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Marien

von

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ok, meine zweite story...und BITTE BITTE schreibt mir doch ein kommentar, wenn ihr sie gelesen habt, ja?? auch, wenn ihr etwas nicht versteht...ich werd euch schon nicht beissen ;-) wär aber echt nett....*liebguck*

aber quält euch nicht zu sehr mit der story ;-)
 

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MARIEN
 

Der Himmel
 

Jessica atmete tief durch.

Sie fühlte einen leichten Windstoß, der ihr die Haare nach vorne fliegen ließ. Sie strich sie sich wieder hinter die Ohren und ging los. Ihre Bücher fest umklammert, überquerte sie den grünen Rasen des Schulgeländes. Unmengen von Schülern strömten lachend, schreiend, plappernd über den gleichen Rasen, und keiner schien sie zu bemerken. Jessica war froh darüber.

Eine kleine Gruppe von Jungs, die auf einem Tisch saßen, bemerkten sie und pfiffen ihr hinterher. Jessica kümmerte sich nicht um sie und steuerte weiterhin auf das Schulgebäude zu.

In dem breiten Gang der Schule, der von Spindfächern gesäumt war, liefen Schüler und Lehrer geschäftig umher, um die Räume ihrer nächsten Stunden zu finden. Einige Jungs fuhren sogar mit dem Skateboard durch die Menschenmenge.

Der Gang mündete in eine große, runde Kantine. Treppen führten in ein höheres Stockwerk, an den Wänden waren große Theken mit Essen, hinter denen weißgekleidete Schulschwestern standen und es freundlich verteilten. Auch hier tummelte sich eine Unmenge von Schülern, lachend und essend, schreibend, telefonierend und sichtlich mit dem Schulalltag beschäftigt. Einige Lehrer gingen um und beobachteten die Szene, achteten darauf, dass keine Schlägereien oder Essensschlachten angefangen wurden.

Alles in allem war es wie an Jessicas alten Schule, nur mit dem Unterschied, dass sie dort auch zu diesen Schülern gehört hatte, auch gegessen, gelacht und Jungs hinterhergerufen hatte. Doch hier stand sie im Eingang der Kantine und suchte verstohlen jemanden, den sie sich nach dem Weg zum Rektorat zu fragen getraute.

Jessica, du bist doch sonst nicht so, dachte sie schließlich, als sie es leid wurde, hier zu stehen und den Durchgang zu versperren.

"Entschuldigung, kannst du mir sagen, wie ich zum Rektorat komme?" fragte sie den nächstbesten, der ihr über den Weg lief, ohne den Blick von der Kantine abzuwenden.

"Natürlich." Eine weiche Stimme, der man anhörte, das ihr Besitzer lächelte, bahnte sich einen Weg durch das Geschrei der Schüler zu ihr. Jessica wandte ihren Kopf und sah einen hochgewachsenen, dunkelhaarigen Jungen mit haselnussbraunen Augen und einem Lächeln, dass sie in Ohnmacht fallen ließ.

"Komm mit, ich bring dich hin." Er schlenderte vor ihr her durch die Kantine und achtete darauf, sie nicht zu verlieren. Als sie an dem Tisch genau in der Mitte des Raumes vorbeikamen, fingen die Mädchen, die dort saßen, heftig an zu pfeifen.

"Wow...hat unser Berry-Baby schon wieder ein neues Mädchen?!" neckten sie ihn. Berry-Baby lächelte.

"Mach dir keine Sorgen, die haben mir sogar etwas mit meiner Schwester angehängt." sagte er zu Jessica, ohne stehen zu bleiben oder den Mädchen irgendwie Beachtung zu schenken. Jessica lächelte und folgte ihm.

"Da sind wir. Ich muss jetzt leider aber wieder los, sonst verpasse ich meinen Kurs."

"Wann fängt dein Kurs an?" fragte Jessica, um ihn noch ein wenig dazubehalten. Sie hatte das Gefühl, ihn als einen Freund gefunden zu haben und wollte sich nicht schon wieder von ihm trennen.

"In vor zwei Minuten." Lächelte Berry-Baby und entfernte sich rückwärts gehend von ihr. Nach einigen Schritten drehte er sich um und schlidderte den Gang entlang.

Jessica lächelte ihm hinterher - und hoffte, dass er ihr Lächeln spüren könne - und öffnete dir Tür zum Rektorat.
 

Nach der Schule - das hieß, nach dem Anmelden im Rektorat und dem Besuchen ihrer Kurse, bei denen Berry-Baby leider nicht anwesend war - sank sie erschöpft in ihren Sessel und bereitete sich darauf vor, ihren Job anzutreten.

Zwei Häuser neben der Schule stand ein Krankenhaus, in dem sie einen Nachmittagsjob angenommen hatte. Ihre Aufgaben waren nicht sehr schwer; in den ersten Stock, Unterlagen kopieren, in den zweiten, Kaffee machen, in den Keller, Medikamentflaschen kühlen, in den dritte, Rollstuhlpatienten herumführen, wieder in den ersten, sich auf der Kinderstation um die Kinder kümmern, ...

Jessica hatte überhaut keine Lust.

Nach einigen Minuten jedoch stand sie dennoch wieder auf und machte sich auf den Weg zum Krankenhaus. Sie hätte eigentlich gleich dort bleiben können.

Auch hier erst einmal anmelden...es war schon ein Wunder, dass sie überhaupt diesen Job bekommen hatte, nachdem sie erst hierher gezogen war. Aber sie war schließlich schon volljährig, warum nicht? Trotzdem fiel es ihr schwer, sich hier einzugewöhnen.
 

Gleich nachdem sie sich angemeldet hatte, bekam sie einen hellblauen Kittel - das Zeichen der Auszubildenden in diesem Krankenhaus - und wurde tatsächlich zum Kopieren geschickt, allerdings nicht in den ersten Stock, sondern in den Keller.

Während sie in dem kalten, kleinen Raum mit nur einer nackten Glühbirne stand und darauf wartete, dass der Kopierer endlich seine bereits heiß laufenden Drähte auf eine wenigstens annehmbare Geschwindigkeit brachte, bemerkte sie eine niedrige Tür, an der ein Schild angebracht war.

ABSTELLKAMMER. NICHT BETRETEN, KRANKEHAUSEIGENTUM.

War nicht alles hier Krankenhauseigentum?, fragte sich Jessica. Sie ließ den Kopierer Kopierer sein und drückte die Klinke der Tür runter.

Die Tür war verschlossen, mit einem Schloss, wie man es manchmal an Postämtern oder Ladentüren sah; die Schlosser waren direkt in die Tür eingelassen, und man musste unten und oben aufschließen, um die Tür öffnen zu können.

So viel Aufwand um einen Abstellraum?

Ein durchdringendes Piepsen ließ Jessica herumfahren und signalisierte, dass der Kopierer bereit zum Drucken war. Jessica machte sich auf eine längere Wartezeit gefasst, doch das Schrottding brauchte nicht einmal drei Minuten, um sämtliche Formulare auszudrucken, während es für das Aufwärmen gute zehn Minuten gebraucht hatte.

Jessica ging verärgert wieder nach oben in das Schwesternzimmer und legte die Kopien auf den Tisch ihrer Vorgesetzten, Kathrin.

"Sehr gut, ich hoffe, du musstest nicht allzu lang warten...jetzt kannst du in die Kinderstation gehen und dort Schwester Annabell helfen, sie hat gerade angerufen. Sie braucht Hilfe."

Gerade als Jessica fragen wollte, wo die Kinderstation sei, öffnete sich die Tür und ein junger Arzt trat ein. Er sah verdammt müde aus, und Schwester Kathrin reichte ihm eine Tasse Kaffee, kaum dass er den Fuß über die Schwelle gesetzt hatte und bedeutete Jessica mit einer Handbewegung, zu verschwinden.

Nun stand sie vor der Tür des Schwesternzimmers und wusste nicht, wohin. Kinderstation...wo war die?

"Kann mir jemand sagen, wo die Kinderstation ist?" sagte sie, zwar laut, aber eher zu sich selbst.

"Klar", antwortete ihr eine Stimme.

Jessica drehte sich staunend um. Super! Berry-Baby stand vor ihr und grinste.

"Ich wusste gar nicht, dass du mich zu deinem persönlichen Führer gemacht hast." Lächelte er. Jessica grinste.

"Tja. Ich wusste nicht, dass du einer von denen bist, die immer da sind, wenn man sie braucht."

