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Meeresrauschen

von

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Es war grau. Alles war grau, der Himmel, das Meer – ja sogar die Bäume um mich herum, am Rande des Strandes waren grau. Der Wind war kalt und wehte, zwar nicht mehr so stark, wie am Tag zuvor, aber dennoch umbarmherzig über den hellen Sand. Leise rauschend trafen die kleinen Wellen auf den Strand und beruhigten meine Sinne auf eine seltsame Weise. Mein Blick schweifte über das, von einigen Wellen, bewegte Wasser. Gestern muss es hier unheimlich ausgesehen haben: Die hohen Wellen, Blitze, die über das Wasser zuckten und der Regen, der prasselnd niederfiel. Ein paar weiße Schwäne trieben über das Meer und hatten ihre Hälse verbogen und ihre Köpfe ins Gefieder gesteckt. Sie ruhten sich aus. Wahrscheinlich war der gestrige Tag, für sie genauso anstrengend gewesen, wie für alle Fischer, die der plötzliche Wetterumschwung erfasst hatte. Doch da waren Krähen, die in Gruppen, krächzend über das Wasser flogen und sich manchmal fallen ließen, um dann kurz über der Wasseroberfläche, wieder hinauf zu steigen und sich ihren Artgenossen anzuschließen. Sie schwebten über mir hinweg und landeten dann auf einem Baum, der ein wenig abseits auf der Klippe am Strand wuchs. Ich hatte das seltsame Gefühl, dass sie mir irgendetwas zeigen wollten, so wie sie immer wieder kamen und krächzend über mich hinüber flogen und dann weiter am Strand entlang. Ich blickte noch einmal über das Meer – das weite, schöne und unbändige Meer – dann wandte ich mich zur Seite und wanderte ein wenig am Wasser entlang, darauf bedacht mein Kleid und meine Schuhe, nicht das feuchte Nass spüren zu lassen. Die frische Luft tat mir gut und ich schloss die Augen und genoss jeden Atemzug, als wäre es der Letzte den man tut, bevor man taucht.
 

Ich war so versunken in das ständige Ein- und Ausatmen, dass ich gar nicht mitbekam, wie weit ich mich von den Kutschen entfernt hatte, die am Waldrand auf mich warteten und wie lange ich nun schon so am Wasser entlang gewandert war. Ich öffnete die Augen und blickte zurück. Ich sah die Silhouetten meiner Begleiter in weiter Entfernung am Strand auf und ab gehen und wandte mich ab. Die Zeit, die sie sie mir gewährten und in der ich allein sein konnte, wollte ich so gut es ging nutzen. Zu meinen Füßen lagen wunderschöne graue und braune Steine, die so aussahen, als ob sie nur darauf warteten, von mir aufgehoben und mitgenommen zu werden. Normalerweise tat ich das auch gerne: Steine sammeln, um sie dann in meinem Zimmer in Schalen aufzubewahren oder sie einfach nur in der Hand zu halten und ihre Oberfläche mit den Fingerspitzen zu studieren. Doch heute war es anders. Heute nahm ich einen Stein und warf ihn voller Wucht aufs Wasser. Ich wollte den Stein nicht weit werfen – er sollte einfach nur aufs Wasser treffen und Wellen schlagen. Wie oft wünschte ich mir, dass meine Entscheidungen auch Wellen schlagen könnten und dass sie etwas verändern könnten, sowie der Stein den Wellengang veränderte. Es würde wohl ein Traum bleiben. Um meine Wut, Zweifel und Ängste loszuwerden, begann ich wie eine Verrückte herumzulaufen, Steine aufzuheben und sie dann in Wasser zu werfen, als würde das etwas an meiner Situation verändern. Ich hielt einen Moment inne und dachte nach. Ich war allein. Der Strand war groß und weit und durch Sand konnte man schlecht rennen. Ich konnte fliehen. Ja, wieso nicht? Nichts konnte mich daran hindern, einfach in den Wald zu verschwinden und mich dann durchzuschlagen. Zu einem Haus, in dem man mich nicht für verrückt hielt. Zu einem Haus, in dem man mich nicht einsperren und mit Vorwürfen quälen würde. Meine Begleiter waren so weit von mir entfernt und achteten so wenig auf mich, dass sie es wahrscheinlich gar nicht bemerken würden.
 

