Heck des Schiffes und winkte ihm zum Abschied. Kratos lächelte und hob seinen Arm, um die Geste zu erwidern. Dann ging er gemächlich in die Stadt zurück, ohne sich noch einmal umzudrehen.
 

Die Stallungen waren befremdlich ruhig. Kein Pferd und kein Drache schnaubten, kein Stallbursche mistete die Boxen aus. Da es langsam Abend wurde, waren die Stallungen in ein Zwielicht getaucht, dass es Kratos schwermachte, jemanden zu sehen. Ein ungutes Gefühl in der Magengegend habend, ging er langsam hinein. Die Boxen, an denen er vorbeiging, waren leer. Nicht mal aus der von Silabél drang ein Geräusch. Besorgt um seine Freundin, beschleunigte er seinen Schritt und machte die Tür auf, die ihn von dem Drachenweibchen trennte. Silabél lag ruhig im Stroh. Sie bewegte sich nicht. Und genau das vertrieb die Erleichterung, die sich gerade in Kratos hatte breitmachen wollen. Ein Blick in Silabéls Augen genügte und er wusste, was los war.

Schnell wie ein Pfeil drehte er sich um und zog sein Schwert. Doch seine Angreifer hatten damit gerechnet. Hinter Silabél schossen zwei Halbelfen hervor. Einer schlug ihm das Schwert aus der Hand, der andere stülpte ihm einen Sack über den Kopf. Keine Sekunde später spürte er einen dumpfen Schlag an seinem Hinterkopf und er verlor das Bewusstsein.
 

Ein ziehender Schmerz weckte Kratos aus seiner Ohnmacht. Regen fiel auf sein Gesicht und er blinzelte mehrere Male. Seine Arme waren über seinem Kopf und zogen schmerzhaft an seinem Körper, der über den nassen und matschigen Boden schliff. Er brauchte einen Augenblick, um wieder zu sich zu finden. Sein erster Blick galt seinen Armen. Sie waren mit klobigen Metallschellen gefesselt und mit einer massiven Eisenkette am Sattel eines Pferdes befestigt worden. Sein erster Reflex war es, sich dagegen zu wehren. Das Pferd wieherte aufgeregt und blieb stehen. Im gleichen Moment knallte eine Peitsche auf Kratos' Rücken nieder und ein Schmerzensschrei entwich seiner Kehle.

»Steh' auf!«, verlangte sein Peiniger, der hinter ihm her ritt. »Sonst kriegst du noch eine verpasst!«

Kratos biss die Zähne zusammen. Er war wehrlos und handlungsunfähig. Es war klüger, zu tun, was von ihm verlangt wurde. Mühsam rappelte er sich auf. Ihm war schwindelig und vor allem kalt. Sein Oberteil und sein Mantel, sowie seine Handschuhe und Armstulpen waren verschwunden. Lediglich seine Hose trug er noch. Mit gleichmäßigen Schritten ging er hinter dem Pferd her und versuchte, sich zurechtzufinden.

Drei Halbelfen begleiteten ihn, alle drei auf Pferden. Silabél entdeckte er hinter sich. Sein Peiniger zog sie mit seinem Pferd hinter sich her. Mehrere Ketten umschlossen ihr Maul, in ihren Augen glühte Zorn. Sie hasste nichts mehr, als gefangen zu sein. Eine Eigenschaft, die sie mit Kratos teilte und verband.

Wo sie waren, konnte der Ritter nicht sagen. Die Ebene auf der sie sich zur Zeit befanden war zu nichtssagend. Er würde warten müssen, bis eine Felsenformation oder ein Wald auftauchte.

Während der Regen die Wunde des Peitschenschlages auswusch, arbeitete Kratos' Verstand auf Hochtouren. Noishe war mit Sicherheit in der Nähe. Er bräuchte nur Pfeifen und sein Freund würde ihm zu Hilfe eilen. Allerdings fürchtete er, dass die Halbelfen ihn töteten.

Silabél konnte ihm nicht helfen. Ihm selbst war jeglicher Handlungsspielraum genommen worden. Selbst seine Füße waren mit einer kurzen Kette aneinandergebunden worden, sodass er nur kurze Schritte tun konnte. Sollte das Pferd vor ihm anfangen zu traben, oder gar zu galoppieren, wäre er dem schutzlos ausgeliefert. Und er hatte das ungute Gefühl, dass er es tun würde. Egal, ob er gehorchte oder nicht.

Die Stunden zogen sich dahin, der Regen wurde immer stärker. Das Eisen an Kratos' Beinen und Händen begann zu scheuern, jeder Schritt wurde mehr und mehr zur Tortur. Immer wieder fiel er hin, da er Boden aufgeweicht war und seine Schrittlänge zu kurz war. Und für jedes Mal, dass er hinfiel, bekam er einen Peitschenhieb zu spüren. Genau, wie jetzt.

»Wenn ihr mich schon foltert, will ich wenigstens wissen, wohin ihr mich bringt!«, fauchte er wütend. Sein Peiniger lachte.

»Wir suchen dich schon eine ganze Weile«, meinte er. »Wir bringen dich zu unserem Anführer. Was er mit dir macht, weiß ich nicht. Aber glaub' mir: Er kennt ungefähr fünfzig verschiedene Arten, jemanden zu töten. Vielleicht sogar mehr. Und einige davon sind gerade zu menschenunwürdig.«

Alle drei Halbelfen begannen zu lachen. Kratos fand das Ganze überhaupt nicht lustig.

»Ihr seid nicht besser als meine Rasse, wenn ihr es mir mit gleicher Münze heimzahlt! Zumal ich niemals einen Halbelfen diskriminiert habe!«

Erneut lachte sein Peiniger.

»Ja, sicher. Wir haben ja auch nur gesehen, wie du einen Sklaven verkauft hast.«

Nun wurde Kratos richtig wütend und stemmte sich gegen den Zug des Pferdes.

»Ich habe ihn freigekauft und nach Sylvarant zurückgeschickt!«

»Mit einem der größten Sklavenhändler überhaupt?«, fragte sein Peiniger. »Du hast ihn ins Verderben geschickt!«

Ein Blitz durchfuhr Kratos' Geist. Er sah Lucid zusammengepfercht mit anderen Halbelfen unter Deck, tagelang kein Licht sehend. Sein Blick senkte sich und er ging weiter, das dreckige Lachen der Halbelfen ignorierend. Wieder ein Fehler. Wieder hatte er einen Fehler begangen, den er nicht wieder rückgängig machen konnte.

Irgendwann, es erschien ihm wie eine Ewigkeit, rasteten die Halbelfen. Ihn banden sie an einem Baum fest, der ihn kaum vor dem Regen schützte. Silabél lag neben ihm, jedoch nicht dicht genug, als dass er sich an ihr hätte wärmen können. Er fror erbärmlich und hatte Schmerzen an seinen Hand- und Fußgelenken. Er konnte sich nicht einmal hinlegen, so kurz war die Kette.

Von dem Lager der Halbelfen wehte der Duft von Feuer und Wildbret zu ihm. Sein Magen knurrte laut und der Hunger begann, an seinen Eingeweiden zu nagen. Müde und erschöpft lehnte er sich an den Baum und sah in den verregneten Himmel.

Wo würde das bloß enden?

Brüder für einen kurzen Moment

Laut rauschend donnerten die Wassermassen des gewaltigen Wasserfalls in den Fluss, an dem Kratos und seine Peiniger nun stehenblieben. Eine Woche war er in der Gefangenschaft der Halbelfen gewesen. Er war mager und geschwächt. Außerdem hatten die eisernen Fesseln seiner Haut schwer zugesetzt. Entzündete Fleischwunden säumten seine Hand- und Fußgelenke. Und doch ging er noch immer aufrecht ohne einen Schmerzlaut von sich zu geben.

Auf einem Felsplateau, das direkt vor dem Wasserfall durch die massigen Fluten brach, blieben sie stehen. Einer der Halbelfen trat nach vorn und ging in die Haltung des Zauberns. Ein blaues Siegel erschien unter ihm, das seine Kleidung wogen ließ.

»Ich sende meine Worte an die Jungfer der Quellen und Gewässer! Mein Blut vereint Menschen und Elfen, meine Treue gilt den Ashyuka! Öffne den Pfad, den dein mächtiges Element verbirgt!«

Im ersten Moment geschah nichts. Doch dann sah Kratos, dass sich der Wasserfall wie ein Vorhang in der Mitte teilte. Mit eiligen Schritten, bei denen der Rothaarige aufpassen musste, nicht wieder hinzufallen, passierte die Gruppe den Wasserfall trockenen Fußes.

Die Höhle, die sich dahinter verbarg, war riesig. An den Wänden tanzten kleine Flammen in blauer Farbe, die den Weg beleuchteten. Schweigend gingen Kratos' Peiniger durch den Irrgarten von Gängen, die sie zu kennen schienen wie ihre Flügeltasche. Der Ritter in Ketten folgte ihnen dicht auf. Er würde sich zweifelsohne verlaufen, wenn er sie verlieren würde.

Nach und nach wurde die Höhle humaner. Die Wände waren glattgemeißelt, das Licht wurde heller. Und schließlich vernahmen Kratos' Ohren Gespräche. Erst leise, doch mit jedem Schritt wurde sie deutlicher.

Letztendlich erreichten sie ein großes Holzportal, das sich von selbst öffnete, als sie näher herantraten. Sämtliche Gespräche verstummten. Die dahinter verborgene Halle war komplett aus weißem Marmor gehauen worden, der sich anscheinend unter dem rauen Stein verbarg. Ein Tisch, der beinahe die ganze Halle ausnahm mit unzähligen Stühlen waren die einzigen Möbelstücke. Er wurde durch die Reihe der Halbelfen getrieben, die ihn verächtlich und hasserfüllt ansahen. Die Blicke brannten auf seiner Haut.

Am Ende der Halle war erneut ein erhöhtes Plateau zu finden, auf dem jemand stand. Kratos glaubte, seinen Augen nicht zu trauen. Die Person, die ihnen den Rücken zugewandt hatte und auf dessen Umhang das Zeichen der Rebellen prangte, besaß lange, unverkennbar blaue Haare.

»Hauptmann! Wir haben ihn endlich in Gewahrsam nehmen können!«

Der offensichtliche Anführer der Rebellen wandte sich nicht um. Die Ungewissheit, die Kratos gerade plagte, war die schlimmste Folter, die es für ihn gab. War es wirklich Yuan? Sollte es tatsächlich möglich sein, dass er die Verletzung durch Erebos und Thors Hammer überlebt hatte? Die Stimme klang anders. Sie war tiefer, kein Schalk klang darin mit. Aber es hätte seine Stimme sein können. Einer der Halbelfen trat Kratos in seine Kehrseite. Er fiel auf die Knie, sah jedoch noch immer zu dem Anführer hinauf, den er in Gedanken inständig darum bat, sich endlich umzudrehen.

Und schließlich tat er es.

Yuans grüne Augen blickten auf ihn herunter. Sie waren genauso von Trauer erfüllt, wie Kratos es in seinem Traum gesehen hatte. Sein Gesicht hatte sich verändert. Es war ernst und markant geworden. Kein jugendlicher Zug war mehr darin zu finden. Obwohl er erst zwanzig sein konnte, hatte sein Blick etwas weitaus Älteres. Seine Mimik war gleichgültig, ja beinahe verächtlich.

Wütend blickte er dann zu den drei Halbelfen, die ihn hergebracht hatten.

»Habe ich euch nicht gesagt, ihr sollt ihn freundlich behandeln?!«, polterte er los. Die Drei erschraken.

»Aber … ihr … ihr sagtet doch …!«

»Behandelt ihn, wie es einem Hauptmann der königlichen Garde gebührt! Das waren meine Worte!«

Yuan schnaubte verächtlich und schenkte den Dreien keinerlei Beachtung mehr. Stattdessen ging er zu Kratos hinunter, der ihn noch immer ansah.

»Es ist lange her …«, sagte er mit ernster Stimme und musterte seinen Blutsbruder ausgiebig. Dann wandte er sich an eine Halbelfe, die in seiner Nähe stand.

»Chiza, meine Liebe, sei so gut und kümmere dich um ihn. Heile seine Wunden und gib' ihm zu trinken und zu essen. Ist er versorgt, bring' ihn zu mir.«

Die Halbelfe verbeugte sich.

»Sehr wohl, Hauptmann«, antwortete sie und verbeugte sich. Dann trat sie zu Kratos und half ihm auf, um Yuans Befehl auszuführen.
 

Mit geheilten Wunden und ordentlicher Kleidung, sowie gesättigtem Hunger und gelöschtem Durst, trat Kratos in Yuans Gemächer. Er hatte seinen Mantel abgelegt und erwartete ihn bereits.

»Ich wünsche, nicht gestört zu werden«, sagte er zur Chiza. Sie nickte und verschwand. Erst jetzt widmete sich Yuan seinem Blutsbruder; mit einer kräftigen Umarmung, die Kratos bald die Luft nahm.

»Kratos, mein Bruder!«, begrüßte er ihn und ließ schließlich von ihm ab, um ihn ansehen zu können. »Vier lange Jahre ist es her. Ich freue mich, dich wiederzusehen.«

Der Rothaarige war reichlich verwundert über die Reaktion des Halbelfen, wagte es jedoch, seine Freude ebenso zu zeigen.

»Das kann ich nur zurückgeben«, sagte er deswegen. »Ich habe gedacht, du seihst tot.«

»Damit warst du nicht allein«, meinte Yuan. »Ich dachte genauso, es sei zu Ende.«

»Wie konntest du das überleben?«, wollte Kratos wissen. »Die Verwundung, Thors Hammer …«

»Danke der Heilmagie meines Volkes«, antwortete der Blauhaarige. »Ich lag einen Monat im Koma, bevor ich wieder zu mir kam. Aber lass uns das ein anderes Mal besprechen.«

Yuan sah seinen Bruder nun ernst an.

»Es hat mein Herz zerrissen, zu hören, dass niemand anderes als du Hauptmann der königlichen Garde wurde und nach uns sucht«, begann er.

»Wie konntet ihr das rausfinden? Ich bin doch verdeckt gereist.«

Yuan schnaubte belustigt, während er sich und seinem Bruder ein Glas Wein einschenkte.

»Ich bitte dich, Kratos«, meinte er dann. »Ein Söldner mit viel Geld, einem feuerroten Drachenweibchen und letztendlich einem Aeros an seiner Seite? Auffälliger ging es nicht.«

Yuan reichte seinem Bruder ein Weinglas. Erst jetzt fiel Kratos auf, dass er den Siegelring noch trug, den er seinem sterbenden Bruder geschenkt hatte.

»Nun aber zum eigentlichen Thema … warum die Garde, Kratos? Warst du nicht stets auf der Seite meines Volkes?«

»Da stehe ich auch immer noch«, antwortete Kratos. »Es ist eine lange Geschichte.«

»Wir haben Zeit«, meinte Yuan und setzte sich. Der Rothaarige seufzte und tat es ihm gleich. Dann begann er, von den vier vergangenen Jahren zu erzählen. Yuan hörte aufmerksam zu, stellte nicht einmal Fragen, da sein rothaariger Freund alles sehr genau aufzuschlüsseln wusste.

»… ich will die friedlichste Lösung finden«, endete er schließlich. »Und deswegen bin ich umso glücklicher, dass du der Anführer der Rebellen bist. Wir können uns doch garantiert einigen.«

Kratos lächelte seinen Bruder hoffnungsvoll an, doch es erlosch, als er die ernste Miene des Halbelfen sah und sein Schweigen vernahm, das nichts Gutes an sich hatte.

»Ich will keine friedliche Lösung, Kratos«, antwortete er dann. »Denn es gibt sie nicht. Halten wir den kleinen Finger hin, nimmt Avanel die ganze Hand.«

Yuans Blick verfinsterte sich.

»Er wird die Sklaven nicht gehen lassen. Sein ganzes Königreich ist darauf erbaut.«

»Worauf willst du hinaus?«, wollte der Ritter wissen.

»Darauf, dass ich vorhabe, Avanel und seine gesamte Familie auszulöschen«, sagte Yuan mit kalter Stimme. »Erst, wenn die intrigante Königsfamilie, die den Rassismus so schürt, nicht mehr existiert, kann an Frieden gedacht werden.«

»Du … willst Tethe'alla erobern?«

Yuan nickte und stellte sein Weinglas auf den Tisch.

»Das ist der Plan.«

Kratos erhob sich.

»Du bist wahnsinnig! Das würde bedeuten, dass du die gesamte Armee vernichten musst! Vorher kommst du nicht an Avanel heran!«

Yuan sah ruhig zu seinem Bruder hinauf.

»Wenn es nötig ist, werde ich es veranlassen. Ich werde Avanel jedoch die Chance geben, sich freiwillig zu stellen, sodass kein Blut fließt, außer sein eigenes.«

»Und wenn er nicht darauf eingeht?«, wollte Kratos wissen, beide Hände auf den Tisch abgestützt und zu Yuan blickend.

»Dann hat es der König so gewollt. Niemand zwingt die Armee, für Avanel zu kämpfen. Wenn sie sich gegen ihn stellen, wird ebenso kein Blut fließen.«

»Das wird nicht eintreffen und das weißt du auch!«

Der Blauhaarige erhob sich.

»Komm mit. Ich möchte dir etwas zeigen.«

Ohne ein weiteres Wort ging Yuan. Kratos folgte ihm, tief in seine Gedanken versunken. Das war nicht sein Bruder, mit dem er sprach. Was hatte ihn nur so verändert? Seit wann war er so bereit, Blut zu vergießen?

Nach kurzer Zeit erreichte Yuan einen Gang, der aus dem Höhlengewölbe führte. Das Licht hatte eine warme, goldene Farbe, da die Sonne unterging. Schließlich stand Yuan am Rande einer Felsenklippe. Kratos nahm den Platz neben ihm ein und sah über die Landschaft, die sich vor ihnen erstreckte.

Und er glaubte, einer Gottheit gegenüberzustehen.
 

Vor uns erstreckte sich der schönste Ort, den ich jemals gesehen habe.

Eine schier endlose Ebene, die nur in weiter Ferne von einer bläulich schimmernden, majestätischen Bergkette unterbrochen wurde, war in das warme Licht der untergehenden Sonne getaucht. Die Bäume hatten sich mit ihrem schönsten Blätterkleid geschmückt, das in allen Rot-, Gelb-, Braun- und Goldtönen der Welt zu leuchten schien. Weite Wiesen, vom Licht der Sonne in Seen aus Gold verwandelt, die im wehenden Wind ihre mannigfaltige Pracht offenbarten, ein, wie tausend Kristalle glitzernder Fluss, der sich wie eine Schlange durch dieses Paradies windete und der in der Ferne rauschende, wogende Ozean, vervollständigten das Bild des Himmels auf Aselia …

Ich sollte diesen Anblick niemals vergessen …
 

»Selbst ihr, unsere Feinde, stimmt mit uns darüber überein, dass dies ein heiliger Ort ist«, begann Yuan mit ehrfürchtiger Stimme zu sprechen. »Dies, mein Bruder, sind die heiligen Ebenen von Kharlan.«

Kratos konnte nicht fassen, welch unglaublicher Ort sich hier vor ihm erstreckte. Noch niemals in seinem Leben hatte eine solche Schönheit seine Augen gestreichelt. Und er sollte auch nie wieder etwas Vergleichbares finden.

»Wenn der Krieg weiterhin tobt, werden diese Ebenen verschwinden. Sie werden vertrocknen und sterben. Genau wie der Baum allen Manas, dem wir unser Leben verdanken. Und um diese Welt zu retten und vor dem Tode zu bewahren, bin ich bereit, jedes Blut zu vergießen, das dafür nötig ist.«

Mit diesem Satz kehrte Kratos in die Realität zurück und sah seinen Bruder an. Yuan erwiderte seinen Blick.

»Ich will nicht töten. Aber ich werde es tun, wenn es dem Wohl der Welt und dem meines Volkes dient, das solange gelitten hat.«

Nun wandte sich Yuan zu seinem Bruder um.

»Du bist anders als die Menschen, Kratos. Ich bitte dich: Kämpfe an meiner Seite!«

Der Blauhaarige näherte sich seinem Bruder.

»Es wäre wie früher … wir wären Brüder. Immer zusammen. Und dieses Mal in freiheit. Das war es doch, was du immer wolltest. Freiheit und Gleichheit.«

Der Ritter hielt dem Blick des Halbelfen nicht länger stand. Erneut blickte er über die heiligen Ebenen.

Er wollte an Yuans Seite kämpfen. Aber das würde bedeuten, Unmengen an Menschen umzubringen. Denn niemand würde sich gegen Avanel stellen. Er war in den Augen der Tethe'allaner ein guter König, den sie bis zum Ende verteidigen würden. Besonders die Armee, die er letztendlich anführte. So viele Väter waren darunter. So viele Waisen und Witwen würde es geben. Das konnte er nicht zulassen.

Obwohl vor seinem geistigen Auge die Schlacht von Sybak erneut tobte, er erneut durchlitt, wie Yuan beinahe ums Leben gekommen war, konnte sein Herz nicht für ihn schlagen.

Aber was war klüger? Würde er sich Yuan anschließen, wäre es ein einmaliger Schlag, der Tethe'alla schwer treffen würde. Die Halbelfen wären frei, jedoch zu welchem Preis? Und vor allem: Für wie lange?

Der Rassismus war tief im Glauben der Tethe'allaner verankert. Sie begingen Morde dafür. Sein eigener Vater hatte seine Mutter letztendlich umgebracht, weil sie kein reinblütiger Mensch gewesen war.

Der Mord an seiner Mutter, den er als fünfjähriges Kind mit hatte ansehen müssen, schoss wie ein Blitz durch seinen Geist. Des gespenstische Knacken ihres Genicks würde er wohl nie vergessen.

Es würde Aufstände geben. Bürgerkriege. Verbrechen, die schlimmer waren, als das, was die Halbelfen jetzt erleiden mussten. Viele von Yuans Artgenossen kannten kein Leben in Freiheit. Sie glaubten, minderwertig zu sein. Und einige, wenn auch wenige, waren zufrieden damit. Sie hatten sich mit ihrem Schicksal abgefunden.

Er befürwortete die Sklaverei nicht. Aber war es besser, für die Vernichtung derselben ein halbes Königreich abzuschlachten?

»Nein.«

Nun sah Kratos wieder zu seinem Bruder. Die Worte, die er nun aussprach, schmerzten ihn mehr als jede Wunde.

»Ich kann es nicht.«

Die Hoffnung in Yuans Augen erlosch auf einen Schlag. Sein Blick senkte sich auf seine Hand, an der er den Siegelring von Kratos' Familie trug.

»Und ich hatte gehofft … dass ich dir mehr bedeute …«

Er nahm ihn ab und gab ihn seinem Bruder zurück. Einen Augenblick lang behielt er seine Hand auf der seines Bruders. Es war eine geschwisterliche Geste des Zusammenhalts. Die Wärme von Yuans Hand durchströmte Kratos' gesamten Körper. Genau wie Yuans Blut hindurch floss. Und wie das seine durch Yuans Körper strömte.

Sie waren Brüder.

Doch diese unglaubliche Verbundenheit zerriss, als Yuan seine Hand wieder wegnahm. Sein Blick, der eben noch warm und freundlich gewesen war war, wurde nun eiskalt.

»Wachen!«

Kratos fuhr herum, doch die Halbelfen waren zu schnell. Sie zogen ihm seine Arme auf den Rücken und drückten ihn erneut auf die Knie. Yuan hob seine linke Hand, um die Blitze sprangen. Der Rothaarige fasste nicht, was gerade geschah. Wollte sein Bruder in allen Ernstes umbringen?

»Du hast unser Versteck gesehen, ich habe dir meine Pläne offenbart. Da du dich gegen die Ashyuka entschieden hast, bist du für uns zu gefährlich. Aber sei ohne Sorge, Kratos …«, meinte er, »… es wird schnell gehen.«

»Das kannst du nicht tun!«, behauptete Kratos und sah zu Yuan hinauf. »Wenn du mich schon nicht mehr als deinen Blutsbruder ansiehst, dann vergiss wenigstens nicht, dass ich dir das Leben gerettet habe!«

In Yuans Blick änderte sich etwas. Für den Bruchteil einer Sekunde meinte Kratos, Tränen darin zu sehen. Die Brüder sahen sich an. Was Kratos wie eine Ewigkeit vorkam, waren nur wenige Sekunden.

Yuans grüne Augen schimmerten. In ihnen schimmerte Hoffnung. Die Hoffnung für sein Volk. Und zugleich brannten sie. Brannten vor Hass auf die Menschheit. Und es lag noch etwas darin.

Es war Trauer.

Kratos sah seinen Blutsbruder, der noch immer einen Platz in seinem Herzen besaß, um Vergebung bittend an.

»Verstehe mich …«, sagte er leise. »Ich kann es nicht … so viele Menschen werden sterben. Ich kann nicht dabei zusehen … ich bin für sie verantwortlich.«

Yuans Atem wurde immer schneller, die Blitze um seine Hand immer bedrohlicher. Der Ritter senkte den Kopf.

»Vergib mir, mein Bruder …«

Ein Knall ertönte, doch der von Kratos' erwartete Schmerz blieb aus. Yuan hatte den Kugelblitz an eine der Steinwände geschleudert.

»Wir sind quitt …«, meinte er nur und wandte sich dann an die Halbelfen, die Kratos noch immer festhielten.

»Bringt ihn weg!«, befahl er und drehte dem Szenario den Rücken zu.

»Aber Hauptmann!«, wagte einer der beiden zu widersprechen. »Er wird uns verraten!«

»Natürlich wird er das …«, meinte Yuan ruhig und blickte über seine Schulter.

»Aber wir wissen es.«
 

Es herrschte Winter in Flanoir. Eigentlich beherrschte er das gesamte Jahr über den Kontinent, doch es war die kälteste Zeit des Jahres. Kratos stapfte durch den weichen Puderschnee. Es war Nacht und niemand war auf den Straßen zu sehen. Selbst die Straßenbeleuchtung war aus. Er selbst hatte sich in einen wärmenden Mantel eingewickelt, der im stürmischen Wind flatterte und trug eine Laterne vor sich her, um sich in der Dunkelheit der Nacht zu recht zu finden.

Er wusste nicht mehr weiter.

Er war nicht nach Meltokio zurückgekehrt, nachdem man ihn aus dem Versteck der Ashyuka gebracht hatte. Er hatte sich nicht einmal bei Flavius gemeldet. Er brauchte Zeit. Zeit, um nachzudenken. Zeit, um sich darüber klar zu werden, wem seine Treue galt. Seine bedingungslose Treue. Und es gab nur eine Person, die ihm dabei helfen konnte.

Durchgefroren und erschöpft stieß er mit letzter Kraft die große Holztür der Kirche auf.

»Kratos!«, entfuhr es niemandem anders als Caleb, seinem alten Kriegskameraden. Eilig trat er an die Seite des Ritters und stützte ihn, da er offensichtlich furchtbar erschöpft war.

Kratos ließ sich helfen. Diese kleine Geste, der Halt, den er bekam, war Balsam für seine wunde Seele und sein zerrissenes Herz. Caleb half ihm, sich auf eine der Bänke zu setzen und schloss die Türen, damit kein weiterer Schnee in die Kirche wehte und die Kälte draußen blieb.

»Warum um alles in der Welt kommst du mitten in der Nacht und bei einem solchen Schneesturm hierher? Du hättest erfrieren können!«

Der Ritter schauderte vor Kälte. Ein paar Tropfen geschmolzenen Schnees fielen wie Tränen von seinem Gesicht herab.

»Ich brauche deine Hilfe, Caleb …«

»Die sollst du bekommen. Aber ich bitte dich, mit in mein Zimmer zu kommen und dich am Kaminfeuer aufzuwärmen. Du wirst dir sonst noch eine Lungenentzündung einfangen.«

Im gleichen Moment nieste Kratos was durch die ganze Kirche widerhallte.

»Danke …«

Auf wackeligen Beinen, noch immer in seinen Mantel eingewickelt, folgte er Caleb in sein Gemach. Es war spärlich eingerichtet, wie es für Priester üblich war. Jedoch prasselte ein warmes Feuer im Kamin vor sich her. Kratos setzte sich auf einen der Sessel, die davor standen. Den Mantel hatte er vorher ausgezogen und nun über seine Beine gelegt, die vor Kälte schmerzten.

Caleb hing eine Kanne Wasser über das Feuer, um Tee machen zu können. Schließlich setzte er sich auf den anderen Sessel.

»Und nun erzähl', was dich so sehr quält, dass du bei diesem Wetter zu mir kommst.«

Kratos schwieg einen Augenblick. Er hatte sich auf dem Weg hierher einige Sätze zurechtgelegt, doch sie waren wie weggewischt. Er seufzte.

»Ich weiß nicht mehr weiter, Caleb … ich bin hier, um mir deinen Rat einzuholen.«

»Ich werde mein Bestes tun«, versprach der ehemalige Krieger.

Der Rothaarige blickte ins Feuer.

»Yuan … ist nicht tot.«

Caleb runzelte seine Stirn.

»Das ist doch eine wunderbare Nachricht«, meinte er.

»An sich schon, das ist wahr …«, stimmte Kratos zu. »Jedoch … steht er nicht mehr auf unserer Seite.«

»Wie meinst du das?«, wollte Caleb wissen.

»Ich wurde damit beauftragt, eine Gruppe von Rebellen ausfindig zu machen, die gegen Tethe'alla arbeitet«, begann er. »Und … Yuan ist ihr Anführer.«

Der Ritter sah zu Caleb. Er hatte seine Hände auf seinem Schoß gefaltet und hörte ihm zu.

»Ich hoffte, mich mit ihm einigen zu können«, fuhr er fort. »Aber er wollte nicht … im Gegenteil. Er bat mich, ihm bei seinem Vorhaben, Tethe'alla zu erobern und Avanels Familie auszulöschen, zu unterstützen.«

Die Stimme des Rothaarigen war leise, aber deutlich. Jedoch hörte man die tiefe Trauer heraus, die an seinem Herzen nagte.

»Obwohl ich in die Versuchung geriet, der Königsfamilie den Rücken zu kehren und an der Seite meines Bruders für den Frieden zu kämpfen, lehnte ich ab. Mir war klar, wie unzählig viele Opfer es geben würde.«

Die Stimme des Ritters war dem Brechen nahe, doch er sprach weiter.

»Er hätte mich beinahe umgebracht … ich weiß nicht wirklich, was ihn dazu bewegte, mich zu verschonen, aber er tat es. Angeblich, um seine Schuld zu begleichen«, der Ritter seufzte schwer.

»Und du bist dir nunmehr nicht sicher, wem deine Treue gilt, nicht wahr?«, fragte Caleb, obwohl er die Antwort schon kannte. Kratos nickte.

»Ich kann nicht weitermachen, als wäre nichts geschehen. Das würde bedeuten, dass ich gegen Yuan kämpfen, ihn vielleicht sogar töten müsste. Und das bringe ich nicht über das Herz. Nicht nach all dem, was wir zusammen durchgemacht haben.«

Die Teekanne gab ein schrilles Pfeifen von sich. Caleb stand auf und nahm sie vom Feuer.

»Ich verstehe dich«, behauptete er, während er mit dem kochenden Wasser in seine kleine Kochnische ging und den Tee aufgoss. »Aber ich verstehe nicht, wie ich dir helfen kann.«

»Es wird in beiden Fällen Opfer geben«, stellte Kratos fest. »Aber ich weiß einfach nicht, welchem Weg ich folgen soll.«

Caleb kam zu ihm zurück und gab ihm einen Becher. Als sich die klammen Hände des Ritters darum schlossen, verbrannte er sich daran, ließ jedoch nicht los. Er hatte schlimmere Schmerzen erlitten. Er erlitt sie in diesem Moment.

»Du weißt, dass auch meine Treue nicht Tethe'alla, sondern den Göttern gilt«, sagte Caleb, als er sich setzte.

»Deswegen bin ich zu dir gekommen«, erklärte der Rothaarige. »Nur du kannst meine Gedankengänge verstehen.«

Erneut nickte der junge Priester und blies etwas Luft in den Becher hinein, um den Tee darin abzukühlen. Dann trank er einen Schluck.

»Ich will ehrlich sein, mein alter Freund«, sagte er schließlich. »So tief es auch Schmerzen mag, ich würde mich nicht für meinen Blutsbruder entscheiden. Er ist auf dem falschen Weg.«

Nun war es an Kratos, schweigend zuzuhören, während er den Tee genoss, der seinen ausgekühlten Körper wärmte.

»Während du Opfer verhindern willst, nimmt er sie bereitwillig in Kauf«, stellte Caleb die schmerzhafte Tatsache fest. »Das ist keine Lösung. Vielleicht gelingt es ihm, sein Volk zu befreien, doch zu welchem Preis? Das Blut tausender Menschen würde auf ewig an seinen Händen kleben, er würde sich versündigen. Ich kenne ihn. Selbst, wenn etwas geschehen ist, dass sein Hass auf die Menschheit geschürt hat, so würde ihn sein Gewissen fürchterlich Plagen. Und eine dauerhafte Lösung ist es nicht. Tethe'alla ist zu stolz, um sich der Rasse zu unterwerfen, die sie als minderwertig ansehen. Eine dunkle Zeit voller Bürgerkriege und Verbrechen würde darauf folgen.«

Kratos nickte.

»Du sprichst meine Gedanken aus«, gab er zu.

»Wenn du auf meinen Rat soviel wert legst werde ich ihn dir geben«, antwortete Caleb. »Stelle dich gegen deinen Bruder und versuche, ihn zur Vernunft zu bringen. Ich denke, dass ist die einzige Möglichkeit, die dir bleibt. Ob es dir auch gelingt, liegt in den Händen der Götter.«

Mit bedrückter Miene setzte der junge Priester hinzu: »Doch Blut, mein alter Freund, wird fließen …«
 

Das Gespräch mit Caleb, welches wir bis zum Morgengrauen führten, half mir, die tiefe Wunde, die Yuan in mein vernarbtes Herz gerissen hatte, ein wenig zu lindern.

Wenige Tage später kehrte ich nach Meltokio zurück und trat vor Avanel. Ich berichtete ihm von den Rebellen und bat ihn inständig, mir den Auftrag zu geben. Er erhörte mein Flehen und übertrug mir die Befehlsgewalt über die gesamte Armee Tethe'allas. Jedoch bürdete er mir auch die Verantwortung auf. Jedes Leben, dass für dieses Vorhaben geopfert werden musste, würde mir zu Schulden stehen.

Ich erinnere mich sehr gut an diesen Tag. Das Licht der Abendsonne war warm, der Wind hatte etwas Tröstendes an sich, als ich aus dem Schloss auf Meltokio herabblickte, in dem Wissen, dass mein Traum, der mir schreckliche Schlachten vorhergesagt hatte, eintreffen würde. Und doch war meine Hoffnung auf Frieden noch immer nicht gestorben. Sie glühte in mir, wie die Glut eines Feuers. Und ich hoffte, dass sie bei meiner nächsten Begegnung mit Yuan aufflammen würde.

Denn ein Augenblick hatte sich in mein Gedächtnis eingenistet.

Als Yuan seine Hand auf meine legte, um mir den Ring zurückzugeben, schlugen unsere Herzen im gleichen Takt.

Wir waren Brüder gewesen.

Für einen kurzen Moment.

Die Macht der Elementargeister

Ja, es geht endlich weiter!

Nach einer langen, inspirationlosen Phase ist hier endlich das leicht angestaubte, siebenundzwanzigste Kapitel von Kratos Life!!!

Ich glaube, ich freue mich bald mehr als ihr, dass ich endlich weitergekommen bin xD

Ich wünsche euch viel Spaß und erwarte mit großer Freude eure Kommentare!
 

*Hor im Nest: Ägyptische Bezeichnung für den Kronprinzen

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Das Licht der Mittagssonne ließ Kratos' Rüstung so hell strahlen wie den glühenden Feuerball selbst. Mit eiligen Schritten, die im gesamten Schloss widerhallten, ging er durch die Gänge des königlichen Palastes. Er war auf dem Weg zum Konferenzraum. Ein bediensteter Halbelf hatte ihn am Sybak-Denkmal aufgesucht und ihm ausgerichtet, dass er augenblicklich dorthin gehen solle; eine Schlacht würde bevorstehen.

Ohne auch nur ans Anklopfen zu denken trat Kratos in den großen Raum hinein, der mit nichts anderem als einem Tisch und vielen Stühlen möbliert war.

»Was ist hier los?«

Avanel, Chrion, Noel und Flavius, sowie einige Generäle waren anwesend und über einen Schlachtplan gebeugt. Als er eingetreten war, hatten alle aufgesehen.

»Sylvarant ist los«, begann Flavius, ihn aufzuklären und schob ihm eine Pergamentrolle über den langen Tisch. Kratos fing sie mit der Geschwindigkeit eines Adlers ab und entfaltete sie.
 

Diese Aufforderung sendet dem meltokionischen Großkönig, sowie seiner Königsgemahlin und seinem Hor im Nest das Königreich von Sylvarant.

Hiermit fordere ich Euch, König Avanel Victorias von Meltokio, dazu auf, Euch am Sonnenuntergang des morgigen Tages vor den Toren Meltokios einzufinden. Dort werdet Ihr, sowie eure Familie, einen schnellen und schmerzlosen Tod erleiden.

Solltet Ihr diese Forderung nicht erfüllen, wird die Armee von Sylvarant über Meltokio herfallen und Euch gewaltsam des Lebens berauben, sowie all jene, die sich uns dabei in den Weg stellen.

Dies geschieht zum Wohle des geknechteten Halbelfenvolkes!

Dies schrieb im Jahre 897 des großen Krieges, Sir Yuan Ka-Fay von Sylvarant, Anführer der Ashyuka und Hauptmann der sylvarantanischen Armee, sowie Günstling seiner Majestät, König Merchon Ambayo von Sylvarant.
 

Kratos biss seine Zähne zusammen. Yuan hatte seine Drohung wahr gemacht.

»Es steht natürlich außer Frage, dass sich der König und seine Familie ausliefert«, sprach ein Mann mittleren Alters aus, den Kratos als den Verteidigungsbeauftragten erkannte. Er war für den Schutz des Königreichs zuständig.

»Das mag auf den ersten Blick selbstverständlich erscheinen …«, meinte der Rothaarige mit ruhiger Stimme. »Jedoch wird es dadurch ein grausames Blutvergießen geben.«

»Wollt Ihr damit etwa sagen, es wäre klüger, den König und seine hochwohlgeborene Familie auszuliefern?«, fragte der Verteidigungsbeauftragte scharf.

»Natürlich nicht«, antwortete Kratos und setzte sich. »Unsere oberste Priorität ist der Schutz der königlichen Familie.«

»Das will ich auch hoffen«, meinte Chrion, der von Tag zu Tag fetter zu werden schien. Kratos war froh, weit weg von ihm zu sitzen, denn er sah, dass er unter seinem Gewand fürchterlich schwitzte.

»Wir müssen uns eine Taktik zurechtlegen«, mischte Flavius sich mit ein. »Ich bin auf der Seite des Hauptmanns, der uns damit sagen wollte, dass wir die Opfer nicht unnötig erhöhen müssen.«

»So geht es mir ebenso«, sagte Noel. »Unsere höchste Priorität sollte der Verteidigung gelten.«

»Seid ihr des Wahnsinns?«, fragte der Verteidigungsbeauftragte. »Sylvarant wird uns einkesseln und belagern!«

»Oder aber die Stadt überrennen und alles und jeden töten, was sich ihnen in den Weg stellt!«, fauchte Flavius und deutete auf den Brief, der vor Kratos lag. Er selbst schwieg vorerst und hörte zu, genau wie Avanel.

»Das wird früher oder später ohnehin passieren«, meinte der Verteidigungsbeauftrage.