"Komm, ich bring dich zur Kinderstation. Du arbeitest hier?" Jessica nickte und schloss sich Berry-Baby an.

"Ja, seit heute."

"Du gehst auch erst seit heute zur Schule, oder?" Jessica nickte wiederum.

"Und du? Seit wann arbeitest du hier?" Berry-Baby drückte auf einen gummiartig überzogenen Schalter, und eine Glastür öffnete sich vor ihm.

"Seit einem halben Jahr. Ich kann dir sagen, es ist ganz nett hier. Es wird dir gefallen."

Eine Zeit lang liefen sie schweigend und lächelnd nebeneinander her, dann fiel Jessica etwas ein.

"Sag mal...im Keller, neben de Kopierer ist eine Abstellkammer, die ziemlich sicher verriegelt ist. Ist da so was wichtiges drin?" Berry-Baby zuckte mit den Schultern.

"Ich weiß gar nicht, ich bin noch nie drin gewesen. Man hat mir verboten, dort hineinzugehen. Warum, weiß ich auch nicht." Jessica kaute auf ihrer Unterlippe herum.

"Das kann doch nicht so wichtig ein..." sie wollte gerade das Thema wechseln, als Berry-Baby stehen blieb und ihr eine Glastür aufhielt.

"Nach Ihnen!" grinste er verschmitzt. Er gefiel Jessica immer mehr. Sie trat durch die Tür und wurde sogleich von einer Schwester mit wedelnden Armen empfangen.

"Sie müssen Jessica sein!" jauchzte sie.

"Schwester Kathrin hat mir schon von Ihnen erzählt...aber sie hat mir verschwiegen, dass Sie so hübsch sind!" Sie lachte herzhaft und drückte Jessica an sich.

"Ähm, tja, ich glaube, wir sollten jetzt..." weiter kam Berry nicht, denn ein kleines Mädchen im Häschen-Schlafanzug zog an seinem Ärmel.

"Hattu mein Malbuch?" fragte sie und drückte einen kleinen Plüsch-Hasen an sich. Berry nickte lächelnd. Jessica und Annabell schien er vergessen zu haben.

"Ja, hab ich, mein Häschen...komm, wir gehen es holen..." beruhigte er die Kleine und nahm sie auf den Arm, um mit ihr zu verschwinden. Richtig niedlich sah er aus...

Schwester Annabell sah ihm zufrieden hinterher.

"Er ist ein richtiger Segen für die Kinderstation! Jedes Kind hier vertraut ihm augenblicklich. Also, wenn das nicht der perfekte Vater ist..." Dann besann sie sich wieder auf ihre Pflicht und weihte Jessica in ihre Aufgaben ein.

Irgendwann klingelte das Telefon. Schwester Annabell ging ran, zog eine Grimasse und teilte Jessica mit, dass der Chefarzt sie sprechen wolle. Sie musste sich sofort auf den Weg machen.

Jessica warf Berry-Baby und den Kindern einen wehmütigen Blick zu, dann machte sie sich auf den Weg. Sie hoffte, sich ohne ihren Führer nicht zu verlaufen, doch als sie aus der Tür trat, kam ein junger, nervöser Assistenzarzt auf sie zu und führte sie zu Dr. Miller.
 

"Setz dich, Jessica..." Er saß auf einem breiten Ledersessel hinter einem ebenfalls breiten Schreibtisch und paffte eine dicke Zigarette.

Oh, wie cool, dachte Jessica sarkastisch. Muss ich jetzt auf die Knie fallen?

Dr. Miller fragte Jessica erst einmal nach ihrem gesamten Leben aus. Wo sie früher gewohnt hatte, warum sie weggezogen war - als ob sie ihn der Grund etwas angehen würde! - und was sie früher gemacht hatte.

Und dann verbot er ihr ausdrücklich, die Abstellkammer zu betreten.

Jessica kam das schon etwas merkwürdig vor. Warum war sie so wichtig? Sie überwand sich und fragte ihn, was da drin war.

"Nichts für sie Wissenswertes." Sagte er schroff. Jessica schwieg.
 

Die nächsten Wochen waren recht erträglich für Jessica. In der Schule lief alles glatt - obwohl sie Berry nur sehr selten sah, und wenn, dann sah er sie nicht und war schnell wieder verschwunden. Sie fand ein paar nette Mädchen, die mit ihr die Sorgen des Schulalltags teilen und sie (sehr genau) in die Privatsphären ihrer Mitschüler einweihten...

Auch im Krankenhaus sah sie ihn nicht mehr; er war meistens auf der Kinderstation, und obwohl Schwester Kathrin eigentlich sehr nett war, schickte sie sie nicht mehr dorthin.

Jedes Mal, wenn Jessica etwas kopieren musste, versuchte sie ein wenig an den Schlössern zu rütteln...in einer Abstellkammer konnte doch nicht so was Geheimnisvolles sein! Jessica wunderte sich selbst darüber, dass sie sich so sehr für die Tür interessierte.

Aber das Schloss gab nicht nach, also blieb das Geheimnis hinter der Tür.
 

Nachts war immer jemand im Krankenhaus. Es war nie vollkommen leer. Jessica selbst aber ging jeden Abend wieder nach Hause - sie hatte keine Befugnis, sich nachts hier aufzuhalten. Man brauchte einen speziellen Ausweis für die Nachtschicht.
 

Jessica wollte gerade gehen. Sie hatte ihre Hustentabletten im Kopierraum vergessen; der Wind wehte durch die Türspalte, und Jessica vertrug Zugluft nicht.

Sie kehrte noch einmal um, um die Tabletten zu holen. Der Raum befand sich im Keller.

Über ihr schloss der Wachmann die Tür, da er vermutete, Jessica sei schon gegangen.

Jessica trat in den Raum mit der verschlossenen Tür.

Der Wachmann betätigte einen Schalter. Rote Lichter leuchteten auf.

Jessica legte die Tür auf die Klinke der verschlossenen Tür, ohne auf Erfolg zu hoffen.

Sie öffnete sich.

Jessica war im ersten Moment so verblüfft, dass sie gar nicht merkte, was sie getan hatte. Vor ihr gähnte eine schwarze, undurchschaubare Leere.

Sie stieß die Tür noch ein wenig weiter auf. Der feine Lichtstrahl gab den Blick auf einen kurzen, grau in grau gestrichenen Gang frei.

[Sie meinen, sie hat keinerlei Fortschritte gemacht?]

Jessica wirbelte herum. Das hier war eindeutig die Stimme eines Arztes gewesen...aus reinem Instinkt verschwand Jessica durch die Tür, zog sie hinter sich zu und verfluchte sich im gleichen Augenblick aus zwei Gründen: erstens weil sie jetzt kein Licht mehr hatte und zweitens weil sie das Licht im Kopierraum nicht ausgeschaltet hatte.

Dann bemerkte sie noch zwei weitere Gründe: Warum tat sie das hier eigentlich? Das war doch wohl kindisch.

Und die Tür ließ sich nicht von innen öffnen.

Da war keine Klinke, kein Drehknopf - einfach nur eine glatte, weiß-lackierte Tür. Was war, wenn die Ärzte hier nicht hereinkamen? Dann war sie gefangen. Die Tür ließ sich anscheinend nicht immer öffnen. Und selbst wenn man sie hier vor nächste Woche herausbekam, würde sie wahrscheinlich mit fristloser Kündigung rechnen müssen.

Sie sah sich um. Wenn sie schon hier war, dann wenigstens nicht umsonst.

Der Gang wurde rechts und links von jeweils drei Türen gesäumt. Am Ende des Ganges war noch eine Tür. Jessica probierte alle Türen der Reihe nach aus, sie waren verschlossen. Als sie bei der vorletzten ankam, der dritten links, hörte sie Schritte.

Sie näherten sich schnell der Tür, aus der sie gekommen war. Panik brach bei ihr aus. Sie hatte das Gefühl, nicht nur ihren Job zu verlieren, wenn sie entdeckt werden würde.

Die Tür gab nach. Ihr graute es davor, in den dunklen Raum zu treten, der sich vor ihr auftat, aber sie musste.

Als sie die Tür hinter sich schloss, war es vollkommen dunkel. Nicht einmal ein winziger Lichtstrahl drang durch die Tür. Die Stimmen näherten sich.

Plötzlich wurde es hell.

Im ersten Moment war Jessica so geblendet, dass sie instinktiv die Arme vor den Kopf hielt. Jetzt ist es aus, dachte sie. Na klasse, jetzt haben sie mich gefunden. Ich hab meinen Job los.