Ich wandte mich langsam vom Wasser ab und wollte eine geeignete Düne, über die ich fliehen konnte, suchen, als mein Blick auf ihn fiel. Er lag halb im Wasser, halb auf dem Strand und immer wenn eine Welle kam, bewegte sich sein schlaffer Körper ein wenig hin und her. Neben ihm auf dem Strand lag etwas, dass wie eine Schranktür aussah, reich verziert mit eingeschnitzten Ornamenten und einem Griff aus Messing. Ich wusste nicht ob er tot war, aber ich erstarrte bei dem Gedanken daran, dass er es sein könnte. Einen Moment stand ich einfach nur so da und versuchte nicht auf das laute Pochen meines Herzens zu achten. Alle Fluchtgedanken waren mit einem Mal wie weggewischt und ich sah nur noch die Gestalt, die nass und zitternd dort vorne lag. Zitternd. Er bewegte sich, also war es nicht tot. Ich griff in die Falten meines Kleides um meine zitternden Hände zu beruhigen, dann setzte ich einen Fuß vor den anderen und näherte mich ihm vorsichtig.
 

Er hatte rötliches, durch das Wasser sehr dunkel wirkendes Haar, von dem ihm Strähnen auf der Stirn klebten. Seine Gesichtszüge sahen wunderschön aus und ich ertappte mich dabei, mich zu fragen, welche Augenfarbe er wohl hatte und ob sie zu seinen Haaren passte. Seine Kleidung war zerschlissen und vom Wasser so durchnässt, dass ich durch die weißen Ärmel seine Haut sehen konnte. Ich kniete mich zu ihm hinunter, ohne auf den Saum meines blauen Kleides zu achten, der nun im Wasser hing und feucht und dreckig wurde, und berührte ganz vorsichtig seinen Arm. Er war zwar kalt aber dennoch weich und zitterte wie Espenlaub. Nun sah ich auch, wie sich seine Brust hob und senkte und endlich glaubte ich, dass er noch am Leben war. Schnell fühlte ich seinen Puls und obwohl ich keine Ärztin war, wusste ich, dass sein Puls für einen gesunden Menschen viel zu langsam ging. Ratlos und nicht wissend, was ich nun tun sollte, packte ich ihn unter den Armen und zog in vorerst auf den trockenen Strand. Dann stand ich hilflos vor ihm und mein Blick wanderte zwischen seinem leblosen Körper und meinen Begleitern weiter hinten am Strand, hin und her. Jetzt hatte ich die Chance zu fliehen, jetzt in diesem Augenblick. Aber würde er es überleben, wenn ich ihn hier einfach so liegen ließ, in der Kälte auf dem steinigen Boden? Würden meine Begleiter ihn finden und ihm helfen? Würden sie ihn rechtzeitig finden? Nervös trat ich von einem Fuß auf den anderen und raufte mir die Haare. Ich kannte ihn doch nicht! Es konnte mir also egal sein, ob er starb oder nicht. Komischerweise war es das jedoch nicht.
 