»Was sagen uns unsere Spione über die Streitmacht Sylvarants?«, warf Noel die Frage in den Raum.

»Sie sind uns zahlenmäßig unterlegen, jedoch ist ihre Magie nicht zu vergessen«, mischte sich nun der Anführer der Spionageeinheit ein. »Außerdem können sie die Elementargeister beschwören.«

»Nicht mehr alle«, widersprach nun ein weiterer General, den Kratos nicht kannte. »Seit geraumer Zeit wurden Gnome, Luna und Aska nicht mehr gesichtet.«

»Das muss nichts bedeuten«, behauptete der Spion. »Uns ist nichts über einen gebrochenen Pakt bekannt.«

»Ihr seid ja nicht mal in der Lage, die Paktierenden ausfindig zu machen!«, ereiferte sich der Verteidigungsbeauftragte.

»Weil sie durch die Hand des Königs geschützt werden!«, verteidigte sich der Spion. »Es ist unmöglich, ihre Identität herauszufinden!«

»Ausreden!«, behauptete der Verteidigungsbeauftragte.

»Machen Sie es doch besser!«, fauchte der Spion.

»Der reinste Kindergarten …«, dachte Kratos bei sich, mischte sich jedoch immer noch nicht ein. Er dachte nach.

»Meine Herren, ich bitte Sie!«, schlichtete Noel nun. »Wir haben Wichtigeres zu tun, als uns wegen solcher Dinge zu streiten.«

Die beiden Männer schnaubten den jeweils anderen verächtlich an. Flavius wandte sich nun wieder dem Schlachtplan auf dem Tisch zu.

»Sylvarant muss uns über Land erreichen. Der schnellste Weg nach Meltokio beginnt in der Fooji-Bucht«, erklärte Kratos' ehemaliger Ausbilder und zeigte darauf. Sie lag östlich von der Hauptstadt und verdankte ihren Namen den dortigen Ausläufern des Fooji-Gebirges. »Allerdings glaube ich, dass Sylvarant ahnt, dass wir davon ausgehen, weshalb ich dafür bin, die Südseite Meltokios mit unseren besten Einheiten zu bestellen.«

»Und was, wenn sie glauben, dass wir genauso denken?«, warf der Verteidigungsbeauftragte ein.

»Das werden sie nicht. Sie halten uns für so eitel und hochnäsig, dass wir eben diesen Gedankengang übersehen.«

Das Gespräch ging noch eine ganze Weile lang so weiter. Jeder offenbarte seine bevorzugte Strategie, doch keiner kam zu einer Einigung. Nicht einmal, als Flavius versuchte, Kompromisse zu finden. Irgendwann wurde es Kratos zu dumm und er stand auf. Ohne eine Wort zu sagen verließ er den Raum. Alles, was die Verbliebenen zu sehen bekamen, war der flatternde, rote Umhang, den Kratos an seiner Rüstung trug und auf dem das Wappen Tethe'allas prangte.

Kratos' Weg führte ihn zu einem der großen Balkone des Schlosses. Er legte seine Hände auf der Balustrade ab und genoss den frischen Wind, der durch sein Haar wehte. Mit geschlossenen Augen stand er da und lauschte einfach nur dem geschäftigen Treiben Meltokios.

In solchen Momenten erinnerte er sich nur zu oft an die Schlacht von Sybak. Er hatte die Bilder nie vergessen, auch, wenn Yuans Scheintod alles dominierte. Er wollte nicht, dass in Meltokio das Gleiche geschah, wie schon einmal. Vor so vielen Jahren …

»Kratos, was sollte das? Avanel ist außer sich vor Wut.«

»Soll er es sein«, meinte Kratos gleichgültig, als er Flavius' Worte hinter sich vernommen hatte. Sein ehemaliger Ausbilder trat neben ihn und sah wie der Rothaarige auf die Stadt hinab.

»Warst du dabei, als Ifrit die Stadt überfiel?«, wollte der Ritter wissen.

»Nein«, antwortete Flavius. »Ich war damals in Ozette stationiert. Allerdings kam meine Verlobte in dieser Nacht ums Leben.«

»Du warst verlobt?«, fragte Kratos. Flavius nickte.

»Aiko war ihr Name. Eine wunderschöne und verhältnismäßig kluge Frau. Ich habe sie nicht geliebt, aber ich hatte sie gern.«

Einen Augenblick lang schwiegen die beiden Krieger. Dann ergriff Kratos wieder das Wort.

»Eure Taktik ist unbrauchbar«, begann er. »Ich kenne Yuan und er kennt die Königsfamilie. Er weiß, dass wir nicht dumm sind.«

»Worauf willst du hinaus?«, wollte Flavius wissen.

»Sylvarant wird von allen Seiten angreifen. Unsere einzige Chance ist es, sie in einen Hinterhalt zu locken.«

Kratos' ehemaliger Ausbilder sah den Rothaarigen lange an.

»Er war dein Freund …«, stellte er fest.

»Ja, das war er …«, nickte der Ritter. »Und doch sind wir jetzt Feinde. Und du sagtest uns selbst, dass Feinden keine Gnade entgegenzubringen ist.«

Kratos wandte sich zum Gehen, doch Flavius hielt ihn noch einmal auf.

»Warum hast du dich nicht für ihn entschieden, wo du die Königsfamilie und deinen Stand als Hauptmann so sehr hasst?«

Der Rothaarige blieb stehen, drehte sich jedoch nicht um, als er antwortete.

»Weil es meine einzige Chance ist, ihn zu retten.«
 

Das warme Licht der Abendsonne fiel auf Kratos' Gesicht. Er trug alle Insignien seiner Macht. Die goldene Rüstung, den roten Umhang, den Helm mit Phönixfeder und sein Schwert, welches eine goldene Klinge besaß, jedoch härter war als Stahl.

Hocherhobenen Hauptes und stolz auf Silabéls Rücken thronend, wartete er nun schon seit drei Stunden vor den Südtoren Meltokios auf seinen Blutsbruder. Und er hatte sich nicht einen Millimeter vom Fleck bewegt.

Schließlich sah er ihn.

Erst war es nur ein kaum definierbarer Fleck am Himmel. Doch je näher er kam, desto deutlicher wurde, dass es sich um drei Flugdrachen handelte. Yuan ritt den vordersten. Seine Schuppen waren himmelblau, sodass man ihn nur sehr schwer ausmachen konnte. Er selbst trug eine Rüstung, die aus dem gleichen Metall gefertigt war wie das Amulett der Rebellen. Auf seiner Brust prangte das Wappen von Sylvarant, auf seinem Rücken ruhte sein Axtschwert.

Ohne lange zu zögern landete Yuan. Seine beiden Gefolgsleute hielten gebührenden Abstand. Das war eine Sache, die nur den höchsten Instanzen vorbehalten war.

Jedoch sah Kratos auch, wie sich am Horizont eine dunkle Linie bildete. Die Armee von Sylvarant kam, wie er es vorhergesagt hatte, von allen Seiten. Doch auch Kratos wurde von Flavius und Noel begleitet. Es war ein ungeschriebenes Gesetz des Krieges, dass die erste Begegnung zweier Armeen ausschließlich von ihren Anführern ausgetragen wurde. Eine letzte Chance, sich zu einigen. Gelang dies nicht, durften sich beide zurückziehen, ohne Angst zu haben, rücklings erstochen zu werden. Waren beide zurück zu ihrer Armee gekehrt, durfte der Angriff ausgerufen werden.

»Kratos Erebos von Aurion, Hauptmann der königlichen Garde Tethe'allas und Befehlshaber über die gesamte Armee des Königreiches«, sprach Yuan aus, als er auf seinen Blutsbruder zuging. »So schnell sieht man sich wieder.«

»In der Tat«, antwortete Kratos mit ruhiger Stimme.

»Der König wird sich also nicht ausliefern«, stellte Yuan fest. »Stattdessen hat er dich geschickt.«

»So ist es«, bestätigte Kratos.

Yuans Blick war eiskalt.

»Nun gut«, sagte er. »Dann stelle ich dir ein letztes Mal die Forderung des Königreiches von Sylvarant.«

Der stolze Halbelf baute sich zu seiner vollen Größe auf und sah seinen Blutsbruder direkt an. Seine folgenden Worte sprach er voll Inbrunst und mit allem Volumen seiner Stimme.

»Lass mein Volk gehen!«

Kratos erwiderte den Blick seines Blutsbruders, sein Blick jedoch zeigte nur Mitleid und Trauer. Seine Stimme, mit der er antwortete, verriet dies jedoch nicht.

»Nicht auf diesem Wege!«

Schweigen trat ein. Ein eiskaltes Schweigen, das nichts als Feindseligkeit in sich verbarg.

»Ist das dein letztes Wort?«, wollte Yuan wissen.

»Es ist das Wort des Königs«, blieb Kratos neutral.

»Dem du natürlich folgst wie ein Hund«, antwortete der Blauhaarige mit finsterem Blick. »Nun gut. Wie du willst.«

Yuan schnipste in die Finger. Einer seiner Begleiter hob seine Hand und schoss einen roten Feuerball in die Luft. Kratos nickte Flavius zu, der daraufhin einen brennenden Pfeil in die Luft schoss. Das Zeichen für die Armeen, dass keine Einigung getroffen wurde. Die beiden Kontrahenten gingen rückwärts zu ihren Verbündeten zurück – im Krieg drehte niemandem seinem Gegner den Rücken zu.

Und dann geschah etwas, das in die Kriegsgeschichte eingehen sollte.

»Diener von Mutter Erde!«, ertönte eine Stimme, die trotz ihrem kindischen Klang sehr laut war. »Beweise Ihnen, wie sehr sie sich versündigen!«

Ein Knacken ertönte, welches das Brechen von Knochen an Schaurigkeit noch übertreffen konnte. Kratos und Yuan retteten sich in letzter Sekunde mit einem Sprung davor, in die unendlichen Tiefen des Abgrundes zu stürzen, der sich zwischen ihnen auftat. Der Rothaarige wollte nicht glauben, was er dort sah. Die Erde zerriss regelrecht vor seinen Augen. Ein unheimliches, rotes Licht drang daraus hervor. Es war, als hätte sich das Tor zur Hölle aufgetan. Geistesgegenwärtig sah er in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war, doch er erblickte niemanden.

»Rückzug!«

Der Hauptmann der tethe'allanischen Armee sah zu Yuan, er eben dieses magische Wort ausgerufen hatte. Sein Blutsbruder hatte sich auf seinen Drachen geschwungen und erhob sich mit dem gleichen in die Lüfte. Jedoch sah er verächtlich auf Meltokio hinab.

»Ich werde meinem Volk die Freiheit ermöglichen! Koste es, was es wolle!«

Kratos sah seinem Blutsbruder noch lange nach, während Flavius und Noel versuchten, die aufkommende Panik der Bewohner wegen des Erdbebens in Schach zu halten …

Der Rothaarige ahnte, das dies nur der Anfang gewesen war.
 

Die sonst so kalten Steine der meltokionischen Stadtmauer waren unter Kratos Händen schon warm geworden, so lang stand er nun schon dort und blickte auf den Abgrund, der von einigen Arbeitern mit einer Brücke versehen wurde. Sie wollten ihn mit Wasser füllen, um Sylvarant den Angriff zu erschweren. Kratos aber bedachte etwas anderes.

Wer besaß die Macht, Gnome zu beherrschen? War es wirklich möglich, dass ein Kind eine solche Macht besaß? War es überhaupt ein Kind gewesen? Und warum hatte Yuan deswegen den Rückzug befohlen? Stand dieses Kind vielleicht nicht auf seiner Seite, wenn es denn eines war?

Doch vor allem gingen Kratos Yuans letzte Worte durch den Sinn.

»Koste es, was es wolle …«, rezitierte er es in Gedanken. »Zu was bist du bereit, mein Bruder?«

Gedankenverloren blickte er in die Sterne. Er erinnerte sich an die Legende, die sein Großvater ihm erzählt hatte. Nach Rat suchende Wesen würden Hilfe bekommen. Doch wie? War es der Traum gewesen, den er gehabt hatte? Alles, was darin vorkam, war bisher eingetroffen. Bis auf diese eine, blutige Schlacht, die er gesehen hatte. Er wollte sie zwar verhindern, doch er hatte nicht die geringste Ahnung, wie er das bewerkstelligen sollte.

Seufzend wandte er sich ab. Es brachte nichts, über Dinge zu grübeln, die er nicht ändern konnte. Während sich sein roter Umhang im Nachtwind wallte, kehrte er zum Palast zurück. Die Straßen Meltokios waren wie ausgestorben. Viele waren zu ferneren Verwandten aufs Land geflüchtet, da der Krieg sie zu sehr mitnahm. Er verstand es nur zu gut. Wie gern wäre er einfach auf Silabéls Rücken davongeritten. Am liebsten zu seinem Großvater, seinem einzigen, noch lebenden Verwandten.

Tief in seine Gedanken versunken, kehrte er ins Schloss zurück. Ohne große Umwege betrat er seine Gemächer, wo er bereits erwartet wurde.

»Flavius«, entfuhr es ihm, als er seinen ehemaligen Ausbilder in einem der Kaminsessel entdeckte. »Was machst du hier?«

»Auf dich warten«, antwortete er ruhig. »Unsere Spione haben herausgefunden, was los ist.«

Stirnrunzelnd setzte sich Kratos in den noch freien Sessel.

»Und was?«, wollte er wissen.

»Es gibt interne Streitigkeiten unter den Rebellen«, berichtete er. »Irgendeiner hat die Paktierenden von Gnome und Luna dazu gebracht, ihren Eid zu brechen. So ist Sylvarant zwei mächtigen Verbündeten beraubt. Allerdings – wie wir ja gesehen haben – scheint der neue Herr der beiden Elementargeister nicht auf unserer Seite zu stehen.«

»Kunststück«, meinte Kratos. »Ausschließlich Wesen mit Elfenblut in ihren Adern beherrschen die Kunst der Beschwörung.«

»Und da sich die Elfen aus allem heraushalten, kann es eigentlich nur ein Halbelf sein«, schlussfolgerte Flavius nickend.

»Und was bringt uns diese Erkenntnis?«, fragte der Rothaarige.

»Nicht viel. Yuan wird sehr bald wieder angreifen …«

Der Ritter seufzte schwer und blickte in den Kamin. Warum nur?

»Du leidest, mein Freund«, meinte sein ehemaliger Ausbilder nach kurzem Schweigen.

»Das tut nichts zur Sache«, sagte Kratos entschlossen und erhob sich. »Danke, dass du mir das berichtet hast. Ich würde jetzt gern ein wenig Schlaf finden.«

Flavius verstand den Rauswurf und erhob sich.

»Nun gut … jedoch will ich eine Warnung an dich aussprechen, Kratos.«

Der Rothaarige blickte in die stahlgrauen Augen, die er noch immer respektierte.

»Sollte ich herausfinden, dass du Tethe'alla mit deinen Idealen schaden solltest, werde ich nicht zögern, es dem König zu berichten.«

»Dessen bin ich mir bewusst«, blieb der Ritter ruhig. »Deine Treue ist lobenswert. Ich werde versuchen, ihr nachzueifern.«

»Ich vertraue dir, Kratos«, fügte Flavius noch hinzu. »Also enttäusche mich nicht.«

Innerlich schnaubte der Rothaarige wütend, doch er beließ es dabei. Als Flavius gegangen war, zog er sich um und suchte sein Bett auf. Das erste Mal in seinem Leben wünschte er sich, eine Frau an seiner Seite zu haben, die ihn von seinen Sorgen befreien konnte. Er wollte vergessen.

Vergessen, dass sein Bruder nun sein Feind war.
 

Flavius ahnte nicht, wie sehr ich litt. Niemand konnte das ahnen.

Die darauffolgenden Wochen verliefen ungewöhnlich ruhig. Kein Angriff kam, keine Forderungen wurden gestellt. Doch dafür geschah etwas anderes.

Zu Beginn von Yuans Kriegserklärung war es Sommer geworden. Und dieser Sommer erreichte Rekordtemperaturen, wie man sie sonst nur in der Wüste fand. Fünfzig Grad im Schatten war die alltägliche Temperatur. Diese extreme Hitze hatte fatale Folgen für ganz Tethe'alla. Das Vieh verendete, die Ernte verdorrte. Viele Menschen starben, insbesondere die Älteren. Jedoch auch Soldaten, die in ihrer Rüstung einen Hitzeschlag bekommen hatten. Andere kamen in den vielen Feuern um, die durch die Trockenheit entstanden. Flüsse und ganze Seen trockneten aus. Wasser wurde zu einer kostbaren Rarität.

Niemand konnte sich erklären, woher diese Rekordhitze stammte. Allein ich ahnte den Grund.

Es war Yuans Werk.
 

Kratos lief der Schweiß in Bächen herunter. Seit nunmehr sieben Soldaten an einem Hitzeschlag gestorben waren, hatte Avanel die Kleiderordnung der Armee vorerst aufgehoben. Der Rothaarige hätte dem König dafür am liebsten die Füße geküsst. Allerdings musste er, da er der Hauptmann war, die Festtagskleidung seines Standes tragen, um eben diesen aufrecht zu erhalten. Diese Kleidung bestand aus einem schwarzen Oberteil, das man unter der eigentlichen Pracht trug: Ein weißes Kostüm, das man durch seine vielen Schnüre kaum allein an- oder ausziehen konnte.

Der Rothaarige saß zusammen mit den Räten, sowie Avanel und Chrion im Konferenzsaal. Das kühle Wasser, das sie bekamen, war selbst für Kratos' sonst so verwöhnten Gaumen eine wahre Köstlichkeit.

»Ich kann nicht noch mehr Einheiten für die Verteilung des Wassers abstellen«, sagte er gerade. »Ich muss wenigstens die Elite hier stationiert haben, für den Fall, dass Sylvarant diese Hitze für einen Angriff ausnutzt.«

»Das wäre Selbstmord«, behauptete Flavius. »Es würden mehr an der Hitze sterben als durch ein Schwert.«

»Die Halbelfen haben Magie. Sie können sich anderweitig Kühlung verschaffen«, behauptete der Rothaarige.

Avanel seufzte. Eine Geste, die er sich nur selten gönnte, weshalb restlos jeder zu ihm blickte.

»Euer Organisationswille in allen Ehren, Hauptmann, jedoch bezweifle ich sehr stark, dass Sylvarant angreift. Seit Monaten haben sie sich nicht gerührt.«

»Es ist die Ruhe vor dem Sturm«, sprach Kratos seine Vermutung aus. »Mit Verlaub, Eure Majestät, aber ich glaube noch immer, dass dieser Rekordsommer Ifrits Werk und somit die Taktik von Sylvarant ist, Tethe'alla zu schwächen.«

»Selbst, wenn es so ist, können wir das Volk nicht verdursten lassen«, meinte Avanel. »Wie viele Soldaten sind noch in Meltokio stationiert?«

»Dreitausend«, antwortete der Hauptmann. »Das ist verschwindend gering. Ich kann beim besten Willen keine mehr abstellen.«

»Fünfhundert weitere Soldaten, um Wasser zu verteilen«, verlangte Avanel und erhob sich. »Das ist mein letztes Wort.«

Mit einer Mischung aus Wut und Entsetzen sah Kratos Avanel hinterher. Schließlich schnaubte er und stand auf, um den Raum zu verlassen und seinen Untergebenen den Befehl ihres Königs auszurichten.

Wenn es so weiterging, wäre es für Yuan ein Kinderspiel, Tethe'alla einzunehmen. War Kratos denn der Einzige, der ahnte, dass dieser Sommer der Anfang einer zermürbenden Taktik war?
 

Die Zeit verging, ohne, dass Sylvarant sich zeigte oder meldete. Doch Kratos und seine wenigen Eliteeinheiten blieben wachsam und auf der Hut. Er schickte jeden Tag Spähertrupps in alle Himmelsrichtungen aus und ließ die Ländereien rund um Meltokio observieren. Doch es war nichts zu finden.

Laut dem Kalender neigte sich der Sommer allmählich dem Ende zu, doch die Hitze verblieb unverändert auf trietischen Ausmaßen. Kratos, der den Sommer nie wirklich gemocht hatte, hatte eine tiefe Abneigung gegen diese Jahreszeit entwickelt. Nicht zuletzt, weil sein gebräunter Körper noch mehr Verehrerinnen anlockte als gewöhnlich.

Es war Nachmittag, als der Rothaarige zusammen mit Flavius auf dem Hof des schlossinternen Forts trainierte, um ihn Form zu bleiben. Letztendlich verlangte Flavius eine Pause. Keuchend lehnte er sich gegen eine der Wände.

»Diese Hitze bringt mich um den Verstand …«, meinte er. »Ich würde mein Augenlicht für etwas Regen geben.«

»Achte darauf, was du dir wünscht«, antwortete Kratos. »Es könnte in Erfüllung gehen.«

»Was soll schon passieren?«, wollte Flavius wissen. »Ein plötzlicher Hagelsturm, der mir die Blindheit beschert, weil ich meine Nase zu hoch getragen habe?«

Der Rothaarige schnaubte belustigt. Gelacht hatte er seit Jahren nicht mehr.

»Ich warne dich lediglich«, sagte er nur.

Und dann geschah etwas, das in der letzten Zeit den Seltenheitswert von Gold erreicht hatte: Wind kam auf. Kratos hob sein Gesicht und genoss die ungewöhnlich kühle Brise.

»Ein Segen der Götter …«, murmelte Flavius, der es ihm gleichtat.

Der Rothaarige nickte.

»An welch simplen Dingen man sich erfreut, wenn man sie lange vermissen musste«, sagte er und öffnete seine Augen; die ihm bald ausfielen.

»Wolken?«, entfuhr es ihm. Flavius blickte nun ebenfalls mit geöffneten Augen in den Himmel.

»Tatsächlich … und nicht gerade wenige.«

»Das sind Gewitterwolken!«, stellte Kratos fest. »Und so groß und dunkel wie sie aussehen, tragen sie Regen mit sich …!«

Die beiden Soldaten sahen einander teils verwirrt, teils erfreut an. Keine fünf Minuten später vielen die ersten Regentropfen auf die aufgesprungene Erde.

»Es regnet!«, rief Flavius aus. »Die Götter haben mein Flehen erhört!«

»Dann solltest du Schutz suchen. Immerhin hast du ihnen dein Augenlicht versprochen«, scherzte Kratos, der das erste Mal seit Langem ein Lächeln zustande brachte. Selbst, als der Regen stärker wurde, blieb er stehen und genoss das kühle Nass auf seiner Haut. Erst, als die ersten Blitze und Donnerschläge sich näherten, suchte auch er Schutz im Schloss.

In seinen Gemächern angekommen, zog er sich kurzerhand aus und begann, sich abzutrocknen, da er bis auf die Haut durchnässt war. Das Handtuch um seine Hüfte geschlungen, ging er an eines seiner Fenster und öffnete es. Es stürmte heftig und erneut wehten ihm Regentropfen entgegen. Er fühlte sich im Moment wie eine ausgetrocknete Pflanze und genoss jeden einzigen Tropfen als wäre es das Kostbarste auf der Welt.

Gerade, als er dachte, dass Yuan seine Meinung vielleicht doch geändert hatte, verlor sich seine Freude wieder. Nein. Dieser plötzlich aufgekommene Sturm konnte nichts Gutes verheißen.

Es war nur der nächste Teil von Yuans Plan …
 

Wie ich es geahnt hatte, hörte es nicht auf zu regnen.

Die aufgekommene Euphorie über den ersehnten Regen verwandelte sich nur all zu schnell in Melancholie. Doch die erdrückende Stimmung, die die Stürme mit sich brachten, waren bei Weitem nicht das Schlimmste.

Die völlig ausgetrocknete Erde konnte die Regenmassen nicht schnell genug aufnehmen, woraufhin Überschwemmungen folgten, die einmal mehr Menschenleben kosteten. Ganze Stadtteile standen unter Wasser und konnten teilweise nur noch mit Booten passiert werden. Und dort, wo das Wasser nicht hingelangte, lag meterdicker Schlick und Schlamm auf den Straßen. Außerdem wurde das Regenwasser von den vielen Leichen verseucht und eine schreckliche Epidemie entstand, von der auch die Armee und die königliche Familie nicht verschont blieb, da selbst das Trinkwasser mit der Zeit ungenießbar wurde.

Lediglich der Slum der Halbelfen war wie von Zauberhand nicht von den schrecklichen Überschwemmungen betroffen. Zwar viel auch dort der Regen, doch die Magie von Undine, dem Elementargeist des Wassers, schadete ihnen nicht so sehr wie dem Rest der Bevölkerung Meltokios.

Und meine Soldaten kehrten erneut nicht ins Fort zurück, da sie gebraucht wurden, um Dämme zu bauen und Menschen zu retten, während ich, von der Krankheit des verseuchten Wassers gebeutelt, nur zusehen konnte.

Und langsam aber sicher schwanden meine geschwisterlichen Gefühle für Yuan. Mein Bruder, so dachte ich mir, wäre zu solchen Gräueltaten nicht fähig gewesen …

Das legendäre Mizuho

ICH GLAUBS NICHT!!!

Nach über zwei Monaten gibt es endlich ein neues Kapi!!! >-<

Es tut mir so derbst leid, Leute, das glaubt ihr gar nicht. Ich hoffe, es gefällt euch trotzdem noch.

Bleibt mir gewogen!

Eure Baldura

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Schmerzen gehörten inzwischen so zu Kratos' Leben wie der Atem seiner Lunge.

Die Seuche, die das Trinkwasser inzwischen mit sich brachte, war septikämisch, was nichts anderes bedeutete, als das sie das Blut und somit den ganzen Körper vergiftete. Daher hatte sie auch ihren Namen: Septikämie.

Die Krankheit hatte Kratos schwer gezeichnet. Er war unglaublich mager, seine ganze Haut war mit eitrigen Beulen übersät. Sein rostrotes Haar fiel ihm büschelweise aus, an seinen Gelenken waren entzündete Ausschläge entstanden.

Die menschlichen Heiler Meltokios arbeiteten eng mit den wenigen Halbelfen zusammen, die Heilmagie beherrschten, um endlich ein Serum gegen diese Krankheit zu finden, die inzwischen halb Tethe'alla plagte. Die einzige Linderung war bisher eine Salbe aus magischen Kräutern, die die Beulen etwas eindämmte und den Juckreiz, den sie verursachten, verminderte.

Genau diese trug der geschwächte Krieger gerade auf seine Haut auf. Das Brennen der Salbe ignorierte er. Zu angenehm war es, sich nicht mehr ständig Kratzen zu müssen. Währenddessen dachte er nach.

Er befürchtete, dass Sylvarant sehr bald einen Angriff auf Meltokio starten würde. Seine gesamte Armee war von der Septikämie so geschwächt, dass sie der drohenden Übermacht der Halbelfen nichts mehr entgegenzusetzen hatte. Er zerbrach sich schon seit Tagen den Kopf darüber, wie er eben dies verhindern konnte, doch sein kranker Körper verweigerte ihm das logische Denken. Allerdings wusste er, dass es noch Hoffnung gab: Die Division des Origin, die tief verborgen in den unterirdischen Gewölben des Schlosses ihr Dasein fristete. Es waren Krieger, die Magie einsetzen konnten und doch keine Halbelfen. Er wusste nichts Genaues über sie. Doch dies war der letzte Funke Hoffnung, den er noch besaß.

Das Klopfen seiner Tür riss ihn jäh aus seinen Gedanken. Schmerzlaute unterdrückend erhob er sich und öffnete. Ein bediensteter Halbelf stand vor ihm. Wie alle Halbelfen war er nicht von der Krankheit betroffen, die den Menschen schleichend den Tod brachte.

»Was ist?«, fragte Kratos' brüchige Stimme.

»Mein tiefes Beileid begleitet diese Nachricht, Herr«, sagte der Junge und verbeugte sich. »Der ehrenwerte Krieger Flavius Victorius von Albion nähert sich unweigerlich der Erlösung. Er bittet Euch, zu ihm zu kommen, um ihn in seinen letzten Atemzügen beizustehen.«

Die Nachricht, dass Flavius im Sterben lag, vertrieb das letzte Bisschen Farbe aus Kratos' hagerem Gesicht. Geistesabwesend nickte er.

»Ich komme.«

Mit diesen Worten schloss er die Tür und griff nach seinem Oberteil. Es schmerzte auf seiner wunden Haut, doch auch das ignorierte er. Schließlich trat er aus der Tür und ließ sich von dem Halbelfen in Flavius' Gemächer führen.

Sein ehemaliger Ausbilder sah noch schlimmer aus als er selbst. Er war noch magerer, seine Haare noch fahler, seine Beulen noch eitriger. Niemand anderes als Mesah, der Arzt des Forts, übernahm den Dienst des Priesters, auf den jeder menschlicher Sterbender ein Anrecht hatte. Weihrauch lag schwer in der Luft und erschwerte Kratos das Atmen. Doch erneut ignorierte er dieses kleine Leiden, wie so viele.

Mit einem Blick, der den Weltuntergang hätte verkünden können, setzte sich der Rothaarige neben seinen ehemaligen Ausbilder, der ihm mehr Vater gewesen war, als Erebos es je hätte sein können.

»Kratos …«, hauchte Flavius schwach und streckte seine zitternde Hand nach seinem ehemaligen Schützling aus. »… du bist gekommen …«

»Natürlich bin ich das …«, antwortete der Hauptmann und ergriff die Hand des Sterbenden. »Den letzten Wunsch eines Menschen sollte man nicht unerfüllt lassen.«

Flavius schmunzelte müde.

»Du hast dich verändert, Kratos …«, bemerkte der gebürtige Ozetter. »Dein Herz … öffnet sich nicht mehr für … andere Menschen …«

»Doch, das tut es«, wiedersprach der Rothaarige.

»Nein … du … fürchtest dich vor weiteren … Enttäuschungen …«

Der Rothaarige schwieg. Er wusste nicht, wie er dem wiedersprechen konnte, ohne zu lügen.

»Du warst … ein guter Schüler …«, begann Flavius. »Du warst voller Eifer … mit der Zeit hast du eine … unglaubliche Selbstdisziplin entwickelt … du warst zäh … und was noch viel wichtiger ist … du hättest dein Leben für deine Kameraden … gegeben …«

»All dies hast du mir beigebracht …«

»Diese Dinge … kann man niemandem beibringen …«, behauptete der Sterbende. »Ich konnte sie nur … in dir wecken …«

»Das hast du geschafft«, antwortete Kratos, wobei er seine Stimme so ruhig und beruhigend hielt, wie er es vermochte. Flavius hob nun seine freie Hand und legte sie auf jene von Kratos, die bereits seine andere festhielt. Es war ein unglaublicher Kraftakt für den sterbenden Mann. Doch ein Krieger seiner Art kämpfte selbst noch im Tode.

»Versprich … mir etwas …«, bat er, wobei sein Atem immer schwerer wurde. »Lass' nicht zu … dass dein Bruder … diesen Fehler begeht … rette ihn … und Tethe'alla …«

Die Augen von Flavius flehten seinen ehemaligen Schützling regelrecht an. Kratos' Magen verkrampfte sich. Wie sollte er das fertigbringen? Er umklammerte die Hand seines letzten, lebenden Freundes fester.

»Das kann ich dir nicht versprechen«, sagte er leise. »Aber ich gebe dir mein Ehrenwort, dass ich alles in meiner Macht stehende dafür tun werde, um diesen Wunsch zu erfüllen.«

Flavius eben noch flehender Blick verwandelte sich in ein friedliches Lächeln. Er ließ seine zweite Hand wieder neben sich gleiten.

»Das … genügt mir …«, sagte er. »Nun … kann ich in Frieden gehen …«

Kratos schluckte seine Tränen herunter.

»Bitte … abtreten zu dürfen … Sir …«, hauchte Flavius mit seiner letzten Kraft. Der Rothaarige konnte nicht mehr. Die ersten Tränen bahnten sich ihren Weg über seine eingefallenen Wangen.

»Erlaubnis erteilt …«, antwortete er schweren Herzens. Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, spürte er, wie der Druck von Flavius' Hand nachließ.

Er war gegangen.

Weinend und voller Trauer schloss Kratos die Augen seines ehemaligen Ausbilders, welche bereits das Jenseits hinter den Sternen erblickten. Dann faltete er seine Hände und legte seine Stirn darauf. Ein tiefes Schluchzen durchfuhr seinen ausgemergelten Körper. Mesah bedachte den kranken Kämpfer mit mitleidigen Blicken.

»Schenke dem Totengeist keinen See«, sagte er mit seiner sanften, tiefen Stimme. »Das Spiegelbild wird Flavius' Geist fesseln.«

Kratos verstand die Aufforderung, nicht um Flavius zu trauern. Er atmete tief durch, was jedoch ein Fehler war. Ein heftiger Hustenanfall schüttelte seinen Körper. Der Rothaarige griff nach seinem Taschentuch, um damit den Auswurf abzufangen. Er war schon seit einigen Tagen blutig, doch dieses Mal war es nicht nur Blut. Dass Mesah das sehr genau gesehen hatte, bemerkte der Trauernde nicht.

»Erfülle dein Herz mit Freude, auch, wenn es dir schwerfällt«, sagte der Heiler. »Flavius ist nun an einem besseren Ort.«

Kratos antwortete nicht, jedoch weinte er auch nicht mehr. Mesah trat zu ihm und legte eine Hand auf seinen Rücken. Das wärmende Gefühl des heilenden Manas bemerkte der Rothaarige nicht.

»Du bist ein kluger Mann, Kratos«, fuhr er fort. »Lasse nicht zu, dass die Trauer deinen Verstand vernebelt. Lasse Flavius' letzten Wunsch in dein Herz, sodass er zu deinem eigenen wird. Rette deinen Bruder und finde die friedlichste Lösung für diesen Krieg.«

»Aber wie …?«, fragte Kratos. »Die einzige Möglichkeit wäre, die Paktierenden ausfindig zu machen und Sylvarant seiner größten Macht zu berauben. Erst dann werden sie bereit sein, Frieden zu schließen.«

»Denke nach, mein Sohn«, sprach Mesah, dessen Stimme verdächtig brüchig wurde. Doch Kratos war noch so sehr von Flavius' Tod mitgenommen, dass er es nicht bemerkte. »Es gibt jemanden, der dir helfen kann.«

»Und wer soll das sein?«, fragte der Rothaarige mit leerem Blick.

»Hast du jemals etwas von Mizuho gehört?«

Kratos schnaubte.

»Das geheime Königreich des Goldes, dessen Bewohner es verstehen, mit den Schatten zu verschmelzen …«, rezitierte er. »Eine Legende. Nichts weiter.«

»Verschmähe die alten Sagen unserer Vorfahren nicht«, sagte Mesah. »Mizuho und seine Bewohner verbergen sich in den Tiefen des Gaoracchia-Waldes, wo sie nur jene zu finden vermögen, die reinen Herzens und guten Willens sind.«

»Ich habe kein reines Herz mehr …«, antwortete der hoffnungslose Krieger.

»Aber du besitzt einen guten Willen und einen feinen Sinn für Gerechtigkeit. Geh', Kratos. Geh' und suche nach Mizuho. Seine Bewohner werden dir helfen können.«

Obwohl er nicht wusste, warum, überkam den Rothaarigen eine Welle neu erwachender Kraft. Schließlich erhob er sich.

»Du hast Recht, Mesah«, sagte er dann. »Ich werde gehen. Es ist besser, als tatenlos zuzusehen, wie beide Königreiche zu Grunde gehen.«

Mesah lächelte.

»Tu das. Meine besten Wünsche begleiten dich.«

Kratos nickte dem alten Halbelfen mit einem dankbaren Lächeln zu und warf noch einen letzten Blick auf Flavius' Leichnam.

»Ruhe in Frieden, mein Freund …«

Damit verließ er das Zimmer. Mesah sah ihm nach.

Dass der alte Halbelf wenige Stunden später ebenso verstarb, sollte Kratos erst nach seiner Rückkehr erfahren.

Und den Grund seines Todes, nämlich dass er dem Krieger fast sein gesamtes Mana gegeben hatte, um ihm zu Heilung und neuer Kraft zu verhelfen, nahm Mesah mit in sein Grab …
 

Ich brach noch am selben Tag auf.

Von neuer Kraft beflügelt und von der Septikämie fast gänzlich geheilt, machte ich mich erneut auf den Weg in den Gaorrachia-Wald, auf die Suche nach dem verschollenen Königreich, um das sich so viele Legenden rankten.

Von meinen beiden letzten Gefährten, Silabél und Noishe, begleitet, streifte ich durch den dunklen Forst. Er war riesig, doch das war mir gleich. Ich ließ mich von meinem Gefühl leiten, das mich bisher noch nie enttäuscht hatte.

Und es sollte mir einmal mehr helfen.

Wenn auch auf eine sehr eigene Art und Weise.
 

Die krallenbesetzten Pranken Silabéls versanken bis zur Hälfte im Schlamm. Auch dieser Ort wurde von den Regengüssen heimgesucht.

Kratos hatte sich in einen Regenmantel eingewickelt, der ihn vor den gießenden Wassermassen schützte. Einzig und allein Noishe, der irgendwo über den Wolken hinter ihnen herflog, blieb trocken.

Er war nun schon drei Tage unterwegs und hielt sich strikt an die Karte des Waldes. Sie war zwar nicht vollständig – und er suchte die fehlenden Gegenden besonders gründlich ab – aber sie sorgte dafür, dass er sich nicht verlief.

Während er weiter seinen Weg studierte und nachzeichnete, ging Silabél weiter. Im ersten Moment fiel dem Rothaarigen nicht auf, dass der Regen allmählich nachließ. Doch als ihm keine Wassertropfen mehr ins Gesicht fielen, sah er auf.

Der Teil des Waldes, indem er sich jetzt befand, war so dicht bewachsen, das selbst der Regen keinen wirklichen Durchlass fand. Nur an wenigen Stellen bildeten sich kleine Wasserfälle.

Und eben durch diesen dichten Bewuchs, wurde es zunehmend dunkler. Der Krieger holte die Laterne hervor, die er wie so vieles im Rucksack seines Großvaters verstaut hatte und versuchte, sie mit einem Streichholz zu entzünden; doch sie waren nass geworden.

Kratos grummelte in sich hinein und versuchte es hartnäckig weiter. Doch letztendlich gingen ihm die Streichhölzer aus.

»Feuer?«, fragte eine tiefe Stimme und ein Windzug, der bestialisch nach Verwesung stank, wehte dem Krieger entgegen.

Er wollte gerade antworten, als ihm einfiel, dass er allein war.

Langsam drehte er seinen Kopf in die Richtung der Stimme.

Vor ihnen stand ein pechschwarzes Skelett, das ungefähr so groß war wie die Bäume des Waldes. Die leeren, dunklen Augenhöhlen und die beiden großen Hörner an seinem Kopf erinnerten Kratos an eine Zeichnung des Teufels in religiösen Schriften. Aber die vier Arme, von denen jeder ein Schwert in der Hand hielt, lenkten ihn gerade zu sehr ab, als dass er sich über die Herkunft dieses Monsters hätte Gedanken machen können.

»Silabél, lauf!«

Das Drachenweibchen reagierte sofort und preschte davon. Der Rothaarige presste sich an ihren Leib, um so wenig Widerstand wie möglich zu bieten, doch der Fluchtversuch scheiterte. Wenige Schritte des Ungetüms reichten, um ihn einzuholen. Es rammte eines der Schwerter in den Boden und Silabél konnte gerade noch rechtzeitig anhalten, um nicht in die Schneide zu laufen.

Kratos riss sich den Regenmantel vom Leib, zog sein Schwert und sprang gekonnt von der fortlaufenden Silabél. Seinen Sturz fing er mit einer Rolle ab. Wenn Flucht unmöglich war, musste er kämpfen.