Aber niemand sagte etwas zu ihr, und es schien auch sonst nichts zu passieren. Jessica nahm die Arme runter und blinzelte.

Neben ihr war eine große Glasscheibe. Sie gab die Sicht frei auf...die Rücken der Ärzte.

Sie standen über irgend etwas gebeugt; es waren ziemlich viele, zwölf, dreizehn Stück. Große Lampen erhellten den Raum; sie waren über und unter den Ärzten, sodass sie gegen das Licht sahen, wenn sie in Jessicas Richtung sahen. Sie konnten sie absolut nicht sehen. Jessica sah zur Seite - eine lange Reihe von Sitzen erstreckte sich neben ihr. Aber sie dachte nicht daran, jetzt zuzusehen - sie wollte hier raus.

Sie trat wieder auf den Flur heraus und registrierte zu ihrer Freude, dass die Ärzte die Tür nicht geschlossen hatten. Ein kleines Holzstück war in die Tür geklemmt.

Jessica trat durch die Tür, ließ ihre Hustentabletten liegen und verschließ schleunigst das Krankenhaus. Die Vordertür war verschlossen.

Sie nahm ein Fenster.
 

Am nächsten Tag machte sie sich in der Schule auf die Suche nach Berry. Ihre erste Stunde war Geschichte - ein Fach, indem sie nicht sonderlich gut war, weswegen sie nie fehlte. Aber heute war es ihr wichtiger, Berry zu finden, und diesmal fand sie ihn prompt in der Kantine hocken.

Er saß dort im Schneidersitz auf einer Bank, vertieft in ein Buch und sah so hinreißend aus, dass Jessica für zwei Sekunden stehen blieb, bevor sie zu ihm trat.

"Hey, Berry-Baby..."

Berry klappte das Buch zu, hob aber nicht den Blick.

"Wenn die Dame mir vielleicht wenigstens eine einzige Pause lassen würden...ich muss so viele Stunden schwänzen, um lernen zu können.."

Er hob den Blick - und viel fast von der Bank, als er sah, dass Jessica vor ihm stand.

"Ich darf mich doch setzen, oder?" fragte sie und ließ ihrer Frage sogleich Taten folgen. Berry grinste.

"Natürlich." Er machte ein wenig Platz auf dem Tisch.

"Okay, was hast du auf dem Herzen?"

Jessica zögerte. Warum wollte sie es eigentlich gerade ihm erzählen? Weil er der erste, netteste und noch dazu süßeste Mensch war, der ich in dieser Stadt begegnet war, antwortete sie sich selbst.

Okay.

"Also, ich musste letztens...also ich war im Krankenhaus...und, und da bin ich...ach verdammt...wie komme ich dazu, nachts im Krankenhaus bleiben zu dürfen?" Sie rückte geradewegs mit der Frage heraus. Berry sah sie verblüfft an.

"Wie bitte?"

"Hör zu. Ich habe etwas entdeckt, im Krankenhaus. In der Abstellkammer, die verschlossen ist. Entweder, du hilfst mir in jeder Beziehung - und glaubst mir auch - , oder du sagst mir, wie ich nachts im Krankenhaus bleiben kann und hältst ansonsten die Klappe." Berry zögerte nicht einmal zwei Sekunden.

"Ich helfe dir."

Jessica hatte so sehr damit gerechnet, das er sie sitzen ließ, dass sie regelrecht überhörte, was er sagte. Erst nach zwei Minuten kapierte sie.

Berry sah sie erwartungsvoll an. Jessica schüttelte nur den Kopf. Nicht hier.

Und Berry verstand es.

Oh bitte, lass Becky da gewesen sein und aufgeräumt haben...dachte Jessica, als sie die Tür zu ihrer Wohnung aufschloss. Warum hatte sie nur darauf bestanden, hierher zukommen?

Aber sie hatte Glück. Es war alles aufgeräumt.

Sie setzten sich hin, und Jessica begann, von ihrem kleinen "Ausflug" zu erzählen. Berry hörte zu, sah sie aber nicht an.

"Jessica...okay, ich glaube dir. Aber was willst du jetzt tun?"

"Noch mal hin. Ich will da ein zweites mal rein, so einfach."

Berry sah sie entsetzt an.

"Okay", sagte er dann.
 

Jessica fühlte sich unwohl. Sie stand vor dem Krankenhaus und kaute auf ihren Lippen herum. Sie spürte die harte Plastikkarte in ihrem Krankenhauskittel; ein falscher Ausweis mit einem falschen Bild und einem falschen Stempel. Es war aber nicht ihrer - Berry hatte ihn gefälscht und würde ihn auch benützen.

Vor der großen Glastür hielt ein Krankenbett. Jessica erkannte das Zeichen und trat auf die Tür zu.

Abends war so gut wie niemand mehr auf der Straße; der Wachmann machte seine Runde, die Schwestern tranken oben im Schwesternzimmer Kaffee. Jessica konnte ungestört in das Bett klettern, ohne dass sie jemand sah.

Berry brachte sie in einen dunklen Krankenhausraum, der ansonsten leer war. Die Vorhänge waren zugezogen.

Nervös tauschte Berry seinen hellgrünen Krankenhauskittel gegen einen weißen Arztkittel. Jessica war aufgefallen, dass die Ärzte hier ständig wechselten; anscheinend wurden hier sehr viele Spezialisten gebraucht, denn sie sah zwar einige Ärzte immer wieder, aber ein Teil von ihnen wechselte ständig.

Berry war fertig und drehte sich zu ihr um. Er würde nicht wiedererkannt werden; er hing sowieso nur auf der Kinderstation herum, also würde ihn weder der Wachmann noch eine Schwester erkennen, die nicht auf der Kinderstation stationiert war.

"Ich hab kein gutes Gefühl." Gestand er. Jessica auch nicht...sie winkte ihn zu sich und zog ihn runter, damit sie ihm den Schlüssel zustecken konnte. Als sie ganz nah beieinander waren, küsste sie ihn.

Berry wurde rot und versuchte, etwas zu sagen, verhaspelte sich aber und stammelte nur wirres Zeug. Jessica lächelte, scheuchte ihn durch die Tür nach draußen und legte sich wieder hin.

Irgendwann nach Mitternacht klopfte er vorsichtig an die Tür, trat ein und huschte zu ihrem Bett.

"Kommst du?" Jessica nickte uns stand auf.
 

"Mir ist kalt..."

Sie gingen den breiten gang entlang, der zur Abstellkammer führte. Diesmal lächelte Berry, zog seine Jacke aus und reichte sie Jessica.

Sie schlüpften wieder in den kleinen Zuschauerraum, in dem Jessica schon das erste mal verschwunden war. Sie warteten eine ziemlich lange Zeit...aber niemand kam. Die Ärzte blieben heute aus.

"Gehen wir rein. Die kommen heute bestimmt nicht mehr." Murmelte Berry schließlich. Jessica nickte und hielt ihm die Tür offen.

"Bitte sehr, nach dir..." In ihr stieg wieder so ein ungutes Gefühl hoch...

Berry verließ den Zuschauersaal, öffnete die Tür am Ende des Ganges und tastete nach dem Lichtschalter. Die Neonröhren sprangen summend an.

An sich war der Raum nichts besonderes...ein paar normale Metallschränke, einfache Regale...ein Krankenbett...ein Mädchen...

Berry keuchte und trat hastig an das Bett. Mit schnellen Handgriffen maß er Puls und Temperatur des Mädchens.

"Sie schläft." Murmelte er. Jessica lehnte sich an die Wand - irgendwie traute sie sich nicht näher an das Bett (oder eher an das Mädchen?!) heran - und musterte Berry. Seine Hände gefielen ihr...

Im nächsten Moment hätte sie sich am liebsten den Hals umgedreht. Er untersuchte ein krankes Mädchen, und sie dachte an seine Hände!!!

Gerade wollte sie etwas sagen, als das Mädchen die Augen aufschlug.

Sie sah zuerst die Decke, dann Berry, dann Jessica an. Ihr Blick blieb an Jessica haften.

Jessica fühlte sich unwohl. Sie versuchte, dem Blick stand zu halten, aber es klappte nicht. Verzweifelt wandte sie ihren Blick an Berry.

"Wie heißt du?" fragte er das Mädchen. Sie sah ihn nur aus ruhige, blutroten Augen an.

"Marien." Sagte sie ruhig und langsam.