In den nächsten Augenblicken rang ich mit mir selbst. Zuerst zögerte ich, dann wandte ich mich ab und schlich zu der Düne, über die ich hatte verschwinden wollen. Doch als ich noch einmal einen Blick zurück warf und ihn dort liegen sah, überkam mich Mitleid und ich kehrte zu ihm zurück und überlegte, was er getan hätte, wenn er mich halb erfroren am Strand gefunden hätte. Wäre er weggegangen, oder hätte er mir geholfen? Sicher hätte er alles getan, um mir das Leben zu retten. Nun, aber er würde nicht vor solch einer schweren Entscheidung stehen. Freiheit, oder ein Menschenleben, was war mir wichtiger? Ich fragte mich immer wieder und überlegte, ob ich meine Begleiter rufen sollte. Wenn sie hier her kamen, dann könnten wir ihn in der Kutsche mit zum Gut nehmen und ihn pflegen… und ich würde wieder eingesperrt werden. Vielleicht würde er sterben. Dann wäre mein Mitleid umsonst gewesen! Entschlossen stand ich auf und wandte mich zum gehen, als ich ein Geräusch von unten vernahm. Erschrocken wirbelte ich herum und sah, dass es von ihm kam. Er bewegte sich, öffnete ganz leicht die Augen und blickte sich verwundert und müde um. Meine ganze Entschlossenheit versank wieder in meinem Unterbewusstsein, ich kniete mich wieder zu ihm nieder und nahm seine Hand, die suchend umhertastete. Verwirrt sah er mich an und sein Mund formte mühsam eine Frage. Ich verstand sie nicht, es war nur ein Flüstern. Ermutigend strich ich ihm die Haare von der Stirn und zwang mich zu einem Lächeln.
 

„Wer bist du?“, fragte er noch einmal, immer noch flüsternd, aber etwas kräftiger und ich spürte, wie mein gezwungenes Lächeln zu einem Wahren wurde. Wenn ich mich vorstellte, lächelte ich immer – egal in welcher Situation.
 

„Emily.“ Er schmunzelte leicht und schloss erschöpft die Augen.
 

„Danke, Emily.“, flüsterte er, so leise, dass ich mein Ohr zu ihm hinunter beugte. „Danke, dass du mich gerettet hast.“ Und dann sagte er nichts mehr, sein Griff um meine Hand erschlaffte und ganz langsam lösten sich seine kalten Finger von meinem Handrücken und sanken auf den kalten Sand, direkt vor meinem Schoß. In diesem Moment verflog meine Verzweiflung und meine Ratlosigkeit, über dass, was ich tun sollte. Ich hatte nur noch ein Ziel: Den Menschen retten, der mich bei meinen Namen genannt und sich bei mir für seine Rettung bedankt hatte, obwohl ich ihn gerade im Stich hatte lassen wollen. Ich sprang auf und lief meinen Begleitern entgegen, während ich mit den Armen ruderte und laut um Hilfe schrie, als wäre der Teufel hinter mir her. Jetzt hielten sie mich wahrscheinlich für noch verrückter als sonst, aber das war mir egal. Wenn sie nur dem Mann helfen konnten, der mich mit solch liebevollen Augen angesehen hatte – mit grünen, klaren Augen!

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Es war ungewöhnlich. Madame Boulay holte mich aus meinem Zimmer, obwohl es fürs Abendessen noch zu früh war und meinte, ich müsse mich beeilen. Schnell warf ich mir einen Morgenmantel über, denn ich war schon in meinem Nachtgewand. Normalerweise brachten sie mir das Abendessen auf mein Zimmer, warum also holte sie mich heute heraus?
 

„Es ist der Mann, den Sie am Strand gefunden haben, Madame Bell!“, sagte Madame Boulay aufgeregt, während sie mich aus dem Raum schob. „Er verlangt nach Ihnen, ich frage mich, was er von Ihnen möchte!“
 

Ich folgte ihren trippelnden Schritten den Flur entlang und fragte mich ebenfalls, was er wohl von mir wollte. Vielleicht konnte er bei den Marcous ein gutes Wort für mich einlegen, damit sie endlich sahen, dass ich nicht verrückt war! Ich fasste Hoffnung und setzte ein strahlendes Lächeln auf, als ich den Raum betrat. Es war einer der schönsten Räume der alten Villa, mit großen Fenstern und hohen Wänden, die von kleinen Schränkchen und Tischen gesäumt und mit Blumenmotiven tapezierten waren. Mittig an der linken Wand stand ein großes Himmelbett in dem der Mann vom Strand lag und mich müde anlächelte, als ich näher trat. Madame Boulay zögerte einen Moment, dann ließ sie mich mit ihm allein und schloss die Tür hinter sich. Dennoch war ich mir sicher, dass sie vor der Tür auf das leiseste verdächtige Geräusch lauschen würde. Keine Chance zur Flucht.
 