Ehe er sich versah, griff ihn das Monster an. Das erste Schwert rammte es in genau die Stelle des Bodens, wo Kratos vor einer Sekunde noch gestanden hatte. Der Schwertkämpfer ging seiner altbewährten Taktik nach: Solange nicht angreifen, bis man die Schwachstelle kennt.

Das schwarze Skelett jedoch schien keinen wunden Punkt zu haben. Sein skelettierter Körper gab einen leicht metallischen Glanz von sich. Folglich ahnte Kratos, das ihm gewöhnliche Schwerthiebe nur wenig oder gar nichts ausmachten.

Während er den Angriffen des monströsen Untoten auswich, arbeitete sein Verstand auf Hochtouren. Doch so sehr er sich auch anstrengte, er konnte nichts ausmachen, das ihm als Schwachstelle dienen könnte.

Immer und immer wieder wich er den Hieben des Skelettes aus, doch mit zunehmender Zeit wurde er müde. Sein Körper war noch immer nicht völlig genesen und der lange Ritt durch den Regen hatte ihn geschwächt. Sein Feind jedoch war unerbittlich. Mit all seinen von der Hölle gegeben Kräften versuchte er, Kratos' Blut zu vergießen.

Urplötzlich stürzte niemand anderes als Noishe durch die Baumkronen und lenkte die Aufmerksamkeit des Monsters auf sich, damit sein Freund sich erholen konnte. Wie wildgeworden pickte er mit seinem harten Schnabel auf das Höllenwesen ein und kratzte mit seinen rasiermesserscharfen Krallen auf dessen Knochen.

Kratos rappelte sich auf, sein Schwert fest in der Hand. Sein von der Septikämie noch immer geschwächter Körper rebellierte gegen die Anstrengung, doch der Rothaarige ignorierte alles, was ihn im Moment schwächen könnte.

Noishe schrie erneut. Und der Rothaarige verstand, dass er Silabél rief.

Das feuerrote Drachenweibchen sprang aus dem Dickicht hervor. Der Ritter hatte sie noch nie so wütend gesehen. Sie scharrte mit ihren Pranken den Waldboden auf und Rauch stieg aus ihren Nüstern. Ihre Augen, sie sonst so schwarz und sanft waren, glühten nun in einem teuflischen Rot.

Dann hob sie ihren Kopf, riss ihr Maul so weit auf, das Kratos ihre Zähne hätte zählen können und holte unglaublich tief Luft. Ihre Brust bäumte sich so sehr auf, als würde sie jeden Moment platzen.

Und dann spie sie einen gewaltigen Feuerball auf das Skelett.

Kratos' Feind drehte sich augenblicklich zu ihr um. Der Rothaarige entdeckte, dass die Rippe, an der Silabél es erwischt hatte, so hell glühte wie Metall aus einem Schmiedefeuer. Und dann kam ihm der rettende Geistesblitz.

Seine Augen immer auf den Feind gerichtet, begann er, zu hassen.

Seinen Vater für die Ermordung seiner Mutter.

König Chepren, der nichts gegen das Leid der Halbelfen tat.

Den Krieg selbst, der so viele seiner Freunde das Leben gekostet hatte.

Und Yuan.

Der Gedanke an seinen Blutsbruder, der so kalt hinnahm, dass Meltokio regelrecht ausgerottet wurde, ließ genau das geschehen, was Kratos hatte bezwecken wollen.

Die Klinge seines Schwertes hüllte sich einmal mehr in lodernde Flammen.

Mit einem markerschütternden Schrei ging er erneut auf das Skelett los. Ein kräftiger Hieb reichte aus um zu sehen, welche Schmerzen es dem Höllenkrieger zufügte. Erneut wandte er sich Kratos zu.

Doch dieser war gewappnet. Er wich den Schlägen der vier Schwerter aus, die er niemals hätte parieren können und versetzte seinem Gegner einen Schlag nach dem anderen. Silabél brüllte laut und unterstützte ihn mit ihren Feuerbällen, während Noishe immer dann zuschlug, wenn es für einen von beiden brenzlig wurde.

Kratos kämpfte, wie er es von Flavius gelernt hatte: Gnadenlos gegenüber dem Gegner und sich selbst. Er ignorierte die schmerzenden Arme und die panische Angst, die er hatte. Ja, er hatte Angst. Aber er ließ sich nicht von ihr beherrschen.

Gerade, als das Skelett mit allen vier Schwertern auf ihn herunter sauste, riss Noishe ihn mit sich in die Lüfte. Das lodernde Schwert noch immer in der Hand, begriff Kratos, was sein gefiederter Freund vorhatte.

Direkt über dem Kopf des Skelettes ließ Noishe ihn fallen. Kratos fiel mit dem Kopf voran in die Tiefe, doch statt panisch zu schreien, blieb er ruhig, schlug sein Schwert an und rammte es dem Höllenkrieger in den monströsen Schädel.

Sein Gegner schrie und schlug um sich. Kratos konnte sich nicht mehr halten und fiel erneut dem harten Waldboden entgegen, doch auch dieses Mal fing Noishe seinen Sturz ab.

Das Skelett war tödlich verwundet, sofern man das bei einem untoten Wesen sagen konnte. Kratos brachte sich und seine beiden Gefährten in sicheren Abstand. Er keuchte schwer, sein Schweiß vermischte sich mit den Regentropfen, die vereinzelnd von der Blätterdecke herabfielen. Die immer dichter werdende Finsternis des Waldes verschluckte die Konturen des Höllenkriegers. Kratos begab sich schon erneut in Kampfhaltung, doch dann fiel sein Gegner endgültig zu Boden.

Vorsichtig näherte er sich dem Ungetüm und trat mit seinem Fuß gegen eine der Rippen. Es regte sich nicht mehr. Erst dann atmete er erleichtert aus und tätschelte seine beiden tierischen Freunde.

»Danke, ihr Zwei. Ohne euch wäre ich verloren gewesen.«

Noishe gurrte zufrieden, während Silabél leise fauchte und stolz ihren Kopf reckte. Kratos schmunzelte.

»Lasst uns weitergehen.«
 

Einige Zeit später saß Kratos wieder auf Silabéls Rücken, während Noishe über dem Wald seine Kreise zog. Sein Schwert hatte der Rothaarige nicht zurückgeholt. Seine Intuition hatte ihm davon abgeraten. Und er hatte gelernt, auf sie zu hören.

Stattdessen trug er nun ein Stilett mit einer Vierkantklinge. Es war selbstredend nicht so mächtig wie ein Schwert, jedoch war es eine brauchbare Waffe, mit der man sich auch gegen größere Klingen verteidigen konnte, wenn man geschickt genug war.

Weiter durch den dunklen Wald reitend, sah Kratos sich aufmerksam um. Der Schrecken mit dem untoten Krieger hatte ihm gereicht. Er wollte keine zweite, unangenehme Überraschung erleben. Er hatte eine Mission, der er erfüllen musste.

»Die Mission … Meltokio zu retten …«, dachte er.»Selbst, wenn ich Mizuho finde, wer sagt, dass sein Volk uns helfen wird? Und selbst, wenn sie es schaffen, die Paktierenden ausfindig zu machen und zu töten … wird Yuan nicht einfach neue Beschwörer aussenden können?«

Tief in seine Gedanken versunken, ließ er seine Sinne jedoch nicht außer Acht. So nahm er auch den Schemen war, der gerade an ihm vorbeischnellte. Er zog sein Stilett und hielt Silabél an.

»Wer ist da?«, fragte er. »Zeig' dich!«

»Dich? Wir sind mehr als du, flammender Krieger.«

Ein Mann, dessen Körper bis auf seine Augenpartie komplett mit schwarzem Stoff verhüllt war, trat aus dem Schatten des Waldes. Ihm folgten einige weitere seiner Art. Kratos spannte seine Muskeln an, bis ihm etwas einfiel.

»Diese Kleidung …«

Der Mann, der gesprochen hatte, trat ohne Furcht vor Silabél, die ihm ihre Zähne zeigte.

»Wir wollen dir nichts Schlechtes, Fremder«, sagte er. »Im Gegenteil. Wir haben deinen Kampf mit dem Elitekrieger der Unterwelt beobachtet und sind tief von deinem Mut beeindruckt. Wir wollen dich nach Mizuho begleiten, wo du dich ausruhen und dein Anliegen unserem Anführer vortragen kannst.«

Kratos musterte den Mann misstrauisch. Er war zwar nicht wehrlos, jedoch sogar mit Silabél und Noishe in der Unterzahl. Jedoch stammte die Kleidung, die sein gegenüber trug, zweifellos aus Mizuho. Der Rothaarige hatte viel über dieses Volk gelesen, dessen Existenz zur Legende geworden war.

Was ihn aber noch viel stutziger machte, war die Tatsache, dass der Fremde wusste, dass er nicht ohne Grund im Wald war.

Nach einem schweigenden Augenblick beschloss Kratos, ihm zu vertrauen und nickte.

»Ich folge euch.«

Der Fremde nickte.

»Verbindet ihm die Augen«, befahl er.

»Moment!«, warf Silabéls Reiter ein. »Es mag sein, dass ihr euer Königreich geheim halten wollt, doch wer sagt mir, dass ihr mich nicht überwältigt?«

Obwohl er den Mund seines Gesprächspartners nicht sehen konnte, meinte er, ein Lächeln zu erkennen.

»Warum sollten wir?«, fragte er. »Nenne mir einen Grund. Du hast diesen Wald von einer schrecklichen Geißel befreit unter der wir schon lange gelitten haben. Und außerdem bist du offenbar ein Freund der Drachen.«

Dem Rothaarigen fiel ein, dass das Königreich von Mizuho die Drachen verehrte, da sie in ihnen die Wiedergeburt ihrer Götter sahen. Trotzdem war ihm die Situation nicht geheuer.

»Reicht es euch aus, wenn ich euch mein Wort gebe, die Augen zu schließen?«

Der Anführer der kleinen Spähergruppe schwieg einen Moment, bevor er mit einem seiner Handlanger einige Worte in einer, Kratos fremden, Sprache wechselte. Dann nickte er.

»Wir sind einverstanden. Die junge Göttin soll uns folgen.«

Der Rothaarige wusste sofort, dass Silabél gemeint war, denn sie nahm ihre eitle und elegante Haltung ein. Der Ritter schielte belustigt und schloss seine Augen …
 

Der Weg war nicht weit, jedoch weiter, als Kratos es vermutet hatte. Durch seine verbundenen Augen lauschte er besonders intensiv, doch mehr als Schritte und das Rauschen des Regens hörte er nicht. Schließlich aber bekam er die Erlaubnis, seine Augen wieder zu öffnen.

Das, was der Rothaarige erblickte, widersprach allem, was er von Mizuho gehört hatte. Laut den Legenden war es eine Stadt des Goldes, in der jede Straße, jedes Haus und sogar jeder Stein aus dem edlen Metall bestehen sollte. Doch Kratos sah ein einfaches, aber wunderschönes Dorf, das über und über mit Kirschbäumen bewachsen war. Die Häuser schienen nur aus Holz zu bestehen, die meisten von ihnen waren weiß angestrichen worden.

Der Vermummte sah ihn an.

»Du hast Gold erwartet, nicht wahr?«

»Nein«, antwortete Kratos. »Ich habe gar nichts erwartet, wenn ich ehrlich bin.«

»Du hast unser Dorf gesucht, obwohl du nicht an die alte Legende glaubst, die noch immer erzählt wird?«, fragte er verwundert.

»Mein Anliegen, dass ich an euch habe, ist nicht materieller Natur.«

Der Vermummte gab sich mit der Antwort zufrieden und führte Kratos tiefer in das Dorf hinein. Die Bewohner beäugten ihn misstrauisch. Sie sahen offenbar wirklich selten Fremde. Kratos' Begleiter störte sich nicht daran.

Vor einem der größeren Häuser blieb er stehen und bat Kratos, abzusteigen.

»Überlass die junge Göttin uns. Wir werden sie gut behandeln.«

»Dessen bin ich mir sicher«, sagte der Rothaarige.

»Ich werde dem Anführer nun von deiner Ankunft berichten. Warte hier.«

Der Vermummte verschwand und Kratos nutzt die Gelegenheit, um in den Himmel zu sehen. Noishe war nicht zu entdecken, doch das beunruhigte den Krieger nicht. Er wusste, dass das Aeros stets in seiner Nähe war.

Wenig später bekam er die Erlaubnis, einzutreten. Er tat es gern, denn seine Kleidung war durchnässt und er fror.

»Zieh deine Schuhe aus«, forderte der Vermummte.

»Warum?«, wollte Kratos, neugierig wie eh und je, wissen.

»Sie tragen Schmutz ins Haus. Und Schmutz bedeutet Nährboden für böse Geister. Wenn ich also bitten darf …«

Der Rothaarige nickte und folgte der Aufforderung. Schließlich wurde er in den nächsten Raum gebracht.

Ein Mann mittleren Alters saß kniend auf dem Boden. Er hatte kein Haar, bis auf einen einzelnen Zopf an der Seite seines Kopfes. Er war schwarz.

»Tretet ein und setzt Euch«, sagte er. »Ich habe bereits Tee bringen lassen, da ich Eure Ankunft heute erwartet habe.«

Kratos runzelte die Stirn, setzte sich aber, wobei er sich ebenfalls hinkniete, jedoch nicht, ohne sich vorher respektvoll zu verbeugen.

»Ich muss Euch meinen tiefen Dank aussprechen, Hauptmann«, begann der Anführer Mizuhos zu sprechen. Die Verwunderung des Rothaarigen wuchs von Wort zu Wort mehr. Wie viel wusste dieses Volk über ihn?

»Mein Name ist Koga Fujibayashi. Ich bin der Anführer Mizuhos. Und Ihr seid Kratos Erebos von Aurion, wenn ich mich nicht irre.«

»Ihr irrt nicht …«, antwortete der Gleiche. »Erlaubt Ihr mir, die Frage zu stellen, woher Ihr so viel über mich wisst?«

»Alles zu seiner Zeit«, meinte Koga und sah zu der jungen Frau, die gerade ein Tablett hereinbrachte. Sie war bildschön. Ihr steißlanges, schwarzes Haar fiel ihr geschmeidig über den Rücken und die Kleidung, die sie trug, war mit wunderschönen Stickereien versehen.

Was ein Kimono war, wirkte auf Kratos wie ein herrliches Festtagsgewand. Er bestand auf feinem Stoff, den der Krieger, der nichts von Mode verstand, nie und nimmer als feinste Kokonseide hätte erkennen können. Ein breites Band mit genau denselben, feinen Stickereien, war darum gebunden und auf ihrem Rücken zu einer großen Schleife zusammengebunden. In Kratos' Augen sah es zwar aus wie ein Morgenmantel, jedoch gefiel es ihm.

Sie kniete sich zu ihnen und der junge Ritter wurde Zeuge einer uralten Zeremonie: Dem Chadõ, was in seiner Sprache nichts anderes als "Teeweg" bedeutete.

Die schöne Mizuhonerin säuberte die Utensilien, die sie mitgebracht hatte gewissenhaft, wobei es schon beinahe etwas Rituelles hatte, wie es Kratos erschien. Fasziniert beobachtete er sie bei ihrem Tun.

Nachdem sie mit der Säuberung fertig war, nahm sie eine lange, hölzerne Kelle zur Hand und tauchte sie in das kochende Wasser des Kessels, der vor ihr stand. Sie goss es vorsichtig in eine kleine, weiße Schale vor ihren Knien und legte die Kelle dann mit einer Präzision, wie sie mancher Koch nicht hatte, auf den Kessel zurück.

Daraufhin nahm sie sich den kleinen Teebesen, der ebenfalls in ihrer Reichweite lag und begann, das Wasser umzurühren, wobei Kratos nicht verstand, warum sie das tat. Als sie damit fertig war, schwenkte sie das Wasser einmal darin um es dann in eine andere Schüssel zu gießen.

Die erste Wasserschüssel säuberte sie nun erneut mit einem Tuch, bevor sie das grünliche Teepulver hineingab und den Löffel, mit dem sie es getan hatte, genau zweimal am Rand abklopfte. Sie öffnete nun eine weitere Schale mit offenbar kaltem Wasser. Jedoch fand diese noch keine Verwendung. Erneut nahm sie die Holzkelle und goss nun etwas heißes Wasser auf das Teepulver, um es anschließend mit dem kleinen Besen zu verrühren, wobei sie sehr sorgfältig war und erst dann aufhörte, als kein einziger Klumpen mehr übrig blieb.

Das dampfende Getränk reichte sie nun dem fremden Gast. Er lächelte sie an.

»Danke«, sagte er und trank einen Schluck, ohne zu wissen, damit die ganze Zeremonie zerstört und die junge Mizuhonerin zutiefst beleidigt hatte. Doch da er fremd war, nahm man es ihm nicht übel. Koga schmunzelte nur.

»Wie schmeckt es Euch?«, fragte er, da es Brauch war, sich einen Augenblick über den gereichten Tee zu unterhalten.

»Sehr gut«, gestand Kratos, der die kleine Schüssel gar nicht mehr hergeben wollte und immer wieder kleine Schlucke trank. Der Tee war nicht nur genau richtig temperiert und angenehm schaumig geschlagen, er war auch sehr aromatisch und schmeckte nach vielen verschiedenen Kräutern, was auch seine grünliche Farbe erklärte. Es war etwas ganz anderes als der Tee Meltokios.

»Das freut mich«, antwortete Koga.

»Möchtet Ihr nichts trinken?«, wollte er wissen.

»Ich warte darauf, dass Ihr mir die Schüssel gebt.«

Kratos errötete.

»Verzeiht. Ich wusste nicht, dass man sich die Schüssel teilt.«

Koga macht eine verzeihende Handbewegung. Der Rothaarige reichte ihm die Schüssel. Der Anführer Mizuhos musterte sie einen Augenblick, nahm sie dann entgegen und säuberte den Rand mit seiner Serviette. Dann betastete er die Schale einen Augenblick und schenkte dir einen bewundernden Blick, bevor er, wohlbemerkt schlürfend, drei kleine Schlucke nahm und sie dann abstellte. Daraufhin schwieg er einige Minuten. Da Kratos der Gast war, unterbrach er es nicht. Schließlich begann sein Gastgeber zu sprechen.

»Nun, Ihr seid nicht ohne Grund hier, Kratos-san. Und ich will Eurem Anliegen gerne Gehör schenken, jedoch …«, Koga sah ihn an, »… was begehrt Ihr von uns, wenn nicht das Gold, welches in der Legende vorkommt und wegen dem viele Schatzjäger ihr Leben verloren? Was gab Euch die Kraft, gegen eine Bestie der Hölle anzutreten und mein Volk zu befreien?«

»Mir war nicht bewusst, dass Euch dieses … Wesen Leid bescherte«, antwortete Kratos ehrlich. »Ich habe mein Leben verteidigt, weil ich mit einer Mission hierher kam. Beziehungsweise … mit dem Gesuch um Hilfe.«

Koga reichte ihm erneut die Schüssel. Kratos nahm sie entgegen und imitierte nun das Verhalten des Mizuhoners, was ihm einen schon wesentlich sanfteren Blick von der Mizuhonerin bescherte, die noch immer neben ihm saß.

»Ein Hilfegesuch also … welcher Art, junger Krieger?«

Kratos schwieg einen Moment und nippte ebenfalls an dem Sake. Dann begann er, zu berichten. Koga hörte schweigend zu, während ihm der Rothaarige erläuterte, dass er gehört hatte, dass das Volk von Mizuho mit den Schatten verschmelzen könne, um ihre Opfer lautlos und ohne jede Spur zu hinterlassen, zu töten. Und er gestand, dass Melotkio diese Hilfe benötigte, um gegen die drohende Übermacht Sylvarants eine Chance zu haben.

Nachdem Kratos geendet hatte, sah Koga ihn lange Zeit an. Der Blick seiner braunen Augen war nicht annähernd so stechend wie einst der von Flavius, weshalb es dem Rothaarigen leichtfiel, ihm standzuhalten.

»Mizuho hält sich nicht ohne Grund aus diesem Krieg heraus, Kratos-san …«, sagte er dann. »Vor langer Zeit war unser Volk selbst in diesen Krieg verwickelt und löschte uns fast gänzlich aus. Seit jenem Tage leben wir in der Verborgenheit des Waldes. Jedoch wissen wir mehr über beide Seiten, als sie gegenseitig voneinander wissen, denn wir haben überall unsere Spione. Das beantwortet auch eure Frage, woher wir soviel über euch wissen.

Es ist wahr, dass unsere Kämpfer es beherrschen, sich lautlos fort zu bewegen und auch ebenso zu töten. Jedoch befürchte ich, dass ich Eurer Gesuch nicht erhören kann.«

»Ich verlange keine Armee«, antwortete Kratos. »Lediglich so viele, wie nötig sind um die Paktierenden Sylvarants das Leben zu rauben.«

»Womit wir uns auf die Seite Tethe'allas stellen würden«, widersprach Koga.

»Niemand würde es merken. Ich selbst stehe direkt unter dem König. Wenn ich spreche, schenkt er mir Gehör. Trage ich ihm vor, dass ich mein Wort gab, Stillschweigen zu bewahren, so wird er es akzeptieren müssen. Denn er braucht mich.«

»Der König braucht niemanden. Ihr seid ersetzbar, Kratos-san.«

»Nicht, wenn der König in meiner Schuld steht.«

Koga sah auf.

»Der König steht in Eurer Schuld? Wie soll das möglich sein?«

»Ich … verhalf ihm zum Thron, wenn Ihr so wollt«, antwortete der Rothaarige ruhig. »Ich habe ihn in der Hand. Ein Wort meinerseits würde reichen, um ihn zu stürzen.«

Es stimmte, was Kratos sagte. Würde er publik machen, dass Avanel von seinem Vater niemals freiwillig legitimiert worden war, würde das Volk sich gegen ihn wenden. Er hatte diesen Trumpf schon immer in der Hand gehalten, weshalb er sich sein Verhalten gegenüber Avanel auch leisten konnte.

Erneut schwieg Koga, dieses Mal mit geschlossenen Augen und wesentlich länger als zuvor. Letztendlich sah er auf.

»Nun gut … Ihr habt mich überzeugt. Ich stelle Euch meine beste Kriegerin zur Seite. Sie wird ausreichen, um die Paktierenden zu töten – denn ich kenne sie.«

Kratos' Herz machte einen Sprung.

»Nanami!«

Ehe sich der Rothaarige versah, stand eine Frau in der gleichen, vermummenden Kleidung wie Kratos' Führer, neben ihnen. Er konnte sich nicht erklären, wo sie so plötzlich aufgetaucht war. Bevor sie sich Koga zuwandte, verbeugte sie sich vor Kratos.

»Mein Name ist Nanami Fujibayashi. Seid willkommen in Mizuho, Kratos-san.«

Erst nach dieser Vorstellung, sah sie zu Koga.

»Ihr habt gerufen, Vater?«

»Er schickt seine eigene Tochter?«, dachte Kratos entsetzt.

Koga und Nanami unterhielten sich auf Mizuhonisch, was der Rothaarige nun erkannte. Mizuhos Bewohner hatten offenbar einen Dialekt entwickelt, weshalb der die Sprache nicht sofort erkannt hatte. Verstehen tat er sie trotzdem nicht.

Schließlich sah Nanami zu Kratos. Sie hatte schöne, rehbraune Augen. Ihren Gesichtszügen nach zu urteilen, war sie vielleicht gerade sechszehn.

»Ich stehe zu Euren Diensten, Kratos-san.«
 

Nanami war ein bemerkenswertes Mädchen.

Koga hatte mich gebeten, ausgiebig mit ihr zu sprechen, um ihr meine Taktik zu erläutern. Wie ich erfuhr, war sie nicht sechzehn, wie ich es geschätzt hatte, sondern hatte gerade erst ihr vierzehntes Lebensjahr erreicht.

Für dieses zarte Alter war Nanami jedoch außerordentlich gut gebildet und konnte mir in Sachen Kriegstaktik bereits das Wasser reichen. Jedoch widerstrebte es mir irgendwo, ein derart junges Mädchen – ein Kind – mit in diese ganze Sache zu ziehen.

Jedoch war sie meine einzige Hoffnung. Und ich vertraute Koga's Urteil.

Und er vertraute mir … das Leben seiner einzigen Tochter an.

Noishe's Tränen

Jawollja!

Mit diesem Kapitel endet endlich der zweite Teil von Kratos Life!

Und ja, ihr ahnt richtig: Ab jetzt kommen Mithos und Martel ins Spiel! Die Gruppe wird nach diesem Kapitel endlich komplett sein!

Freut euch also ;)

Viel Spaß beim Lesen!

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Nach Meltokio zurückgekehrt, erstattete Kratos Avanel Bericht darüber, dass er Mizuho zwar gefunden hatte, er jedoch sein Wort geben musste, Stillschweigen zu bewahren. Widerwillig hatte Avanel das akzeptiert und erneut sein Vertrauen in Kratos gesetzt.

Der Rothaarige war gemeinsam mit Nanami durch den Wald gereist. Auf dem Weg hatten sie viel miteinander gesprochen. So wusste er auch, das Nanami von klein auf an zur Kriegerin ausgebildet worden war. Das junge Mädchen war sich der Gefahr bewusst, in die es sich begab. Als Kratos an diesem Abend aus dem Fenster seines Schlafgemachs über die Grenzen Meltokios hinausblickte, galten seine Gedanken alleinig ihr. Er bat das Schicksal darum, gnädig mit ihr zu verfahren und ihr Leben zu verschonen.

Zur Untätigkeit verdammt, widmete sich Kratos in diesen Tagen der Ausbildung des kleinen Nereus, dem Sohn von Avanel und Liabela. Er hielt ihm gerade erneut sein Holzschwert das er für die Übungen benutzte, an die Kehle, da er ihn in einem Scheingefecht einmal mehr besiegt hatte, als ihm plötzlich etwas auffiel.

Es war still.

Das Rauschen des Regens war für ihn inzwischen so selbstverständlich geworden wie sein Atem. Doch es war plötzlich verschwunden. Als Kratos aus einem der vielen Fenster sah, traute er seinen Augen nicht: Es hatte aufgehört zu regnen!

»Nanami …«, dachte er sogleich. »Du hattest tatsächlich Erfolg.«

Nereus war ebenso erstaunt wie sein Lehrer. Er wusste natürlich alles über den Krieg mit Sylvarant. Daher war seine Reaktion auch nicht verwunderlich.

»Den Schlammblütlern ist wohl das Mana ausgegangen«, sagte er.

Das Schimpfwort, das Nereus für die Halbelfen benutzte, stellte Kratos' Nackenhaare auf. Augenblicklich wandte er sich an den jungen, noch formbaren Prinzen.

»Nenn' sie nicht so«, verlangte er.

»Warum?«, fragte Nereus, der Kratos sehr schätzte.

»Sie sind keine Schlammblütler«, antwortete er, während er zur Wolkendecke hinauf sah. »Halbelfen sind Wesen wie du und ich.«

»Wie könnt Ihr das behaupten, Kratos-san?«, empörte sich der junge Prinz. »Sie sind wertlose Insekten. Nichts weiter als Sklaven.«

»Nein, das sind sie nicht. Auch sie haben eine Seele, genau wie wir. Sie fühlen Schmerz und Freude ebenso wie wir. Nenne mir einen Grund, warum sie minderwertig sind«, forderte der Ritter seinen Lehrling auf.

»Sie haben unreines Blut«, antwortete Nereus.

»Ich auch. Bin ich deswegen minderwertig?«

Der Prinz sah zu dem imposanten Ritter hinauf.

»Ihr seid doch ein Mensch.«

»Mein Großvater ist ein Protozoon, Nereus«, gestand der Rothaarige. »Und trotzdem akzeptierst und respektierst mich sogar.«

»Protozonen sind was anderes«, behauptete der Jüngere.

»Ach ja? Was ist daran anders? Auch ich habe unreines Blut in mir.«

Nereus schwieg. Darauf wusste er keine Antwort zu geben. Kratos sah ihn an.

»Es ist deine heutige Aufgabe, ausgiebig über dieses Gespräch nachzudenken. Und sprich' mit niemandem darüber.«

»Wie ihr wünscht, Kratos-san …«, antwortete Nereus gehorsam und verschwand, als er bemerkte, dass sein Lehrmeister nichts mehr zu sagen hatte.

Kratos hatte sich wieder dem bewölkten Himmel zugewandt und war einmal mehr in seine Gedanken versunken.

»Ich kenne dich, Yuan … du gibst nicht auf.«

Seine Augen verengten sich, als die ersten Sonnenstrahlen seit Monaten hervorkamen und ihn blendeten.

»Was wird dein nächster Schritt sein?«
 

Ich sollte es wenige Tage später erfahren.

Das völlig durchnässte Land genoss die Sonnenstrahlen ungemein. Die reißenden, verseuchten Ströme versiegten endlich und Hoffnung keimte bei den Bewohnern Meltokios auf.

Meine vollkommen ausgelaugten Soldaten, die seit über einem halben Jahr dem Volk Hilfe geleistet hatten, kehrten endlich ins Fort zurück. Jedoch waren viele von ihnen der Septikämie zum Opfer gefallen. Diejenigen, die zurückgekehrt waren, waren geschwächt und krank. Doch da Tethe'alla endlich wieder bereisbar war, kamen ganze Kolonnen mit dem heilenden Serum aus Sybak in die verschiedenen Städte des Landes. Und so erholten sich die, die die Septikämie überlebt hatten, sehr schnell wieder.

Ich muss zugeben, dass ich mich in diesen wenigen Tagen dabei ertappte, einfach nur zufrieden zu sein. Meine Soldaten erholten sich, die Stadt begann, die Schäden der Fluten zu beseitigen.

Doch dann kam Yuans nächster Schritt, den ich bereits erwartet hatte.
 

Es war bitterkalt.

Nach dieser, viel zu kurzen, Atempause für Meltokio, waren die Temperaturen ins Bodenlose gefallen. Erneut hatte sich der Himmel verdunkelt, doch dieses Mal war es Schnee, der fiel.

Wäre es nicht so fatal gewesen, hätte Kratos Yuan gratulieren wollen.

Der noch immer aufgeweichte Boden gefror innerhalb von Stunden und wurde entweder spiegelglatt oder, wenn er schlammig war, zur Stolperfalle.

Das durch die langen Regenfälle morsche Holz der meltokionischen Bauten hielt der Kälte nicht lange stand und brach zusammen. Ganze Wohngebiete stürzten unter der Last des Schnees zusammen, der jede Minute des Tages fiel. Minus dreißig Grad war noch das Wärmste, was Sylvarant Tethe'alla gönnte. Nachts fiel die Temperatur teilweise auf Minus fünfzig. Und erneut fielen diesem extremen Wetter viele Wesen zum Opfer. Die von der Septikämie stark geschwächten Menschen hatten der bitteren Kälte nur sehr wenig entgegenzusetzen. Jungtiere, die gerade auf die Welt gekommen waren, erfroren an den Zitzen ihrer Mütter oder verhungerten an den Gleichen, weil die Muttertiere keine Milch mehr geben konnten. Es war grauenvoll.

Kratos' Kamin brannte jeden Tag, doch nur, um sein Zimmer warm zu halten. Das erste Mal trat er selbst in Aktion und begann, seinen Soldaten beizustehen. Avanels Schimpftiraden, dass dieses Verhalten seinen Stand verspottete, ignorierte er. Er half den Bewohnern Meltokios aus ihren zugeschneiten Behausungen oder half einem Kommando dabei, die Trümmer eingestürzter Wohnhäuser und Ställe abzutragen, damit durch die darunter vergrabenen Leichen nicht erneut eine Seuche entstand.

Und erneut grub sich all dieses Leid in Kratos' viel zu gutes Gedächtnis. Ein besonders grausamer Fund verfolgte ihn noch nächtelang. Es war eine Hündin mit ihren Welpen, die er steifgefroren hinter dem Ofen eines eingestürzten Hauses fand.

Jeden Abend, wenn er in seine Gemächer zurückkehrte, wärmte er sich die klammen Hände am Kaminfeuer auf und sah durch sein Fenster nach draußen, darüber nachdenkend, wie es Nanami erging. Auf Sylvarant war sie vor der Kälte sicher, doch Yuan ließ garantiert nach ihr suchen. Er betete jeden Abend für ihr Überleben. Zwar nicht zu den Göttern, sondern wünschte er es ihr einfach von Herzen und hoffte, dass es genügte.

Er machte sie nicht für Meltokios Leid verantwortlich, weil sie den Paktierenden noch nicht gefunden hatte. Nein, er gab vielmehr sich selbst die Schuld.

War nicht er es gewesen, der Yuans Selbstvertrauen aufgebaut hatte, als sie noch Kinder gewesen waren? Hatte er nicht darauf bestanden, dass sie gleich viel wert waren?

Jedoch stoppte er die Gedanken an diesem Punkt jedes Mal. Hätte er ihn minderwertig behandelt, wäre er nicht besser gewesen als der Rest seiner Rasse. Und er hätte niemals einen so guten Freund gehabt.

Doch zu welchem Preis hatte er diese wunderbare Erfahrung machen können? Er war zu hoch.

Ganz Tethe'alla litt darunter.

Darunter, dass er Yuan klargemacht hatte, dass sein Volk besseres verdient hatte als die Sklaverei.
 

Der Winter hielt ziemlich genau drei Monate an, als auch der Schnee so plötzlich aufhörte, wie er gekommen war. Doch auch, wenn es nur eine kurze Zeit gewesen war, so waren die Schäden enorm gewesen.

Doch Yuan gab nicht auf. Nach Celsius, dem Elementargeist des Eises, rief er die Sylph und Volt zur Hilfe. So entstanden trockene Gewitter, die halb Meltokio in Brand steckten und heftige Winde, die das Feuer über die ganze Stadt verteilten.

Kratos war erneut machtlos. Zur Untätigkeit verdammt konnte er nur zusehen, wie die Bewohner Meltokios vor den Flammen flohen, durch die heftigen Winde von den Füßen gerissen wurden und an der nächsten Mauer zerschellten, als wären sie aus Glas.

Mit jedem Leben, dass Kratos sterben sah, wuchs sein Hass auf Yuan. Jeder Schrei, jedes Weinen fachte das Feuer seines Hasses immer mehr an.
 

Eines Nachts – er schlief schon seit Wochen nicht mehr durch – wachte er schwer keuchend aus seinem unruhigen Schlaf auf. Ein Blitz hatte seinen Geist durchzogen. Er wusste nicht, warum, oder was es damit auf sich hatte. Aber er spürte, wie sein Blut durch seine Adern rauschte und sein Mana pulsierte. Und ihm wurde unglaublich heiß. Als er auf seine Hände sah, hüllten sie sich wenige Sekunden später in lodernde Flammen. Über sich selbst erschreckt, rief Kratos sich zur Vernunft und brachte seine Magie, mit der er immer noch nicht so wirklich zu recht kam, wieder zum Ruhen. Doch was war es gewesen, dass sein Mana derart aus der Kontrolle geraten ließ?

Aus irgendeinem Grund wollte er plötzlich aufstehen und rausgehen. Es fühlte sich an, als würde sein Leben davon abhängen.

Wie von Geisterhand gelenkt wanderte er durch die Gänge des Schlosses. Es war, als würde keine der Wachen oder Bediensteten ihn sehen. Es war, als wäre er gar nicht da. Und doch war er da. Mehr denn je.

Er verließ das Schloss und ging zielstrebig durch die Straßen. Je tiefer er in die Stadt hinein wanderte, desto schlimmer wurde das Ausmaß der Katastrophe, von der ausschließlich das Slum einmal mehr verschont geblieben war.

Kratos sah sich um. Um ihn brannten Häuser, lodernde Trümmer fielen neben ihm zu Boden, ohne ihn zu treffen. Er ging einfach weiter, jedoch traf ihn kein einziges Leid. Menschen rannten an ihm vorbei, schreiend und weinend. Kinder pressten sich aneinander, schrien nach ihren Müttern und Vätern. Alte Menschen starben vor seinen Augen, weil sie nicht schnell genug fliehen konnten, Säuglingen brach das Genick, weil ihre Mütter auf ihrer wilden Flucht stolperten und die hilflosen Neugeborenen auf den harten Steinboden fielen.

Obwohl es ihn unglaublich quälte, all das zu sehen, ging er weiter. Immer weiter. Von einer unsichtbaren Kraft gelenkt ignorierte er alles um sich herum. Er wollte so weit, wie es ihm möglich war, vom Schloss weg.

Und wenig später wusste er auch, warum.

Ein unglaublich heller und kräftiger Blitz schlug in den höchsten Schlossturm ein, der augenblicklich in sich zusammenbrach.

Im ersten Moment von dem Schock gelähmt, dass er durch eine schicksalhafte Fügung mit seinem Leben entkommen war, bemerkte er nicht, dass ein bläulicher Schemen auf der Mauer in seiner Nähe so schnell verschwand, wie der Blitz eingeschlagen war …
 

Selbstredend kehrte ich umgehend zum Schloss zurück. Jedoch trieb mich nicht mehr diese Geisterhand, die mich fortgelockt hatte, sondern meine Sorge um Silabél.

Jedoch waren die Stallungen verschont geblieben, da sie zum Glück weit genug weg vom höchsten Schlossturm lagen.

Noch in der gleichen Nacht verstummten alle Winde und sämtliche Blitze. Doch mir war gleich klar, dass Nanami dieses Mal kein Dank galt. Ich bezweifelte stark, dass Yuan so dumm war, die Paktierenden von Sylph und Volt am gleichen Ort zu verstecken. Daher ahnte ich, dass er es selbst gewesen war, der die Naturgewalten zurückgerufen hatte.

In den folgenden Tagen legte sich eine unheimliche Stille über Meltokio. Es war totenstill.

Die Bewohner lebten nur noch in Angst vor der nächsten Naturkatastrophe, selbst meine Soldaten quittierten teilweise ihren Dienst oder begingen Fahnenflucht.

In mir baute sich ein ungutes Gefühl auf. Ein Gefühl, dass mir sagte, dass der Krieg bald ein Ende finden würde.

Und zwar ein blutiges Ende.
 

Kratos strich Noishe sanft durch sein Brustgefieder. Sein vogelartiger Freund besuchte ihn nur sehr selten an seinem Fenster, da er Meltokio für gewöhnlich mied. Doch der Rothaarige war froh, jemanden zu haben, mit dem er ungestört reden konnte. Denn er wusste, das Noishe jedes Wort verstand.

»Du bist unruhig …«, stellte Kratos fest, da Noishe ungeduldig von einem Bein aufs andere hüpfte. »Was bedrückt dich, mein Freund?«

Das Aeros zirpte ängstlich und sah sich um. Der Rothharige sah besorgt drein.

»Ja, auch ich spüre, dass Gefahr naht … aber was soll ich tun?«

Gedankenverloren sah er über das völlig zerstörte und so gut wie ausgestorbene Meltokio. Krähen und Geier waren nun die häufigsten Besucher. Neben den Ratten, die seit den heftigen Regengüssen zur Plage geworden waren. Es war ein grauenvoller Anblick. Es war nichts mehr von der blühenden Metropole übrig geblieben. Eigentlich saß Kratos nur noch aus drei Gründen im Schloss: Erstens, weil sein Eid ihn an Avanel band, zweitens, weil er die Soldaten nicht im Stich lassen wollte, die ihm noch immer treu ergeben waren und drittens, weil er wusste, dass Meltokio mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verloren war und leichte Beute für Yuans Armee darstellte – und auf diese Begegnung wartete der Krieger.

Er wusste, dass Sylvarant nicht mehr lange warten würde. Der Anblick dieser toten Stadt machte ihm klar, dass Yuan sein Ziel erreicht hatte: Meltokio war so leicht einzunehmen wie eine Sandburg.

Doch wenn etwas zu Kratos' Natur zählte, dann die Tatsache, dass er niemals aufgab. Mit der restlichen Hand voll Soldaten und der Division des Origin, die er noch immer nicht kannte, würde er Meltokio verteidigen, in der Hoffnung, Yuan auf dem Schlachtfeld zu treffen und ihn zur Vernunft bringen zu können.