"Und...wie alt bist du?" forschte Berry weiter.

Ihr Gesicht verklärte sich. Jessica dachte daran, dass sie unter Gedächtnisschwund leiden konnte...Berry schein das gleiche zu denken, denn er bot ihr einige Möglichkeiten an:

"Du siehst noch ziemlich jung aus...vielleicht elf, zwölf?" Das Mädchen schien den Kopf zu schütteln, genau war das nicht feststellbar. Es schloss die Augen und schien wieder einzuschlafen.

Berry sah Jessica ratlos an. Sein Blick verriet ihr ganz deutlich, dass eine nahezu wahnsinnige Absicht in seinem Kopf heranreifte: Jetzt, wo das Mädchen wach war, konnte er es nicht mehr hier lassen.

Jessica hielt dieses Vorhaben für wahnsinnig - für zwei Sekunden lang. Dann sah sie ein, dass es völlig unmöglich war, dieses Mädchen hier zu lassen. Erstens, weil die Ärzte sie wieder einschläfern würde und zweitens, weil Berry krank vor Sorge werden würde und sie das nicht mit ansehen konnte.

Und aus noch einem Grund, den sie nicht kannte. Weil sie es nicht für wahnsinnig halten sollte.

Berry verließ das Zimmer, um den Versuch zu starten, die Tür zu öffnen. Jessica war entsetzt, als sie merkte, was er vorhatte - das hieß, sie war mit dem Mädchen allein, und jede einzelne Faser in ihrem Körper sträubte sich dagegen.

Kaum war Berry aus der Tür heraus, schlug das Mädchen die Augen auf und starrte Jessica an.

Diese merkwürdige Übelkeit stieg wieder in ihr hoch, als sie bemerkte, dass sich hinter den blutroten Pupillen des Mädchens etwas bewegte. Etwas schein dort herumzukriechen und sich befreien zu wollen...Jessica schlug die Hand vor den Mund und versuchte, einen erstickten Aufschrei zurückzuhalten. Sie durfte jetzt nicht umfallen...wenn sie jetzt in Ohnmacht fiel, hatte Berry ein verdammt großes Problem dabei, hier herauszukommen. Jessica war sich sicher, dass er nicht beide gleichzeitig hier rausholen konnte, und er würde sicherlich zuerst das Kind rausschaffen.

Berry kam zurück und bedeutet Jessica, rauszugehen und nachzusehen, ob der Wachmann patrouillierte. Er trat zum Bett - das Mädchen schien jetzt wieder zu schlafen. Er hob sie kurzerhand mitsamt der Decke hoch und trug sie raus.

Jessica wartete am Krankenhauseingang, während er das Mädchen in sein Auto trug. Sie rechnete damit, dass er gleich wegfahren und das Mädchen zu sich nach Hause bringen würde, aber er kam noch einmal zu ihr und blieb schüchtern vor ihr stehen.

"Ich glaube, es ist ein wenig doof, ein Kind aus dem Krankenhaus zu stehlen..." murmelte er. Jessica zog ihn zu sich.

"Wenn wir auffliegen, haben wir ein kleines Problem, also lass dich nicht erwischen." Flüsterte sie ihm ins Ohr.

"Wenn ich morgen entlassen werde, komme ich sofort zu dir und werde nach euch sehen, okay?" Sie spürte, wie er nickte.

"Und bleib nicht die ganze Nacht wegen ihr auf. Schlaf wenigstens ein paar Stunden." Er schüttelte fast unmerklich den Kopf.

"Berry, wenn du nicht auf mich hörst..."

Er umarmte sie fest, als würden sie sich für Ewigkeiten trennen. Dann trat er ein paar Schritte zurück und ging langsam rückwärts die Treppe runter.

"Schlaf du lieber mal, du bist schließlich krank. Und beeil dich nicht, um zu mir zu kommen, werd lieber gesund. Ich wird schon auf mich aufpassen." Jessica nickte und trat wieder in den Krankenhauskomplex.
 

Berry empfing sie an der Tür mit einer Umarmung. Jessica fragte sich schon langsam, ob er sich als ihren Freund sah...sie hätte nicht das geringste dagegen.

Das Mädchen lag auf seinem Bett - ein Zeichen dafür, dass er heute Nacht nicht geschlafen hatte, obwohl er überraschend munter aussah - und schien wieder (oder immer noch?) zu schlafen.

"Willst du Kaffee?" fragte Berry und machte sich auf den Weg in die Küche.

Er lässt mich mit ihr allein!, schoss es Jessica durch den Kopf.

"Sie hat die ganze Zeit über ruhig geschlafen. Anscheinend ist das so eine Entzugsphase oder so etwas...wahrscheinlich muss ihr Körper die letzten Reste der Droge verbrauchen. Sie wird in nächster Zeit nicht aufwachen."

Sehr witzig..., dachte Jessica. Das Mädchen starrte sie an.

"Ähm...Berry, sie ist wach."

"Was? Verdammt!" Gläser klirrten. Berry hatte die Tassen fallen lassen, und der Kaffee lag dekorativ verteilt am Küchenboden.

"Sorry...ich koch gleich noch mal welchen..." entschuldigte sich Berry und wischte die Flüssigkeit auf.

"Was hast du gerade gesagt?"

Jessica sah über ihre Schulter. Sie konnte direkt in Berrys Schlafzimmer sehen - und auch, dass das Mädchen - Marien - sie anstarrte.

"Das Mädchen ist wach, hab ich gesagt." wiederholte sie, drehte sich wieder um und sah rote, pulsierende Augen.

"Tatsächlich?" Berry stand auf. Als er an Jessica vorbeiging, versperrte er ihr einen Augenblick lang die Sicht auf Marien. Als sie wieder hinsah, schlief das Mädchen.

"Sie schläft tief und fest." Wunderte sich Berry, als er zurückkam. Jessica runzelte die Stirn.

"Nein, sie hatte die Augen offen..." wehrte sie sich. Berry schüttelte leicht den Kopf und nahm sie in den Arm.

"Jessica, sie schläft. Das hast du dir sicher bloß eingebildet." Er strich ihr mit der Hand über den Rücken und ließ sie dann los, um den Kaffee wieder aufzuwischen. Jessica stand verwirrt im Flur, als Marien wieder ihre Augen aufschlug.

Hastig schnappte Jessica sich ihre Schlüssel - und blieb dann doch, als ihr der Gedanken kam, dass Berry dann mit dem Kind allein sein würde.

Also half sie ihm, den Kaffee aufzuwischen und frisch aufzubrühen. Als Berry ihr anbot, Brötchen zu holen, damit sie frühstücken konnten, solange sie auf Marien aufpasste, lehnte sie dankend ab und begnügte sich mit Cornflakes.

Sobald Berry sich von Marien abwandte, schlug sie die Augen auf und starrte Jessica mit einem ausdruckslosen, aber durchdringenden Blick an. Jessica war es so unangenehm, dass sie sich ins Wohnzimmer in die letzte Ecke setzte, wo Marien sie nicht sehen konnte und anfing, in einer Fernsehzeitschrift zu lesen, um sich von der Erinnerung an diesen Blick abzulenken.

Berry blieb die ganze Zeit bei dem Kind (!?), kam nur ein paar mal heraus, um Musik anzustellen oder um Jessica zu sagen, dass sie sich nehmen soll, was sie braucht. Er ging völlig in der Betreuung des Mädchens auf.

Dann, am Abend, wachte sie auf.

(Das soll heißen: Wenn sie überhaupt geschlafen hatte, was Jessica doch stark bezweifelte - in Anbetracht dieses Blickes zumindest.)

Sie lag mit ausdruckslosen Gesicht auf Berrys Bett und verzichtete diesmal sogar, Jessica anzustarren, selbst als Berry für kurze Zeit das Zimmer verließ, weil das Telefon klingelte (allerdings nicht, um abzunehmen, sondern um den Stecker rauszuziehen).

"Wie geht es dir?" fragte er, als er wieder zurückkam. Marien (hieß sie tatsächlich so?) nickte, als wäre das eine stellvertretende Antwort für "Mir geht's gut."

"Okay, freut mich. Bist du sicher? Tut dir etwas weh? Hast du Hunger? Durst?" Marien schüttelte den Kopf.

"Kannst du mir vielleicht etwas über dich erzählen?" fragte Berry, als er sich versichert hatte, dass sie tatsächlich nichts essen wollte.

"Ich heiße Marien." Sagte Marien.