Assieds-toi près de moi!“, hörte ich ihn auf Französisch vom Bett aus sagen und wollte seiner Bitte nachkommen, doch ich fand nichts zum hinsetzten und ich hatte nicht vor, mich zu ihm aufs Bett zu gesellen. Er bemerkte meinen suchenden Blick und lachte kurz auf. Dann wies er auf den Tisch, der an der gegenüberliegenden Wand stand. „Il y a une chaise sous la table.“ Ich holte den Stuhl unter dem Tisch hervor und stellte ihn neben seinem Bett ab, um mich langsam darauf niederzulassen, während ich darauf achtete, dass mein Morgenmantel geschlossen blieb. Ich war schließlich nur im Nachthemd und er war ein wildfremder Mann! Ich sah ihn eine Weile an und lächelte ihm zu, als wolle ich ihn auffordern etwas zu sagen – und tatsächlich, er sprach mit mir. Jedoch wieder auf Französisch.
 

Est-ce-que tu veux une tasse de thé?“ Er sah mich fragend an, doch ich schüttelte den Kopf, denn ich hatte die ganze Zeit nur einen Gedanken. Ohne zu Zögern, sprach ich ihn aus.
 

„Pardon, aber warum haben Sie am Strand Englisch mit mir gesprochen, wenn Sie doch Franzose sind?“ Ich sprach absichtlich in meiner Muttersprache, weil ich sehen wollte, ob er darauf reagierte. Ich hatte ins Schwarze getroffen. Er setzte sich verwundert auf und blickte mich ungläubig an. Dann schien er sich wieder zu fangen, denn er setzte erneut sein erschöpftes Lächeln auf und strich mit seinen großen Händen die Decke über seinen Beinen glatt.
 

„Dass ich mit Ihnen Englisch gesprochen habe, vergessen Sie bitte ganz schnell wieder, in Ordnung?“, sagte er leise, aber dennoch eindringlich. Ich fühlte mich plötzlich ein wenig unbehaglich, weil er mich wie aus heiterem Himmel siezte und Englisch sprach, aber ich gab mir große Mühe, es mir nicht ansehen zu lassen. Was wollte er verbergen? War er ein englischer Spion? War er gefährlich für mich, jetzt wo ich sein Geheimnis kannte? „Es wäre mir am liebsten, wenn Sie Französisch mit mir sprechen würden, denn ich möchte nicht, dass das ganze Haus meine Herkunft erfährt.“ Immer noch sprach er mit ruhiger, gefasster Stimme, doch ich sah seine Hände, die sich mehr als einmal anspannten und zur Faust ballten. Da ich nicht im Geringsten etwas gegen Engländer hatte und den Marcous die Pest an den Hals wünschte, hatte ich kein Problem damit, sein Geheimnis zu wahren und nach seiner zweiten Aussage, hatte ich auch keine Angst mehr vor ihm, denn er schien mir nichts Böses zu wollen. Trotzdem zögerte ich mit meiner Antwort. Er wartete immer noch angespannt und fixierte mich mit seinen grünen Augen, wie ein Wolf seine Jagdbeute. Das machte es für mich noch schwieriger, ihm zu antworten, doch schließlich sprach ich es aus.
 