Diese Hoffnung keimte noch immer in ihm. Doch würde Yuan sich wieder weigern, würde Kratos ihn töten. Sein Herz war hart geworden von all dem Leid, das er gesehen hatte. Die Menschen hatten das in kürzester Zeit erlebt, was die Halbelfen seit Jahrhunderten durchmachten: Ein Leben in stetiger Angst.

Während der Rothaarige gemeinsam mit Noishe auf die tote Stadt herunter sahen, erinnerte sich Kratos an etwas. Eine Szene aus seiner gemeinsamen Kindheit mit Yuan, die er eigentlich zu vergessen geglaubt hatte, drang sich seinem Gedächtnis regelrecht auf.
 

»Ich bin nur ein verdammter Halbelf!«

Bevor das adelige Kind nachdenken konnte, legte es sein Herz auf die Zunge.

»Na und? Das macht doch überhaupt keinen Unterschied! Wir könnten Brüder sein!«

Yuan sah ihn für wenige Sekunden völlig verwirrt an. Kratos aber riss ihn in die Realität zurück.

»Vertaue dem Tier unter dir! Und glaube an dich selbst! Die Rasse ist doch egal! Wir …«
 

»… sind gleich …«, murmelte Kratos gedankenverloren. Noishe rieb seinen Kopf tröstend an seinen Freund. Erneut strich der Rothaarige sanft über sein Gefieder, während eine Krähe kreischend ihre Runden zog.

Aus einem Grund, den Yuans Blutsbruder sich nicht erklären konnte, begannen, Tränen über seine Wangen zu laufen. Es waren nur einzelne. Und sie versiegten auch so schnell wieder, dass er sie kaum wahrnahm. Doch sein Unterbewusstsein wusste es. Denn unterbewusst war Kratos klar, dass er Yuan noch immer liebte. Sein Tod würde auch den seinen bedeuten.

Denn sie waren Brüder …
 

»Was ist das?«

»Ich weiß es nicht …«

Nereus stand neben seinem Lehrmeister auf einem der vielen Balkone. Als Kratos an diesem Morgen aufgewacht war, hatte er gewusst, dass es heute soweit sein würde.

Am Horizont war Dunkelheit aufgetaucht. Anders konnte man es nicht nennen. Der Horizont verfinsterte sich einfach. Es war, als würde irgendetwas das Land verschlingen. Und es kam Meltokio näher – von allen Seiten.

»Kratos-san …«, sprach Nereus leise. »… ich habe Angst.«

»Ich auch«, antwortete Kratos mit rauer Stimme.

»Ihr habt Angst?«, fragte der junge Prinz.

»Ich habe sie oft, Nereus … ich lasse mich nur nicht von ihr beherrschen.«

Schweigend sahen die beiden zu, wie die Finsternis näherkam.

Avanel und Liabela hatten sich in ihren Gemächern verschanzt, selbstredend streng bewacht. Nereus sollte eigentlich in seinem eigenen Zimmer sein, doch die Bitte, Kratos zu sehen, hatte der Rothaarige nicht abschlagen können. Denn auch, wenn er es sich nicht eingestand, es kam ihm vor, als würden sie auf den Tod warten.

Während die beiden ruhig dastanden, kam Kratos nicht umhin, zu schmunzeln.

»Vielleicht sterbe ich heute … mit fünfundzwanzig Jahren … und ich habe in meinem Leben noch keine Frau gehabt … Yuan würde mich wohl auslachen …«

Die Finsternis kam immer näher. Sie hatte bereits den Wald verschluckt, den man von Meltokio aus sehen konnte. Obwohl Kratos nicht wusste, was es war, beschloss er, langsam alles für die letzte Schlacht vorzubereiten.

»Nereus«, sagte er deswegen, »geh' jetzt.«

Wortlos nickte der junge Prinz und verschwand. Kratos warf einen letzten Blick zum Horizont, bevor er selbst ins Schloss zurückkehrte.

Es war Zeit, die Division des Origin wachzurufen.
 

Die Kellergewölbe des Schlosses waren dunkel und feucht. Die spärliche Beleuchtung der Wandfackeln tat ihr Übriges, um eine schaurige Atmosphäre zu schaffen, die an eine Gruft erinnerte.

Kratos jedoch nahm das gar nicht mehr wahr.

Er trug, wie einst vor den Toren Meltokios, alle Insignien seiner Macht. Die goldene Rüstung, den purpurroten Umhang, den Helm mit der Feder, die prächtig verzierte Schwertscheide.

Er wusste, dass die Division des Origin im tiefsten Teil der Kerker ihr Dasein fristete, jedoch wusste er nicht, was ihn erwartete. Nur die Königsfamilie wusste, was diese Division wirklich war. Alles, was Kratos zu Ohren bekommen hatte, waren Gerüchte ohne Hand und Fuß gewesen. Nun aber, da die drohende Niederlage bevorstand, blieb ihm keine andere Möglichkeit mehr.

Den Schlüssel zum Abteil der Division hatte er erst am Morgen von Avanel bekommen. Er war schwer und rostig, und folglich lange nicht benutzt worden. Die ganze Sache kam dem Ritter mehr als nur suspekt vor. Doch letztendlich war ihm das egal. Es war alles, was er noch tun konnte, um Meltokio zu retten.

Nach unzähligen, gleichaussehenden Gängen, hatte er den tiefsten Teil der Gewölbe endlich erreicht und stand vor einer schweren Eisentür, die er einen Augenblick musterte, bevor er den Schlüssel in das Schloss steckte. Rost rieselte herab, der Schlüssel ließ sich nur schwer drehen. Wie lange war dieses Schloss nicht benutzt worden?

Er brauchte einiges an Kraft, um die Tür aufzuziehen. Als er sah, wie dunkel es dahinter war, nahm er sich eine der Fackeln von der Wand und hielt sie in den dunklen Raum hinein.

Durch das Licht der Fackel geblendet, stoben die ersten Wesen, die in der Nähe der Tür standen, wie aufgescheuchte Tiere zurück. Vorsichtig ging er weiter hinein und entzündete eine weitere Fackel an der Wand des Raumes, die schales Licht hineinwarf.

Und er wollte nicht sehen, was ihm dort vor Augen kam.

Es war ein riesiger Raum, aus purem Stein. Auf dem Boden lag nichts weiter als uraltes Stroh und, wie Kratos roch, ebenso alte Fäkalien. Doch das, was ihn schockte, waren die Bewohner dieses Raumes.

Es waren Elfen. Hunderte von abgemagerten, blassen Elfen. Sie waren so dünn, dass die Haut nur noch über den Knochen lag. Einige konnten kaum noch stehen, andere lagen zusammengekrümmt am Boden und wimmerten leise. Ihre Haare waren ihnen entweder ausgefallen oder so strohig wie die einer Leiche.

Und ihre Augen …

… noch niemals hatte Kratos solche Augen gesehen. Hatte er gedacht, jene der versklavten Halbelfen seien leer und ausdruckslos gewesen, diese waren nicht nur leer. Sie verschlangen die Seelen anderer, weil sie selbst keine mehr besaßen.

»DAS ist die Division des Origin …?!«

Die Elfen sahen ihn an. Hunderte Augenpaare waren auf ihn gerichtet. Kratos hatte schon mehrmals dem Tod furchtlos ins Gesicht gesehen, doch jetzt hatte er Angst. Panische Angst. Er wusste nicht wovor. Er hatte sie einfach. Er zitterte am ganzen Leib, stand wie gelähmt da und sah in all diese leeren Gesichter ohne jeden Ausdruck. Wie hatten diese Elfen überleben können? Solange ohne Licht und Nahrung? War es wirklich das Mana, das sie am Leben erhielt? Wie lange fristeten sie schon ihr Dasein? Wann hatten sie das letzte Mal die Sonne gesehen? Hatten sie sie überhaupt gesehen?

Und diese armen Seelen sollten Meltokio beschützen? Er sollte sie ausbeuten? Ihren letzten Funken Leben in den Krieg schicken? Einen Krieg, in dem sie nur sterben konnten?

Kratos schüttelte wild den Kopf.

»Versteht mich hier irgendjemand?«, fragte er, bekam jedoch keine Antwort.

»Versteht hier irgendjemand meine Sprache?«

Und dann kam es. Ganz leise. Mehr ein Hauchen als ein Sprechen.

»I-ich …«

Die Elfen gingen beiseite, um Platz zu schaffen. Einer von ihnen, der mit Abstand am Schlechtesten aussah, kroch auf ihn zu. Seine Haut war vom Alter gezeichnet. All seine Adern standen hervor, ein langer Bart wuchs ihm. Während er wie ein Baby auf den Krieger zu kroch, entdeckte er, dass ihm beide Beine fehlten und er sich unter größten Schmerzen über den Steinboden schliff.

Kratos ging augenblicklich in die Knie.

»Um der Götter Willen …«, hauchte er nun selbst. »Wer seid ihr nur? Wie seid ihr hierher gekommen?«

»H-Herr …«, wisperte der Elf, »… i-ist … e-e-es … s-soweit …?«

»Was ist soweit?«, fragte Kratos.

»D-dürfen … w-w-wir … e-en-dlich … s-sterben …?«

Der Rothaarige verstand nicht, worauf der Elf hinauswollte und fragte nach. Er gab seiner Stimme den sanftesten Klang, den er zu Stande brachte.

»U-uns … w-wurde … befo-hlen … zu … l-leben …«, krächzte der Greis. »U-und … wir … h-haben … g-gelebt … f-f-für … Te … the … alla …«

Der alte Elf hob mit all seinen Kräften seine Hand. Kratos gab ihm seine augenblicklich.

»M-Mana … erh-hielt … uns … a-aber … bit-te … wir … k-können … n-nicht … mehr …«, wisperte er. »H-habt … G-Gnade … w-ir … opf-ern … uns … g-gern … w-wenn … wir … nur … sterben … dürfen …«

Kratos' Gehirn verweigerte jedwede weitere Information. Das war die Division des Origin. Das dunkle, mächtige Geheimnis der Königsfamilie. Elfen, dazu versklavt zu leben. Niemand hatte jemals wieder nach ihnen gesehen. Der Rothaarige wusste, dass sie zu Beginn des Krieges "rekrutiert" wurde. Das bedeutete, dass sie seit über neunhundert Jahren hier eingekerkert waren. Elfen wurde nachgesagt, dass sie über tausend Jahre leben konnten. Ohne Nahrung. Ohne Wasser. Nur mit der Macht des Manas. Und das hatte Tethe'alla ausgenutzt. Einst waren diese Elfen wohl mächtig gewesen. Doch jetzt waren sie nur noch Schatten. Schatten ihrer Selbst.

Kratos fasste einen Entschluss. Er vergaß den Eid, den er Avanel geschworen hatte. Er vergaß, dass all die Leben seiner Armee auf dem Spiel standen.

Er vergaß alles.

»Ihr braucht euch nicht opfern …«, antwortete er. »Ich bin hier, um euch zu erlösen. Hört auf, zu leben. Ihr dürft sterben. Ihr müsst nicht mehr leben.«

Der alte Greis schaffte etwas, was der Rothaarige für unmöglich gehalten hatte.

Er lächelte.

Es war ein Lächeln, das man nicht beschreiben konnte. Es drückte so unendlich tiefe Dankbarkeit aus. Verzweifelte Dankbarkeit. Abgrundtiefe, verzweifelte Dankbarkeit.

»I-ich … d-d-danke … e-euch … Herr …«

Mit der letzten Kraft, die er aufbieten konnte, stützte sich der verkrüppelte Greis auf beiden Händen auf und sah zu seinem Leidensgenossen. Kratos musste kein Elfisch verstehen, um zu begreifen, was er sagte.

»Wir dürfen sterben.«

Das, was Kratos nun sah, vergaß er nie. Ein Elf nach dem anderen fiel in sich zusammen. Sie fielen einfach zu Boden. Sie starben. All diese Elfen starben vor seinen Augen in dankbarer Erleichterung.

Ihre Knochen brachen, ihre Haut schabte auf. Kratos wollte es nicht sehen und nicht hören, doch er konnte sich nicht abwenden. Wie lange er dort stand, wusste er nicht mehr. Er schloss die schwere Eisentür erst, als auch der letzte Elf tot zu Boden gefallen war.

Dann lehnte er sich an die Tür und rutschte daran herunter. Das metallische Schaben hörte er nicht. Er hörte nichts mehr. Er sah nichts mehr. Er spürte nur noch.

Noch niemals hatte er sich so sehr geschämt, ein Mensch zu sein, wie in diesem Moment.

Es kostete ihn unglaublich Kraft, sich wieder zu erheben. Doch er tat es.

Wie von selbst hüllte er seine Hand in eine Flamme und schmolz das schwere Eisenschloss. Niemand würde sie mehr stören. Niemand würde ihre Ruhe unterbrechen, auf die diese Elfen Jahrhunderte lang gewartet hatten.

Niemand mehr.

Die Flammen erloschen. Kratos schloss die Augen. In seinen Ohren hatte er noch immer die Geräusche der sterbenden Elfen.

So etwas durfte nie wieder geschehen. Niemals wieder. Kein Wesen sollte noch einmal solche Qualen erleiden. Kein Mensch, kein Elf, kein Halbelf, kein Zwerg, kein Protozoon, kein Tier.

Und dafür musste er diesen Krieg beenden.

Koste es, was es wolle.
 

Aufrecht thronte Kratos auf Silabéls Rücken. Hinter ihm stand der Rest seiner Armee in Reih und Glied. Es waren nur noch knapp tausend Soldaten. Rein gar nichts zur Übermacht von Sylvarant.

Der Rothaarige sah die nahende Dunkelheit. Er wusste, dass es die Macht des Elementargeistes der Dunkelheit war. Die Macht Shadows. Yuans letzter Trumpf.

Alles, was seine Armee hatte, waren blauleuchtende Fackeln. Dieses Feuer kam gegen die Dunkelheit Shadows an und erlosch nur durch Sonnenlicht, welches längst durch die angebrochene Nacht verschwunden war.

Kratos fixierte die nahende Dunkelheit. Er hatte seit der Begegnung mit den Elfen nicht mehr gesprochen. Zu schrecklich waren die Erinnerungen daran. Doch er musste jetzt kämpfen. Er konnte Meltokio nicht aufgeben. So fanatisch, wie Yuan war, wusste er nicht, zu was sein Blutsbruder fähig war. Er traute ihm zu, sie das gleiche Leid erdulden zu lassen wie seiner Rasse. Aus Rache.

Lieber tötete er seinen Bruder und starb selbst, als dass er zuließ, dass er sich derart versündigte. Er mochte ihn hassen, für alles, was er getan hatte. Aber er war immer noch sein Bruder.

Kratos zog sein Schwert und sah zu seinen Soldaten.

»Wenn wir kämpfen, dann nicht für den Sieg! Wir kämpfen für den Frieden!«, rief er und hob sein Schwert in die Höhe. Seine treuen Soldaten erwiderten den Ruf.

Und dann kamen sie.

Die Streitmacht Sylvarants.

Kratos befahl den Angriff und stürmte auf Silabéls Rücken los. Er preschte in die Dunkelheit hinein, die alles zu verschlingen schien, dicht gefolgt von den letzten Streitkräften seiner Heimatstadt, die nicht mehr seine Heimat war.

Das Licht seiner Fackel, die an Silabél befestigt war, reichte nicht weit, aber weit genug, um sich zu verteidigen. Kaum hatte Shadows Schatten ihn verschlungen, wurde er angegriffen. Ein Hagel aus Pfeilen, die brannten, vereist, oder mit tödlicher Elektrizität geladen waren, sausten auf ihn nieder. Er riss sein Schild hoch, um sich und Silabél zu schützen. Dann parierte er Angriffe. Schwerter, Äxte, Speere und alle nur erdenklichen Waffen wollten seinen Körper durchbohren und ihn umbringen, doch er ließ es nicht zu.

Er kämpfte, wie er es gelernt hatte. Gnadenlos. Ob Feind oder er selbst, er zeigte keine Gnade.

Er köpfte und erstach, er tötete und verkrüppelte. Mit all seiner von den Göttern gegebenen Kraft kämpfte er in diesem Kampf. Nicht um sein Leben. Nicht um den Sieg. Er kämpfte um das Ende dieses Krieges. Was immer es kostete.

»Tötet sie!«

»Eruption!«

»Zeigt keine Gnade!«

»Thunder Arrow!«

»Brecht ihnen die Knochen!«

»Grave!«

»Lasst sie erblinden!«

»Air Thrust!«

Kratos spürte einen stechenden Schmerz in seiner Rippe. Eine Axt hatte ihn getroffen und Blut quoll über seine Rüstung. Doch jetzt wurde er erst richtig wütend.

»Demon Spear!«

»Köpft sie!«

»Icicile!«

»Weiter so! Es ist alles erlaubt!«

Wieder Schmerz. Ein Pfeil hatte sich durch seinen Oberarm gebohrt. Ein zweiter folgte, schmolz mit seinem Feuer seine Rüstung und bohrte sich durch seinen Magen. Kratos keuchte. Sein Körper verkrampfte sich, sein Mana pulsierte. Es wollte raus!

Mit einem markerschütternden Schrei hüllte er sein Schwert einmal mehr in Flammen. Er sprang auf Silabéls rücken, drehte und wandte sich, verteidigte sein Leben. Niemand würde ihn jetzt noch stoppen.

»Für Flavius von Albion!«, schrie er und seine Männer antworteten.

»Für die Opfer von Sybak!«, rief er und bekam wieder Antwort.

»Für den Frieden!«, forderte er und der mutige Schrei seiner Soldaten ertönte.

Er riss Silabél herum, als ein riesiger Feuerball auf ihn niederzusausen drohte.

Und dann geschah es.

Silabél brüllte aus ganzer Kehle auf und verlor das Gleichgewicht. Kratos konnte nicht reagieren und fiel mit ihr zu Boden. Das Schwert eines gefallenen Kriegers bohrte sich dabei durch seine Schulter. Den Schmerz jedoch mit einem Schrei aushaltend und ansonsten ignorierend, zwang er sich, wieder aufzustehen. Das Schwert blieb dabei gnadenlos in seiner Schulter stecken.

Silabél lag in einer Lache dunklen Blutes. Auf ihrer Brust hatte sich eine klaffende Wunde gebildet, Kratos konnte ihr verletztes Herz schlagen sehen. Das Blut seiner geliebten Freundin spritzte ihm ins Gesicht, doch sogar das war ihm egal. Er legte seine Arme um das Drachenweibchen.

»Silabél ...!«, hauchte er. »Silabél, nein ... nicht auch noch du ...!«

Die Steppenläuferin sah ihn voller Trauer aus ihren schwarzen Augen an. Als er sich nicht darin sehen konnte, brach ihm sein Herz ein weiteres Mal.

»Es wird alles wieder gut ...«, hauchte er, das Kampfgetümmel um sich völlig ignorierend. »Halt' durch ...«

Doch Silabél wurde mit jedem Schlag ihres verletzten Herzens schwächer. Sie schnaubte nach Luft, doch sie bekam kaum noch welche. Kratos weinte. Er konnte seine Tränen nicht mehr zurückhalten. All seine Gefühle brachen über ihn herein.

»Silabél ...!«, sagte er und schüttelte seine plötzlich verstummte Freundin. »Silabél, nein!«

Doch das rote Drachenweibchen hatte seinen letzten Atemzug getan.

»NEEEEEEEEEEEIIIIIIN!«

Er schrie. Er schrie aus voller Kraft, die ihm seine Lunge gab. Das Schwert noch immer in seiner Schulter habend, erhob er sich. Seine Augen waren stumpf geworden. Er war allein. Es gab niemanden mehr, für den er seinen Hass hätte zügeln müssen.

Und dieser Hass galt nur einem.

»YUAN!«, schrie er über das ganze Schlachtfeld. »KOMM ZU MIR UND KÄMPFE WIE EIN MANN!«

Doch niemand kam.

»ZEIG DICH!«, verlangte er. »STIRB, WIE JEMAND, DER DAS WORT EHRE KENNT!«

Und dann tauchte er tatsächlich auf. Nicht eine Schramme hatte er abbekommen. Doch Kratos erkannte das dunkle Blut seiner Drachenfreundin an der Klinge seines Axtschwertes.

»Du ...!«, zischte er. »DU!«

Noch immer mit Schwert und Pfeilen durchbohrt, stürzte der Krieger sich wie von Sinnen auf seinen Blutsbruder. Yuan parierte den Schlag zwar, fiel jedoch von seinem Reittier. Kratos rang ihn zu Boden, was übermenschliche Kräfte benötigte. Doch sein Hass war so groß, dass er einen Gott hätte ermorden können. Yuan wehrte sich verzweifelt gegen die Attacke seines Blutsbruders.

»Du wolltest es nicht anders!«, brüllte er ihm entgegen. »Du hast mich verraten!«

»Ich dich verraten?!«, schrie Kratos. »Ich war der einzige der dein beschissenes Halbelfenleben beschützt hat, du miese, hinterhältige Kanalratte!«

Kratos legte seine bloßen Hände an Yuans Hals und begann, ihn zu würgen. Gnadenlos und ohne jedes Mitgefühl.

»Stirb!«, verlangte er. »Stirb wie all jene, die ich geliebt habe!«

Yuan konnte sich nicht mehr wehren. Er rang um Luft, doch Kratos' Griff war so stark, dass sein Kehlkopf zu brechen drohte. Schließlich legte er ihm eine Hand auf die Brust. Mit seiner letzten Kraft hauchte er einige Worte.

»Ich ... liebe dich ... noch immer ...«, röchelte er. »In ... dignation ...!«

Ein Blitzschlag sondergleichen durchfuhr Kratos' schwer verletzten Körper und schleuderte ihn von Yuan weg. Kratos sah noch, wie sein Schwert, das ihm aus der Hand geschleudert wurde, sich durch Yuans Körper bohrte. Dann prallte er mit der ganzen Wucht seines Zaubers gegen einen Felsen und hörte seinen eigenen Schädel brechen.

Dann wurde es pechschwarz um ihn.
 

Ein helles Licht durchbrach die Dunkelheit, die sich über das Schlachtfeld gelegt hatte.

Es war totenstill.

Jeder Krieger, egal, zu welcher Seite er gehört, lag leblos auf der Erde.

Der Boden war mit Blut durchtränkt, die Asche jener, die den Feuer- oder Blitzzaubern zum Opfer gefallen waren, wurde vom Wind verweht. Grausam verstümmelte Leichen säumten den Boden, das Gras darunter verwelkte. Fliegen surrten umher, nährten sich an diesem Ort des Todes, der ihnen Leben brachte. Für gewöhnlich wären auch Geier, Krähen und andere Aasfresser in der Nähe gewesen, doch sie mieden diesen Ort aus einem bestimmten Grund.

Während ein blonder, junger Halbelf mit seiner großen Schwester im Licht von Luna, dem Elementargeist des Lichtes, über die Leichten stieg und nach Überlebenden suchte, ertönte hoch oben über dem Schauplatz der letzten Schlacht ein wehklagender Ruf.

Noishe zog weite Kreise über dem Schlachtfeld. Seine Rufe waren so unglaublich traurig, dass selbst jemand, der ein Herz aus Stein besaß, zu weinen begonnen hätte.

Im Licht der aufgehenden Sonne, schien es, als trage der Wind Kristalle mit sich. Doch in Wahrheit waren es Tränen.

Noishe weinte, während er das uralte Klagelied der friedliebenden Protozoen sang, das weit über das Land getragen wurde.

Und eine dieser Tränen, die, die am allerschönsten schimmerte, fiel tief hinab und zerbrach auf dem Augenlid eines rothaarigen Kriegers …

Reue und Sühne

Der Beginn des dritten Teils "Seraphim's Symphony"!

Wer weitere Infos haben möchte, schaue bitte in mein Blog ;)

Viel Spaß beim lesen!

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Zärtlich strich eine Hand durch sein Haar. Sie war unglaublich sanft, behandelte es, als sei es das zerbrechlichste auf der Welt.

Er öffnete seine Augen. Um ihn war nichts als Licht, jedoch blendete es ihn nicht. Wo war er? Was war das für ein Ort? Was war geschehen? Wie war er hierhergekommen? Obwohl er sich hätte fürchten müssen, tat er es nicht. Alles hier schien so warm und sanft zu sein. Er hatte keine Schmerzen mehr. Er fühlte sich unglaublich leicht. Als sei alle Last von ihm abgefallen.

»Bin … ich tot …?«

»Nein, das bist du nicht.«

Er sah auf und blickte in ein Paar bernsteinfarbener, liebevoller Augen. Und er begriff, wen er vor sich hatte.

Kratos' Kopf war auf den Schoß seiner Mutter gebettet.

»Mama …!«

Nebela lächelte.

»Rotschopf …«, erwiderte ihre sanfte Stimme. »Was machst du nur für Sachen …?«

Kratos erinnerte sich langsam. Die Bilder der Schlacht kamen ihm in den Sinn. Und auch, wie er Yuan gewürgt hatte, gebeutelt vom Hass und bereit, ihn zu töten. Nebelas Sohn schloss die Augen wieder. Jedoch legten sich die zarten Hände seiner Mutter auf seine Wangen.

»Gräme dich nicht … du warst krank, mein Kind … schwer krank …«, wisperte sie. »Krank von all dem Leid, das du sahst …«

Die sanfte Stimme seiner Mutter weckte in dem verbitterten Krieger das Kind. Und er begann zu weinen. Er weinte bitterlich, fast einem Säugling gleich. Alles brach aus ihm heraus. Auf einmal, nur durch diese sanften Worte, diese Stimme. Nebela hielt ihn fest und schmiegte ihren Sohn an sich.

»Weine nur … du hast es dir solange verboten …«

Und Kratos weinte. Weinte all den Kummer von seiner Seele. All die Trauer, all den Schmerz. Es war, als würden die Tränen seine Seele waschen. Nebela blieb die ganze Zeit über bei ihm, tröstete ihn und gab ihm Halt. Etwas, das ihr Sohn viel zu lange nicht mehr genießen durfte.

»Es ist gut … es ist alles gut … es wird alles gut.«

Nur langsam beruhigte Kratos sich. Seine Mutter sprach weiter.

»Hab keine Angst …«, sprach sie ruhig. »All jene, die du verloren hast, sind stets bei dir. Sie wachen über dich.«

»Es tut mir so leid …«, wisperte der Rothaarige nur.

»Ich weiß«, antwortete sie. »Du reust. Du hast Schmerzen vor Reue. Und deswegen bin ich hier …«, sagte sie und lächelte sanft zu ihm herunter. »Ich helfe dir, diese Schmerzen zu tragen …«

Weiterhin streichelte sie ihren Sohn, den sie nur so unglaublich selten, so nah bei sich haben konnte.

»Erinnerst du dich daran, was ich einst zu dir sagte? Als wir uns das erste Mal wiederbegegnet sind?«

Kratos wusste nicht, warum, doch es fiel ihm sehr schnell wieder ein. Die wunderschöne Wiese über die er, noch klein und doch bereits vom Krieg berührt, gelaufen war. In ihre Arme. Die Arme seiner Mutter.

»Du sagtest, ich hätte eine Aufgabe …«

»Genau … und diese hast du noch nicht erfüllt.«

Zärtlich hob sie den Kopf ihres Sohnes an und blickte ihm in die Augen.

»Versprich mir etwas …«

Der Rothaarige sah sie nur fragend an.

»… lass dich niemals wieder vom Hass beherrschen. Niemals wieder. Er bringt nur Leid und Tod über die Welt. Du bist nur sehr knapp dem Tode entronnen.«

Ihr Blick wurde nun ernst.

»Ich habe dich mit all meiner Kraft geboren. Ich schenkte dir dein Leben. Wirf' es nicht weg … versprich' es mir.«

»Ich … verspreche es …«, hauchte Kratos leise.

»Dann ist es gut …«, antwortete Nebela sanft.
 

Es war dunkel. Das angenehme, warme Licht, das seine Mutter ausgestrahlt hatte, war verschwunden. Es war dunkel und kalt. Und er hatte Schmerzen. Grausame Schmerzen. Nicht nur an seinem Körper. Nein. Um ihn wahrzunehmen, war der Krieger noch viel zu tief in seinem Unterbewusstsein verloren. Es war seine Seele. Seine Seele brannte vor Schmerz. Es waren die schlimmsten Schmerzen, die er je spüren musste.

Und er war allein.

Verzweifelt begann er, die Namen jener zu rufen, die er liebte.

Doch niemand kam.

Er war und blieb allein in dieser kalten Dunkelheit.

Kratos wandte sich. Diese Schmerzen! Was waren das für Schmerzen? Sie brannten. Es war, als würde er in einem offenen Feuer liegen. Nackt und ungeschützt wie ein Neugeborenes. Auf den Schutz anderer angewiesen. Doch er war und blieb allein. Allein in diesem Schmerz. Diesem Feuer, das ihn eigentlich hätte töten müssen und es doch nicht tat.

War das die Schuld? War das die Reue, von der seine Mutter gesprochen hatte? Aber hatte sie nicht gesagt, sie würde ihm helfen?

Die Schmerzen machten ihn wahnsinnig. Es brannte, pulsierte, zerfetzte ihn. Und doch spürte er es noch immer. Er konnte nicht ohnmächtig werden, denn er war es. Er war ein Gefangener seines Körpers, seines Geistes. Er konnte nicht fliehen. Er konnte es nur ertragen. Und hoffen, dass es aufhörte.

Zusammengekauert lag er dort. Fristete sein Dasein, ertrug die Schmerzen seiner Seele. Irgendwann tauchten Bilder vor ihm auf, doch er sah sie nicht. Zu groß war die Pein, die er ertrug. Er war blind vor Schmerz.

Immer weiter kauerte er sich zusammen, bis er dalag, wie ein Embryo im Leib seiner Mutter. Nur, dass er nicht im schützenden Bauch seiner Mutter war. Fühlte sich so ein Kind, das nicht gewollt wurde? Ein Ungeborenes, dass, so unvollendet, wie es war, aus dem Leib seiner Mutter verbannt wurde, zum Sterben verdammt?

Erneut erschienen Bilder. Doch dieses Mal sah er sie nicht. Er spürte sie. Er war es selbst, der es sah und doch jemand anderes.

Er sah aus den Augen seiner Mutter. Sie war schwanger. Aber nicht mit ihm.

Sein Vater war auch da. Und er war außer sich vor Zorn. Er prügelte sie. Schlug sie, trat sie, bis sie auf dem Boden lag. Und blutete. Furchtbar blutete. Das Blut klebte zwischen ihren Beinen. Sie hatte Angst. Sie weinte. Erebos sah schrecklich aus. Er besaß zwar noch beide Hände, aber der brennende Hass in seinen Augen war bereits da gewesen.

Und dieses Blut. Diese Schmerzen. Was bedeutete dieses schreckliche Bild?

Tief in Innerem wusste er es. Er war nicht das erste Kind seiner Mutter gewesen. Sie war bereits davor einmal schwanger gewesen. Auch von Erebos, aber nicht mit Kratos selbst. Sondern mit einer Tochter.

Erneut begann Kratos zu weinen, die Tränen brannten, schürten das Feuer, das ihn quälte. Und doch weinte er. Jedoch nicht, weil er litt. Sondern weil jemand anderes gelitten hatte. Jemand, den er liebte. So sehr liebte und so sehr vermisste. Und weil er wusste, dass er eine Schwester gehabt hätte. Wie musste es ihr ergangen sein? Hatte sie es gespürt, wie ihre Mutter sie verloren hatte? Besaß ein so unglaublich kleines, schutzloses, unvollendetes Lebewesen schon eine Seele?

Die Bilder änderten sich.

Er sah ein Neugeborenes. Gesund, kräftig. Nicht er selbst. Ein anderes Kind. Er erkannte etwas bläuliches auf seinem Kopf. War es etwa Yuan, den er sah?

Er lag im Arm einer Frau. Geschützt vor den Blicken von Schatten. Schatten, die an ihnen vorbeiliefen. Sie waren bewaffnet. Die Frau hatte Angst. Panische Angst. Er spürte ihre Angst. Neben ihr liefen zwei weitere Kinder. Ein Junge und ein Mädchen. Der Junge war älter. Das Mädchen klammerte sich an ihren Bruder, lief ihrer Mutter nach. Der Bruder trug einen Korb mit sich. Einen Weidenkorb.

Die Frau lief. Sie lief, so schnell sie konnte. Sie drückte das Neugeborene unglaublich dicht an ihren Körper. Es war ein Wunder, das es nicht erstickte.

Dann wurde es ruhig. Sie befreite das kleine Kind aus ihrer Umarmung und wickelte es in ein Tuch ein. Dann legte sie es in den Weidenkorb.

Plötzlich änderte sich seine Sichtweise. Er sah die Frau aus den Augen des Kindes. Verschwommen, undeutlich. Ihre Stimme, die Dinge sagte, die er nicht verstand, klangen beruhigend. Er hielt einen Finger von ihr fest. Mehr konnte er nicht festhalten. Er wurde müde. Der Finger löste sich aus seiner Hand.

Auch das Bild verschwamm.

War das Yuan gewesen? Vielleicht seine Mutter? Seine Geschwister, von denen er nichts wusste? Ja. Es war seine Familie gewesen. Er hatte gesehen, wie Yuans Mutter ihn hatte beschützen wollen. Vor diesen bewaffneten Schatten. Was war nur geschehen?

Und wieder kamen Bilder auf.

Er erkannte die prunkvolle Umgebung sofort. Es war das Schloss von Meltokio.

Wieder sah er aus den Augen eines anderen. Er sah auf eine Halbelfe herunter. Sie hatte türkises Haar. Ihr Bauch war gerundet. Auch sie war schwanger. Und er wusste, wer es war. Es war Vivianes Mutter. Er selbst sah aus den Augen von Antaris auf sie hinab. Küsste sie auf die Stirn. Zärtlich, liebevoll, beruhigend. Und dann ging er.

Dieses Mal änderte sich die Szene schneller. Er stand auf einem Schlachtfeld. Jemand kam zu ihm. Er sagte einige Worte, die er nicht verstand. Und doch begriff er sie. Und die tiefe Verzweiflung Antaris' machte sich in ihm breit. Er wollte nicht mehr leben. Die ganze Welt war grau. Grau und farblos. Der Krieg war ihm egal. Ihm war alles egal. Er hatte auf einen Schlag alles verloren. Alles, wofür er gekämpft hatte.

Jemand rannte auf ihn zu. Er hatte seinen Speer vor sich. Er drehte sich um. Breitete seine Arme aus und sah die Spitze des Speeres auf sich zu rasen.

Das Bild riss ab.

Warum sah er all diese Dinge? Dinge, die er nicht wissen konnte und doch gerade gesehen hatte, als wären es alte Erinnerungen.

Es wurde wieder dunkel um ihn. Die Schmerzen waren noch immer da. Doch aus irgendeinem Grund ertrug er sie nun. Er schrie nicht mehr. Er wandte sich nicht mehr. Er ertrug sie. Ertrug sie, weil andere Wesen viel Schlimmeres erlebt hatten als er.

Und schließlich, drangen Stimmen an sein Ohr.

Es waren keine Worte. Es war Gelächter. Es war das Lachen von Kindern.

Das Lachen von unbeschwert spielenden Kindern.

Hatte seine Mutter sich geirrt? War er doch gestorben? In der Welt, in der er lebte, hatte er dieses Lachen schon seit Jahren nicht mehr gehört.

Und dann kamen neue Schmerzen. Aber sie waren bei Weitem nicht so schlimm wie die, die seine Seele hatte erdulden müssen.

Es waren dumpfe Schmerzen, die in weiter Ferne lagen. Sie wirkten irreal. Und doch waren sie da. Mit der Zeit kamen sie näher, wurden stärker. Und je stärker sie wurden, desto lauter wurde das Lachen.

Dann herrschte eine Weile wieder Stille. Er wusste nicht warum, aber es war ruhig. Und dann ertönte es wieder. Das Lachen. Dieses Mal mischten sich Stimmen hinein, doch er verstand sie nicht.

Dieser Rhythmus wiederholte sich. Immer und immer wieder. Und mit jedem Mal wurden das Lachen lauter, die Stimmen deutlicher. Bis er endlich Worte verstand. Erst waren es nur Satzfetzen, doch schließlich hörte er richtige Gespräche.

»… bist du sicher, dass er wieder aufwachen wird? Er ist nun schon zwei Monate ohne Bewusstsein.«

Es war die Stimme eines Kindes. Keines Kleinkindes. Eines Kindes, das das zehnte Lebensjahr schon hinter sich gelassen hatte. Sie war angenehm. Kratos hörte sie gern.

»Ich bin mir sicher, dass er wieder zu sich kommt.«

Die Stimme einer Frau. Melodisch und hoch, aber nicht zu sehr, dass es unschön zu hören war.

»Der hat schon ganz andere Sachen überlebt.«

Die Stimme eines Mannes. Sie klang vertraut, doch er konnte sie nicht zuordnen.

»Kennt ihr euch?«, fragte das Kind.

»Leider«, antwortete der Mann.

»Warum leider?«, wollte die Frau wissen.

Der Mann schnaubte.

»Lange Geschichte.«

Dieses Schnauben. Diese Tonlage. Kratos kannte sie, aber es wollte ihm einfach nicht einfallen, wem sie gehörte. Irgendetwas aber trieb ihn dazu, es herauszufinden. Wenn er diesen Mann nur sehen könnte …

Er versuchte, seine Augen zu öffnen. Natürlich hatte er sie geöffnet. Doch dort, wo er sich befand, in seinem eigenen Unterbewusstsein, zählte das nicht. Er musste die Kontrolle über seinen Körper zurückgewinnen. Nur wie?

Es war alles so lange her …

Doch er musste es. Er wusste, dass er es schaffen musste. Und schließlich gewann er die Kontrolle zurück.

»Er wacht auf!«

Wachte er auf? Er war sich nicht sicher. Er versuchte, seine Augenlider zu öffnen, doch sie waren unendlich schwer. Und dann noch diese Schmerzen …

»Hab' ich doch gleich gesagt.«

Wieder diese Stimme. Er musste wissen, wem sie gehörte. Sie war so vertraut und doch so fremd …
 

Das helle Sonnenlicht schmerzte furchtbar in Kratos' Augen. Ein Wimmern entfuhr seiner Kehle, doch dann beugte sich jemand über ihn und verdeckte das Licht.

Er sah alles nur sehr verschwommen und mehrfach. Blondes Haar und blaue Augen waren das Erste, was er zu erkennen glaubte. Von all dem, was er gesehen hatte, in seinen Sinnen getrübt, meinte er, einen Engel über sich zu sehen.

»Hey! Kannst du mich hören?«

»Mithos, lass ihn. Er muss erst einmal zu sich finden.«

Das stimmte.

Alles war so verwirrend. Diese ganzen Sinne hatte er lange nicht mehr benutzt. Zumindest nicht bewusst. Doch ganz langsam gewann seine Umwelt an Konturen.

Er lag auf etwas Weichem, das merkte er. Die erste Wand, die er sah, war jedoch aus Stein. Dann entfuhren seiner Kehle Laute, die sich nach wenigen Versuchen zu Worten formten.

»Wo … bin ich …?«

Eine Frau mit grünem Haar trat vor ihn und lächelte ihn beruhigend an.

»Du bist in Sicherheit«, sagte diese sanfte Frauenstimme, die er schon kannte. Ihr gehörte sie also. Das blonde Kind trat ebenfalls zu ihm.

»Ich bin froh, dass du endlich wach bist«, sagte es. »Ich dachte schon, du kommst gar nicht mehr zu dir.«

»Wer …«, brachte er noch hervor, doch dann versagte seine Stimme. Seine Zunge fühlte sich an, als wäre sie mit Pelz bewachsen und klebte an seinem Gaumen.