Wow, dachte Jessica. Nein, ehrlich?

"Mein Vater ist gestorben, als ich drei Monate alt war. Meine Mutter wurde drogenabhängig, als ich fünf war. Sie starb an einer Überdosis, als ich sieben war. Ich kam in ein Heim, weil meine Großeltern mich nicht wollten. Die Ärzte holten mich dort heraus und -" sie brach abrupt ab und runzelte die Stirn.

"Welches Jahr haben wir?"

Berry war so verwirrt über diesen Bericht, dass er noch gar nicht begriff, was er gehört hatte. Jessica sah ihn besorgt an.

Marien verzog das Gesicht und legte sich wieder hin, um weiterzuschlafen.

"Was hat sie da gerade gesagt?!" keuchte Berry verwundert. Jessica schüttelte den Kopf.

"Ich hab keine Ahnung. Ihre Lebensgeschichte...oder so etwas in der Art..." murmelte sie, während sie das Mädchen betrachtete. Sie lag ruhig da - als ob sie nie aufgewacht wäre, sondern die ganze Zeit über selig geschlafen hätte und bald aufwachen und fröhlich in die Schule gehen würde.

"Das könnte am Schock liegen..." vermutete Berry.

"Ich weiß nicht, was die Droge in der Dosis für Nebenwirkungen hat. Vielleicht ist das nur eine Nebenerscheinung, vielleicht hat sie das auch nur im Wachkoma aufgeschnappt und erzählt es jetzt uns, weil sie es für real hält."

"Aber vielleicht ist es auch real?" fragte Jessica. Berry sah sie erstaunt an - ja, schon regelrecht entsetzt, wie Jessica bedauernd feststellte.

"Jessica, das hier ist ein kleines Kind!"

"Und das bedeutet, dass es nicht auch schon so etwas erlebt haben kann?" Jessica umrundete das Bett und trat zu Berry.

"Ich meine, wenn sie noch gar nicht so lange im Koma lag, kann ihr das doch passiert sein, oder? Sie scheint mir sowieso schon so erwachsen, da kann sie doch auch ihre Lebensgeschichte kennen."

Hinter Berrys Stirn arbeitete es. Für ihn war ein Kind eben ein Kind - aber was Jessica gesagt hatte, schien auch zu stimmen.

*Was machen wir jetzt mit ihr?*

Die Frage war einfach da, ohne dass sie jemand ausgesprochen hätte. Jessica und Berry fiel es nicht auf. Es war, als wüsste man nicht genau, wer welches Wort gesprochen hatte - als dächte man, man hat es selbst gesagt, und dann bemerkt, dass man überhaupt keinen Ton von sich gegeben hatte.

"Sollen wir sie zurück in die Klinik bringen?" fragte Jessica. Berry zuckte mit den Schultern.

"Ich weiß nicht...wenn sie Marien absichtlich im Koma gehalten haben, dann werden sie es wieder tun. Und außerdem werden sie wissen wollen, wo wir sie herhaben. Was sollen wir dann sagen?"

Jessica zuckte hilflos mit den Schultern. Es ergab doch sowieso keinen Sinn, das Mädchen hier zu behalten. Es würde aufwachen, und dann würde es Hunger haben und spielen wollen, und wenn jemand es sehen würde - was zweifellos geschehen würde - dann würde er fragen, wo sie herkam, und im Übrigen musste sie auch noch zur Schule und sie würde sicherlich einmal krank werden und zum Arzt müssen. Es war einfach unmöglich, sie aufzunehmen. Aber sollten sie sonst mit ihr machen? Sie umbringen und in den Fluss werfen, oder noch besser, sie in einen orientalischen Teppich wickeln und wie die Mitglieder einer schmierigen Mafia im Wald verscharren?

*Es wäre eine gute Idee, sie doch wieder ins Krankenhaus zu bringen.*

Die Antwort war genau so plötzlich, verwirrend und unausgesprochen da wie die dazugehörige Frage. Jessica und Berry sahen sich an - und handelten, ohne nachzudenken. Berry wickelte Marien wieder in die Krankenhausdecke ein, während Jessica durch seine Wohnung ging und Fernseher, Stereoanlage und Kaffeemaschine ausschaltete. Schon nach ein paar Minuten waren sie im Treppenhaus, dann in Berrys Wagen. Die Dämmerung legte sich schon über die Stadt, und sie machten sich auf den Weg zum Krankenhaus, ohne überhaupt zu wissen, weshalb.
 

Die Straßen schienen wie leergefegt zu sein. Jessica war verwundert über die anbrechende Dunkelheit; die Zeitspanne, die sie bei Berry in der Wohnung verbracht hatte, war ihr viel kürzer vorgekommen.

Sie saß auf dem Beifahrersitz, mit dem sicheren Bewusstsein, dass Marien hinter ihr lag und sie mit kalten, blutfarbenen Augen anstarrte, hinter denen sich etwas bewegte. Je näher sie dem Krankenhaus kamen, desto mehr beschlich Jessica ein ungutes Gefühl. Sie wusste nicht, was sie tat, oder warum sie es tat. Sie brachte Marien ins Krankenhaus zurück. Etwas verbot ihr, über die Gründe nachzudenken -

Berry ließ den Wagen auf einen Parkplatz rollen und schaltete den Motor ab. Er sah zu Marien, Jessica sah zu Marien - ihre Blicke trafen sich, und in seinem Blick lag so ein...fremder...Ausdruck, dass Jessica schauderte.

"Also los..." murmelte Berry und stieg aus, um Marien vom Rücksitz zu holen. Jessica war nicht in der Lage, darüber nachzudenken, wie absurd dieses Vorhaben war - ein Mädchen aus dem Krankenhaus kidnappen, nach einem Tag wieder zurückbringen. Warum? Weshalb? Sie handelte wie in Trance - ihr kam es nicht in den Sinn, darüber nachzudenken. Sie tat es einfach, weil es ihr richtig schien. Als gäbe es gar keine andere Alternative. Als würde das jeder machen.

Berry öffnete die Hintertür und holte Marien raus.

Zusammen gingen sie die breiten Stufen zur Eingangstür hinauf. Es war jetzt dunkel.

Sie wussten nicht, welches Grauen sie hinter der Eingangstür des Krankenhauskomplexes erwarten würde.
 

Die Hölle
 

Die Tür war nicht verschlossen, wie sie es eigentlich hätte sein sollen. Dahinter waren auch keine Lichter an. Und der Wachmann war nirgends zu sehen.

Aber es fiel Jessica und Berry nicht auf. Warum sollte die Tür auch verschlossen sein, wenn nicht einmal das Licht an war? Und warum sollte das Licht an sein, wenn sowieso kein Wachmann da war?

Und warum sollte der Wachmann da sein, wenn auch kein anderer Mensch zu sehen war?
 

Berry betätigte einen Schalter, und die Lichter an der Decke flammten auf. Nicht alle auf einmal, sondern der Reihe nach, ein Abschnitt des Ganges nach dem anderen. Das leise Summen und Klacken der anspringenden Lampen erfüllte die Luft.

Berry und Jessica standen am Anfang des Flurs, Berry mit Marien auf dem Arm. Langsam gingen sie den Korridor entlang, an der ausladenden Theke vorbei in die große Vorhalle, die auch als kurzzeitiges Wartezimmer diente. Die harten Plastikstühle luden nicht gerade zu langem Warten ein, aber kurzzeitig waren sie erträglich - und vermieden ein ständiges Überfüllen des Raumes.

Berry legte Marien in ihrer Decke auf den hellen Linoleumboden. Sie schien wieder zu schlafen, und Jessica setzte sich auf den vordersten Plastikstuhl des Wartesaales. Berry setzte sich ihr gegenüber und sah Marien an.

Und wartete.

Jessica sah sie ebenfalls an,

und wartete.

Sie warteten, und sie wussten nicht, auf was. Auf einen bestimmten Augenblick, ohne zu wissen, auf welchen.

Als er kam, brach das Chaos aus.

Als Marien die Augen aufschlug, brach die Hölle aus.
 

Es war nicht so, als ob sich die Realität plötzlich veränderte - sie veränderte sich auf eine brutal schnelle Weise, so schnell, dass die Wände schmolzen, sich in rote, glühende Lava wandelten und sich unter ihrer eigenen Hitze bäumten.