„Ich würde Ihrer Bitte gerne nachkommen, “, erklärte ich mit leiser Stimme, damit Madame Boulay von dem Gespräch nichts mitbekam und hob hilflos die Schultern, „Aber ich kann fast gar nicht Französisch sprechen. Das einzige was ich kann ist, die Französische Sprache halbwegs verstehen… doch selbst sprechen? Das gehört leider nicht zu meinem Repertoire.“ Sein verwunderter Blick brachte mich fast zum Lachen, aber ich biss mir auf die Unterlippe um es nicht zu tun.
 

„Sie wissen aber, dass Répertoire französisch ist, oder?“, fragte er mit einem Schmunzeln und nun traute auch ich mich, ein wenig zu lachen. Dennoch, war ich noch nicht fertig und so zwang ich mich, wieder ein ernstes Gesicht zu machen. Glücklicherweise war das nicht schwer. All die Jahre in denen ich allein gewesen war, verlassen und vergessen von allen die mich liebten, hatte mein Gesicht sich in eine ernste Maske verwandelt, die sich nur in eine freundliche verwandeln konnte, wenn es mir vollkommen gut ging und ich mich wohl fühlte. Wenn ich den Schmerz und die Angst und die Personen die damit in Bezug standen, vergessen konnte. Und wenn die Freude dann kam und sich wie gleißendes Licht in meinem Gesicht und meinem ganzen Körper ausbreitete, dann war sie nur schwer zu vertreiben – so wie jetzt. Denn es war selten, dass mich jemand mit solch freundlichen Augen ansah und mich anlächelte, als wäre ich jemand wohl bekanntes und eine lieb gewonnene Person.
 

„Wenn Sie mir erlauben, auch eine Bitte zu äußern, Monsieur…?“, begann ich sah ihn fragend an.
 

„Leclerc“, kam es kurz und knapp vom Bett. Seltsam. Ein französischer Name, für einen Engländer?
 

„Monsieur Leclerc, wenn ich auch eine Bitte äußern dürfte?“, fragte ich noch einmal und sah ihn an. Er nickte. Dankend lächelte ich ihn an, dann wurde ich wieder ernst. „Ich würde mich freuen, wenn Sie weiterhin mit mir Englisch sprechen könnten. Die Marcous müssen doch nicht wissen, dass Sie Engländer sind. Sie können zufällig Englisch und da ich kein Französisch beherrsche, können wir uns auf Englisch unterhalten.“ Wieder sah ich ihn fragend an und ich wunderte mich ein wenig, dass ich so angespannt war. Konnte mir dieser Mann nicht völlig egal sein? Und was war, wenn er überhaupt kein Interesse an meinen Bedürfnissen hatte, und sich jetzt eigentlich nur hatte höflich bedanken wollen? Ich spielte mit meiner Bitte auf weitere Gespräche, ohne dass ich ihm und er mir überhaupt vorgestellt worden war!
 

Was für ein herrliches Gefühl war das, als er mich nicht empört oder abweisend, sondern freundlich und verständnisvoll ansah und leicht nickte.
 

„Nun gut, das klingt, als könnte es klappen.“, sagte er, seufzend und fuhr sich mit der Hand durch das braun-rote Haar. Dann sah er mich wieder an. „Wie hießen Sie noch gleich? Ich glaube ich habe es vergessen.“
 

„Emily Bell.“, erwiderte ich und reflexartig schossen meine Mundwinkel in die Höhe. „Und… und Sie sind?“ Ich war ein wenig aufgeregt. Ob er mir nun vielleicht seinen richtigen Namen verriet?
 