»Er wird Durst haben«, meinte die Frau. »Mithos, gib' ihm bitte etwas Wasser.«

Wenige Augenblick später glitt herrliche, kühle Flüssigkeit durch seinen ausgetrockneten Mund. Wasser. Wie köstlich es doch schmeckte!

»Wer … war dieser Mann …?«, fragte er. »Diese Stimme … wem … gehört sie …?«

»Mann?«, fragte das Kind, das offensichtlich Mithos hieß. »Ach so, du meinst bestimmt Yuan.«

Dieser Name drang wie ein Dolch in Kratos' Bewusstsein ein. Von einer Sekunde auf die Andere erinnerte er sich wieder an alles. An restlos alles. Jedes Detail fiel über ihn herein. Es war zu viel. Zu viel auf einmal.

Und wieder wurde es schwarz um ihn …
 

In meiner Ohnmacht, die nunmehr mit meinen wirklichen Erinnerungen gesäumt war, wurde ich in schreckliche Alpträume eingekerkert. Einige waren die Wiederholungen meiner Erlebnisse, andere waren abstrakt und unlogisch, aber nicht weniger angsteinflößend.

Mein Nahtoderlebnis hatte mein Bewusstsein verändert. Während meine Ohren weiterhin Stimmen hörten, beherrschte ich nun noch eine andere Art des Hörens: Ich spürte Stimmen.

Ich brauchte lange, um zu begreifen, dass es die Seelen Verstorbener waren, die ich auf diese Art und Weise hörte. Ihr Wispern drohte mich in den Wahnsinn zu treiben.

Warum hörte ich sie? Ich war doch am leben. Waren sie es, die mir diese seltsamen Eingebungen und Bilderreihen geschickt hatten?

Ich wusste nicht, wie lange ich in dieser Dunkelheit gefangen war, die nur von grauenhaften Alpträumen und seltsamen, fremden Erinnerungen abgewechselt wurde. Für mich erschien es ewig zu sein.

Nach und nach legten sich diese seltsamen Träume, jedoch hatten sie mich verändert. Denn ich hatte sie oftmals aus dem Blickwinkel anderer gesehen. Ich hatte mich selbst gesehen. Und ich hatte Angst vor mir.

Mir war nicht bewusst gewesen, wie kalt ich geworden war. Ich hatte gnadenlos gemordet. Als ich aus Flavius' sterbenden Augen in meine eigenen sah, begriff ich erst, wie stumpf ihr Ausdruck geworden war. Was war aus mir geworden?

Mit dieser Einsicht, gewann ich langsam endgültig mein Körpergefühl wieder, entfloh endlich der Dunkelheit meines Unterbewusstseins und der Erinnerungen, die nicht mir gehörten.

Und dann wachte ich auf … nachdem ich insgesamt drei Monate in mir selbst gefangen gewesen war.
 

Es war Nacht, als Kratos seine Augen aufschlug.

Die Schmerzen seines Körpers waren nichts im Vergleich zu dem, was er durchlitten hatte. Außerdem waren seine Wunden bereits sehr gut verheilt. Wie lange war er ohnmächtig gewesen?

Vorsichtig erhob er sich. Obwohl er nur saß, war ihm furchtbar schwindelig. Sein Kreislauf musste sich erst daran gewöhnen, dass er wieder gebraucht wurde. Der Rothaarige sah sich um.

Er befand sich in einer Ruine, wie es ihm schien. Viele der Steinwände, die ihn umgaben waren brüchig und rissig. Sein Bett aus Stroh, auf dem er lag, war in einer Art Gang gelegen. Ein Stück entfernt von ihm, sah er Mondlicht durch einen Eingang fallen. Er konnte sogar Gras erkennen. Richtig grünes Gras. Wie lange hatte er kein junges Gras mehr gesehen?

Dann fiel sein Blick neben sich. Ein Kind schlief dort. Kratos erinnerte sich dunkel an den Jungen. Er war bei ihm gewesen, als er das erste Mal aufgewacht war. Wenn er sich nicht irrte, war sein Name Mithos.

Neben Mithos, etwas weiter entfernt von ihm selbst, lag eine schlafende Frau. Ihr Haar war grün. Sie war von schlanker Statur, jedoch konnte Kratos' geschulter Blick einige Muskeln erkennen.

Und dann sah er zur anderen Seite.

Dort lag er. Friedlich schlafend. Eine blaue Haarsträhne fiel ihm ins Gesicht und er nieste leise. Grummelnd drehte sich der Hauptmann Sylvarants auf die Seite, sein Gesicht zu Kratos gewand.

»Yuan …«, wisperte er leise.

Kratos war seltsam zu Mute, als er ihn so friedlich daliegen sah. Im Schlaf erschien er ihm noch immer derselbe zu sein. Sein kleiner Blutsbruder, den er so sehr liebte.

Doch auf der anderen Seite glühte Wut in ihm. Es war kein Hass mehr. Aus irgendeinem Grund konnte er Yuan nicht mehr hassen. Er war nur furchtbar wütend … und abgrundtief enttäuscht.

Das Blut so vieler klebte an den Händen seines Bruders. Flavius und Silabél zählten dazu. Flavius, der Vater, den er niemals gehabt hatte und Silabél, seine treue Gefährtin, die er schon länger kannte als Yuan.

Beide waren tot. Für immer von der Welt verschwunden. Er würde sie erst wiedersehen, wenn er selbst starb.

Erneut liefen stumme Tränen über seine Wangen, doch er bemerkte sie kaum. Erneut sah er Yuan an. Sein Blick zeigte tiefe Verletzung.

»Was ist nur aus uns geworden?«, fragte er sich. »Erbitterte Feinde … Mörder.«

Er betrachtete den schlafenden Yuan sehr lange Zeit. Und irgendwann schien er es zu bemerken und öffnete die Augen. Diese tannengrünen Augen, die einst voll Schalk waren.

Die beiden sahen sich an. Beide schwiegen, keiner rührte sich. Nicht einmal zu atmen wagten sie wirklich. Kratos hatte schon Angst, dass Yuan sich auf ihn stürzen würde, um sein Werk, das er begonnen hatte, zu Ende zu bringen. Doch dann erinnerte er sich an die letzten Worte seines Blutsbruders.

»"Ich liebe dich noch immer" … ist das wirklich die Wahrheit?«

Doch egal, wie lange er in Yuans Augen blickte, er fand die Antwort nicht. Er konnte nicht mehr aus ihnen lesen, wie einst, als sie noch Kinder gewesen waren. Sie waren fremd geworden. Zuviel war geschehen. Zu hart war die Prüfung ihrer innigen Freundschaft gewesen.

»Hass bringt nur Tod und Leid …«, rezitierte Kratos die Worte seiner Mutter. »Sie hatte Recht … wie blind war ich? Wie blind waren wir beide?«

Ohne ein Wort zu sagen, drehte Yuan sich um. Der Rothaarige aber konnte seinen Blick nicht von ihm lassen. So viele Dinge gingen ihm durch den Kopf …

Was war mit Yuan geschehen, dass er so verbittert gegen Tethe'alla gekämpft hatte? Als sie sich damals bei den Rebellen begegnet waren, hatte er nicht mehr seinen Bruder vor sich gesehen. So viel Hass und Bitterkeit hatten an ihm genagt. War es die Enttäuschung darüber gewesen, dass sein Bruder ihn sterbend zurückgelassen hatte? War er selbst daran schuld, dass Yuan so geworden war?

Nein, dachte er dann. Yuan hatte ihn damals aufgefordert, sein eigenes Leben zu retten. Er sollte frei sein, für sie beide.

War es die Tatsache, dass er für Tethe'alla gekämpft hatte? Dass er sich gegen ihn entschieden hatte? Er wusste es nicht. Und er würde die Antwort auf diesem Wege auch nicht finden.

Wieder wurde er müde. Vorsichtig legte er sich wieder auf das Stroh und zog die Decke, die über ihm lag, bis zu seinem Hals hoch. Ihm war kalt. Furchtbar kalt.

Die Kälte der Einsamkeit umarmte seine Seele, wie die Nacht die Welt.

Und er wusste nicht, ob er dieser Umarmung je wieder entkommen konnte …
 

Als er am nächsten Morgen aufwachte, spürte er, dass ihm jemand einen kühlen Lappen auf die Stirn legte. Als er die Augen aufschlug, sah er die grünhaarige Frau über sich. Das erste Mal konnte er sie wirklich ansehen und betrachten. Sie hatte schöne, smaragdgrüne Augen, die eine unglaubliche Sänfte aufstrahlten. Ihr Gesicht war oval geformt, die Lippen schienen immer zu Lächeln. Die Spitzen ihrer Ohren schauten aus der grünen Haarpracht hervor, die sie offen trug und über die zierlichen, aber nicht schmächtigen Schultern fiel.

»Guten Morgen«, sagte sie, dabei freundlich lächelnd. Kratos wollte sich erheben, doch sie legte ihm eine Hand auf die Brust. Für eine Frau war sie beachtlich stark.

»Bleib' noch ein wenig liegen. Du warst sehr lange bewusstlos. Außerdem hast du noch immer Fieber.«

»Danke …«, sagte Kratos leise, denn ihm war bewusst, dass diese Frau sich um ihn gekümmert haben musste, während er in seinem Unterbewusstsein gefangen gewesen war.

»Nichts zu danken«, antwortete sie. »Mein Name ist Martel.«

»Ich … bin Kratos«, stellte der Rothaarige sich vor, dem seine Stimme noch immer nicht ganz gehorchen wollte. Sie lächelte. Ein schönes Lächeln. Sanft und warm.

»Endlich kennen wir deinen Namen«, meinte sie freundlich. »Yuan scheint dich zwar zu kennen, aber er wollte nicht über dich sprechen.«

Kratos' Blick wanderte zum Strohhaufen neben ihm. Er war leer.

»Wo ist er …?«

»Er vertritt sich die Beine. Er hat sich schneller von seinen Wunden erholt als du. Das wird daran liegen, dass er nur oberflächliche Wunden hatte.«

Der Ritter sah sie fragend an.

»Es hat mich all mein Wissen gekostet, deine Lähmungen zu kurieren«, antwortete sie. »In der Schlacht musst du einen Blitzzauber abbekommen haben. Außerdem hattest du schwere Kopfverletzungen«, erklärte sie, »aber ich konnte den Großteil heilen.«

»Warum … hilfst du mir?«

Martel sah ihn einen Augenblick verständnislos an.

»Meinst du, weil ich eine Halbelfe bin?«

»Nein … warum hast du mich gesund gepflegt?«

»Du warst zusammen mit Yuan der einzige Überlebende, falls du dich daran erinnerst, wo du so schwer verwundet wurdest.«

»Ja, das tue ich …«

»Ein Aeros saß neben dir. Nur seinetwegen haben wir dich überhaupt gefunden. Es war vollkommen in der Trauer um dich versunken. Seinen Weinen war so wehklagend, dass wir dir einfach helfen mussten. Aber wir hätten es auch so getan.«

Kratos erinnerte sich an Noishe. Er war bestimmt in der Nähe. Wie immer. Also widmete er sich einer anderen Frage.

»Wir …«, murmelte er. »Du meinst … diesen blonden Jungen … Mithos … und dich?«

»Du erinnerst dich an seinen Namen?«, fragte sie verwundert, lächelte dann aber wieder. »Ja, uns beide meinte ich. Er ist mein kleiner Bruder.«

Während Martel vorsichtig den Verband an seiner Schulter löste, sprach sie ruhig weiter.

»Du warst drei Monate lang bewusstlos. Ich befürchtete schon, du würdest wirklich sterben. Aber irgendetwas schien dich am Leben zu erhalten«, erzählte sie. »Als du im Fieber lagst hast du die ganze Zeit vor dich her geredet.«

Als sie den Verband in eine Wasserschüssel legte, um ihn zu waschen, schwieg sie einen Augenblick, bevor sie ihre Frage stellte.

»Wer ist Silabél?«, wollte sie wissen.

»Silabél …«, wiederholte Kratos.

»Deine Gefährtin?«, fragte Martel sanft.

»So kann man es nennen …«, antwortete Kratos dann. »Sie … war meine treueste Freundin.«

Die Halbelfe schwieg einen Moment. Dann sah sie Kratos an.

»Wenn du reden möchtest, höre ich dir gern zu.«

Doch Kratos antwortete nicht. Martel verstand, dass er dieses Angebot nicht annehmen wollte und akzeptierte es.

»Du wirst hungrig sein«, sagte sie schließlich. »Ich hole dir etwas zu Essen.«

Mit diesen Worten erhob sie sich und verschwand. Und wieder war Kratos allein mit seinen Gedanken …
 

Als Martel zurückkam, hatte sie Mithos bei sich. Freudestrahlend kam er auf Kratos zu und setzte sich neben ihn. Auch ihn konnte Kratos nun genauer ansehen. Sein blondes Haar war schulterlang, die Augen so blau, wie man es nur selten sah. Zwar waren seine Züge noch sehr kindlich, doch man konnte ihm ansehen, dass er geistig bereits sehr reif war. Sein Blick und seine Mimik verrieten es.

»Endlich bist du wieder bei Bewusstsein!«, freute er sich. »Du warst so lange ohnmächtig!«

Kratos schmunzelte, als er von Martel eine Schüssel mit Haferbrei gereicht bekam und sich bedankte.

»Martel hat gesagt, du heißt Kratos«, meinte der junge Halbelf. »Ich heiße Mithos. Martel ist meine Schwester.«

»Das sagte sie mir bereits«, antwortete der Rothaarige, der den Haferbrei sichtlich genoss.

»Wie geht es dir?«, wollte Mithos wissen.

»Besser«, sagte der Ritter. »Dank eurer Hilfe, wie mir Martel erzählte. Ich stehe tief in eurer Schuld.«

»Unsinn!«, behauptete Mithos. »Das war doch selbstverständlich.«

»Das ist Ansichtssache«, meinte Kratos. »Immerhin bin ich ein Mensch.«

»Vor allem warst du verletzt«, mischte Martel sich ein. »Mir ist aufgefallen, dass du mir gegenüber überhaupt nicht feindselig reagiert hast, als du erkannt hast, dass ich eine Halbelfe bin.«

»Warum sollte ich?«, fragte Kratos ehrlich und war sich der Wirkung dieser Frage bewusst. »Ich verabscheue den Rassismus. Ihr seid auch nicht anders als wir Menschen.«

»Wow …«, entfuhr es Mithos. »Du … hältst uns nicht für minderwertig?«

»Nein«, bestätigte der Rothaarige es noch einmal.

Der junge Halbelf strahlte seine Schwester an. Sie nickte milde.

»Wenn das so ist …«, begann er. »Würde ich dir gern etwas erzählen.«

»Nur zu.«

Das blonde Kind setzte sich bequemer hin, während Kratos weiter aß. Jedoch gehörten seine Ohren den Worten des Jungen.

»Also … meine Schwester und ich reisen schon sehr lange umher«, fing er an. »Denn wir haben ein Ziel, das wir verfolgen.«

»Und welches?«, wollte Kratos wissen und sah den Jungen freundlich an.

»Wir wollen den Krieg beenden, der zwischen Sylvarant und Tethe'alla tobt.«

Der Rothaarige verschluckte sich heftig und hustete. Mithos schlug ihm auf den Rücken, damit er nicht erstickte.

»Den Krieg … beenden?«, vergewisserte er sich. »Ihr beiden? Allein?«

Mithos schüttelte den Kopf.

»Es klingt im ersten Moment vielleicht unmöglich, aber … ich bin ein Beschwörer. Mein Ziel ist es vorerst, mit allen Elementargeistern einen Pakt einzugehen, damit ihre Macht nicht mehr für den Krieg missbraucht werden kann.«

Kratos ließ den Haferbrei Haferbrei sein und sah Mithos ungläubig an.

»Warst du etwa derjenige, der damals bei der ersten Schlacht vor Meltokios Toren Gnome herbeirief?«

Mithos nickte.

»Ja, das war ich. Martel und ich wollten nicht, dass so eine Schlacht ausbricht«, berichtete er. »Jedoch … kamen wir beim zweiten Mal zu spät.«

Ehrliche Reue trat in Mithos blaue Augen. Martel legte ihm eine Hand auf die Schulter.

»Wie sollten wir auch rechtzeitig kommen, Mithos? Selbst mit den Sylph konnten wir von Sylvarant nicht innerhalb von Stunden nach Tethe'alla zurückkehren.«

Kratos begann, zu begreifen. Zumindest glaubte er das. Nanami musste Volts Paktierenden zur gleichen Zeit getötet haben, wie Mithos den Pakt mit den Sylph geschlossen hatte. Er glaubte zwar eigentlich nicht an Zufälle, aber es klang zumindest plausibel.

»Allenfalls«, nahm Mithos den Faden wieder auf, »habe ich schon drei Pakte geschlossen. Luna, Gnome und die Sylph haben ihren Pakt gelöst und sind mit mir einen neuen eingegangen. Und ich glaube, dass Martel und ich nach dieser Schlacht, die beiden Seiten schwere Verluste zugefügt hat, vielleicht eine Audienz bei den Königen erreichen können. Oder vielleicht wenigstens seine direkten Untergebenen davon überzeugen, die Waffen wenigstens vorerst niederzustrecken.«

»Die … direkten Untergebenen der Könige?«

Der Rothaarige begriff, dass Yuan geschwiegen haben musste, was ihre Herkunft anging. Schließlich waren sie beide die direkten Untergebenen der beiden Könige. Aber warum hatte er geschwiegen?

»Sag mir, Mithos … wie erhoffst du dir, den Krieg zu beenden? Tethe'alla ist der festen Überzeugung, dass Halbelfen wertlos sind.«

»Vielleicht zweifeln sie«, antwortete der Jüngere. »Schließlich hat Sylvarant bewiesen, dass sie stärker sind als Tethe'alla. Das ist wohl das einzig Gute an dieser großen Schlacht gewesen.«

Kratos musste zugeben, dass Mithos nicht ganz Unrecht hatte. In den letzten Monaten hatte selbst Avanel Angst vor der Macht Sylvarants entwickelt. Er ließ sich die ganze Sache ausgiebig durch den Kopf gehen. Wenn Mithos die Macht aller Elementargeister in sich vereinte, war Sylvarant seiner größten Macht beraubt, Tethe'alla aber auf Grund ihrer Magie noch immer überlegen. Während Sylvarant dann zu befürchten hatte, dass Tethe'alla trotzdem zurückschlagen würde, würde Tethe'alla nicht nur vor der Magie der Halbelfen, sondern auch vor Mithos' Macht erzittern. Wenn man es geschickt anstellte, konnte man durch dieses Vorhaben wenigstens einen vorläufigen Waffenstillstand erzwingen.

Während Kratos nachdachte, kehrte Yuan zu ihnen zurück. Der Rothaarige sah augenblicklich auf. Yuan erwiderte seinen Blick nur kurz und setzte sich dann auf sein Lager zurück. Offenbar war auch er noch nicht gänzlich auskuriert.

Martel erhob sich und ging zu ihm.

»Ich habe dir doch gesagt, du sollst dich nicht so überanstrengen.«

»Ich bin nur etwas spazieren gegangen«, verteidigte Yuan sich.

Kratos wandte sich wieder Mithos zu.

»Weißt du … ich kenne den Untergebenen des tethe'allanischen Königs. Gib mir bitte ein wenig Zeit, um darüber nachzudenken, was du mir gerade erzählt hast. Wenn ich mir alles durch den Kopf gegangen lassen habe, will ich euch helfen.«

»W-was …?«, fragte Mithos, der offenbar aus allen Wolken fiel. Auch spürte Kratos Yuans Blick auf sich, erwiderte ihn aber nicht.

»Es kann sein, dass ich dir noch einige Fragen stellen möchte. Wärst du bereit, sie mir zu beantworten?«

»J-ja! Natürlich!«, antwortete Mithos sogleich. »Ich tue alles, was du willst!«

Der Rothaarige schmunzelte.

»Ein paar Antworten genügen mir.«
 

Und ich begann, mich mit Mithos zu unterhalten.

Er erzählte mir seine Geschichte. Er berichtete mir, wie sie auf Grund ihres halbelfischen Blutes aus Heimdall, der Stadt der Elfen, verbannt worden waren und in Sybak gefangen genommen wurden. Er berichtete mir, dass er die Schlacht um Sybak mit ansehen musste, während seine Schwester, die offenbar sehr gebildet war, an Thors Hammer arbeiten musste. Er erzählte mir von ihrer Flucht aus den Laboren und davon, wie er eines Tages davon zu träumen angefangen hatte, den Krieg zu beenden. Er hatte diesen Traum das erste Mal auf den heiligen Ebenen von Kharlan geträumt, auf denen sie eine Weile lang Schutz gesucht hatten. Ich hörte ihm zu.

Mithos Worte waren voller Hoffnung und Mut. Obwohl er noch ein Kind war, war er der festen Überzeugung, es schaffen zu können, die Macht aller Elementargeister in sich zu vereinen. Ich hörte aus seinen Worten einen unglaublichen Idealismus. Er glaubte noch immer an das Gute in den Menschen und auch fest daran, dass der Frieden kein utopisches Ziel war. Trotz allem Leid, dass er in seinen jungen Jahren bereits hatte erdulden müssen, war er eine Frohnatur, die nirgendwo etwas Böses sah. Er lachte frei und ungehemmt, etwas, das ich schon lange verlernt und sehr lange nicht mehr gehört hatte.

Seine Liebe zu Martel war zudem unglaublich groß. Und auch Martel selbst war eine bemerkenswerte Frau. Sie war unglaublich geduldig und sagte nie auch nur ein zorniges Wort. Für eine Halbelfe war sie zudem ausnehmend gut gebildet. Auch mit ihr unterhielt ich mich ausgiebig. Sie war das vernünftige Gegenstück zu dem so übermütigen Mithos und erklärte mir vieler seiner Dinge noch einmal sachlich. Unter anderem auch, wie Beschwörungen funktionierten und dass es wirklich möglich war, jeden der Elementargeister mit ihm paktieren zu lassen.

Und letztendlich entschloss ich mich dazu, sie bei ihrem Vorhaben zu unterstützen.

Denn Mithos weckte etwas in mir, das ich schon lange zu verlorenen geglaubt hatte.

Er weckte meinen alten Traum von Freiheit und Gleichheit, den ich in meinen jungen Jahren so oft geträumt hatte.

Mir wurde klar, dass ich viele Fehler begangen hatte. Fehler, die ich nicht korrigieren konnte.

Aber ich war bereit, für sie zu sühnen und das, was ich aus ihnen gelernt hatte, in die Tat umzusetzen.

Verzeih' mir nur

Hallo Freunde!

Das letzte Kapitel für dieses Jahr und zugleich der richtige Anfang des dritten Teils, dem Nici und ich mich nächstes Jahr voll und ganz widmen werden.

Ich wünsche euch ein frohes neues Jahr und schöne Ferien!

Eure Baldura

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Kratos genoss das Sonnenlicht auf seiner Haut. Nach einigen Tagen weiterer Bettruhe, hatte Martel ihm endlich erlaubt, aufzustehen. Der warme Schein der Sonne streichelte Kratos' Haut, die ihn solange nicht mehr genießen konnte.

Nach einem tiefen Atemzug, begann Kratos sich umzusehen. Durch Martel hatte er erfahren, dass er sich in einem baufälligen Kloster befand, dessen Bewohner es sich zur Aufgabe gemacht hatten, den Waisenkindern des Krieges Obdach zu bieten.

Und genau diese Kinder spielten vergnügt miteinander. Dieses Lachen war es, das Kratos in seiner Ohnmacht langsam wieder ins Leben zurückgerufen hatte. Dieses kostbare Lachen, das so selten geworden war, in den Zeiten des Krieges.

Langsam, noch immer ein wenig schwach auf den Beinen, ging Kratos durch das Kloster, dessen Wände mit den schönsten Malereien geschmückt worden waren. Der rothaarige Krieger hatte sich entschieden, Mithos und Martel an diesem Abend zu offenbaren, wer er wirklich war. Vorher jedoch wollte er noch einmal in aller Ruhe nachdenken.

»Ihr kriegt mich eh nicht!«

Als er Yuans Stimme hörte, wandte er sich um. Das Bild, das sich ihm bot, war derart abstrakt, dass er im ersten Moment glaubte, zu träumen.

Yuan, der gnadenlose Kriegsherr, der Meltokio in Schutt und Asche gelegt hatte und bereit gewesen war, seinen eigenen Bruder zu töten, lief vor einer kleinen Meute Kindern weg, die ihn fröhlich lachend verfolgte. Schließlich ließ Yuan sich ins Gras fallen und die kleine Schar fiel über ihn her. Der Blauhaarige tobte einen Augenblick mit ihnen, bis er Kratos entdeckte, der offenbar ziemlich verwundert dreinsah.

Er hielt die Kinder zum Anhalten an. Dann tätschelte er einige von ihnen und erhob sich schließlich. Mit einem kühlen Blick auf Kratos wandte er sich ab und verschwand im Inneren des Klosters.

Kratos folgte ihm.

Yuan schien ihn nicht zu bemerken. Er ging einfach weiter durch die langen Gänge und erklomm schließlich eine Treppe. Der Rothaarige ging ihm noch immer nach.

Schließlich fand Kratos seinen Blutsbruder auf dem eingestürzten Dach des Klosters, wo er stand und auf die Kinder hinab sah, die so unbeschwert spielten.

Nach einem Augenblick des Zögerns, trat Kratos neben ihn. Yuan nahm ihn war, reagierte jedoch nicht.

Schweigend standen sie da, sahen beide den spielenden Kindern zu. Als eine Windböe aufkam und beide durch das Haar streichelte, ergriff Kratos das Wort.

»Sie haben niemanden mehr.«

Yuan antwortete nicht sofort. Auch wanderte kein Blick zu dem Krieger. Er blieb einfach stehen.

»Ich weiß«, antwortete er schließlich.

»Sie haben ihre Familien verloren«, fuhr Kratos fort. »Und die Schuld dafür lastet auf unseren Schultern.«

Bei dem Wort "unsere" zuckten Yuans spitze Ohren. Ein Kratos sehr vertrautes Zeichen. Sie zuckten immer, wenn etwas seine Aufmerksamkeit erregte.

»Ich kann diese Schuld tragen«, behauptete der Blauhaarige.

»Du musst es nicht allein«, antwortete der Ritter.

Wieder schwieg Yuan und brauchte einen Augenblick, um zu antworten.

»Als mein Bruder sich gegen mich entschied und sich meinen Feinden anschloss, die mein Volk in das Joch der Sklaverei getrieben hatten, begriff ich, dass ich diese Schuld allein tragen musste.«

»Vielleicht war dein Bruder nur entsetzt darüber, wie bereitwillig du Opfer in Kauf nahmst.«

»Für große Dinge muss man Opfer bringen«, antwortete der Halbelf und ballte seine Hand zu einer Faust.

»Das mag sein …«, gestand Kratos. »Aber sollte man nicht versuchen, sie so klein wie möglich zu halten?«

»Es war nicht möglich. Und mein Bruder war es letztendlich, der mich dazu zwang, derart große Opfer zu dulden.«

»Dein Bruder stand zwischen den Fronten. Er hatte die Wahl, auf sein Herz zu hören, welches sich vor Freude darüber überschlug, dass sein Bruder noch lebte, oder auf seinen Verstand, der ihm sagte, dass sein Bruder auf dem falschen Weg war.«

Kratos schwieg einen Augenblick.

»Ich denke … dein Bruder entschied sich gegen dich, in der Hoffnung, dich zur Vernunft zu bringen … und die friedlichste Lösung zu finden, an die er nicht mehr glaubte.«

Yuan schnaubte wütend.

»Wie sollte er mich zur Vernunft bringen, wenn er nicht an der Seite seines Bruders war, dessen Herz so sehr schmerzte, dass Hass es zu zerfressen begann?«

»Ich denke, beide Brüder haben Fehler gemacht«, schlussfolgerte der Rothaarige einfach und sah Yuan nun endlich an.

»Dein Bruder erwartet nicht, dass du seine Taten vergisst«, sagte er, wobei seine Stimme so sanft war wie schon lange nicht mehr. »Er hofft nur, dass du sie ihm verzeihst. Denn er hat seinem Bruder bereits verziehen, auch, wenn ihn seine Verluste noch immer schmerzen.«

Yuan erwiderte seinen Blick. In den tannengrünen Augen seines Blutsbruders schimmerte Schmerz und Reue, jedoch war beides überdeckt von Wut. Wut und Hass.

Kratos sah zurück, ohne einmal zu blinzeln. Er versuchte, seine Augen sanft erscheinen zu lassen, obwohl es ihm nicht leicht fiel. Er hatte nicht vergessen, dass Flavius und Silabél seinetwegen starben. Vergessen würde er es nie. Aber verzeihen konnte er. Auch er hatte gemordet. Auch er hatte verraten. Er war nicht besser als Yuan. Er hatte die gleichen Fehler begangen. Zumindest in seinen Augen.

Und außerdem konnte er sich verschwommen an den Traum erinnern, den er von Yuans Mutter gehabt hatte. Es war zwar alles hinter einer Wand aus dem Nebel des Bewusstseins, aber sein Gefühl sagte ihm, dass Yuan Schlimmeres durchlebt hatte, als er selbst sich vorstellen konnte. Es war vielleicht keine Rechtfertigung, aber vielleicht ein Grund für sein Handeln.

»Tick!«, rief plötzlich eine Kinderstimme und piekste Kratos in die Seite.

»Du bist dran!«, rief es dann und lief lachend davon.

Der Rothaarige sah dem Kind nach und schmunzelte voller Sänfte.

»Ich denke, ich werde doch irgendwann einmal Vater …«, sagte er eher zu sich selbst, als zu Yuan.

»Du willst Kinder in diese Welt setzen?«, fragte der Blauhharige ruhig.

»Nicht in diese«, antwortete Kratos und wandte sich um. Als er genau neben Yuans Ohr stand, fügte er noch etwas hinzu. »In die Welt, die wir vielleicht erschaffen können, wenn wir Mithos und Martel beistehen.«

Erneut sah er ihn an.

»Ich habe meine Fehler eingesehen und werde versuchen, aus ihnen zu lernen«, sagte er. »Was wirst du tun?«

Mit diesen Worten folgte Kratos dem kleinen Mädchen. Es wartete unten bereits auf ihn und kicherte, bevor es fortlief. Der Rothaarige lächelte voller Sänfte.

»So fängst du sie nie«, ertönte Yuans Stimme hinter ihm. »Sie sind ziemlich schnell.«

Mit diesen Worten ging der Blauhaarige an ihm vorbei. Kratos sah seinem Bruder lange nach.

»Warum kannst du mir nicht verzeihen?«
 

Ich beschloss, ihm Zeit zu geben. Zeit, die er vielleicht brauchte, um sein Vertrauen in mich wiederzufinden. Und doch mischte sich Zweifel in meine Hoffnung. So unversöhnlich kannte ich ihn nicht.

Jedoch hielt ich an meinem Entschluss fest. Ich würde Mithos und Martel die Wahrheit sagen. Jedoch tat ich vorher etwas anderes.

Ich nahm Martels Angebot an, mit ihr zu sprechen.
 

Mithos und Yuan schliefen bereits, als Kratos und Martel sich schweigend nach draußen begaben. Es war schon tiefe Nacht und die Mondsichel stand hoch am Himmel.

»Du wolltest reden?«, fragte sie.

»Ja, das wollte ich …«, antwortete der Rothaarige, der zu den Sternen aufsah.

»Ich bin ganz Ohr.«

Der Rothaarige fuhr sich durch sein rostrotes Haar. Sein Blick drückte grimmige Entschlossenheit aus. Dann schloss er seine Augen und atmete tief durch. Als er sie wieder öffnete, waren sie nur noch traurig.

Und dann begann er, zu erzählen.

»Ich wurde in Meltokio geboren, als einziger Sohn einer adeligen Familie …

Meine Mutter und mein Großvater waren meine ersten fünf Lebensjahre immer bei mir. Sie zogen mich groß und brachten mir bei, dass alle Wesen gleich sind. Egal, welches Blut durch ihre Adern floss.«

Noch immer sah er in den Sternenhimmel, während Martels sanfter Blick auf ihm ruhte.

»Ich glaubte daran und tue es noch immer. Jedoch … kehrte mein Vater aus dem Krieg zurück, als ich fünf Jahre alt war. Er war ein grausamer Mensch, vom Rassismus zerfressen. Früher verstand ich das nie. Doch seit ich selbst im Krieg stand und selbst die Verantwortung für eine Armee getragen habe … begriff ich, dass er einfach nur schwach war. Er hatte das Leid nicht ertragen können, das der Krieg mit sich brachte. Und sein Hass auf Andersartige wuchs dadurch ins Unermessliche.

Er erschlug meine Mutter, als herauskam, dass auch durch meine Adern unreines Blut und somit Mana floss. Von diesem Tage an war ich auf mich allein gestellt. Ich kannte keine Freundschaft, keine Familie. Bis Yuan in mein Leben trat.«

Der Rothaarige machte eine Pause. Martel hörte ihm ruhig zu, ihren Blick immerzu auf ihn gerichtet. Eine Eule flog über die beiden hinweg, ihren Ruf hatte Kratos schon lange nicht mehr gehört. Viele Tiere waren geflohen …

»Mein Vater kaufte ihn einem Sklavenhändler ab, als Stallburschen. Er sollte sich um mein Drachenweibchen kümmern … Silabél, die damals trächtig war.

In der Nacht der Geburt ihres Jungen, lernte ich ihn kennen. Er war furchtlos. Nicht, wie die anderen Halbelfen. Er sah mir mutig ins Gesicht und wich meinem Blick nicht aus.

Ich begann, ihn zu mögen.

Meinem Vater missfiel das, doch ich setzte mich das erste Mal seit dem Mord meiner Mutter gegen ihn durch. Ich sorgte dafür, dass er eine Schulbildung erhielt und auch, dass er ausreichend zu Essen und saubere Kleidung bekam.

Wir ritten gemeinsam aus. Er hatte vorher noch nie einen Wald gesehen und ich erklärte ihm alles, was er wissen wollte. Als ich ihn dann nach der Magie der Halbelfen fragte, demonstrierte er mir sie – und traf mit seinem Blitz einen Drachen, der uns daraufhin verfolgte.

Ich sprang mit Silabél über eine Schlucht, doch er blieb zurück. Er traute es sich nicht zu. Er war nur ein Halbelf, sagte er damals. Doch ich schrie ihn an … ich schrie, dass es keinen Unterschied machte und wir Brüder sein könnten … weil wir gleich waren.«

Kratos war so in seine Erzählung vertieft, dass er nicht bemerkte, die wie Halbelfe ihren Blick kurz von ihm ließ und zur Seite sah. Ihr Blick war auffordernd, als würde sie jemanden stumm zu etwas überreden wollen. Als der Rothaarige fortfuhr, wandte sie sich wieder ihm zu.

»Eines Tages begleitete ich ihn auf einem Einkauf auf den Markt, wo wir Noishe fanden. Das Aeros, von dem du mir erzählt hast.«

Martel nickte und sah ihn weiterhin ernst an.

»Es war krank … ich kaufte es frei und Yuan und ich brachen zu meinem Großvater auf. Einem Protozoen in vollendeter Form. Er rettete Noishe das Leben und wir kehrten nach Meltokio zurück. Im Geheimen zogen wir Noishe gemeinsam auf. Doch eines Tages bekam mein Vater es heraus. Er befahl, Noishe zu töten und als Braten aufzutischen, während er Yuan bald zu Tode peitschte … ich lief davon, in dem Glauben, meine einzigen, beiden Freunde verloren zu haben. Doch als ich zurückkehrte, lebte Yuan noch und ich brachte ihn in mein Zimmer, weil ich nicht wollte, dass er mit seinen Wunden im verdreckten Stall schlafen musste.

Wir wurden Freunde … ich merkte es eigentlich kaum. Doch er wuchs mir unglaublich schnell ans Herz.

Dann, kurz vor meinem sechszehnten Geburtstag, verkündete mir mein Vater, dass er eine Verlobung arrangiert hätte – mit der Prinzessin Tethe'allas.

Ich weigerte mich, doch …«

Und nun sprach Kratos das aus, was Yuan nie erfahren hatte.

»… er erpresste mich mit Yuans Leben.«

Ein Keuchen ertönte, das den Rothaarigen aus seinen Gedanken riss, die er so offen auf seine Zunge legte. Martel hustete kräftig.

»Entschuldige«, bat sie. »Ich habe mich nur verschluckt. Erzähl' bitte weiter …«

Nach einem kurzen, misstrauischen Schweigen fuhr der Krieger fort.

»Da ich ihn inzwischen so sehr liebte wie einen Bruder, ließ ich mich erpressen. An jenem Abend bemerkte Yuan jedoch, dass ich nicht derselbe war und begann nachzufragen … ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich ihn geschlagen habe, weil ich nicht wusste, wie ich ihn sonst zum Schweigen hätte bringen können.

Das verzieh er mir nicht.

Wir zogen ins Schloss um, nachdem ich ihm befohlen hatte, seine Sachen zu packen. Denn eigentlich wollte er nicht mit. Doch ich wollte ihn bei mir haben.

Nun … nach meiner Verlobung mit der Prinzessin, wurde von uns verlangt, dass wir die Hochzeit auch wirklich vollzogen …«

Ein Schmunzeln bildete sich auf Kratos' Gesicht.

»Ich wollte es nicht. Und die Prinzessin auch nicht, wie ich herausfand. An jenem Morgen wollte ich in die Ställe gehen, um nachzudenken, als ich auf Yuan traf. Ich nutzte die Gelegenheit, um mich bei ihm zu entschuldigen, was lange genug gedauert hatte. Er verzieh mir den Schlag in sein Gesicht, nachdem ich ihm die Freiheit angeboten hatte, weil ich ihn nur als Freund und nicht als Sklaven bei mir haben wollte. Er half mir, den Leibarzt und den König an der Nase herumzuführen. Wir waren wieder ein Herz und eine Seele.

Nachdem ich von einem der Prinzen vergiftet wurde«, fuhr er fort, wobei er Viviane aus Respekt vor Yuans Privatsphäre nicht erwähnte, »war er bei mir. Wäre er nicht gewesen, wäre ich wohl gestorben … allenfalls fand ich heraus, dass die Prinzessin ihr Herz an ihren Bruder verschenkt hatte und sein Kind in ihrem Leibe trug. Nach einem ausgiebigen Gespräch mit dem König, erlaubte er mir, gemeinsam mit Yuan meinen Wehrdienst anzutreten. Für mich war es die beste Lösung. Yuan war vor meinem Vater sicher und ich war die Prinzessin und das ganze, verlogene Königshaus los.«

Noch immer hörte Martel schweigend zu. Allerdings schielte sie ab und zu beiseite, was Kratos nicht bemerkte.

»Wir traten unseren Dienst an und wurden zu Kriegern ausgebildet. Unser Ausbilder, Flavius, akzeptierte Yuans Blut und auch die Gruppe nahm ihn nach einer Weile in ihre Reihen auf …«

Erneut lächelte der Rothaarige. Dieses Mal war es verträumt und wehmütig.

»Es war eine wunderschöne Zeit … wir hielten zusammen wie Pech und Schwefel. Noch nie in meinem Leben war ich so glücklich wie dort.

Schließlich erfuhr ich, dass mein Vater dem Tode nahe war und für Tethe'alla auf dem Schlachtfeld sterben wollte. Ich wurde vom Dienst befreit, um die Besitztümer meines Vaters verwalten zu lassen. Als ich zurückkehrte, musste ich feststellen, dass Yuans Leistungen rapide abgesunken waren … er stand kurz davor, das Fort verlassen zu müssen, was ihm erneut den Tod gebracht hätte. Also begann ich, nachzuforschen und fand eine Waffe, die Menschen und Elfen gleichermaßen führten: Das Axtschwert.