Das harte, gelbe Licht der Lampen im Flur wandelte sich in glühende Sonnenstrahlen, in rote, heiße Lichtströme. Der Boden schien auseinander zu reißen, aufzuspringen und aufzubröckeln, und er schien Marien zu verschlingen, einfach auf zu reißen und sie in sich aufzunehmen, und sie wehrte sich nicht dagegen, sondern wandte sich der herausströmenden Hitze des Spaltes zu und ließ es geschehen.

Alles schien zu brennen, rot anzulaufen und in der Hitze zu verglühen, sogar die Luft, die Berry und Jessica einatmeten - einzuatmen versuchten -, doch die Plastikstühle, auf denen sie saßen, bewahrten ihre Realität und schmolzen nicht, brannten nicht, glühten nicht, wurden nicht einmal warm.

Dann war Marien weg, das Licht wurde wieder gelb und unangenehm, die Luft wieder durchsichtig und ließ sich atmen.

Nur die Wände brannten weiterhin, schmolzen, liefen über den Boden. Die Luft knisterte. Immerzu war das Geräusch von knackendem Holz zu hören - keiner von den beiden konnte es ertragen.

Jessica und Berry waren bis zu dem Zeitpunkt wie in Trance gewesen. Jetzt wachten sie auf und wollten nur noch weg hier. Sie stürzten über die geschmolzenen Wände hinweg zur Tür -

und stellten fest, dass sie verschlossen war. Fest verschlossen.

Vorher war sie doch nicht einmal abgeschlossen gewesen! Und jetzt schien sie zugeschweißt zu sein. Tatsächlich schien sie unter der enormen Hitze geschmolzen und mit der Wand verflossen zu sein. Die Fenster ebenfalls.

Kein Weg nach draußen.

Jessica und Berry drehten sich gleichzeitig um. Die Wand des Warteraumes war nun vollständig geschmolzen; man konnte durch sie ins Nebenzimmer sehen, ein Untersuchungsraum.

Es sah schlimm aus.

Die Wände brannten hier nicht, sie schienen schon gebrannt zu haben. Auf dem Boden lag überall graue Asche. Das Krankenbett, die Schränke, alles schien verbrannt, alt und...verrostet zu sein, selbst die Wände.

Das dachten sie zumindest, bis ihnen auffiel, dass die merkwürdige Farbe, die sie für Rost hielten, stark nach Blut roch...

...

..

.
 

Sie sahen den langen, geraden Gang entlang . Dann sahen sie sich an. Dann wieder der Gang.

"Wir müssen da runter, zum Hinterausgang." Stellte Berry fest. Schon der Gedanke daran jagte Jessica einen kalten Schauer über den Rücken, aber sie stimmte ihm zu.

Es gab keinen anderen Weg hier raus.

Wenn es überhaupt einen gab.

Berry nahm ihre Hand und sah ihr fest in die Augen.

"Lass mich nicht allein." Bat er mit leiser, heiserer Stimme. Seine Angst spiegelte sich deutlich in seinen Augen wieder, und als Jessica das sah, befiel plötzlich so ein heftiges Gefühl des Grauens, dass sie zusammenzuckte.

"Wenn ich dich je allein lassen sollte, dann sicherlich nicht freiwillig." Murmelte sie.

"Komm schon, ich kriege hier Zustände."

Jessica rappelte sich wieder auf, und zusammen gingen sie den langen, grau getünchten Gang entlang zum Wartesaal. Nun war es wieder kalt, die Wände waren wie heiße Lava geschmolzen und hatten große Löcher hinterlassen, durch die man in andere Zimmer sehen konnte, doch die Lava war nun erstarrt und abgekühlt. Sie war auf den Boden geflossen wie lange, bleckende Zungen, und Jessica stellte entsetzt fest, dass sie wie schwarze Hände aussahen, die mit langen Fingern nach ihnen griffen.

Berry packte ihre Hand fester und schluckte deutlich hörbar.

Der Gang, vor dem sie standen - und den sie durchqueren mussten - war dunkel. An seinen Seiten mündeten einige Krankenzimmer, die leer waren - bei einigen sah man es hindurch, da die Wand geschmolzen war, bei den restlichen Zimmer nahmen sie es einfach an - sie betraten nur eins davon, in der Hoffnung, jemanden zu finden, und fanden nur absolute Dunkelheit. Als Berry nach einem Lichtschalter tastete, erklang ein erschreckendes Geräusch - als ob jemand eine Glasflasche zerbrechen würde, dieses klirrende, brechende Geräusch, als würde ein Glas mit Wucht gegen den Boden geworfen und in zweitausend Splitter zerspringen. Und es erklang nicht nur einmal, es kam immer und immer wieder, und mit jedem mal wurde es lauter und schien näher zu kommen, und bevor Berry den Lichtschalter hatte finden können, zerrte ihn Jessica aus dem Zimmer auf den Gang heraus und fing an zu zittern. Berry schlug die Tür zu und musste Jessica erst beruhigen, die zitternd und schluchzend an ihm zerrte.

Dann standen sie im Flur, Berry an der Wand gelehnt, Jessica an Berry geklammert, und er fuhr ihr über die Lippen und durch die Haare und flüsterte ihr leise Worte zu und versuchte sie so zu beruhigen.

"Ich habe Angst..." gestand sie ihm und klammerte sich noch mehr an ihn. Es war nicht einfach die Umgebung oder die Geräusche, sondern es war schlicht und einfach das Gefühl, die Gewissheit einer boshaften, erschreckenden Präsens, die sie nervös machte und an Rand des Nervenzusammenbruchs trieb.

"Beruhig dich...wir haben ja keinen weiten Weg. Wir schaffen das." Berry drückte sie an sich und wiegte sie langsam hin und her.

"Wir gehen einfach diesen Gang weiter runter, und dann nur noch ein kurzer Stück nach rechts und dann sind wir an der Hintertür..." Er versuchte sich selbst damit zu beruhigen, um nicht den Verstand zu verlieren, um nicht wahnsinnig vor Angst zu werden. Aber Jessica hörte es trotzdem heraus, hörte, dass er genau so Angst hatte wie sie, und dann war diese genaue Sicherheit da, diese schreckliche absolute Gewissheit, dass -

"Berry, die Tür ist zu. Wir werden sie nicht aufbekommen." Sagte sie mit erstickter Stimme. Berry erstarrte, dann nickte er. Er hatte es auch gespürt, und er wusste es genau so wie sie.

Sie würden diese verdammte Tür nie im Leben öffnen können.
 

Aber natürlich gingen sie trotzdem zu dieser Tür, prüften das Schloss, rüttelten daran, hämmerten auf sie ein. Sie ließ sich nicht öffnen, sondern blieb fest verschlossen, und Berry und Jessica kehrten zurück in den Wartesaal und setzten sich wieder auf die harten Plastikstühle, diesmal nicht sich gegenüber, sondern nebeneinander. Wieder trat dieses Gefühl des Wartens ein. Sie warteten beide, wussten, dass der andere ebenfalls wartete, und wussten, dass der andere ebenfalls nicht wusste, auf was er wartete. Es war wie diese bestimmte Sicherheit, dass man etwas Wichtiges zu tun hatte und nicht mehr wusste, was es war; nur eben umgekehrt - man wusste, dass man etwas Wichtiges zu tun hatte und wusste noch nicht, was es war.

Es wurde langsam kalt, die schwüle Hitze wich einem eisigen Wind, und Jessica zog ihre dünne Jacke fester um ihren Körper. Es war heute ein warmer Tag gewesen, zwar nicht mehr einer der ersten warmen Septembertage, aber trotzdem noch warm genug für ein dünnes Top und eine dünne Strickjacke. Jessica bereute den Entschluss, den sie heute morgen nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus vor dem Kleiderschrank getroffen hatte.

Berry bemerkte es, zog seine Jacke aus (er war zu warm für diese Jahreszeit angezogen, hatte Jessica gefunden, aber ich wette, er bereut seinen Entschluss nicht!, dachte sie sarkastisch.) und reichte sie ihr. Jessica nahm sie dankbar entgegen und zog sie an, und sie fühlte seine Körperwärme, die immer noch in dem dunklen Stoff steckte.

Nach oben?

Wieder diese unausgesprochenen Worte, die beide hörten, aber niemand gesprochen hat. Aber nun waren sie nicht wie in Trance, nun waren sie wach, konnten fühlen, lebten. Und nun bemerkten beide, dass die Worte ausgesprochen wurden, aber nicht von ihnen - als ob jemand die Realität so verändert hatte, dass diese Worte schon ausgesprochen waren.