„Alain Leclerc.“, antwortete er und ich versuchte mir meine kleine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Sacht strich ich mit der einen Hand über meinen Morgenmantel und mit der anderen schob ich mir eine dunkle Strähne meines Haares wieder zurück hinters Ohr, an dem ein blauer Ohrring glitzerte. „Nun, der Grund warum ich Sie rufen ließ ist folgender: Sie waren diejenige, die mich am Strand aufgefunden hat und Sie waren es auch, die mich gerettet haben. Dafür danke ich ihnen noch einmal.“ Er machte eine Pause und sah gedankenverloren aus dem Fenster, als würde ich plötzlich nicht mehr existieren. „Ich stehe tief in Ihrer Schuld und wenn es irgendetwas gibt, dass ich für Sie tun kann, dann sagen Sie es mir bitte. Sie wissen gar nicht, wie sehr ich Ihnen danke.“ Er sah mich immer noch nicht an, doch ich konnte seine Schultern sehen, die ganz leicht zu zittern begannen. Ratlos saß ich auf meinem Stuhl und sah weiterhin auf seine rotbraunen Haare und sein rechtes Ohr und wusste nicht recht, was ich sagen sollte. Es herrschte Stille für einen Moment, dann drehte er seinen Kopf langsam wieder zu mir. Zuerst dachte ich, er wäre böse auf mich, weil seine Augenbrauen so seltsam nach oben gezogen waren, doch dann sah ich die Träne, die langsam über seine Wange lief und auf die Decke tropfte, als sie am Kinn angekommen war.
 

„Aber, Monsieur! Das ich Ihnen geholfen habe, das war doch eine Selbstverständlichkeit!“, sagte ich leicht verunsichert, durch seine Schwäche, die er mir so offen zeigte. „Geht es Ihnen gut, oder soll ich Madame Boulay rufen?“ Ich wollte mich schon erheben, denn er machte mir plötzlich einen sehr blassen und erschöpften Eindruck, doch dann spürte ich, wie seine Hand nach der Meinen griff und sank wieder zurück auf den gepolsterten Stuhl.
 

„Nein, bitte bleiben Sie noch.“, flüsterte er. „Es geht mir gut, ich bin nur ein wenig schlapp.“ Er wischte sich die Tränenspur von der Wange und sah mich lange und durchdringend an. Wir sprachen nicht, er sah mich nur an und ich erwiderte seinen Blick, als hätte ich nie etwas anderes getan. Irgendwann wurden seine Augenlieder schwer und sein Atem ging ruhiger. Sein Körper entspannte sich und nur wenige Augenblicke später, war er fest eingeschlafen. Einen Moment saß ich ein wenig perplex auf meinem Stuhl und starrte ihn an. Er hatte gewollt, dass ich bleibe. Ich! Er war in meiner Gegenwart eingeschlafen. In meiner Gegenwart! Leise stand ich auf und brachte, immer noch gerührt, den Stuhl zurück zum Tisch, dann warf ich noch einmal einen Blick auf ihn und verließ mit zaghaften Schritten das Zimmer.
 

Nein, bitte bleiben Sie noch. Wie lange hallten die Worte noch durch meinen Kopf? Ich glaube es war eine Ewigkeit.

Sie wissen gar nicht, wie sehr ich Ihnen danke.

Danke, Emily.

Danke, dass du mich gerettet hast.

Wörter, nichts als Wörter. Doch sie berührten mich tiefer, als alles andere jemals zuvor.



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Kommentare zu dieser Fanfic (4)

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Von:  Erzsebet
2008-06-17T08:42:18+00:00 17.06.2008 10:42
Hi -Elenya-,

nun, nach Abschluß des Wettbewerbs von France auch mein Kommentar zu Deiner Geschichte. Da ich hier im wesentlichen schreiben werde, worauf meine Beurteilung Deiner Story als Juror beruht, konnte ich ihn nicht eher schreiben, ohne später dazustoßenden Teilnehmern einen unfairen Vorteil zu verschaffen.

Deine Sprache ist gut zu lesen, Rechtschreibung ist auch ok, auch wenn Du ein paar Grammatikfehler drin hast (etwa 'warum ich Sie riefen ließ' statt 'warum ich sie rufen ließ'), und die Sprache an einigen Stellen für mein Empfinden zu modern für die laut deiner Aussage gewählte Epoche ist.