Ich erklomm mit Yuan den Berg des Forts, den unser Kommando noch nie bewältigt hatte. Ich wusste, dass man uns dort als Letztes suchen würde. Und dann begannen wir, zu trainieren. Ich war gnadenlos mit ihm, weil ich nicht wollte, dass sich unsere Wege trennten und ich erneut um sein Leben fürchten musste. Und wir schafften es … er lernte, das Axtschwert zu handhaben. Und Flavius erlaubte ihm, zu bleiben.

An meinem achtzehnten Geburtstag dann«, erzählte er, wobei er Salomé erneut ausließ, »wurden wir in die Schlacht um Sybak gerufen … auf dem Weg dorthin wurde unserem Kommando das Leid der Halbelfen vor Augen geführt. Wir sahen schreckliche Dinge … doch es war nichts im Vergleich zu dem, was uns noch erwartete.

Ich weiß noch, wie Flavius Yuan fragte, ob sein Herz für Tethe'alla oder Sylvarant schlug … weißt du, was er antwortete?«, fragte er und sah Martel an.

»Nein«, antwortete sie. »Was antwortete er?«

»Er sagte: Ich kämpfe für den Frieden und nicht für den Sieg …«

Die Halbelfe lächelte.

»Eine weise Antwort …«

Kratos nickte.

»Wir zogen also in diese Schlacht … und wir überlebten sie gemeinsam. Bis … zum letzten Tag.

Wir begegnetem meinem Vater auf dem Schlachtfeld und er verletzte Yuan tödlich. Ich konnte ihn nicht beschützen. An diesem Tag … brachte ich meinen Vater um.«

Nun schwiegen beide einen Augenblick. Martel legte ihre Hand auf die von Kratos, denn beide saßen inzwischen im Gras vom Innenhof des Klosters. Der Rothaarige genoss die tröstende Geste.

»Yuan war zu schwer verwundet, als dass er es noch rechtzeitig ins Lager zurückgeschafft hätte. Ich wollte bei ihm bleiben und an seiner Seite sterben, doch er flehte mich an, mich in Sicherheit zu bringen. Es war sein letzter Wunsch.

Bevor ich ihm diesen jedoch erfüllen konnte … schloss ich die Blutsbrüderschaft mit ihm. Ich wollte nicht, dass er als mein Sklave starb. Ich wollte, dass ich um meinen Bruder trauern konnte …«

Vor seinem geistigen Auge sah Kratos genau diese Szene wieder. Yuans Blut auf seinen Händen, seine sterbenden Augen, die verzweifelt in seine sahen. Er schüttelte sich kurz.

»Als ich nach Meltokio zurückkehrte … ernannte der König Flavius und mich zu Kriegshelden und schlug uns zu Rittern. In meiner Blauäugigkeit glaubte ich, dass ich mit der Gewaltmacht eines Ritters mehr für die versklavten Halbelfen tun könnte … und so arbeitete ich mich schließlich zum Hauptmann der königlichen Garde hinauf. Fest in dem Glauben, es ganz in Yuans Sinne zu tun.

In dieser Zeit … verklebte ich meine Seele mit dem Blut Unschuldiger … all die kleinen Geplänkle mit Sylvarant … ich tötete … ich mordete … ich war blind geworden«, gestand er und atmete tief durch. Martels Hand ruhte noch immer auf der seinen.

»Eines Tages wurde ich mit dem Auftrag betraut, eine Gruppe Rebellen ausfindig zu machen, die gegen Tethe'alla arbeitete. Es kam mir Recht. Ich wollte den Anführer zu einer friedlichen Lösung bewegen. Ich war so von mir überzeugt, dass ich glaubte, einige Worte von mir würden ausreichen … doch dann traf ich Yuan wieder. Denn er war der Anführer der Rebellen, die ich suchen sollte.«

Nun unterbrach in Martel das erste Mal.

»Bitte … gib' mir einen Moment«, bat sie. »Soll das heißen … du und Yuan … ihr seid …«

»… die direkten Untergebenen der beiden verfeindeten Könige«, führte Kratos ihren Satz zu Ende. »Und somit diejenigen, die ihr sucht.«

Hätte Mithos vor ihm gesessen, wäre er wohl in Euphorie ausgebrochen. Doch Martel nahm es mit Fassung auf. Denn ihr wurde bewusst, was das bedeutete.

»Ihr habt euch als Brüder getrennt und als Feinde wiedergefunden …«

Kratos nickte.

»So war es. Und so ist es anscheinend noch immer.«

»Erzähl weiter …«, bat sie nun und der Rothaarige folgte der Aufforderung. Es tat gut, sich all dies von der Seele zu reden.

»Yuan und ich zogen uns zu einem Gespräch zurück, damit niemand sah, wie vertraut wir miteinander waren. Ich war überglücklich, ihn lebend wiederzusehen. Und noch glücklicher war ich darüber, dass er der Anführer der Rebellen war. Ich war der festen Überzeugung, dass wir es gemeinsam schaffen könnten, eine friedliche Lösung zu finden … doch ich irrte.

Yuan hatte sich verändert. Ich weiß bis heute nicht, was ihn so verbittern ließ, doch er wollte nichts von Frieden hören. Er hatte den festen Plan, Tethe'allas König zu stürzen und war bereit, Unmengen an Blut dafür zu vergießen. Er glaubte nicht daran, dass man mit Tethe'alla noch verhandeln könne.

Er bat mich, an seiner Seite zu kämpfen … es war die schwierigste Entscheidung, die ich jemals treffen musste …

Ich wollte wieder bei ihm sein. Bei meinem Bruder, den ich vier lange Jahre lang vermisst hatte. Doch mir war klar, dass er den falschen Weg eingeschlagen hatte.

An sich war sein Plan … nicht dumm, wie ich zugeben muss. Es hätte die Halbelfen befreit, das ist wahr. Aber zu welchem Preis?«, schlüsselte er nun seine Gedanken auf. »Der Rassismus ist tief in den Herzen der Tethe'allaner verankert. Eine finstere Zeit der Bürgerkriege wäre diesem einmaligen Schlag gefolgt. Und alles wäre von vorn losgegangen …«

»Du hast dich folglich gegen ihn entschieden …«, meinte Martel und verstärkte den Druck auf seine Hand. Kratos nickte.

»Nach dem ich dem Tod durch seine Hand nur knapp entronnen war – ich nehme es ihm nicht einmal übel, schließlich trug auch er die Verantwortung für Hunderte von Leben – besuchte ich einen alten Freund von mir. Caleb, einen Priester und einen ehemaligen Kameraden von Yuan und mir. Ich sprach sehr lange mit ihm und er bestätigte meine Meinung, dass Yuan auf dem falschen Weg war. Schweren Herzens kehrte ich nach Meltokio zurück und erstattete dem König Bericht. Ich flehte ihn an, mir alles weitere zu überlassen und er schenkte meinem Flehen Gehör. Er gab mir alle Streitmächte Tethe'allas in die Hand.

Wenig später stand Yuans Armee vor den Toren Meltokios. Es wäre zu einer blutigen Schlacht gekommen, wären du und Mithos nicht gewesen.«

»Daher wusstest du es also …«, stellte Martel fest, schwieg dann aber wieder.

»Yuan befahl den Rückzug. Und dann … begann der Kampf der Elementargeister.

Ein furchtbar heißer Sommer, der die Ernte verdorren und das Vieh verenden ließ.

Eine Zeit furchtbarer Regengüsse, die eine Seuche verbreiteten, an der Flavius letztendlich starb …

Dann der furchtbar harte Winter, der halb Meltokio unter sich begrub …

Und schließlich die Stürme, die der Stadt den Rest gaben.

Ich hatte nur noch eine Hand voll Soldaten und die sogenannte Division des Origin, um Meltokio zu verteidigen.

Die Division des Origin …«

Kratos' Stimme brach bei dieser Erinnerung. Er versuchte, die grausamen Bilder aus seinem Kopf und die schaurigen Geräusche aus seinen Ohren zu kriegen. Doch er brauchte etwas Zeit dafür.

Martel war geduldig und streichelte beruhigend seine Hand.

»… sie … bestand aus Elfen … Elfen, die seit Jahrhunderten kein Sonnenlicht gesehen haben …«, hauchte er mit brüchiger Stimme. »Sie waren nur durch Mana am Leben geblieben … sie waren nur noch Schatten ihrer Selbst. Einer von ihnen fragte mich, ob sie nun endlich ihr Leben opfern durften … endlich sterben durften …«

Der Krieger schluckte hart, um nicht in Tränen auszubrechen.

»Mir wurde alles egal, als ich diese armen Seelen sah … in diesem Moment gab ich mich einfach nur meinem Herzen hin … und erlaubte … ihnen, endlich zu sterben … ich …«

Erneut schluckte er.

»… werde diesen Anblick niemals vergessen … all diese Elfen … sie starben. Sie starben einfach, denn sie hatten auf nichts anderes gewartet.«

Nach einem tiefen Atemzug fuhr der Rothaarige in seiner Erzählung fort.

»Mit dem Rest meiner Soldaten, stellte ich mich Yuan entgegen in der verzweifelten Hoffnung, ihm noch einmal in die Augen sehen zu können, ihn zur Umkehr bewegen zu können. Doch … mitten im Gefecht starb Silabél in meinen Armen. Meine treueste Freundin über all die Jahre. Ich versank so tief in meinem Hass, dass ich Yuan aufforderte, sich mir entgegenzustellen. Als ich Silabéls Blut an seiner Klinge entdeckte, vergaß ich alles. Ich … war nicht ich selbst. Ich war vom Hass getrieben. Genau wie einst mein Vater …«

Martel sah ihn noch immer an und streichelte seine Hand. Ihre Augen schimmerten, doch sie weinte nicht.

»Ich würgte ihn. Mit meinen bloßen, blutverschmierten Händen. Ich wollte ihn tot sehen … ich wollte einfach nur, dass er sich in die Reihe meiner toten Freunde einreihte. Seine letzten Worte … bevor er mir seinen mächtigsten Blitzzauber durch den Körper jagte, waren … dass er mich noch immer lieben würde. Aber … wenn es so wäre, würde er nicht wenigstens jetzt versuchen, mit mir zu sprechen?«

Kratos nahm seine Hand von Martel weg und sah auf beide herunter.

»Er ist alles, was ich noch habe …«, sagte er leise. »Ich habe ihn gehasst, doch … in meiner Ohnmacht … sah ich Dinge … Dinge, die mich verändert haben. Ich hasse ihn nicht mehr. Ich habe ihm verziehen, auch, wenn es mir schwerfiel. Mein Herz trauert noch immer um Flavius und Silabél. Aber was bringt es, ihn dafür zu hassen und schuldig zu machen, wenn ich ihn dafür verliere? Letztendlich habe ich all das für ihn getan. In der Hoffnung, ihn zurückzugewinnen …«

Er hob seinen Blick erneut in die Sterne. Das Herz des Himmels strahlte in seiner schönsten Pracht. Es war kein Stern hinzugekommen, aber es leuchtete. Und dieses Leuchten spiegelte sich in den Augen des Kriegers wieder.

»Ich werde euch helfen. Ich werde mich euch anschließen und versuchen, mit euch diesen Krieg zu beenden. Denn das war einst mein Traum. Freiheit und Gleichheit.«

Sein Blick wanderte nun zu Martel.

»Ich bewundere euch beide sehr«, fuhr er fort. »Ihr habt soviel Leid erduldet und glaubt noch immer an das Gute in den Menschen. Ich wünschte, Yuan könnte es ebenso.«

Die grünhaarige Halbelfe schenkte ihm einen sanften Blick.

»Auch ich bin vom Hass nicht unberührt«, antwortete sie. »Aber du hast es bereits ausgesprochen: Hass bringt nichts hervor aus Gewalt und Leid.«

Sie hob ihre Hand und strich dem Krieger sanft eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

»Ich glaube, Yuan wird dir verzeihen«, sagte sie. »Gib' diese Hoffnung nicht auf. Vielleicht erhören die Sterne deinen Wunsch.«

Sie lächelte voller Sänfte.

»Du hast viel erlebt, Kratos«, sagte sie. »Es wird dauern, bis du all das verarbeitet hast. Und ich denke, Yuan ergeht es genauso. Aber vielleicht …«, meinte sie dann, »… reicht schon ein kleiner Windhauch, der deine Stimme an seine Ohren trägt.«

Damit erhob sie sich. Der Rothaarige sah ihr verwirrt nach – und entdeckte Yuan, an dem Martel wortlos vorbeiging.

Erst jetzt, wo er ihn wirklich einmal ansehen konnte, sah er, wie sehr auch sein Bruder sich verändert hatte.

Sein Gesicht war hager, genau wie das seine. Auch er hatte seine jugendliche Leichtigkeit für den Krieg eingebüßt. Leichte, kaum zu erkennende Sorgen- und Denkfalten hatten sich in seine Züge geschlichen. Sein langes, blaues Haar hatte an Glanz verloren, ebenso wie seine Augen, die matt geworden waren. Nichts erinnerte mehr an den munteren, kleinen Halbelfenjungen von früher. Jedoch war Yuan nicht einfach nur erwachsen geworden. Er war gealtert. Obwohl er erst dreiundzwanzig sein konnte, würde ihn ein Außenstehender wohl für Anfang dreißig einschätzen.

Der Blauhaarige erwiderte Kratos' Blick, der nun auf ihm ruhte. Dann, ganz langsam, trat er auf seinen Blutsbruder zu. Sein blaues Haar schimmerte im Mondlicht, als auch er den Blick zu den Sternen hob.

»Ich dachte, du hättest all das vergessen«, sagte Yuan nun. »Und ich wusste nicht, dass du mich niemals aufgegeben hast. Es hat mich gerührt, all dies zu hören, obwohl es nicht für mich bestimmt war.«

Kratos schwieg. Viel zu gut tat es, die Stimme seines Blutsbruders ohne Groll und Hass zu hören.

»Ich … verzeihe dir als Bruder«, sprach er schließlich, den Blick auf ihn gerichtet. »Aber vergessen werde ich es niemals. Tethe'alla wird für immer mein Feind sein!«

Lebe deine Träume

Whoa, sorry, dass es in letzter Zeit so lange dauert >.<

Im Moment habe ich keinen vollen Zugriff auf meinen Rechner, weshalb sich das ganze so in die Länge zieht.

Ich hoffe, ihr mögt trotzdem noch weiterlesen.

Viel Spaß dabei,

Baldura

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In dieser Nacht lag ich noch lange Zeit wach.

Yuans Versprechen, dass Tethe'alla für immer sein Feind sein würde, schwirrte mir unablässig im Kopf umher. Wie konnte er mir als Bruder vergeben, wenn er meine Heimat als Feind ansah? Ich verstand es nicht.

Doch das sollte nur eines von vielen Dingen sein, die ich in naher Zukunft nicht verstehen würde.
 

Kratos hatte unruhig geschlafen. Eigentlich konnte man das stetige hin- und herwälzen, das er hinter sich hatte nicht einmal Schlaf nennen. Müde und noch immer in Gedanken versunken, stand er vor den Anderen auf und erhob sich, um zu dem kleinen Brunnen zu gehen, der nicht weit von ihrer Schlafstatt an der Wand befestigt war.

Er klatschte sich ein wenig kaltes Wasser ins Gesicht und genoss das Gefühl, wie einige Tropfen davon seinen Hals herunterliefen. Dann versuchte er seit langer Zeit wieder, sein Haar zu bändigen, welches er in den letzten Jahren zwar stets sauber gekürzt, aber immer offen getragen hatte. Er gab das hoffnungslose Unterfangen jedoch schnell wieder auf und band sich einen schlichten Zopf, um wenigstens ein wenig gepflegter auszusehen. Die lange Ohnmacht und die schweren Verletzungen hatten an seinem Körper gezehrt. Er hatte abgenommen und ein wenig an Muskeln abgebaut.

Nicht, dass man es ihm angesehen hätte.

Mit seinen nunmehr sechsundzwanzig Jahren war er ein Bär von Mann. Anders konnte man es wirklich nicht beschreiben. Er war zwar gertenschlank, doch seine beachtliche Größe, die fast zwei Meter betrug, und seine breiten Schultern ließen ihn reichlich einschüchternd wirken. Seine zottelige Haarmähne erinnerte zudem ein wenig an die Barbaren, die in grauer Urzeit die Welt bevölkerten. Sein kühler Blick und seine oft steinerne Mimik taten ihr Übriges, um selbst den imposantesten Gegner klarzumachen, dass er es hier mit einem ebenwürdigen Feind zu tun hatte.

Und abgesehen davon sah er einfach nur teuflisch gut aus.

Wenn man seine respekteinflößende Ausstrahlung übersah, kam ein gepflegter und gutaussehender Mann zum Vorschein, dessen rehbraune Augen dazu einluden, länger hineinzusehen, um herauszufinden was sich hinter dem Rotstich verbarg, der seinen Blick stets gefährlich wirken ließ. Sein Gesicht hatte sein endgültiges Aussehen angenommen. Er hatte ein markantes Kinn, welches ein Grübchen aufwies, eine schmale Nase, dessen leichte Schiefe durch mehrere Brüche man nur bemerkte, wenn er eine Brille tragen würde, schöne, geschwungene Lippen, von denen sich so manche Frau wünschte, damit geküsst zu werden, buschige Augenbrauen, die seinen Blick selbst, wenn er lachte, ernst wirken ließen und außerdem tadellose, strahlendweiße Zähne.

Ließ man von seinem Gesicht ab und musterte den Rest seines Körpers, wurde man nicht enttäuscht. Die breite Brust - die im Übrigen seine tiefe Stimme erklärte - lud so ziemlich jede Frau mit Geschmack dazu ein sich daran zu lehnen und sich von seinen kräftigen Armen, dessen Hände von der Größe her ein wenig an Schaufeln erinnerten, beschützen zu lassen. Doch selbst seine Hände waren Schmuckstücke. Neben den gut gepflegten Fingernägeln besaßen sogar die feingliedrigen Finger gut ausgebildete Muskeln, was erstens von seinem Klavierunterricht in Kindertagen herrührte und er zweitens seinem täglichen Schwerttraining zu verdanken hatte. So manche Frau wurde wohl allein bei dem Gedanken verrückt, was er mit diesen Händen alles anstellen konnte.

Seine Taille war zwar schon beinahe dünn, aber durchaus nicht schwächlich. Von tieferen Gefilden ganz zu schweigen, was man insbesondere erahnen konnte, wenn Kratos enge Kleidung trug.

Die durchtrainierten Beine mit den muskulösen Waden taten ihr Übriges, um das Bild eines Traummannes zu vervollständigen.

Doch Kratos ging das an der äußert nett anzusehenden Kehrseite vorbei.

Obwohl er sich eingestehen musste, die Nähe einer Frau in seltenen Momenten zu vermissen - er könnte Yuan für seine Erfahrung mit Salomé heute noch verprügeln - hatte er im Moment wahrlich andere Sorgen.

Sein Gehirn begann zu arbeiten. Er wusste inzwischen von Martel, dass er drei Monate ohnmächtig gewesen war - für den Krieg eine lange Zeit. Was war während dieser drei Vollmonde geschehen?

Wie immer kam ihm sein logischer Verstand zu Hilfe. Er rekapitulierte die geschehenen Ereignisse noch einmal sachlich, während er sein Spiegelbild betrachtete.

Nach der großen Schlacht waren beide Seiten stark geschwächt. Während Tethe'alla alle seine Männer verloren hatte, war Sylvarant nicht unbedingt besser dran. Kratos wusste nicht, ob Yuan seine ganze Armee geschickt hatte. Aber er bezweifelte es. So dumm war er nicht. Ihm war klar gewesen, dass es Verluste geben würde. Er hatte garantiert noch einige Männer in der Hinterhand, um Tethe'alla den Gnadenstoß zu geben.

Allerdings war er nicht mehr der Hauptmann. Zumindest im Moment nicht. Er konnte Yuan nicht einschätzen. Kehrte er nach Sylvarant zurück? Würde er sein Ziel weiterhin verfolgen? Oder würde er sich ebenfalls Mithos und Martel anschließen? Er wünschte es sich sehr, doch das war nicht von Belang. Die Zeiten, in denen sie einander Gefallen taten, waren lange vorbei.

Kratos atmete tief durch und stieß sich vom Becken des Brunnens ab. Er fühlte eine unglaubliche Leere in sich. Er wusste nicht, wie es weiterging. Weder mit Tethe'alla, noch mit ihm selbst.

Langsamen Schrittes trat er in den Innenhof des Klosters. Das Licht der Morgensonne streichelte die Tautropfen auf dem grünen Gras, welches er nun betrat. Die Halme richteten sich fast sofort wieder auf, nachdem er darauf getreten war. Diese kleine, simple Tatsache erinnerte ihn an etwas, das sein geliebter Großvater einst zu ihm sagte:

»Was hält einem Sturm länger stand? Die Eiche oder der Bambus?«

Als Kind hatte Kratos direkt mit der Eiche geantwortet, doch Tiberius belehrte ihn damals eines Besseren. Die Eiche konnte brechen und starb darauf. Der Bambus aber bog sich mit dem Wind und richtete sich nach dem Sturm wieder auf.

Sollte er es genauso machen? Sollte er sich der Situation beugen und ihrer ausharren? Es erschien ihm das Klügste zu sein.

Nachdenklich stand er da, während die Sonne immer weiter emporstieg, sein Gesicht streichelte und ihn wärmte.

»Worüber denkst du nach, Kratos?«

Eine tiefe, kühle Stimme. Der Rothaarige wusste sofort, dass sie Yuan gehörte. Er wandte sich um, um ihn anzusehen.

»Über das was geschehen ist und das, was noch sein wird.«

»Du kannst nicht in die Zukunft sehen«, meinte sein Blutsbruder.

»Nein. Aber ich kann für mich selbst entscheiden, wie ich meine Zukunft forme«, antwortete Kratos und trat auf den Halbelfen zu.

»Was wirst du sein, Yuan? Die Eiche oder der Bambus?«

Mit diesen Worten ging er an ihm vorbei. Er hörte den Blauhaarigen noch wütend schnauben, doch er ließ es nicht mehr an sein Herz heran. Zu vernarbt war seine Seele. Was hätte er nicht alles dafür gegeben, Yuan wieder als seinen Bruder in die Arme zu schließen.

Doch er ahnte, dass dies wohl nie wieder der Fall sein würde.
 

Als Mithos aufgestanden war, beschloss der Krieger, ihn endlich aufzuklären. Schließlich war er die treibende Kraft der Geschwister. Wäre er nicht so jung gewesen, wäre es wohl eine Beleidigung, es ihn als Letztes erfahren zu lassen.

Anders als erwartet, fasste Mithos die Neuigkeit, dass Kratos der Hauptmann Tethe'allas war, nicht euphorisch auf. Ihm war die Freude zwar anzusehen, doch er blieb ruhig.

»Du hast gesagt, du würdest dich uns anschließen«, meinte der blonde Junge. »Bedeutet das, du wirst uns helfen, eine Audienz beim König zu erreichen?«

Langsam nickte Kratos, der im Übrigen neben Martel saß. Yuan hatte sich etwas Abseits auf seiner Lagerstatt niedergelassen und die Arme hinter dem Kopf verschränkt. An der Stellung seiner Ohren erkannte der Rothaarige, dass er dem Gespräch lauschte, auch wenn seine Mimik Langeweile ausdrückte.

»Das … ist unglaublich«, sagte Mithos dann. »Das bedeutet, dass wir wirklich eine reale Chance haben, für einen Waffenstillstand zu sorgen …!«

»Das ist nicht gesagt«, wandte Kratos ein. »Ich kann nur dafür sorgen, dass du vor dem König sprechen kannst. Du kannst dir sicherlich denken, wie wenig er für Halbelfen übrig hat.«

»Aber wir haben dich dabei«, meinte der Junge glücklich. »Auf dich wird er hören. Du bist ein Mensch und der Hauptmann.«

»Das mag vielleicht sein«, gestand der Adelige, »aber für einen Waffenstillstand brauchen wir auch die Einverständnis von Sylvarant.«

»Wenn ihr verfeindet seid, müsstest du doch auch den Hauptmann von Sylvarant kennen«, meinte Mithos hoffnungsvoll.

»Er liegt hinter dir.«

Yuan zuckte zusammen und warf Kratos einen Blick zu, der ihn hätte töten können. Und Kratos wünschte sich den Bruchteil einer Sekunde lang, dass er es wirklich täte, denn dieser Blick stach ihn erneut im Herzen.

Mithos drehte sich sofort zu ihm um.

»Du bist der Hauptmann von Sylvarant?!«

Yuan seufzte und setzte sich auf.

»Ja, das bin ich.«

Mithos sah zwischen den beiden hin- und her.

»A-aber …«, stammelte er, »… ihr habt gegeneinander gekämpft? Ihr beide?«

Beide nickten gleichzeitig.

»Ich glaub's nicht …«

Martel, die bei Gesprächen oft die ruhige Rolle der Zuhörerin übernahm, mischte sich nun ein.

»Das hat auch viel Gutes, Mithos«, sagte sie.

»Klar!«, antwortete ihr jüngerer Bruder. »Ich war nur gerade etwas … erstaunt.«

»Wieso erstaunt?«, wollte Yuan wissen, wobei seine Stimme wieder ein wenig an Feindseligkeit gewonnen hatte. Nicht Mithos gegenüber. Kratos wusste, dass sie ihm galt.

»Na, weil ihr beide eher wirkt wie Freunde, als wie Feinde.«

Schweigen.

Wie konnte Mithos auf den Gedanken gekommen sein, dass sie Freunde waren? Sie waren einander stets mit Abstand begegnet. Und gesprochen hatten sie nur, wenn sie ungestört gewesen waren. Wie also, um alles in der Welt, kam Mithos darauf, dass sie Freunde waren?

Yuan stellte diese Frage, obwohl er sie eher ausspuckte.

»Ich weiß nicht genau …«, gestand der Junge, lächelte dann aber. »Irgendwie seid ihr euch total ähnlich. Und als Kratos sagte, er hätte nichts gegen Halbelfen, dachte ich, ihr kennt euch bestimmt, weil wir euch auch zusammen fanden und Kratos nach dir gefragt hat.«

»Sie haben uns … zusammen gefunden?«, dachte der Rothaarige verwirrt. Das war eigentlich komplett unmöglich. Als Yuan Indignation auf ihn eingesetzt hatte, war er gut und gerne zwanzig bis dreißig Meter durch die Luft geschleudert worden. Und Yuan war eigentlich zu schwer verletzt gewesen, als dass er es noch hätte zu ihm schaffen können. Außerdem tobte damals um sie schließlich eine Schlacht. Das war so gut wie unmöglich.

Er sah Yuan an. Wenn es stimmte, was Mithos sagte - und davon ging er aus. Warum sollte er lügen? - drängte sich dem Krieger eine Frage auf: Warum war Yuan, so schwer verletzt, wie er gewesen war, noch zu ihm gekommen?

»Wir sind keine Freunde«, antwortete Yuan schließlich und riss Kratos damit aus seinen Gedanken. »Wir waren es mal. Aber das ist verdammt lange her.«

So sah er das also.

Der Rothaarige wurde aus Yuan nicht schlau. Hatte er ihm nicht vergeben? Jedoch hatte er im selben Satz gesagt, dass Tethe'alla für immer sein Feind sein würde. Welcher dieser beiden Sätze war gewichtiger? Wie hatte er das überhaupt gemeint? Sah er in Kratos nicht mehr seinen Bruder, sondern nur noch den Hauptmann Tethe'allas?

Er schüttelte die Gedanken ab.

»Wir sollten andere Dinge besprechen«, meinte er. »Zum Beispiel, wie wir nun vorgehen.«

»Der große Kratos Erebos von Aurion spricht von "wir"?«, fragte Yuan verächtlich und schnaubte, bevor er sich erhob. »Du bist hier nicht der Anführer, begreif' das mal. Ich habe mich Martel und Mithos angeschlossen, um den Krieg zu beenden, damit mein Volk nicht länger leiden muss«, sagte er, »aber das werde ich mit Sicherheit nicht unter deinem Kommando tun.«

Mit diesen Worten verschwand der blauhaarige Halbelf nach draußen. Alle drei sahen ihm verwirrt nach.

Mithos fand seine Stimme als Erster wieder.

»Seitdem Kratos wach ist, ist er irgendwie seltsam …«, bemerkte er und der Rothaarige horchte auf.

»War er anders, als ich noch ohnmächtig war?«, wollte er wissen.

Mithos nickte, während Martel, von beiden unbemerkt, aufstand.

»Ja«, antwortete der blonde Junge. »Er war … wie soll ich es sagen … offener. Freundlicher.«

Der Rothaarige nickte langsam.

»Die Frage mag dir seltsam erscheinen, aber …«, setzte Kratos an, »… schien es ihm … "gut" zu gehen?«

»Eigentlich schon. Er hat zwar nicht viel gelacht und war auch nicht sehr gesprächig, aber wenn wir uns unterhalten haben, schien er mir irgendwie versöhnlicher zu sein als jetzt.«

»Hm …«, machte der Krieger nur.

»Er hat dich oft angesehen«, erzählte Mithos weiter. »Sogar sehr lange. Aber wenn ich ihn danach gefragt habe, hat er mir nicht geantwortet.«

»Mich angesehen?«, fragte Kratos, obwohl es eher eine Feststellung des Gesagten war. Nun war er vollends verwirrt.

»Lassen … wir das«, sagte er schließlich und sah den Jungen, von dem er wusste, dass er zwölf war, ernst an. »Was hast du als nächstes vor?«

»Eigentlich würde ich so bald wie möglich zum König von Meltokio wollen«, gestand Mithos. »Glaubst du, dass wäre möglich?«

Kratos, der den Themenwechsel genoss, schloss kurz die Augen, um nachzudenken.

»Ich denke schon …«, antwortete er dann, jedoch langsam. »Allerdings … müsstet ihr euch vorerst tarnen. Nicht einmal ich komme mit Halbelfen in den Audienzsaal des Königs. Ihr braucht irgendetwas, das eure Ohren verdeckt.«

»Das ist kein Problem!«, entfuhr es Mithos. Nach wenigen Augenblicken zog er einen Kapuzenmantel aus seiner Tasche, die er immer bei sich trug. »Reicht das?«

Kratos kam nicht umhin, zu lächeln.

»Du bist sehr reif für dein Alter, Mithos«, gestand er. »Du denkst sehr gut mit.«

»Das ist Martels Verdienst …«, sagte er verlegen. »Sie hat mir alles beigebracht, was ich weiß.«

Er wollte seine Schwester anlächeln, als er bemerkte, dass sie nicht mehr neben ihnen saß. Kratos fiel es nun auch auf und er sah sich um, doch Martel war nicht zu finden. Während ihn das weniger interessierte, schien es Mithos zu besorgen. Er stand auf und rief nach ihr.

Kratos beobachtete ihn. War er vielleicht nur auf den ersten Blick so reif?

»Ich bin doch hier«, ertönte Martels Stimme nicht von weit her.

Mithos fasste sich an die Brust, als die grünhaarige Halbelfe auftauchte.

»Entschuldige«, bat ihr Bruder. »Du weißt, wie schnell ich mir Sorgen um dich mache.«

»Ja, das weiß ich«, meinte Martel gütig.

Der Krieger musste schmunzeln. War die Bindung zwischen richtigen Geschwistern wirklich so eng? War sie, wie es in der Lyrik so oft hieß, unzerreißbar? Oder lag es einfach daran, dass die beiden bereits viel miteinander durchgemacht hatten und die Angst, einander zu verlieren, so groß war, dass sie es zu übermäßiger Sorge zwang?

Er wusste es nicht, aber er vermutete, dass Beides seinen Teil dazu beitrug.
 

Nachdem Kratos seinen Kreislauf noch einige Tage mit langen Spaziergängen wieder aufbauen konnte, beschlossen die vier Gefährten, aufzubrechen.

Noishe hatte sich wieder zu ihnen gesellt. Das Wiedersehen hatte Martel zu Tränen gerührt, denn die Freude des Aeros war unglaublich groß gewesen. Und selbst Kratos, der in all der Zeit sehr abgekühlt war, lachte er ein bisschen, als Noishe versuchte, ihn mit seinen großen Flügeln zu umarmen.

Das Vogelwesen über ihren Köpfen, zogen Kratos, Yuan, Mithos und Martel los. Es waren die ersten Schritte einer Reise, die die Welt verändern sollte. Doch das wusste zu diesem Zeitpunkt noch keiner der Vier.

Kratos' gute Beobachtungsgabe machte sich einmal mehr bezahlt. Bereits nach wenigen Tagen konnte er wieder aus Yuans Mimik lesen und die beiden Halbelfengeschwister sehr gut einschätzen.

Martel war eine sehr ruhige Frau mit klugem Geist. Auch war sie sehr mitfühlend und leicht von Mithos' Launen anzustecken. Lachte er, lächelte sie. War er ernst, war auch sie nachdenklich. Aber sie hatte auch durchaus eigene Launen. Vor allem fiel dem Krieger auf, dass sie sich in der Gesellschaft von ihm oder Yuan sehr wohlfühlte. Das war wohl der Fall, weil sie etwa gleichaltrig waren. Kratos vermutete, dass sie lange Zeit keinen gleichaltrigen Gesprächspartner mehr gehabt hatte. Und Mithos war zwar reif für sein Alter - reifer als er selbst es gewesen war - aber eben noch ein Kind.

Kratos mochte die junge Halbelfe. Sie war stets freundlich und schenkte ihm sehr oft ein Lächeln, wenn sie sah, dass er sich wieder zu tief in seine Gedanken zurückgezogen hatte. Auch konnte sie sich sehr gut ausdrücken und besaß ein hohes Allgemeinwissen. Auf ihren langen Tageswanderungen sprach er oft mehrere Stunden mit ihr. Allerdings wurde es Mithos manchmal ein wenig zu viel und er stieg in die Unterhaltung mit ein. Der Rothaarige verstand das sogar. Er befürchtete wohl, dass Martel ihm weniger Aufmerksamkeit schenken würde, wenn sie sich zu lang mit ihm beschäftigte. Und da sie seine einzige Bezugsperson und Verwandte war, wollte er das vermeiden.

Die giftigen Blicke von Yuan bemerkte der rothaarige Krieger nicht, da er meistens zu sehr in das Gespräch vertieft war.

Mithos selbst gefiel dem ehemaligen Hauptmann von Meltokio. Auch er war recht vernünftig, wurde aber auch gern mal übermütig. Besonders Noishe hatte es ihm angetan. Die beiden spielten manchmal miteinander, was Kratos gern sah. Eigentlich war Mithos noch viel zu jung für so ein großes Vorhaben. Daher freute er sich, dass der junge Halbelf auch noch Kind sein konnte.

Um nicht von umherstreifenden Wachen entdeckt zu werden, hatten sie beschlossen, durch den Wald zu reisen, der an Meltokio grenzte. Da Kratos durch den Krieg der Elementargeister vollkommen den Überblick über die Jahreszeiten verloren hatte, fragte er Martel, welche Jahreszeit nun eigentlich vorherrschte. Man hatte es den weiten Ebenen, auf denen sie bisher gereist waren, nicht ansehen können. Sie erklärte ihm, dass sie sich mitten im Frühling befanden und Kratos freute sich. Der Frühling war ihm die liebste Jahreszeit. Alles blühte und gedieh in diesen Monaten. Und da er Wälder noch mehr liebte, steigerte sich seine Stimmung ein wenig, in der Aussicht, durch einen lebenden und blühenden Wald zu reisen.

Doch er ahnte nicht, wie sehr er sich irrte.

Als sie den Wald betraten, war dem Rothaarigen sogleich seltsam zu Mute. Irgendetwas stimmte nicht.

Die vier Gefährten verlangsamten ihren Schritt. Offenbar war Kratos nicht der Einzige, dem das auffiel. Selbst Noishe, der sie die letzten Tage mit seinen fröhlichen Liedern ermuntert hatte, war verstummt. Und genau das war das Erste, was an diesem Wald auffiel.

Kein einziger Vogel sang.

Es herrschte Totenstille im Wald. Kein Zwitschern, kein Zetern war zu hören. Nicht einmal die trampelnden Hufe von Rotwildherden oder das muntere Keckern der Eichhörnchen. Nichts. Nur der Wind rauschte durch die Bäume. Und selbst das schien gedämpft zu geschehen.

»Was ist hier passiert …?«, wagte Mithos zu fragen.

»Der Krieg hat alle Tiere fortgejagt …«, antwortete Martel. »Oder getötet. Es würde mich nicht wundern, wenn die Bewohner Meltokios aus Nahrungsknappheit mehr gejagt haben, als dieser Wald verkraften konnte.«

Kratos wie auch Yuan schluckten und sahen einander kurz an. Ihnen war bewusst, dass auch das ihre Schuld war.

Unwillkürlich musste Tiberius' Enkel an seinen Großvater denken. Was war aus ihm geworden? Hatte er den Krieg überlebt? Und wie war es dem wunderschönen Wald ergangen, durch den sie einst geritten waren? Hatte der Krieg auch das Einhorn verjagt und mit ihm die unbeschreibliche Schönheit seines Reiches?

Er schämte sich in diesem Moment, sich in all den Jahren nicht nach seinem Großvater erkundigt zu haben. Den letzten Brief hatte er ihm geschrieben, als er das Erbe seines Vaters angetreten hatte. Das war noch in seiner Kadettenzeit gewesen und inzwischen fast acht Jahre her.

Nach einiger Zeit entdeckte Yuan einen Vogel und deutete auf ihn. Es war ein Rotkehlchen. Die Vier sahen zu dem Tier hinauf. Es verharrte still an seinem Platz und rührte sich keinen Millimeter. Ganz, ganz kurz tschilpte das kleine Vögelchen. Doch es verstummte augenblicklich wieder. Fast, als hätte es Angst, sein Lied anzustimmen.

Noishe, der über die Baumkronen hinweg geflogen war, landete nun auf dem gleichen Ast wie der kleine Vogel. Obwohl das Aeros viel größer war, flog es nicht davon. Das war nicht verwunderlich, da Protozoen in jeder Form bei Tieren gern gesehen waren. Tiberius hatte Kratos einst erzählt, dass sie die Rolle der Beschützer einnahmen. So war Noishe eine Art Behüter der Vögel.

Das Aeros gurrte und der Rothaarige begriff, dass er den kleinen Vogel aufmuntern wollte, doch das Rotkehlchen schwieg. Als Noishe leise zu tschilpen begann, flog es davon. Der Protozoon sah ihm traurig nach.

Egal, wie tief sie in den Wald vordrangen, sie trafen kaum Tiere. Und alle, die sie sahen, versteckten sich sofort vor ihnen. Yuan berichtete, nachdem er einen kurzen Umweg gegangen war, einen Wolf gesehen zu haben. Doch er war mager und krank gewesen. Ein weiteres Zeichen dafür, dass die Menschen ihnen das Futter wegnahmen. Das Gleichgewicht dieses Waldes war komplett zerstört worden. Und Kratos wusste nicht, ob er sich jemals davon erholen würde.

Er wusste nur, dass er, wie auch sein Bruder daran schuld waren.
 

Als sie den Wald am nächsten Tag hinter sich ließen und Meltokio am Horizont sichtbar wurde, blieben die Gefährten stehen.

»Lasst uns für heute rasten«, schlug Kratos vor. »Es ist unwahrscheinlich, dass wir in Meltokio einen Schlafplatz finden.«

Ausnahmsweise stimmte sogar Yuan zu. Also suchten sie sich am nahen Waldrand einen sicheren Rastplatz und entzündeten ihr abendliches Lagerfeuer.

Auch an diesem Abend fiel das Essen sehr karg aus. Yuan hatte es sich zur Aufgabe gemacht, auf Jagd zu gehen, doch dieses Mal, wie auch die letzten Tage, kehrte er mit leeren Händen zurück. Kratos wunderte das nicht mehr.