Jessica stand auf, sah sich verwirrt um und dann fragend zu Berry. Er nickte bloß, eine leichte, müde Geste.

Dann stand er auf, ergriff wieder ihre Hand, ersuchte wieder das Versprechen, dass sie ihn nicht allein lassen würde, und dann traten sie in den letzten Winkel des Wartesaales und somit an den Aufzug.

Jessica graute es nicht davor, damit hoch zu fahren. Es beunruhigte sie nicht einmal. Zumal hätten sie sowieso keine andere Wahl gehabt, denn sie standen in einem Teil des riesigen Komplexes, der nur durch diesen Aufzug den Weg zu einem höheren Stockwerk freigab, denn die Treppe lag hinter der Hintertür - hinter der fest verschlossenen Hintertür.
 

Der Aufzug fuhr mit einem knisternden Geräusch der Elektrizität nach oben. Jessica stand an der Wand gelehnt, Berry stand mitten in dem Stahlkasten und blickte auf die Schaltknöpfe. Jessica war sich absolut sicher, dass der Aufzug stecken bleiben würde, doch nichts geschah. Sie erreichten sicher und mit klopfendem Herzen den ersten Stock.

Die Gänge, die sich von hier aus durch das gesamte Stockwerk zogen, wurden nur vom hellen Mondlicht beschienen, und waren trotzdem erstaunlich gut beleuchtet. Man konnte die dunklen Ziffern der Zimmer auf den hellen Holztüren deutlich erkennen; Jessica registrierte nebenbei, dass sie alle nur eine Zahl anzeigten. Dreimal die sechs.

Die Wände waren hier weiß gestrichen, wiesen nicht die schreckliche, rote Farbe von Blut auf; Jessica atmete erleichtert auf, als sie es bemerkte.

Sie gingen den ersten Gang hinunter, traten an das große Fenster, sahen hindurch. Draußen beschienen Lampen die dunkle Straße, zitterten, flackerten, setzten für einige Zeit ganz aus, alle auf einmal. Dann sprangen sie wieder an und glühten gleichzeitig, ohne Störungen.

Kein Mensch war zu sehen, kein Licht (außer den Straßenlaternen) brannte - nur die Schule war hell erleuchtet.

Aber es war niemand zu sehen.

Auch Autos waren nirgends zu sehen, außer Berrys silbernem Wagen, der im Mondschein glänzte. Ein Schatten schien sich darüber zu senken, wieder zu verschwinden, es wieder zu verschlucken; wahrscheinlich lag das an einer Wolke, die den Mond verdeckte. Trotzdem sah es unheimlich aus.

Berry versuchte, das Fenster zu öffnen, aber es gelang ihm nicht. Der Verschluss schien wie eingerostet und ließ sich nicht bewegen.

Jessica sah sehnsüchtig nach draußen. Sie fühlte sich leer und ausgelaugt, während Berry heftig am Fenstergriff rüttelte und seine Hand auf ihrer Schulter lag.

Moment -

Jessica wirbelte herum. Sie hatte ganz deutlich eine Hand gespürt, die schwer und bleiern auf ihrer Schulter lag, und Berry Hand konnte es nicht gewesen sein -

Wieder eine Hand, die sich auf ihre Schulter legte, und als Jessica sich diesmal umdrehte, war es wirklich Berry, der sie fragend und verwirrt ansah. Jessica nahm seine Hand und starrte nach draußen. Berry gab sich damit zufrieden und sah sich in dem breiten Gang um.

Die Türen schienen verschlossen, man sah es ihnen zwar nicht an, aber er hatte einfach das Gefühl - und nicht die Nerven, so ein Zimmer zu betreten und vielleicht wieder das klirrende Splittern eines Glases mitanhören zu müssen. Oder Schlimmeres.

Sonst schien es keinen Ausweg mehr zu geben.

Als Berry sich wieder zu Jessica umdrehte, war sie nicht mehr da. An ihrer Stelle hielt er die Hand eines anderen Mädchens.
 

Jessica wachte auf. Ihr Kopf schmerzte nicht, ihr tat nichts weh, und für einen Moment dachte sie, sie hätte nur schlecht geträumt - bis sie eine furchtbare Gewissheit überkam, die ihr sagte, dass es nicht so war.

Um sie herum schien es kein Licht zu geben, aber von oben kam ein feiner Strahl weißen Lichts - wahrscheinlich milchiges Mondlicht, denn künstliches Licht war...gelber.

Erst jetzt bemerkte Jessica, dass sie eingeengt in einer Art Schacht zu liegen schien. Etwas hartes lag unter ihr, und es war reichlich unbequem, davon abgesehen, dass sie allein war.

Sie versuchte, sich zu bewegen, aber ihre Beine versagten. Als sie daran entlang tastete, zuckte ihre Hand plötzlich zurück - Blut klebte an ihr.

Soweit sie es in der Halbdunkelheit erkennen konnte, waren ihre Hände blutbefleckt, mit feuchten, übelriechendem Blut. Ihr wurde schlecht. Sie wusste nicht, was sie hoffen sollte - dass es nicht ihres war oder dass es ihres war - es könnte ebenfalls Berrys sein.

"Berry!" versuchte sie zu rufen, aber es kam nur ein ersticktes Flüstern dabei raus. Ihre Stimme versagte ebenso wie ihr Körper.

Sie ließ sich wieder nach hinten sinken, aber der Schmerz, der sich in ihren Rücken bohrte wurde nach einiger Zeit zu groß - sie erhob sich wieder und versuchte, ihre Beine ins Licht zu rücken.

Sie hatte oft gehört, dass man nur eine Wunde sehen musste, um den dazugehörigen Schmerz zu fühlen - und es nicht geglaubt.

Bis jetzt.

Kaum sah sie ihren Unterkörper, fühlte sie einen starken Brechreiz und gleich darauf einen so heftigen Schmerz, dass sie ein zweites Mal in Ohnmacht fiel.
 

"Wer bist du?" keuchte Berry erschrocken. Das Mädchen starrte ihn mit ausdruckslosen, roten Augen an.

"Aber kennst du mich denn nicht, Berry-Baby?" fragte sie, und ihre Stimme stand im genauen Gegensatz zu ihrem Blick: volltönend und wohlklingend, als wäre es nicht ihre Stimme, sondern die einer Synchronsprecherin.

"Nein." Gestand Berry ehrlich.

"Ich bin das kleine Mädchen, mit dem du so Mitleid gehabt hast...du hast mich aus meinem Schlaf befreit, und ich finde das sehr nett von dir - denn schließlich musste ich dich nicht einmal dazu bringen, was bestimmt viel länger gedauert hätte, zumal du mich nie entdeckt hättest. Das Mädchen war mir zwar eine Hilfe, aber du warst der, der mich endgültig befreit hat. Und das aus freiem Willen! Es freut mich sehr, dass du so ein Herz für Kinder hast..."

Berry trat erschrocken eine Schritt zurück.

"Du bist Marien?!"

Berrys Augen weiteten sich. Das war sicherlich nicht Mariens Körper, aber es war ihre Stimme, obwohl sie klang wie die einer schlechten Synchronsprecherin. Dieses Mädchen hier sah älter aus - ein Teenager, sechzehn vielleicht, in einem langen schwarzen Kleid, mit ebenfalls schwarzen Haaren. Absolut glatt, ziemlich lang. Er kannte diese Körper, diese Gestalt, ganz sicher. Er wusste nicht, woher, aber er war sich so dermaßen sicher, dass es ihm fast Kopfschmerzen bereitete, darüber nachzudenken. Aber er kannte sie, wenn auch nicht als Marien. Es war der Körper eines anderen Mädchens...es war der Körper von...

"Nun, ich bin es fast - ich bin die Seele von Marien, ihr Ich, aber nicht ihr Körper. Du müsstest meinen Körper doch kennen. Tust du es nicht?"

Erst jetzt trat Erkennen in Berrys Augen. Marien...als ob er blind dafür gewesen wäre.

"Weißt du jetzt, wer ich bin? Weißt du jetzt, wer ich die ganze Zeit über war? Erkennst du mich jetzt?"

Berry nickte bloß. Er war zu keiner anderen Bewegung fähig. In diesem Augenblick fühlte er sich ohnmächtig, hilflos, ohne -

"Wo ist Jessica?"

Das Mädchen lächelte. Höhnisch. Es verspottete ihn. Es machte sich über ihn lustig. Es tat Berry weh. Nicht, weil sie ihn verhöhnte, sondern weil er wusste, warum sie ihn verhöhnte: Weil sie Jessica in der Hand hatte.
 