Zur Historizität kann man nur wenig sagen, tatsächlich kann man sie m.E. nur der Beschreibung der Geschichte entnehmen, die Geschichte selbst ist einem historischen Kontext völlig enthoben, ja, du verschenkst sogar eine gute Gelegenheit, sie nicht nur örtlich, sondern auch zeitlich zu verorten. In Kap.2 macht die Protagonistin sich Gedanken darüber, ob ihr 'Findling' ein englischer Spion ist - da hätte ein Halbsatz zur politischen Situation geradezu Wunder gewirkt und aus diesem Romananfang eine wirklich historische Geschichte gemacht.

Die Story ist richtig gut zu lesen, die Ausgangssituation ist auch sehr interessant. Ich hätte natürlich gerne noch erfahren, wie sich die Geschichte mit Emily und Alain weiter entwickelt, aber darauf werde ich wohl noch etwas warten müssen. In jedem Falle gelingt es Dir, den Leser am Schicksal Deiner Heldin zu interessieren. Der Anfang ist spannend, geheimnisvoll, aber leider erleben wir ja erst die Aufstellung des Personals mit :-(
Was die Erzählperspektive betrifft habe ich jedoch noch einen Kritikpunkt anzumerken. Es ist völlig in Ordnung, aus der ich-Perspektive zu schreiben, aber du hältst sie nicht überall durch. Die Protagonistin etwa kann einen Ohrring an ihrem eigenen Ohr nur mithilfe eines Spiegels oder einer anderen spiegelnden Fläche 'glitzern' sehen - oder ist sie eine Schnecke mit Stielaugen ;-)? Diesen Eindruck hatte ich eigentlich nicht.

Also wegen der leider fehlenden historischen Verortung - und des leider nur kurzen Fragmentes der Erzählung - nicht unter den Top 5. Aber schreib unbedingt weiter, ich glaube, diese Geschichte kann richtig gut werden!

Schöne Grüße von Erzsebet
Von:  Lady_Lockenlicht
2008-05-26T14:44:09+00:00 26.05.2008 16:44
(Anmerkung: dies ist ein Juror-Kommentar im Rahmen des Historien-Wbw, an dem Deine Geschichte teilnimmt, enthält aber keine Hinweise auf die spätere Platzierung Deines Beitrags)

Ui, Französische Revolution, ein Thema, dass mich seit meiner Kindheit fasziniert! Und dann noch Le Havre- da kommt meine Omi her =)

Deine Wortwahl gefällt mir. Sie wirkt ruhig, nicht zu dick aufgetragen und lässt die Protagonistin sympathisch erscheinen.

Auch die Szene am Wasser wurde von Dir eindringlich geschildert. Einerseits fast idyllisch durch die Naturbeschreibung, dann aber auch wieder eigentümlich bedrohlich, bs. durch die Gedanken von Emily (wieso eigentlich nicht Emilie?), die ein hartes Schicksal zu haben scheint.

Und dann ein Cliffhanger am Schluss... spannend =)

Du solltest Dich übrigens nochmal mit den aktuellen Kommataregeln vertraut machen und/oder einen Betaleser speziell deswegen engagieren. Da sind oft viel zu viele Kommata an Stellen, wo sie nichts zu suchen haben ;) Das stört den Lesefluss,

Viele Grüße
France
Von:  Lillijana
2008-03-19T07:54:17+00:00 19.03.2008 08:54
Och wie süß :-)
das Kapitel ist ja richtig süß und einen Mann der seine Gefühle zeigt ohne nebenbei blödsinn zu machen gibt es auch nicht oft ;-P
Ich hoffe du schreibst bald weiter, würde mich sehr drüber freuen.
LG Lillijana
Von:  Lillijana
2008-03-05T14:19:10+00:00 05.03.2008 15:19
Die FF ist ja süß :-)
Emily hat es echt nicht leicht, die Ärmste.
Hoffentlich schreibst du bald weiter.
Würde mich sehr drüber freuen.
LG Lillijana


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