Während Martel auf ihrer Panflöte zu spielen begann, sah er sich um.

Viele Bäume waren inzwischen gefällt worden. Wahrscheinlich um Reparaturen auszuführen. Doch als der Rothaarige zum nicht mehr weit entfernten Meltokio sah, erblickte er nur noch Ruinen. Er hatte Angst davor, zurückzukehren. Wie würden die Leute auf ihn reagieren? Schließlich hatte er unglaublich viele Väter in den Tod geschickt. Er hatte Familien auseinandergerissen, Frauen zu Witwen und Kinder zu Waisen gemacht.

Er schüttelte den Kopf und erhob sich. Martel hielt sogleich in ihrem Spiel inne.

»Wohin gehst du?«, wollte sie wissen.

»Nachdenken«, antwortete er mit tiefer Stimme. Die schöne Halbelfe sah ihn einen Augenblick lang an. Er erwiderte ihren Blick ruhig. Sie verstand, dass er allein sein wollte und ließ ihn ziehen.

Es war ein schöner Abend. Die ersten Sterne glommen am Firmament auf und die Sonne war fast gänzlich verschwunden. Tief in seine Gedanken versunken, folgte Kratos keinem Weg. Er ging einfach, wohin der Wind ihn führte. Und so kam er an einer Anhöhe an, von der aus man einen guten Ausblick auf die Umgebung hatte. Schön konnte man nicht mehr sagen.

Zu seiner großen Verwunderung war er nicht der Einzige, der diesen Platz gefunden hatte. Mithos saß im Gras und blickte auf Meltokio herunter. Da er bedrückt aussah und Kratos noch sehr gut wusste, wie einsam man in diesem Alter sein konnte, ging er auf ihn zu.

»Darf ich mich zu dir setzen?«, fragte er und der junge Halbelf sah auf. Als er den Rothaarigen erkannte, nickte er und wandte seinen Blick wieder Meltokio zu.

»Du hast ein gutes Gespür für schöne Plätze, Mithos«, versuchte Kratos ein Gespräch zu beginnen.

»Schön ist er nicht«, behauptete das blonde Kind. »Aber abgelegen und gleichzeitig vor Blicken geschützt.«

»Hm …«, machte der Krieger. »Warum bist du hier? Du weichst deiner Schwester doch sonst nicht von der Seite.«

»Ich … wollte nachdenken …«

»Worüber?«

»Über Morgen … ich habe ein wenig Angst, vor den König zu treten …«

Kratos sah ruhig zu Mithos herunter.

»Angst davor, dass er euch festnimmt?«, fragte er. »Das werde ich zu verhindern wissen.«

Doch der Jüngere schüttelte den Kopf.

»Ich habe Angst, nicht die richtigen Worte zu finden … und dass der König nicht auf mich hört.«

»Er geht in die Hauptstadt seiner Feinde und hat keine Angst, dass ihm etwas geschehen könnte, sondern davor, dass er versagt?«, fragte Kratos sich in Gedanken und überlegte, ob das bemerkenswerter Mut oder unglaubliche Torheit war.

»Ich kann es dir nicht versprechen«, gestand er deswegen. »Aber ich kann dir sagen, dass du mich mit deinen Worten überzeugt hast. Und ich bin kein Mensch, der leicht zu beeindrucken ist.«

Mithos schwieg einen Augenblick, bevor er antwortete.

»Du bist anders«, sagte er dann. Kratos seufzte innerlich. Er sollte wirklich eine Strichliste führen.

»Das sagen viele«, meinte er. »Aber auch ich bin ein Mensch. Und mein Vater war einer der schlimmsten Rassisten, die ich kenne. Trotzdem sehe ich Halbelfen nicht als minderwertig an. Und wenn der König deine Worte hört und ich ihm versichere, dass ich voll und ganz hinter dir stehe, wird er vielleicht auf dich hören. Er hat mich früher sehr geschätzt.«

»Das würdest du tun?«, fragte das Halbelfenkind sofort.

Kratos nickte.

»Weswegen sonst sollte ich dich begleiten?«, wollte er wissen. »Ich werde deine Ideale verteidigen, denn ich hatte einst die gleichen wie du. Freiheit und Gleichheit.«

Mithos lächelte den Krieger an, bevor er in den Sternenhimmel blickte.

»Das ist mein größter Traum … die Freiheit meines Volkes und das Ende des Krieges.«

Der Rothaarige sah den Jungen neben sich lange an. In seinen blauen Augen funkelte die Hoffnung, wie die Sterne am Nachthimmel. War es vielleicht das, was einer Seele den Platz zwischen den Sternen sicherte? An seine Ideale zu glauben und dafür zu kämpfen?

Auch er hob den Kopf nun.

Vielleicht war es noch nicht zu spät. Vielleicht konnte er seine Seele noch retten, wenn er von nun an stets an sich selbst und seine Träume und Hoffnungen glaubte.

Und erneut zierte ein Lächeln sein Gesicht. Doch dieses Mal war es ehrlich und kam direkt aus seinem Herzen.

Ja, es gab noch Hoffnung. Und Mithos hatte sie wieder in ihm geweckt.

»Träume deine Träume nicht nur, Mithos …«, sagte er dann und der junge Halbelf sah ihn fragend an. Der Rothaarige schenkte sein erstes, ehrliches Lächeln nun ihm.

»… sondern lebe sie.«

Die Stimme eines Kindes

Uff ...

Das ich dass Kapi so schnell hochlade, ist eine Ausnahme ^^" Es ist nicht von meiner heißgeliebten Lektorin und Co-Autorin Nici eingelesen worden, weil wir beide zur Zeit ziemlich im Stress sind. Ich hoffe trotzdem, dass es euch gefällt!

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Ja, Mithos hatte meine Hoffnung wieder entflammen können.

Von diesem Tage an, versank ich nicht mehr zu tief in meinen Gedanken. Ich konzentrierte mich auf unser erstes Ziel: Avanel von unserem Vorhaben zu überzeugen.

Am nächsten Morgen begann ich mit Mithos, seine Taktik zu besprechen. Auch lehrte ich ihn innerhalb weniger Stunden, wie er sich vor einem König zu verhalten hatte. Es musste alles perfekt sein. Er durfte Avanel nicht durch den kleinsten Fehler beleidigen. Und das machte ich ihm auch mehrere Male klar.

Martel und auch Yuan beobachteten uns eingehend. Während Martels Blick auf Mithos ruhte, haftete der Yuans an mir. Und dieser Blick war mehr als nur feindselig. Es war wirklich, als sah er in mir den Schoßhund des Königs und nicht mehr den Menschen. Doch ich hatte beschlossen, Mithos mein gesamtes Wissen über die Königsfamilie, ihre Gebräuche und und auch ihre kleinen Geheimnisse zur Verfügung zu stellen. Und auch, mich voll und ganz seinen Idealen zu verschreiben. Er war jung und konnte zwei Schultern, die ihm Verantwortung abnahmen sehr gut gebrauchen. Auch war Mithos sehr aufmerksam und gelehrig. Auch ihm war klar, wie kostbar und wichtig meine Erfahrungen waren.

Und außerdem hoffte ich, dass Yuan so sein Vertrauen in mich wiederfand.

Am späten Nachmittag erreichten wir die Reste der Mauern von Meltokio. Kurz vorher hatten wir uns alle vier die Kapuzenmäntel angezogen, um nicht erkannt zu werden. Eine Vorsichtsmaßnahme. Bei Yuan, Mithos und Martel wegen ihrer Rasse und bei mir, weil ich nicht wusste, wie die Bewohner der Hauptstadt auf mich reagieren würden.

Meltokio war noch immer zerstört und kaum wieder aufgebaut. Zu kraftvoll waren die Schläge Sylvarants gewesen. Obwohl ich Yuans Gesicht nicht sehen konnte, merkte ich, dass es nicht spurlos an ihm vorbeiging.
 

Die Kapuzen hatten sie tief in ihr Gesicht gezogen. Nicht eine Haarsträhne war mehr zu sehen. Von keinem der vier Gefährten. Man konnte nur die Grundzüge ihrer Gesichter erkennen. Und das war auch gut so.

Die Gassen Meltokios mochten ausgestorben wirken, doch in den Fenstern der niedergebrannten Häuser äugten sie die Bewohner misstrauisch an. Kratos spürte ihre Blicke. Sie brannten auf seiner Haut.

Yuan ging hinter ihnen her. Die beiden Krieger hatten Mithos und Martel in ihre Mitte genommen. Ebenfalls eine Vorsichtsmaßnahme, die sie ohne ein Wort zu wechseln ergriffen hatten. Sie mochten Feinde oder ähnliches sein, aber sie verstanden ihr Handwerk im Militär. Und zwar beide. Keiner stand dem anderen in etwas nach.

Die schwarzgebrannten Häuserruinen und der Schutt auf den zerstörten Straßen machten Kratos einmal mehr klar, welchen Schaden er mit seiner Sturheit und auch seiner Treue zu Yuan verursacht hatte. Hätte er ihn aufgegeben, wäre es vielleicht nie soweit gekommen.

»Das ist schrecklich …«, wisperte Mithos.

»Das ist der Krieg«, antwortete Kratos leise und verbot ihm dann den Mund.

Unwillkürlich musste er an Nanami denken. Wie war es der jungen Assasin nur ergangen?

Er hatte keine Zeit, länger über sie nachzudenken. Denn als sie um die nächste Ecke bogen, standen sie vor den Toren des Schlosses. Davor waren - wie immer – zwei Wachen postiert. Kratos war erleichtert, als er sie erkannte. Es würde leicht sein, an ihnen vorbeizukommen.

»Stehen bleiben!«, forderten sie, als sie begriffen, dass die fremden ins Schloss wollten. »Wer seid ihr und was wollt ihr?«

»Wir begehren eine Audienz bei König Avanel und Königin Liabela«, antwortete der Rothaarige.

»Unmöglich. Das Königspaar nimmt keine Fremden mehr in Empfang!«, antwortete einer der Wachmänner.

»Ist dem so?«, fragte Kratos und schlug seine Kapuze zurück. »Begrüßt er nicht einmal mehr seinen engsten Vertrauten?«

»H-Hauptmann Aurion!«, entfuhr es beiden und sie salutierten augenblicklich. »Verzeiht, Sir! Wir haben sie nicht erkannt, Sir! Ihr galtet seid Monaten als verschollen, Sir!«

»Rührt euch«, befahl der Hauptmann der Garde dann. »Totgeglaubte leben bekanntlich länger. Und jetzt will ich den König sehen.«

»Natürlich, Sir!«, sagte einer der Wachen.

»Sofort, Sir!«, sagte die andere hastig und beide verschwanden im Inneren des Schlosses.

»Deine Männer fürchten dich«, schnaubte Yuan leise. »Hast du sie bei Ungehorsam gefoltert?«

»Keineswegs. Sie respektieren mich. Das ist ein Unterschied.«

Wenig später durften sie eintreten.

Kratos setzte seine Kapuze nicht mehr auf. Innerhalb des Schlosses fühlte er sich etwas sicherer. Stattdessen führte er seine drei Gefährten durch die Gänge des Schlosses bis hin zum Thronsaal. Seine Türen standen offen.

Avanel und Liabela saßen auf ihren Thronen. Nereus auf einem kleineren links neben ihnen.

Der Rothaarige trat vor seinen König, legte seine rechte Faust auf sein Herz, und ging mit einem Bein in die Knie, den Kopf gesenkt.

»Ich grüße Euch, König Avanel und auch Euch, Königin Liabela«, begann er die Förmlichkeiten. Für gewöhnlich hätte er Avanel als "seinen" König bezeichnen müssen, aber das hatte er nie getan. Und er würde es auch nicht ändern.

»Kratos …«, sprach Liabela mit ihrer sanften Stimme. »Wir dachten bereits, auch du hättest dein Leben für uns in dieser großen Schlacht gelassen.«

»Erhebe dich«, forderte Avanel und Kratos war froh, auf Liabelas Worte nicht antworten zu müssen. Er stand auf und blickte dem König von Tethe'alla ins Gesicht. Auch an ihm war der Krieg nicht spurlos vorbeigegangen. Trotz seiner jungen Jahre war auch er gealtert und hatte bereits die ersten Falten in seinem Gesicht. Auch, wenn der Rothaarige Tethe'alla nie von ganzem Herzen treu gewesen war und Avanel wegen seiner diskriminierenden Politik nicht schätzte, musste er eines gestehen: Wenn man von der Sklavenschaft absah, war er immer ein guter König gewesen, der stets um das Wohl seines Volkes besorgt gewesen war.

»Ich bin froh, dich wiederzusehen«, gestand der König. »Es tut gut, ein Gesicht zu erblicken, welchem ich mein Vertrauen schenken kann.«

»Eure Worte ehren mich, großer König«, antwortete Kratos, wobei er nicht einmal log. Schließlich hätte Avanel ihn auch für einen Deserteur halten können. »Jedoch …«

»… bist du nicht hergekommen, um deinen Dienst in meinen Reihen wieder anzutreten«, fiel Avanel ihm ins Wort. Der Rothaarige erlaubte es sich, den König verwundert anzusehen.

»Du hast dich bisher nie so tief vor mir verbeugt«, antwortete Avanel daraufhin. »Das zeigt mir, dass du eine Bitte an mich hast. Denn aus Respekt tust du es sicherlich nicht.«

Kratos Verwunderung wuchs mit jedem Wort. Hatte Avanel ihn etwa über die ganzen Jahre hinweg durchschaut? Und wenn dem so war: Warum hatte er es geduldet?

»Ich sehe, du hast Besucher mitgebracht«, wechselte der König das Thema.

»Ja, das habe ich«, antwortete der Krieger. »Einer von ihnen begehrt Euer Gehör, großer König. Und ich bitte Euch untertänigst, es ihm zu schenken. Seine Worte sind von großer Bedeutung.«

Avanel nickte.

»Er darf sprechen.«

Kratos sah über seine Schulter und forderte Mithos mit einem Blick dazu auf, nach vorn zu treten. Er sah, wie der junge Halbelf noch einmal tief Luft holte. Dann trat er erst neben den Rothaarigen und schließlich noch einen Schritt vor.

Mithos verbeugte sich so, wie Kratos es ihm beigebracht und eben vorgemacht hatte. Er legte seine rechte Faust auf seine Brust und ging mit einem Bein in die Knie, den Kopf tief gesenkt.

»Meine besten Wünsche für Eure Familie begleiten diese Worte, großer König«, begann er, woraufhin Avanel auch ihm erlaubte, sich zu erheben. Jedoch hob Mithos nur seinen Kopf, um auch weiterhin seinen Respekt auszudrücken. Ebenfalls eine Geste, zu der Kratos ihm geraten hatte.

»Ich weiß, dass Ihr und Euer Volk großes Leid erdulden musstet. Wider der Tatsache, dass … mein Volk die Schuld daran trägt, bitte ich Euch, großer König, seid gnädig und schenkt meinen Worten Gehör.«

Mit diesem Satz schlug auch Mithos seine Kapuze zurück. Avanel erstarrte und erhob sich augenblicklich.

»Ein Halbelf?!«, entfuhr es ihm und er sah seinen Hauptmann mit einem vernichtenden Blick an. »Du hast einen Halbelfen in mein Schloss gebracht?!«

Während Mithos vor dem Zorn des Königs zusammenzuckte, erwiderte Kratos den wütenden Blick des Königs sehr ruhig.

»Ja, das habe ich. Und ich bin mir der Folgen bewusst, König Avanel«, argumentierte er mit gelassener, aber fester Stimme. »Jedoch habt Ihr ihm erlaubt, zu sprechen. Und ich kenne Euch als einen Mann, der sein Wort einhält.«

»Einem Halbelfen gegenüber ist mein Wort wertlos!«, empörte er sich. »Wachen! Ergreift ihn!«

Kratos zog augenblicklich sein Schwert, als die Wachen auf sie zu rannten und stellte sich schützend vor Mithos. Er sah aus den Augenwinkeln, wie Martel ihren Stab, den sie immer bei sich trug, erheben wollte, doch soweit, dass sie Magie einsetzte, kam es nicht.

»Haltet ein!«

Der Rothaarige traute seinen Ohren nicht, als er Liabelas Stimme diese Worte rufen hörte. Die Wachen, die ebenso verwirrt waren, blieben wie angewurzelt stehen.

»Liabela …!«, entfuhr des Avanel. »Wie kannst du es wagen, meinen Befehl zu widerrufen?«

Der Rothaarige sah nun zu seiner ehemaligen Verlobten hinauf, die aufgestanden war. Sie war eine bildschöne Königin geworden. Von dem naiven Mädchen war nichts mehr übrig geblieben. Ihre ganze Präsenz strahlte nicht nur ihr königliches Blut aus, sondern wirkte imposant und einschüchternd. Besonders jetzt, wo sie ihrem Gemahl die Stirn bot, wirkte sie wie eine Löwin, die ihr Futter verteidigte. Katzenhaft elegant und doch bereit, ihre Krallen auszufahren.

»Dieser Mann war bis vor wenigen Monaten dein Vertrauter, mein werter Gemahl«, begann sie zu sprechen. »Er hat stets im Sinne Tethe'allas gehandelt und war uns vielleicht nicht der treueste, aber sicherlich doch nützlichste Untertan. Was immer seine Motivation auch sein mag, er hat uns damit nie geschadet.«

Restlos jeder im Thronsaal sah die Königin staunend an.

»Ich bin mir sicher, dass er auch dieses Mal im Sinne unseres Königreiches handelt«, fuhr sie unbeirrt fort. »Und außerdem siehst du, wohin uns die Diskriminierung der Halbelfen gebracht hat. Also sollten wir vielleicht den ersten Schritt machen und diesem Jungen Gehör schenken.«

Wäre Kratos nicht Kratos gewesen, hätte ihm jetzt der Mund offen gestanden. Mithos hatte sich weniger gut unter Kontrolle und sein Kiefer klappte ihm herunter.

»Was kann er schon ausrichten?«, wollte Liabela wissen. »Er ist ein Kind.«

Avanel sah seine Gemahlin noch immer verwundert an. Sie jedoch warf Kratos einen Seitenblick zu, der sagte: »Ich habe nicht vergessen, was du für Avanel und mich getan hast.«

Der König stand noch einen Augenblick da, den Blick auf Liabela gerichtet. Dann atmete er tief durch und ließ sich auf seinem Thron nieder.

»Sprich, Halbelf, dessen Name mich nicht interessiert«, sagte er. »Aber mögen die Götter dir gnädig sein, wenn deine Worte ohne Belang für mein Königreich sind.«

Unsicher warf Mithos einen Blick zu Kratos, der noch immer sein Schwert umklammert hielt, bereit, es zu ziehen. Jedoch nickte er dem Jungen zu.

Mithos erhob sich und trat, trotz der Wachen, die noch immer ihre Schwert und Speere festhielten und dem zornigen König, einen weiteren Schritt nach vorne. Dann hob er seinen Blick und sah dem König Meltokios direkt in die Augen.

»Mein Name ist Mithos Yggdrassil«, stellte er sich trotz allem vor. »Ich mag ein Halbelf sein, jedoch stammen meine Schwester und ich nicht aus Sylvarant. Wir wurden in Heimdall geboren, der Stadt aller reinblütigen Elfen. Und wir wollen weder Tethe'alla, noch Sylvarant schaden.«

Mit jedem Wort wurde Mithos' Stimme etwas fester. Kratos bewunderte ihn in diesem Augenblick. Jedes Kind seines Alters - auch er selbst - hätte angesichts dieser Situation vor Angst gezittert.

»Ich weiß, dass die Menschen unsere Rasse als minderwertig ansehen. Meine Schwester und ich selbst haben bereits das Joch der Sklavenschaft erleben müssen. Jedoch hegen wir keinen Groll. Hass liegt uns fern. Meine Gefährten und ich haben uns zusammengeschlossen, um diesem grauenhaften Krieg ein Ende zu setzen«, sprach er es aus, wobei seine klare, ehrliche Kinderstimme durch den großen Thronsaal hallte. Selbst die Wachen ließen nun ihre Waffen sinken und lauschten den Worten des Halbelfenkindes.

»Familien wurden auseinandergerissen. Kinder wurden zu Waisen. Frauen zu Witwen. Leben, deren Anzahl man niemals nennen könnte, wurden für diesen Krieg geopfert. Ich will nicht, dass das weiterhin passiert. Ich will nicht, dass noch mehr Wesen sterben, egal ob Mensch, Elf oder Halbelf. Durch unser aller Adern fließt Blut, wir brauchen unser Herz zum leben und fühlen. Und auch, wenn ich weiß, dass es noch sehr lange dauern wird, bis dieser tief verankerte Rassismus aus den Köpfen der Leute verschwindet, so hoffe ich doch mit all meiner Lebenskraft, den ersten Schritt in diese Richtung gehen zu können. Und ich erflehe Euch, großer König, es mir gleich zu tun.

Wie ich von Kratos, eurem einst engsten Vertrauten, zu Ohren bekommen habe, seid Ihr ein sehr weiser und umsichtiger König, der stets um das Wohl seines Volkes besorgt war. Und sollte es nicht Euer höchstes Bestreben sein, das Leid zu beenden, das dieser Krieg über Euer Land bringt? Eure Untertanen leiden Hunger, Säuglinge verdursten an der Brust ihrer Mutter, weil sie zu schwach sind, um für sie zu sorgen.«

Keiner der Anwesenden rührte sich. Während Kratos bewundernd zu Mithos sah, schenkte Martel ihrem Bruder sehr sanfte Blicke. Yuan, der in der letzten Zeit kaum eine Gefühlsregung gezeigt hatte, sah man an seinen schimmernden Augen an, dass Mithos' Worte sein Herz berührten. Einige der Wachen hatten ihre Schwerter wieder weggesteckt, andere sie einfach fallen lassen.

Liabelas Mimik verriet, dass auch sie nicht unberührt von Mithos' Rede war. Nereus schaute immer noch ein wenig ungläubig drein. Und Avanel stand noch immer vor seinem Thron. Jedoch war sein Blick nicht mehr ganz so kalt wie bei Mithos' ersten Worten.

»Mein Ziel ist es, die Mächte aller Elementargeister in mir zu vereinen, denn ich beherrsche die Kunst der Beschwörung. Ich will nicht, dass sie länger für den Krieg missbraucht werden. Ich will Sylvarant seiner größten Macht berauben, damit auch das geschundene Halbelfenvolk seine Ohren für meine Worte öffnet. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dass die beiden Reiche in Frieden miteinander leben und gemeinsam daran arbeiten, dass alle Wesen, die darin leben, mit Respekt behandelt werden.

Ich möchte, dass die reinblütigen Elfen die Menschen nicht mehr als Parasiten der Welt ansehen. Ich möchte, dass Menschen damit aufhören, mein Volk als Sklaven zu missbrauchen. Ich möchte, dass die Halbelfen überall leben dürfen, ohne Furcht vor Gefangenschaft oder Peitschenhieben. Ich möchte, dass die Wälder, die durch den Krieg starben, wieder neu erblühen. Ich möchte, dass die Rehkühe ihre Kälber wieder säugen können, ohne Angst davor zu haben, im nächsten Augenblick getötet zu werden. Ich möchte die Vögel wieder singen hören. Ich möchte, dass auch die Protozoen in unsere Länder zurückkehren und ihre vollendeten Formen nicht als Tiere, sondern als vollwertige Wesen angesehen werden.

Ich bitte Euch, großer König, lasst diese Worte in Euer Herz hinein. Denn könnt Ihr mir noch sagen, wie dieser Krieg begann? Könnt Ihr mir den Grund nennen, warum die beiden Königreiche anfingen, sich gegenseitig zu bekämpfen?«

Avanel schwieg.

»Niemand kann das mehr. Er währt bereits über neunhundert Jahre. Selbst die Elfen wissen den Grund nicht mehr, da dieses Thema bei ihnen verboten ist und der Grund über die Jahrhunderte in Vergessenheit geriet. Es ist ein sinnloser Krieg, der die Welt irgendwann zu Grunde richten wird. Man sieht ihre Wunden bereits in den toten Wäldern, den verseuchten Flüssen, den kranken Tieren und selbst den Vögeln, die es nicht mehr wagen, ihre Lieder zu singen. Was ist das für eine Welt, die dieser Krieg erschafft? Es ist eine Welt, in der keines dieser Völker noch leben möchte! Wenn wir weiterhin nichts unternehmen, wird eine Zeit kommen, in der die Kinder aller Völker in stetiger Angst und Hungersnot leben!«

Einige der Anwesenden waren inzwischen zu Tränen gerührt. Martel gehörte dazu. Kratos sah aus den Augenwinkeln, wie Yuan ihre Hand in seine nahm und tröstend darüberstrich. Mithos ging nun erneut auf seine Knie und verbeugte sich so tief, dass seine Stirn den Boden berührte. Er verharrte in dieser respektzollenden Stellung, sah den König jedoch erneut an.

»Großer König des einst blühenden Tethe'allas, reich an Tugenden und Ehren, aber auch reich an Schuld, ich bitte Euch, erlaubt mir, Euer Land zu bereisen und die Macht der Elementargeister vor dem Missbrauch Sylvarants zu schützen! Gebt mir Eure Hand und macht den ersten Schritt in eine friedlichere Zukunft! Eine Zukunft in der Werte wie Freundschaft, Zusammenhalt und Liebe wieder mehr wert sind als die Kraft des kalten Stahls und der dunklen Magie! Eine Zukunft, in der jedes Volk, egal, welchen Blutes es ist, wieder frei und glücklich leben kann!«

Mit diesen Worten beendete Mithos seine leidenschaftliche Rede. Kratos bemerkte, wie auch ihm die Tränen in die Augen steigen wollten. All diese Worte berührten ihn sehr. Allein schon, weil ein Kind sie aussprach. Ein Kind, das eigentlich für sein Leben lernen und glücklich spielen sollte. Erinnerungen holten ihn ein. Er sah die Schlachten, die er geschlagen hatte und all die Augen, dessen Licht er gebrochen hatte. Es kostete ihn all seine Beherrschung, sich davon nicht übermannen zu lassen.

Avanel sah Mithos lange an. Das Halbelfenkind hielt dem Blick des Königs stand. Das Schweigen einer Gruft erfüllte den Thronsaal. Die Stille war so greifbar, dass der Rothaarige beinahe der Meinung war, sie würde ihn ersticken. Dann aber begann der König wieder zu sprechen.

»Hauptmann«, sagte er unvermittelt. »Auf ein Wort.«

Damit verschwand Avanel. Mithos blickte ihm mehr als nur verwirrt nach - genau wie der Rest der Anwesenden im Saal.

»Habe ich etwas Falsches gesagt?«, flüsterte das Halbelfenkind leise.

»Nein«, versicherte Kratos ihm. »Wir werden sehen, was er mir zu sagen hat.«
 

Wenig später fand Kratos sich einmal mehr im privaten Audienzsaal der Königsfamilie wieder. Der Tisch mit den Elfenbeinintarsien, die der Rothaarige bereits als Kind über alle Maßen bewundert hatte, stand noch an seinem Platz.

Avanel ließ die Tür schließen und befahl den Wachen, niemanden hereinzulassen. Als die beiden Männer unter sich waren, nahm Avanel seine Krone ab und legte sie auf den Tisch. Dann blickte er den Hauptmann an.

»Was erwartest du von mir, Kratos?«, fragte er und fuhr sich durch sein kurzes, blondes Haar. Eine Geste, die sich ein König nur in den privatesten Kreisen erlauben durfte. Es war ein offenes Geheimnis gewesen, dass Avanel und Kratos sich von früher kannten und sich daher inzwischen duzten, wenn sie unter sich waren. »Du schleppst einen Knaben unreinen Blutes in mein Schloss, lässt ihn Dinge sagen, die meine Männer gegen mich aufhetzen könnten, wenn ich ihm seine Bitte abschlage und zu all dem sagst du nichts. Du stehst einfach da und lässt es zu.«

»Ich selbst habe nie mit dem Königshaus sympathisiert, Avanel. Das weißt du auch. Allerdings wollte ich Tethe'alla auch niemals schaden. Es ist nach wie vor meine Heimat. Und Mithos schadet niemandem. Im Gegenteil. Du hast gehört, was sein Ziel ist.«

»Es ist utopisch«, behauptete der König. »Er ist ein Kind! Und außerdem lediglich ein Halbelf. Ich verstehe nicht viel von Magie, aber ich weiß, dass sich die Zaubermacht der Halbelfen mit dem Alter entwickelt.«

Kratos sah Avanel unentwegt an.

»Mithos ist anders«, argumentierte er, wobei es ihm seltsam vorkam, diesen Satz über jemand anderen zu sagen. »Er ist unglaublich reif für sein Alter. Und ich glaube, dass er durchaus in der Lage ist, sein Ziel zu erreichen.«

»Was macht dich da so sicher?«, wollte Avanel wissen.

»Meine Intuition hat mich bisher nie getäuscht.«

Der König seufzte und ließ sich auf einem der Stühle nieder.

»Ich verstehe dich nicht«, gestand er. »Vor wenigen Monaten warst du noch mein Hauptmann und einer meiner engsten Vertrauten. Deine Meinung hat mir viel bedeutet.«

»Dann solltest du auch weiterhin auf mich hören und Mithos seine Chance geben«, verlangte der Rothaarige. »Ich bin bereit, dir regelmäßige Berichte zukommen zu lassen.«

Avanel schnaubte belustigt.

»Glaubst du, ich weiß nicht, dass du in Mithos deine Chance auf Freiheit gefunden hast?«, fragte der König. »Ich habe nicht vergessen, dass du damals Liabela verschmäht hast, um nicht an den Thron gefesselt zu werden.«

»Dann solltest du auch nicht vergessen haben, dass ich euch beiden ermöglicht habe, zu heiraten«, setzte Kratos dagegen. Seine nächsten Worte wählte er jedoch mit mehr Bedacht.

»Und du solltest auch nicht vergessen, dass ich dir gegenüber nicht völlig machtlos bin.«

Avanel hob unbeeindruckt eine Augenbraue.

»Was würde es dir bringen, mich zu stürzen?«, wollte er wissen. »Der Letzte in der Rangfolge ist mein Taugenichts von Bruder Chrion. Und in ihm findest du sicher keinen Verbündeten. Außerdem würde das Nereus' Leben kosten. Ich kenne dich inzwischen gut, Kratos. Du würdest das Leben eines Kindes ohne mit der Wimper zu zucken über dein Eigenes stellen.«

Unbeirrt fuhr der König fort.

»Und außerdem würdest du Liabela mit mir stürzen. Und sie ist diejenige, die es überhaupt ermöglicht hat, dass dieser kleine Sklave da draußen das Wort bekommen hat.«

»Er ist kein Sklave!«, entfuhr es dem Rothaarigen zornig. »Denkst du etwa immer noch so?! Siehst du denn nicht, wohin diese Einstellung geführt hat?!«

»Sprich nicht so mit deinem König!«, fauchte Avanel.

»Du bist nicht mein König!«, hob Kratos seine tiefe Stimme. »Du warst es nie und du wirst es auch niemals sein!«

Zorn brodelte in der Brust des Rothaarigen. Und er sah keinen Grund, sich weiterhin zurückzuhalten. Irgendjemand musste Avanel endlich mal unverblümt sagen, was den Tatsachen entsprach.

»Jetzt hör' mir mal zu, du Schmalzstullenkönig!«, forderte er und zeigte aus einem der großen Fenster des Raumes. »Du hast nicht da draußen auf dem Schlachtfeld gestanden! Du hast nicht hunderte, ja tausende von Menschen und Halbelfen sterben sehen!«, fauchte er und packte Avanels Handgelenk. »An deinen Händen klebt nicht das Blut von Kindern, die als Pfeilfutter endeten und dich darum angefleht haben, ihr Leiden zu beenden und sie zu töten! Du musstest nicht erleben, wie die Menschen und Wesen, die dir den Sinn deines Lebens gaben, in deinen Armen und vor deinen Augen gestorben sind! Du hast nicht mit angesehen, wie deine Kameraden, mit denen du wochenlang auf dem Schlachtfeld um dein Leben gekämpft hast, als Krüppel endeten!«, brüllte er nun richtig, zu seiner vollen, imposanten Größe aufgebaut. »Du hast dich in diesem Palast verkrochen, deinen Harem beglückt und ein Kind gezeugt, dessen Erziehung du obendrein auch noch mir überlassen hast! Hättest du auch nur einen Tag da draußen gestanden, in einer tobenden Schlacht, hätte dein Dickschädel endlich begriffen, dass es völlig egal ist, was für Blut durch die Adern eines Wesens fließt!«

Kratos keuchte inzwischen, doch er machte weiter. Avanel war in sich zusammengesunken. Man sah, dass er Angst hatte - und das zu Recht.

»Wenn du deinen blaublütigen Hintern nicht sofort da raus bewegst und Mithos dein Wohlwollen versicherst, ist es mir genauso egal, was mit deiner Familie passiert, wenn ich euch verrate, wie es dir egal ist, was aus all den Sklaven und dieser Welt wird, wenn nichts unternommen wird!«

Das wurde Avanel nun doch zu viel. Wie konnte ein Soldat, auch, wenn er Hauptmann war, es wagen, ihn derart zu beleidigen?

»Hüte deine Zunge, Kratos Erebos von Aurion!«, entgegnete er nun, wobei er jedoch nicht halb so überzeugend wirkte wie der Rothaarige. »Ich bin nicht so dumm, wie du mich gerade darstellst! Es mag sein, dass ich nicht neben euch auf dem Schlachtfeld stand, es mag sein, dass du Schlimmes durchlebt hast, was vielleicht auch erklärt, warum du mit deinem Benehmen gerade dein Leben riskierst, aber das ist kein Grund, derart aus der Haut zu fahren!«

Er schnaubte und atmete daraufhin tief durch, um sich selbst zu beruhigen.

»Ich bin nicht taub, Kratos. Ich habe die Worte von … Mithos … gehört. Und mir ist auch klar, dass es so nicht weitergehen kann. Aber was verlangst du von mir? Ganz Tethe'alla ist auf dem Rücken von Sklaven aufgebaut! Mein Volk würde mich meucheln, wenn ich Halbelfen von heute auf morgen als gleichwertig erkläre! Sieh' dir Meltokio an!«, forderte der König und zeigte nun seinerseits aus den Fenstern. »Es liegt in Trümmern, Schutt und Asche! Mein Volk ist krank, leidet Hunger und stirbt mir unter den Händen weg! Da kann ich ihnen nicht noch ihre Arbeitskräfte nehmen! Wir haben ja kaum noch welche!«

»Dann sollen sie gefälligst selbst mithelfen«, schnaubte der Krieger. »Avanel, ich weiß, dass dieses Vorhaben wahnwitzig ist! Aber bei den Göttern noch mal, was hast du für eine Wahl? Ich weiß aus sicherer Quelle, dass Sylvarant sich mit dieser letzten Schlacht nicht zufrieden gibt! Sie werden wieder angreifen! Und dann bedeutet es auch deinen Tod!«, klärte er den König auf. »Du hast Sylvarants Übermacht nichts mehr entgegenzusetzen. Denn ich«, sprach er nun so ehrlich, wie er es selten zu der Königsfamilie gewesen war, »werde sicher nicht mehr für dich kämpfen. Ich habe Dinge gesehen, die du nicht mal in deinen schlimmsten Alpträumen wiederfindest. Ich habe Dinge erlebt, die ich nicht meinem ärgsten Feind, ja nicht einmal Chrion gönne!«

Nun war Kratos es, der Luft holte.

»Tu einmal in deinem Leben das Richtige, Avanel«, verlangte er. »Mach' den ersten Schritt. Das Volk ist so verzweifelt, dass es jede Aussicht auf Hoffnung mit offenen Armen empfangen wird. Und Mithos ist deine einzige Aussicht auf Hoffnung!«

Die beiden Männer sahen einander an. Der Rothaarige stampfte Avanel allein mit seinen Blick in den Boden. Der König konnte ihm nicht länger standhalten und gab auf.

»Nun gut«, sagte er. »Ihr bekommt meinen Segen. Aber wenn ihr versagt«, fügte er noch hinzu, »verlange ich, dass du wieder in meine Dienste trittst. Und zwar bis zum Ende deines Lebens.«

»Eigentlich bist du nicht in der Position, um Bedingungen zu stellen«, meinte Kratos. »Aber unter diesen Umständen … bin ich einverstanden. Wenn du dafür alles in deiner Macht stehende tust, um Mithos und seine Gefährten - und somit auch mich – zu unterstützen.«

»Du hast mein Wort«, versprach Avanel.

»Und du das meine«, antwortete Kratos.

Beide Adelige gaben sich die Hände, ihre Blicke erneut aufeinander gerichtet. Ein stummes Abkommen. Als Kratos sich abwandte, um zu den Anderen zurückzugehen, ahnte er nicht, dass Avanel ein Stück Pergament zu sich nahm und ein Schreiben aufsetzte, in dem er bestätigte, dass der Krieger sein vollstes Vertrauen genoss und im Falle seines eigenen Todes von all seinen Pflichten und Verantwortungen als Hauptmann Tethe'allas befreite, jedoch einen einzigen, besonderen Titel erhalten sollte.

Es waren Zeilen, die dem rothaarigen Krieger, der Mithos, Martel und seinem Blutsbruder gerade die frohe Botschaft überbrachte, einmal mehr das Leben retten sollte …

Blut und Wasser

Nach einer schier endlosen Pause geht es nun endlich weiter! Ich hoffe, mir sind nicht allzu viele Leser abgesprungen ...

Ich wünsche euch wirklich viel Spaß beim Lesen! Denn jetzt wird es langsam erst wirklich interessant.

Übrigens: Ich brauche noch Hilfe in Sachen ToS2, was die Centurios und Ragnaros betrifft. Wer mir also helfen möchte, kann sich sehr gern per ENS bei mir melden!

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Wir verbrachten diese Nacht außerhalb von Meltokio.

Die Tatsache, dass Avanel seinem Gesuch stattgegeben hatte, hatte Mithos sehr viel Mut gegeben. Auf seine Frage, was der König von mir gewollt hatte, habe ich damals nicht geantwortet. Wozu auch? Mithos brauchte diesen Mut, der in ihm aufflammte, denn mir war sehr wohl bewusst, dass er noch nicht so wirklich wusste, welche Verantwortung er auf seinen Schultern trug.

Und daher nahm ich ihm wenigstens diese kleine Bürde ab, dass ich, wenn er versagte, selbst zum Sklaven des Königshauses wurde.

Und ich trug diese Bürde gern.
 

Der Rand des Schlachtfeldes, an dem Mithos und Martel vor einigen Monaten die beiden Blutsbrüder aufgefunden hatten, wurde ihre Lagerstatt.

Kratos stand auf einer kleinen Erhebung und blickte über den Platz. Während seichter Wind durch sein rostrotes Haar wehte, glitten seine Augen über all die verrottenden Leichen … Fliegen surrten in der Luft, schreiende Aasgeier stritten sich um die letzten Überreste der gefallenen Krieger. Das rötliche Licht der Abendsonne, dass über die tote Erde floß wie im Kampf das Blut es tat vervollständigte diese bildliche Symphonie des Todes.

Noishe hockte neben ihm auf der Erde. Kratos' treuester Freund sah, genau wie er selbst, betrübt über diesen verfluchten Ort. Obwohl bereits Monate vergangen waren und der Regen die leergefressenen und verwesten Skelette reingewaschen hatte, erinnerte noch jeder Millimeter an die grausame Schlacht um Meltokio.

»Sag' mir, Noishe … «, begann der Rothaarige dann. »Stimmt es wirklich, dass Yuan im Angesicht des Todes noch zu mir kam?«

Diese Frage beschäftigte Kratos schon, seitdem Mithos diese Tatsache so leichtfertig ausgesprochen hatte. Warum um alles in der Welt war Yuan, der ihn doch so sehr zu hassen schien, obwohl er das Gegenteil behauptete, noch zu ihm gekommen? Zu schwer waren seine Wunden gewesen … es musste ihn unendlich viel Kraft gekostet haben.

»Ja.«

Kratos blinzelte und sah seinen gefiederten Freund verwundert an. Das Aeros schmunzelte ihn mit den lilafarbenen Augen an.

»Du hast dich verändert, mein Freund …«, erklang die, dem Rothaarigen fremde und doch irgendwie vertraute Stimme in seinem Kopf. »Seit deiner Ohnmacht, in der du Dinge sahst, die eigentlich nicht für Sterbliche bestimmt sind. Es ist nur das Blut deines Großvaters, das deinem Geist die Reife gibt, dem Wahnsinn, der diese Dinge ausgelöst hätte, zu entfliehen.«

Kratos massierte sich die Schläfen. Was war das für eine seltsame Art der Koversation? Nicht nur, dass Noishe auf einmal Worte bilden konnte, ohne den Schnabel zu bewegen, nein. Er hörte diese Stimme nicht. Er spürte sie. Noishe sprach nicht direkt mit ihm. Viel mehr wusste er seine Antwort auf einmal. Und doch waren ihm diese Worte fremd.

»Wie … machst du das?«, wollte Kratos wissen, wobei ihn am wenigsten zu verwundern schien, dass Noishe der menschlichen Sprache mächtig war.

»So, wie jedes Tier, das die menschliche Sprache beherrscht«, antwortete Noishe erneut auf diese seltsame Art und Weise. »Ich übertrage dir meine Gedanken und meine Gefühle. Ich habe das schon früher gemacht. Aber erst seit Kurzem beginnst du, es wahrzunehmen.«

Kratos verstand langsam.

Es stimmte, was Noishe sagte. Seit seiner monatelangen Ohnmacht nahm er viele Dinge anders war. Ganz anders. Nur war in der letzten Zeit wieder zuviel geschehen, als das er sich eingehender damit hätte beschäftigen können.

Kratos hörte Dinge, die er früher nicht gehört hatte. Sobald er am Abend die Augen schloss, um einzuschlafen, begann es; das Flüstern im Wind. Er verstand die Worte nicht, aber dieses Wispern war immerzu da. Auch am Tage, nur konnte er es dann verdrängen. Abends jedoch holte es ihn ein.

Auch sah er Dinge, die anderen verschlossen blieben. Kleinigkeiten, aber sie waren da. Mal ein farbiger Schemen um eine Person herum, ein anderes mal eine geisterhafte Silouette.

Obwohl sein Geist eigentlich immer nach Klärung unbekannter Dinge verlangt hatte, wollte er bei diesen Dingen lieber nicht wissen, worum es sich handelte.

Noishe lächelte ihn an. Erneut mit den Augen, da er es mit seinem Schnabel nicht konnte.

»Du fürchtest dich, nicht wahr?«, fragte Noishe mehr rhetorisch als ernsthaft. Kratos nickte. Nur dem Aeros gegenüber konnte er so ehrlich sein.

»Zu Recht. Dein Bewusstsein ist immer noch das eines normalsterblichen Menschen«, antwortete Noishe. »Aber du bist mehr, Kratos. Du bist der Enkel deines Großvaters und der Sohn deiner Mutter. In beiden floss das Blut meiner Art.«

Kratos stockte.

»Floss? In beiden floss das Blut deiner Art?«

Noishes Blick wurde nun unergründlich für den Rothaarigen. Keine Antwort erreichte Kratos' Geist, doch der Rothaarige gab sich damit nicht zufrieden.

»Was ist mit Großvater?«, wollte er wissen. »Was weißt du, Noishe?«

Das Aeros wandte seinen Blick wieder auf das Schlachtfeld.

»Der ewige Kreis des Lebens schließt niemanden aus, Kratos …«

Wenn der Krieger auch in jeder Situation einen kühlen Kopf bewahren konnte, jetzt schlug sein Herz so schnell wie selten in seinem Leben. Sein Großvater! Sein letztes Familienmitglied!

Wie lange hatte er sich nicht mehr gemeldet? Acht Jahre? Scham übermannte ihn wie eine Flutwelle das Land. Hatte er Tiberius nicht unendlich viel zu verdanken? Wie oft hatte er ihm geholfen, als er noch ein Kind gewesen war? Hatte er ihm nicht sogar vergeben, dass er in den Krieg gezogen war?

»Was weißt du, Noishe?«, drängte er nun. »Lebt er noch? Habe ich noch einmal die Chance, mit ihm zu sprechen?«

Das Aeros sah nun in den immer dunkler werdenden Sternenhimmel. Erneut kam eine Windböe auf.

»Warum fragst du, wenn du es schon selbst weißt?«, wollte Noishe wissen. »Verdränge die Stimmen nicht, die der Wind dir zuflüstert. Er tut es aus gutem Grunde.«

Obwohl Kratos über diese rätselhafte Antwort eher wütend als glücklich war, befolgte er Noishes Ratschlag. Er schloss die Augen … und lauschte.

Die Windböe war angenehm kühl, strich durch das rostrote Haar des Kriegers und trug erneut das Wispern an seine Ohren. Dieses unheimliche Flüstern, dem er sich immer wieder zu entziehen versuchte. Doch nun, wo er sich darauf konzentrierte, war es ihm auf einmal nicht mehr fremd.

Er hörte keine Stimmen. Er hörte kein Flüstern. Er hörte keine Rufe.

Nein.

Er spürte etwas.

Schmerzen überkamen ihn. Körperliche wie seelische. Reue, Schuld und Scham, jedoch nicht seine eigenen Gefühle. Geruch von Blut und Wundwasser, Atemnot, Schmerz bei jeder Bewegung, jedoch nicht seine eigenen Empfindungen.

»Ihr seid durch euer Blut verbunden«, sprach Noishe nun. »Wenn du es zulässt, spürst du, was er spürt.«

Kratos schlug die Augen auf, als er Schritte hinter sich hörte. Yuan war gekommen. Er wollte ihn wohl zu den Anderen holen, denn seine Züge zeigten Widerwillen. Doch der verschwand, als der Rothaarige ihn ansah und nur einen einzigen Satz sprach.

»Großvater stirbt.«

Yuan schwieg, doch seine Augen veränderten sich. Die Eiseskälte, mit der er Kratos immerzu bedachte, verschwand. Auch er hatte Tiberius eine Menge zu verdanken – unter anderem sein Leben.

»Woher willst du das wissen?«

»Ich weiß es einfach.«

Anders konnte Kratos diese Sicherheit nicht erklären. Er wusste es einfach. Er wusste, dass sein Großvater im Sterben lag und um sein Leben rang. Irgendetwas hielt ihn davon ab, einfach zu gehen.

Noishe pluserte sein Gefieder auf. Das Aeros war inzwischen beinahe so groß wie Kratos selbst.

»Steigt auf«, sagte diese Geste.

Yuan sah zu Noishe. Das erste Mal seit langer Zeit brauchten die beiden Brüder keine Worte, um sich zu verstehen. Der Blauhaarige sah über seine Schulter zum Lager, Kratos nickte ihm zu.

»Mithos! Martel! Kommt her!«

Die beiden Halbelfengeschwister folgten dem Ruf ihres Artgenossen und wenig später standen auch sie auf der Anhöhe. Verständnislos sahen sie die beiden Blutsbrüder an.

»Mein Großvater stirbt«, erklärte Kratos. »Er ist mein letztes Familienmitglied. Ich muss zu ihm.«

»Ich reite mit Martel«, warf Yuan ein, legte seine Finger zwischen seine Lippen und stieß einen scharfen Pfiff aus. Es dauerte keine Minute und ein pechschwarzer, kräftiger Steppenläufer preschte aus dem Wald hinaus. Kratos traute seinen Augen nicht, als er Silabels Sohn Belias wiedererkannte. Yuan sprang auf den Rücken des Drachen und half Martel zu sich hoch. Dann sah der Blauhaarige zu Kratos und nickte ihm zu.

Tiberius' Enkel setzte sich auf Noishes Rücken, Mithos tat es ihm nach einem auffordernden Blick gleich.

»Wir treffen uns an seinem Anwesen«, sagte Kratos nur noch und schnalzte mit seiner Zunge. Noishe reagierte sofort und schlug kräftig mit seinen Flügeln. Mithos klammerte sich an Kratos fest, Kratos selbst drückte seine Beine fest an Noishes Körper und machte sich so flach wie es ihm möglich war. Das Aeros hob sie tatsächlich in die Luft empor und schoss los, als er hoch genug war.

Wie einst auf Silabels Rücken verschwomm die Umgebung um sie herum zu einer einzigen Symphonie aus Farben, der Wind fegte um sie herum, doch Kratos hatte dafür keinen Sinn mehr. Er wollte Tiberius nur noch rechtzeitig erreichen. Und er wusste, dass seinem Großvater nur noch wenige Stunden blieben.

Noishe jagte durch den Himmel, Belias preschte unter ihnen über die Ebenen hinweg. Das Schicksal schien es gut mit ihnen zu meinen, das Wetter schlug nicht um und der Wind trieb sie vor sich her. Das machte dem Rothaarigen klar, wie wichtig es war, seinen Großvater noch ein letztes Mal zu sehen. Sie mussten es rechtzeitig schaffen!

»Wo lebt dein Großvater?«, wollte Mithos wissen.

»Es ist nicht weit«, antwortete Kratos knapp.

»Wird er uns wohlgesonnen sein …?«

Kratos blickte über seine Schulter zu Mithos, der sich an seiner Taille festklammerte.

»Mein Großvater ist das gutherzigste Wesen, das ich kenne.«

Mit diesen Worten drückte sich der Krieger wieder flach an Noishes Körper. Die Sonne ging immer schneller unter – und in ihm machte sich das Gefühl breit, dass Tiberius die Nacht nicht mehr überleben würde.

»Halt' durch, Großvater … ich bin auf dem Weg!«

Dann endlich sah er das verfallene Anwesen seines Großvaters; und ihm blieb das Herz stehen.

Es war bis auf die Grundmauern niedergebrannt.

Und der Wald hinter dem Haus seines Großvaters, die Heimat des Einhorns, war dem Feuer ebenso zum Opfer gefallen.

Noishe stoppte augenblicklich und schrie auf, als würde er aufgespießt werden. Kratos tat es ihm gleich.

»Nein! NEIN!«, brüllte er. »Noishe! Runter!«

Das Aeros gehorchte und schoss im Sturzflug auf die Überreste des alten Anwesens herunter. Erst wenige Millimeter vor dem Erdboden breitete er seine Flügel wieder aus, um den Aufprall zu verhindern. Kratos stürzte von seinem Rücken herunter.

»Großvater! Großvater, wo bist du?! Antworte mir!«

Er bekam keine Antwort, also schloss er erneut die Augen und folgte dem Gefühl, das ihm gesagt hatte, was los war. Gefolgt von den Anderen kletterte er über die Ruinen und brachte beinahe unmenschliche Kräfte auf, um den Schutt beiseite zu räumen. Er musste all seine Beherrschung aufbringen, um sich von dem Hass, der ihn ihm aufgeflammt war, nicht überrennen zu lassen.

Und dann fand er ihn.

»Groß … vater …«

Tiberius lag schwer verwundet zwischen den Wurzeln einer der verbrannten Ahornbäume – neben ihm das Einhorn.

Martel keuchte auf und begann im selben Moment zu weinen. Mithos stand wie zu Stein erstarrt hinter dem Krieger.

Und Yuan … trat an seine Seite.

Kratos hatte wahrlich schon viele Verletzungen in seinem Leben gesehen, aber der Zustand seines Großvaters und des Einhorns ließ jede Wunde lächerlich erscheinen.

Tiberius' lange, blaue Haare waren nicht mehr. Sein gesamter Körper war vom Feuer gezeichnet, offene Fleischwunden, Brandblasen und verkohlte Haut überzogen ihn. Sein linkes Bein war bis auf die Knochen heruntergebrannt, seine linke Hand sah nicht viel besser aus.

Schwer atmend lag er mit dem Kopf auf dem Bauch des Einhorns, dessen Fell ebenso verbrannt war. Das Horn auf seiner Stirn war abgesägt worden, seine Hufe abgeschlagen. Es war tot.

»Großvater …«, hauchte der Rothaarige noch einmal. Tiberius öffnete seine Augen.

»Kratos … du bist endlich gekommen …«

Nun blieb sogar Yuan an Ort und Stelle stehen. Nur Kratos taumelte zu seinem letzten Familienmitglied und ließ sich neben ihm auf die Knie fallen. Tränen liefen über die Wangen des Kriegers.

»Wer hat euch das angetan …?«, hauchte er.

»Das … ist unwichtig …«, brachte Tiberius mühsam hervor. »Rache … hilft niemandem …«

Der Rothaarige wagte es nicht, seinem Großvater zu widersprechen, denn er wusste, dass ihn jedes Wort kostbare Kraft kostete.

»Es tut mir so leid … ich hätte das verhindern können, wenn ich nur bei dir gewesen wäre …«

»Mach' … dir keine Vorwürfe …«, bat Tiberius schwach. »Ich … habe nicht mehr viel Zeit … bring' … deine Freunde zu mir …«

Obwohl Kratos nicht wusste, warum er das wollte, winkte er Mithos, Martel, Yuan und Noishe zu sich.

»Kannst du seine Schmerzen lindern?«, fragte Kratos Martel mit rauer Stimme. Sie nickte und ließ ihren Stab wenige Millimeter über Tiberius' Brust schweben. Die Spitze begann, ein sanftes Leuchten auszubreiten und der Rothaarige sah, wie sein Großvater wieder etwas leichter atmen konnte.

»Danke … junge Halbelfe …«, lächelte der Totgeweihte und sah dann wieder seinen Enkel an.

»Ich wusste, dass ihr kommen würdet …«

»Wir sind hier, Großvater …«, antwortete Kratos leise. Er hätte am Liebsten die Hand von Tiberius ergriffen, doch er wusste, dass ihm das nur unsägliche Schmerzen bereitet hätte.

»Mithos … so ist dein Name, nicht wahr …?«

Der blondhaarige Junge sah Tiberius an und nickte.

»Junger Beschwörer … ich sehe viel Kraft in dir …«, hauchte Tiberius. »Aber dein Geist ist noch nicht reif … für soviel Macht …«

Kratos verstand, dass sein Großvater von den Elementargeistern sprach, mit denen Mithos paktieren wollte. Obwohl er sich fragte, woher der Protozoon in vollendeter Form all diese Dinge wusste, hörte er aufmerksam zu.

»Kratos …«, wendete sich der Sterbende wieder seinem Enkel zu. »Du musst … ihn unterrichten …«

»Ich …?«, fragte der Rothaarige. »Was kann ich ihm schon beibringen, Großvater? Du. Du könntest es.«

»Du weißt … dass ich noch in dieser Nacht … sterben werde …«, antwortete sein Großvater beachtlich ruhig. »Aber wir Protozoen … wir geben unsere Gedanken … Gefühle … und Empfindungen … immer an die nächste … Generation weiter …«, erklärte Tiberius mit röchelnder Stimme. »In dir liegt all das Wissen … was Mithos braucht … soviel … hast du schon an dir … soviel hast du gelernt … nur du kannst ihn … unterrichten …«

»Aber was soll ich ihn lehren, Großvater …?«

»Selbstbeherrschung … ruhiger Geist … die Fähigkeit … seinen Hass … zu zügeln …«

Tiberius lächelte erneut, wenn auch schwach.

»Halte das Wort … dass du deiner Mutter … gabst, Kratos … und auch ihr drei …«, nun sah er zu den drei Halbelfen, »... lasst euch nicht … vom Hass beherrschen … er ist falsch …«

Während Mithos und Martel nickten, stand Yuan auf. Kratos sah ihn an, doch sein Blutsbruder erwiderte den Blick nicht; er ging.

»Dein … Freund trägt … viel Verantwortung …«, sagte Tiberius. »Er kann … mich nicht sterben sehen … er gibt sich … die Schuld …«

Kratos wich nun auch der Rest seiner Farbe aus dem Gesicht.

»Warum er?«

»Das wird … er dir selbst sagen … wenn die Zeit … reif ist …«, antwortete der Sterbende. »Ich muss … dir etwas geben, Kratos … es wird … euch helfen …«

»... uns helfen …?«

Tiberius hob seine rechte Hand, die unter dem verbrannten Laub lag. Der Rothaarige traute seinen Augen nicht, als er sah, dass sein Großvater ein Schwert darin festhielt.

So ein Schwert hatte er noch nie gesehen.

Es bestand zwar anscheinend aus Metall, aber dieses Metall sah aus, als wäre es frisch aus dem Schmiedefeuer gezogen worden. Es leuchtete in genau diesem feurigen Farbton. Der Griff war golden, die Klinge selbst kunstvoll und formvollendet geschmiedet.

»Das ist … Flamberge …«, sprach Tiberius mit seinen letzten Kräften. »Die Klinge des ewigen Feuers …«

Kratos nahm es schnell aus der Hand seines Großvaters, da ihm diese simple Handbewegung offenbar Schmerzen zufügte.

»Dieses … Schwert … kann nur von jemandem … geführt werden … in dessen Seele … das Feuer Ifrits brennt … und du … mein Enkel … hast dieses Feuer in dir …«

Der Rothaarige berührte vorsichtig die Klinge des Schwertes. Sie war nicht glühendheiß, wie er es erwartet hatte. Nur angenehm warm. Er jetzt sah er, dass in der Klinge selbst ein Feuer zu lodern schien. Dann sah er seinen Großvater wieder an.

»Beendet … diesen Krieg …«, flehte der Sterbende nun, wobei seine Stimme immer brüchiger wurde. »Beendet … den Krieg … und bewahrt … die Welt … vor ihrer … Zerstörung …«

Kratos nickte nur noch. Er konnte nichts mehr sagen. Die Trauer um seinen Großvater schnürte ihm die Kehle zu.

»Noishe …«, hauchte Tiberius noch einmal und das Aeros gurrte seinen Artgenossen traurig an. »Pass' gut … auf Kratos auf …«

Sein Großvater schenkte seinem Enkel noch ein letztes Lächeln.

»Verdiene dir … deinen Platz zwischen … den Sternen …«, wisperte er. »Ich wünsche mir … dass du einst neben deiner Mutter … und mir auf eine … gesunde Welt herabscheinst …«

Die letzten Worte seines Großvaters machten die Schmerzen in Kratos' Brust unerträglich, das brechende Licht in seinen gütigen Augen ließ ihn jede Beherrschung verlieren. Er weinte. Kniete einfach nur da und weinte, das Schwert Flamberge in seinen Händen, während die letzten Sonnenstrahlen erloschen …
 

Sie hatten ihn allein gelassen, damit er in Ruhe um seinen Großvater trauern konnte.

Es hatte inzwischen zu regnen angefangen, doch Kratos kniete noch immer neben Tiberius Leichnam und dem des Einhorns.

Was hatte er seinem Großvater für Qualen aufgebürdet? Er wusste, dass das Blut eines Einhorns den Tod von einem Sterbenden fernhielt. Tiberius, der strenger Vegetarier gewesen war, da er es nicht über das Herz brachte, zu töten, hatte das Blut des Einhorns trinken müssen, um lange genug am leben zu bleiben. Und der Rothaarige war gebildet genug, um dem toten Einhorn anzusehen, dass es schon über eine Woche dort lag.

Tröstend strich er über den Rest des abgesägten Hornes … auch, wenn das Einhorn sein kostbarstes Gut nicht freiwillig hergab, beherbergte es noch immer starke Magie in sich. Da Menschen damit nichts anzufangen wussten, war Kratos schnell klar geworden, dass Halbelfen diese Gräueltat angerichtet hatten – Yuans Armee.

Der Halbelf stand nicht weit von ihm am Rand des Waldes. Schweigend, so starr wie eine Statue. Ja, im ersten Moment war Hass auf ihn in dem Rothaarigen aufgeflammt. Aber dann hatte er sich an seine eigene Zeit als Hauptmann erinnert …

Die Geplänkel, wie man kleinere Kämpfe nannte, hatte er oftmals nicht kontrollieren können. Er erinnerte sich noch gut daran, wie Avanel ihnen aufgetragen hatte, ein kleines Flüchtlingsdorf unschädlich zu machen. Kratos hatte seinen Männern gesagt, er wolle keine Toten. Nur hatten sie das falsch verstanden.

Als er in eines der Häuser hineingegangen war, hatte er einen seiner Soldaten dabei erwischt, wie er sich eine junge Halbelfe genommen hatte. Er hatte den Soldaten natürlich der Armee verwiesen, aber das Verbrechen hatte er nicht ungeschehen machen können.

Er glaubte, dass es Yuan genauso ging. So kaltherzig er auch geworden sein mochte, Tiberius hatte ihm niemals etwas getan. Im Gegenteil. Kratos wusste, dass er diesen Befehl mit Sicherheit nicht gegeben hatte. Vielleicht hatte er tatsächlich befohlen, das Einhorn zu jagen, vielleicht sogar zu töten. Er hatte nur nicht damit gerechnet, dass Tiberius sich wehren würde. Oder vielleicht hatte er auch einfach vergessen, dass sein Großvater hier lebte.

Er wusste es nicht. Aber er wollte es wissen. Dieses Mal würde er seinen Blutsbruder zur Rede stellen.

Er griff nach seinem Rucksack und suchte einen Moment, bis er fand, was er suchte. Wenig später hatte er zwei Schaufeln neben sich liegen. Und mit ihnen ging er zu Yuan und hielt ihm eine davon hin.

»Begrabt mein Herz an der Biegung des Flusses …«, rezitierte Kratos die Worte, die sein Großvater ihm einmal in einem Brief geschrieben hatte. Es war der letzte Brief von ihm gewesen. Er hatte gewusst, dass er in Kratos' Gegenwart sterben würde.

Yuan nickte und nahm die Schaufel entgegen. Dann gingen beide in den abgebrannten Wald hinein.

Der Boden war schlammig, doch die beiden Männer gingen Schritt für Schritt weiter. Die schmatzenden Schritte waren das einzige, was neben dem Rauschen des Regens zu hören war.

»Du wolltest nicht, dass das passiert«, stellte Kratos fest. Yuan schwieg und der Rothaarige gab ihm Zeit, zu antworten.

»Nein«, antwortete der Halbelf schließlich. »Ich … hatte nur befohlen, das Einhorn zu töten.«

Kratos nickte.

»Seines Hornes wegen …«

Auch Yuan nickte.

»Ich hatte gehofft, Tiberius würde fliehen … ich wusste nicht, dass er sich ihnen in den Weg stellen würde …«

»Hast du deinen Männern befohlen, jene zu töten, die sich gegen sie stellen?«

»Nein … sie sollten nur töten, um ihr Leben zu verteidigen. Und ich weiß, dass Tiberius sie nicht angerührt hat.«

Nun schwiegen beide erneut, stapften weiterhin durch den knöcheltiefen Schlamm, die Schaufeln geschultert. Kratos brannten tausend Fragen auf der Seele, doch er wusste, dass Yuan sie nicht beantworten würde, würde er jetzt damit anfangen. Er war froh genug darüber, dass er überhaupt mit ihm sprach.

»Hör' zu, Kratos …«, forderte Yuan dann auf einmal. »Das mit Tiberius tut mir leid. Aber das ändert nichts daran, dass ich weiterhin versuchen werde, mein Volk zu befreien.«

»Daran wollte ich dich niemals hindern.«

»Aber du hast es getan.«

»Weil du den falschen Weg eingeschlagen hast - und ich genauso.«

Wenig später hatten sie den Fluss des Waldes erreicht. Als Kratos ihn das letzte Mal gesehen hatte, war er kristallklar gewesen. Doch ein Blick in das Wasser reichte, um zu sehen, dass es seine Reinheit verloren hatte - genau wie er und Yuan.

Nun gingen beide am Ufer entlang.

»Du hast eingesehen, dass du Fehler begangen hast«, sagte Kratos dann. »Sonst hättest du dich Mithos und Martel nicht angeschlossen.«

»Das Gleiche könnte ich von dir sagen.«

Wieder breitete sich Schweigen zwischen den beiden aus, bis sie schließlich die Biegung des Flusses erreichten. Es war einst das Herz des Waldes gewesen, doch nun war davon nicht mehr viel übrig.

Kratos setzte wortlos seinen Spaten an und begann, das Grab für seinen Großvater auszuheben. Eigentlich wurden Leichen verbrannt, ein Begräbnis wurde als Strafe angesehen, da im Glauben der meisten Menschen und Elfen verankert war, dass die Seele des Verstorbenen dann nicht gehen konnte. Doch Kratos wusste, dass sein Großvater über derlei Dingen gestanden nicht ohne Grund danach verlangt hatte.

Yuan half ihm.

»Stimmt es eigentlich, dass du, als ich schon ohnmächtig war, zu mir gekommen bist?«

Stetig, beinahe mechanisch stachen die beiden Männer immer wieder das kalte Metall in die schlammige Erde, doch bei dieser Frage hielt Yuan inne.

»Was, wenn es so gewesen wäre?«

Auch Kratos ließ den Spaten in der Erde stecken.

»Dann würde ich dich fragen, warum du gekommen bist.«

Yuan schnaubte und grub weiter. Kratos tat es ihm gleich. Die Anstrengung war genau das, was er jetzt brauchte. Es lenkte ihn ab.

»Wenn du das nicht weißt, hätte ich es auch lassen können.«

»Das heißt, du bist tatsächlich noch zu mir gekommen, obwohl du so schwer verletzt warst?«

Yuan sagte und tat nichts, außer weiterzugraben. Der Rothaarige blickte seinen Blutsbruder stumm an. Es stimmte also wirklich. Er war zu ihm gekommen. Im Angesicht des Todes.

Leise, durch das stetige Rauschen des Regens und des Flusses kaum hörbar, begann Yuan auf einmal zu sprechen.

»Im Namen meiner Seele …

Meines Glaubens, meinem Tod …«

Kratos traute seinen Ohren nicht, als er den Schwur hörte, den er Yuan einst in der Schlacht um Sybak gegeben hatte. Er konnte sie nicht kennen! Er war bewusstlos gewesen, als der Rothaarige sie ausgesprochen hatte.

Er konnte nicht anders. Er sprach sie zusammen mit ihm weiter, fassungslos, dass Yuan sie kannte und um diesen Schwur wusste. Beide hatten mit dem Graben aufgehört und sahen sich an, während der Regen unerlässlich weiter auf sie niederprasselte.

»Schwöre ich dir treue Bruder …

Auch in allergrößter Not.«

Yuan zog sein Oberteil aus, das ohnehin völlig durchnässt war, während er allein weitersprach. Die Narbe, die Erebos ihm damals zugefügt hatte, war noch immer deutlich zu sehen.

»Mein Blut soll dies besiegeln …

Ewig soll der Eid besteh'n …«

Kratos fuhr fort.

»Origin sei' du mein Zeuge …

Niemals soll mein Wort vergehen …«

Nun sprachen beide wieder zusammen weiter.

»Für dich nur will ich sterben …

Ohne Reue, ohne Angst …

Mein Leben würde ich dir geben …

Wenn du es von mir verlangst …«

Es war, als würde der Regen die beiden Krieger reinwaschen, von allen Sünden und Schmerzen ihrer Vergangenheit. Dieser Moment hatte etwas derart magisches an sich, dass Kratos nicht glaubte, dass er wirklich geschah. Und trotzdem sprach er weiter, gemeinsam mit Yuan, seinem Bruder.

»Dieser Schwur soll ewig währen …

Uns're Bindung will ich ehren …

Der Brüder treuer Einigkeit …

Bis zum Ende aller Zeit.«

Die beiden Männer sahen sich noch immer an. Die letzten Zeilen des Schwures sprach der Blauhaarige allein, dafür mit einer Inbrunst, die Kratos ihm nicht mehr zugetraut hätte und mit einer Ernsthaftigkeit im Blick, wie er sie nur selten gesehen hatte.

»Was immer auch geschehen mag …

Niemals kommen wird der Tag …

An dem ich breche diesen Schwur …«

»Den von Herzen ich dir gab …«, vollendete Kratos gemeinsam mit ihm diesen Psalm der Bruderliebe. Schweigend standen sie nun da, konnten die Blicke nicht voneinander lösen. Aber dieses Schweigen hatte nichts kaltes oder abweisendes mehr an sich. Wie damals im Versteck der Rebellen, waren sie in diesem Moment, diesen Augenblick lang, wieder Brüder.

»Ja, ich bin zu dir gekommen«, sagte Yuan schließlich. »Du bist mein Bruder und wirst es immer sein. Aber Tethe'alla ist und bleibt ebenso für immer mein Feind.«

Mit diesen Worten grub Yuan weiter, doch Kratos schüttelte den Kopf.

»Was willst du damit sagen? Ich habe es schon damals nicht verstanden!«, fauchte er nun. »Was meintest du, als du sagtest, du vergibst mir als dein Bruder, aber Tethe'alla wird für immer dein Feind sein? Ich verstehe es nicht!«

Yuan hielt nicht inne in seinem Tun, antwortete nicht mehr. Kratos, der eben noch geglaubt hatte, seinen Bruder wiedergefunden zu haben, musste jetzt schon wieder fürchten, ihn zu verlieren.

»Hör' auf, mich anzuschweigen! Red' endlich mit mir!«

Doch Yuan schwieg eisern, grub einfach weiter. Der Rothaarige konnte nicht ahnen, dass sein Blutsbruder weinte. Der Regen machte es unmöglich, das zu sehen. Und als er wieder keine Antwort erhielt, stieg nur noch Wut und Verständislosigkeit in dem Krieger auf.

»Verschwinde. Ich will nicht, dass du das Grab meines Großvaters aushebst.«

Yuan ließ die Schaufel stecken und kletterte wortlos, ohne Kratos nur einmal anzusehen aus der Grube raus. Der Rothaarige kochte vor Wut. Er verstand Yuan einfach nicht. Macht es ihm Spaß, ihn zu quälen? War das die Rache für seine Gräueltaten, die sein Bruder ihm anlastete?

Nun grub er allein weiter, Yuan war aus seiner Sichtweite verschwunden. Schließlich konnte er nicht mehr, warf die Schaufel weg und schlug in die Erde. Immer und immer wieder. Er konnte nicht anders. Er musste seine ganze Verzweiflung, die sich in ihm angestaut hatte, irgendwie befreien. Er wollte nicht mehr, konnte nicht mehr. Er war an einem Punkt angelangt, an dem er nicht mehr aufstehen konnte. Zu oft hatte er aufstehen müssen, zuviele Schicksalschläge hinnehmen müssen, zuviel Schuld lag auf seinem Herzen und seiner Seele.

Immer und immer wieder schlug er auf den Boden. Er merkte nicht einmal, dass unter der Erdschicht, auf die er einschlug, ein Stein lag. Er merkte auch nicht, dass er sich die Finger brach. Er merkte gar nichts mehr.

»Alter, was machst du da?!«

Yuan war zurückgekommen, war vielleicht nie weg gewesen. Allerdings sprang er nun in die inzwischen mannstiefe Grube hinein.

»Kratos, bist du wahnsinnig?! Hör' auf mit dem Scheiß!«

Der Halbelf wollte ihn an der Schulter packen, doch Kratos schlug nach ihm. Der Faustschlag, den Yuan abbekam, brach ihm die Nase.

»… wie du willst …«, sagte er dann und stand auf. Es dauerte keine Minute und die beiden prügelten sich. Ein Faustschlag folgte dem anderen, ein Tritt der nächster. Blut spritzte, Zähne wurden ausgepuckt. Allerdings war Yuan in besserer Verfassung als Kratos, der geistig alles andere als auf der Höhe war. Und so konnte er ihm einen Faustschlag beibringen, der ihn zu Boden beförderte.

Kratos sah zu ihm hoch, irgendwo hinter dem Halbelfen schlug ein Blitz ein. Yuan keuchte, doch sein Blick verriet einmal mehr Wut und Hass auf seinen Bruder. Der Rothaarige wollte versuchen, sich hochzustemmen, doch seine gebrochenen Finger versagten ihm den Dienst und er rutschte in den Schlamm zurück.

»Na los!«, forderte er dann. »Bring' mich um! Töte mich!«

»Das wollte ich nie, du Vollpfosten!«

Yuan sah auf Kratos herunter, der schutzlos unter ihm lag.

»Du willst es wissen? Gut, ich werd's dir erzählen.«

Der Blick des Halbelfen war kalt geworden.

»Nach deinem Schwur war ich sehr wohl noch bei Bewusststein. Ich habe alles um mich herum mitgekriegt, ich konnte nur nicht mehr reagieren. Als du verschwunden bist, hat mich ein Halbelf gefunden und mich gerade noch rechtzeitig außer Reichweite von Thors Hammer gebracht. Er gehörte zu den Rebellen, die mich gesund pflegten. Als sie erfuhren, was für eine Ausbildung ich hinter mir und welche Einblicke in die tethe'allanische Kriegsführung hatte, haben sie mich zum sylvarantanischen König gebracht, der mich zum Anführer der Rebellen ernannte«, sprudelete es aus Yuan heraus. »Ich wollte es nicht, verdammt nochmal! Aber was sollte ich sagen? Dass mir mein Volk egal ist? Ich konnte nicht anders! Du hast nicht gesehen, was ich gesehen habe! Schwangere Kinder, die bei der Geburt gestorben sind, weil es ihren Körper zerfetzte! Männer, denen die Genitalien abgerissen worden sind! Frauen die in Todesangst zu weinen anfangen, wenn sie einen Mann auch nur von Weitem sehen! Krüppel aus den Laboren! Zwei Köpfe! Acht Arme! Oder gleich gar keine Gliedmaßen! Blinde! Taube! Zusammengewachsene Zwillinge!«, fauchte der Halbelf. »Das ist nur ein Bruchteil dessen, was ich gesehen habe und ich mache nicht mal halbwegs soviel Theater wie du!«

Kratos war sprachlos, aber selbst, wenn er etwas zu sagen gewusst hätte, hätte er nichts gesagt. Zu hart traf ihn das, was Yuan ihm da gerade an Kopf warf.

»Ja, Tethe'alla wird für immer mein Feind sein! Sie haben meinem Volk Dinge angetan, die ich nicht einmal ihnen selbst gönne! Aber damit hast du überhaupt nichts zu tun! Und jetzt steh' endlich auf …«

Yuan half Kratos auf die Füße, zwar ziemlich rabiat, aber nicht absichtlich grob. Kratos sah seinen Blutsbruder völlig entgeistert an, welcher den Blick ruhig erwiderte.

»Mit dir habe ich nicht gesprochen, weil ich mir immer noch nicht sicher bin, wem deine Loyalität gilt. Als du in das Lager der Rebellen kamst und wir über den heiligen Ebenen gestanden haben, habe ich wirklich geglaubt, dass du dich uns anschließt. Und dann? Faselst du irgendwas davon, dass ich den falschen Weg eingeschlagen habe. Ich wollte dich damals nicht umbringen. Ich habe es vor meinen Männern nur so aussehen lassen. Ich hatte von Anfang an vor, dich laufen zu lassen.«

Kratos brachte kein Wort hervor. Yuan konnte nicht anders; er musste einfach Schmunzeln. Es war nicht mehr das unbeschwerte Grinsen von früher, aber Kratos erkannte die Lachfalten.

»Ich bin wohl immer noch der Einzige, der dich mundtot kriegt?«

Der Rothaarige schüttelt den Kopf, um wieder denken zu können. Und dann erwiderte er das Schmunzeln.

»Ja, das stimmt.«

Das Eis war gebrochen, die beiden Blutsbrüder umarmten sich endlich. Trotz der Trauer um seinen Großvater fühlte sich Kratos irgendwie befreit und glücklich in diesem Moment.

So sehr ihn Tiberius' Tod auch schmerzte, er war nicht sinnlos gewesen.

Er hatte die beiden Brüder wieder zusammengeführt.



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Von: abgemeldet
2011-08-27T15:30:29+00:00 27.08.2011 17:30
Ich bitte dich, schreib weiter. Ohne deine FF sind viele auf Enzug!
Von: abgemeldet
2010-12-30T00:13:21+00:00 30.12.2010 01:13
Da ich Dir schon oft genug gesagt habe, wie sehr ich deine Arbeiten schätze, spar ich mir das Ganze an dieser Stelle.

Dinge, die mir während des Lesens auffielen:

»Vertaue dem Tier unter dir! Und glaube an dich selbst! Die Rasse ist doch egal! Wir sind gleich!«

Hier fehlt am Anfang das R.

"Er richtet Euer Zimmer, trägt Eure Bücher, bringt §uch Dinge, damit Ihr die Arbeit dafür nicht unterbrechen müsst."

Anstelle des § sollte an dieser Stelle sicher ein E stehen, nehme ich an?

Das war's auch erst einmal von meiner Seite.
Ich führ mein Kommentar fort, wenn ich zur Abwechslung mal wieder vernünftig geschlafen habe.

Gruß,

Uri


Von: abgemeldet
2010-12-20T12:51:29+00:00 20.12.2010 13:51
Meine Meinung kennst du ja! ^^
Ich wollte hier nur noch einmal zum Ausdruck bringen, wie super ich dieses Kapitel finde!
Du leistest super Arbeit! Ich kann es gar nicht oft genug sagen!!! *_*
Von:  GoldenSun
2010-12-17T11:09:38+00:00 17.12.2010 12:09
Ein Glück, die beiden sprechen endlich miteinandern.
Schön, das sie sich vertragen haben. ^^
Nur, es ist blöd das Kratos Großvatert gestorben ist. Trauig. T__T
Aber jetzt bin ich noch mehr gespannt, wie es weitergeht.
Beeil dich. XDDDD
LG GoldenSun
Von: abgemeldet
2010-12-13T21:02:36+00:00 13.12.2010 22:02
Super Kapitel <3
Endlich haben sich die beiden wieder vertragen ^^
Hoffe du machst schnell weiter
MfG
-Terra
Von:  ShooterSheena
2010-12-13T14:55:31+00:00 13.12.2010 15:55
das war ja mal ein kapitel!
ich konnte garnicht aufhören zu lesen, es war verdammt spannend ^^
aber warum musste kratos' großvater sterben?! >.<
ich bin echt gespannt, wie es jetzt weitergeht, wirklich...^^
schreib also ganz schnell weiter XD

lg
SheenaUchiha
Von: abgemeldet
2010-06-10T19:12:27+00:00 10.06.2010 21:12
Warum hast du die FF abgebrochen Q____Q?
Von: abgemeldet
2010-02-03T13:18:11+00:00 03.02.2010 14:18
Hach die Rede war einfach toll Q_Q
Sie hat mich selbst gerührt. Das Mithos in seinem alter so redegewandt ist. Du hast richtig gut rübergebracht, was Mithos schon selbst alles erlebt hatte um diese Worte zu finden ^^
Besonders freut es mich das Kratos Avanel endlich die Meinung geigen konnte und ich fand es ebenso toll wie Kratos über die Schlacht geredet hatte ö.ö
Man konnte es sich richtig vorstellen was der arme gesehen hatte
Wie gut das der König es doch noch eingesehen hat ^^
Von: abgemeldet
2010-01-31T15:58:28+00:00 31.01.2010 16:58
du schreibst einfach so suuuper Toll ^^ ich hab bei den letzten Kapiteln so geheult T___T

ich kanns kaum erwarten weiter zu lesen am gespanntesten bin ich sobal er anna trifft ^^

LG
Y0k0
Von:  Faelia
2010-01-29T20:35:28+00:00 29.01.2010 21:35
Kratos' lebhaftes Bild ist vor meinen Augen, wie er den König so zusammen staucht >:D
Super Kapitel, eines der besten auf jeden Fall. Mithos' Rede war rührend, bei seinen Worten habe ich an die niedliche, unschuldige Stimme meines kleinen Cousins gedacht und, dass er so spricht. Ja, ich war auch schon fast zu Tränen gerührt >.<

LG Faelia


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