Jessica wachte zum zweiten mal auf, und diesmal fiel ihr Blick direkt auf ihre Beine, und ihr wurde sofort schlecht. Aber sie beherrschte sich und starrte nur dieses...Blut an. Den weißen Knochen. Das rote Fleisch.

Jessica durchfuhr ein heftiger Schauer, der sie zittern ließ. Sie zog ihre dünne Jacke aus und band sie um ihr Bein - sie musste hier raus.

Als sie versuchte aufzustehen, sank sie nur mit einem Schmerzensschrei wieder zurück. Eine elektrische Hand aus Schmerz schien durch ihren Körper zu zucken und machte keine Anstalten, zu verglühen.

Jessica ignorierte den Schmerz, stemmte sich wieder hoch - und glitt an der Wand aus, auf dem sich ein schleimiger Belag gebildet hatte. Jessica hoffte inständig, dass es Moos war.

Als sie es ein drittes mal versuchte, funktionierte es. Jessica stand ein paar Minuten keuchend im dünnen Lichtstrahl des Mondes, dann tastete sie an der Wand entlang - und entdeckte eine stählerne Leiter.

Oh mein Gott, wie soll ich da raufkommen, dachte Jessica verzweifelt. Ich kann doch kaum stehen.

Sie versuchte es trotzdem. Als sie das Knie beugte, kamen ihr die Tränen - aber sie kletterte trotzdem nach oben. Es war kein langes Stück, aber Jessica kam es wie eine halbe Ewigkeit vor. Mehrmals brach sie in Tränen aus, aber sie machte weiter. Sie wollte hier raus.

Als sie sich endlich aus dem engen Schacht herausgewunden hatte, stand sie auf dem Dach des Krankenhauses. Sie hatte in einem tatsächlich in einem Schacht gelegen, und sie hatte nicht die geringste Ahnung, wozu er diente - aber als sie an sich heruntersah, kamen ihr schon wieder die Tränen, und sank zu Boden.

An ihren Händen klebte zwar immer noch Blut, purpurnes, getrocknetes, dunkles Blut, aber ihre Beine wiesen nicht einmal einen einzigen Kratzer auf. Auch nicht, als sie ihre Jacke abband, die sich im übrigen von einem hellen Blau zu einem dunklen Purpurrot verfärbt hatte. Nichts.
 

Berry sank auf den Boden. Er starrte immer noch auf das Mädchen. Jetzt wusste er, wer es war, in wessen Körper dieses Mädchen steckte. Er kannte ihn nur zu gut.

Ihm kamen die Tränen, aus einem Grund, den er selbst nicht wusste. Die Umgebung verschwamm vor ihm, zerlief und legte ihm einen schweren Schleier vor die Sicht. Er blinzelte, um die Tränen wegzubekommen, und als er wieder etwas erkennen konnte, war das Mädchen wieder verschwunden.
 

Jessica trat zum Rand des Daches. Unter ihr befand sich nur eine dunkle, bodenlose Leere, in die sie sich am liebsten hinuntergestürzt hätte. Aber dann dachte sie an Berry, und irgend etwas blockte ihre Gedanken an Selbstmord ab. Sie konnte sich nicht mehr dazu überwinden, auch nur nach unten zu sehen.

Die Tür zum Treppenhaus befand sich in einem rechteckigen Betonkasten, wie es bei großen Häusern meistens üblich war. Sie rechnete nicht wirklich damit, die Tür öffnen zu können - aber sie ließ sich mühelos aufstoßen.

Das Treppenhaus war erstaunlich gut beleuchtet, ohne dass irgendwelche Lampen an der Decke hingen. Das Licht schien von nirgendwo und überall zu kommen. Die Treppe war eng und gerade, und Jessica rechnete ganz fest damit, dass sie einstürzte, wenn sie die erste Stufe betritt. Aber auch hier geschah nichts. Die Treppe mündete in einen kurzen Gang, der so absolut weiß und sauber war, dass sie nicht glauben konnte, dass drei Stockwerke weiter unten die Wände zu großen, hässlichen Löchern geschmolzen waren.

Sie trat den Gang entlang.

Und wirbelte herum.

Jessica hatte Schritte gehört, aber sie wusste, dass Berry es nicht sein konnte. Es war auch nicht Berry. Hinter ihr stand ein junges Mädchen.

"Wer bist du?" fragte Jessica. Zu ihrem eigenen Erstaunen klang ihre Stimme nicht ängstlich und verwirrt, was sie war, sondern ruhig und überlegen. Es irritierte das Mädchen ihr gegenüber.

"Was glaubst du, wer ich bin?" fragte es, nachdem es sichtlich gezögert hatte. Jessica wurde stutzig. Sie bemerkte den starren Blick in den Augen des Mädchens, die blutrot waren...und hinter den Augen schien...

"Marien!" keuchte sie erschrocken. Aber das konnte doch nicht wirklich Marien sein! Dieses Mädchen hier war doch zehn Jahre älter als Marien...die Haare waren länger, die Kleidung anders, aber die a u g e n nicht.

Das Mädchen (Marien?!) schien verärgert zu sein und funkelte Jessica böse an. Und schwieg.

"Was willst du?" fragte Jessica nach einiger Zeit, als es ihr langsam zu dumm wurde. Das Mädchen legte den Kopf schief und sah Jessica interessiert an.

"Wie ich sehe, hast du dich ja bereits wieder erholt..." murmelte sie belustigt. Jessica wurde bleich.

"Nun, ich meine...so etwas nennt man "höllische Wunde"...es ist wie die Hölle: schmerzhaft, grausam, blutig - und doch nur eine Fiktion..." Sie lächelte und trat ein Schritt näher an Jessica.

"Und ich bin der Teufel...glaubst du, ich bin auch nur eine Fiktion?" Jessica konnte ihren heißen - sehr heißen! - Atem spüren uns das Pulsieren ihrer Augen sehen. Dann hob sie die Hand, strich nur mit den Fingerspitzen über Jessicas Arm, aber -

"Au!" Jessica zuckte zusammen. Mariens Finger hatten eine schmerzende, rote Spur auf ihrer Haut hinterlassen.

"Na, was ist?" Marien sah sie herausfordern an. Ihre Stimme schien jetzt von allen Seiten zu kommen, ein langes Echo nach sich ziehend. Jessica bekam eine Gänsehaut, trotz der brennenden Wunde auf ihrem Arm.

"Du...du bist auch nur eine Fiktion...du kannst gar nicht real sein..." stammelte sie. Marien sah sie entgeistert an.

"Was?" fragte sie entsetzt.

"Du glaubst also, ich sei ebenso nur eine Wahnvorstellung?!" Marien taumelte ein wenig zurück, wie um sich vor Jessica zu retten.

"Ich bin aber keine!" schrie sie dann, und die Luft begann zu flirren, ihre Haare flogen, und ihre Augen begannen zu...bluten.

"Doch, doch, du bist eine!" hörte sich Jessica sagen. Sie wusste selbst nicht, was sie tat.

"Nein!" Marien schrie gellend, versuchte, Jessica zu fassen und zu schlagen, doch sie fasste durch sie hindurch. Ein blendend weißer Lichtstrahl schien sie von innen zu durchbrechen.

"Nein..."

Ein letzter, erstickter Laut, und Marien war verschwunden. Nur noch ein Häufchen Staub stand da.

"Was zum...?" Jessica trat näher an die Überreste heran. Eine innere Stimme befahl ihr, das Gebäude sofort zu verlassen, doch sie hörte nicht darauf.

Was sie im nächsten Augenblick bereute, denn aus dem Häufchen Staub wurde wieder Marien.

Es wuchs empor, formte sich und gewann an Farbe. Dann stand Marien wieder vor ihr, packte mit der linken Hand ihren Nacken und flüsterte ihr eindringlich ins Ohr:

"DAS...war eine Fiktion..."
 

Sie war weg, kein Zweifel. Sie schien sich nicht irgendwo versteckt zu haben oder weggerannt zu sein, sie war verschwunden.

Nun war er wieder allein, und sofort sprang ihm der Gedanke an Jessica in den Kopf. Er musste sie suchen, er musste sie um jeden Preis finden. Das sichere Gefühl überkam ihn, dass er einen schwerwiegenden Fehler gemacht hatte, der...gefährlich sein könnte. Für ihn und für Jessica. Eigentlich besonders für Jessica.

Er rappelte sich auf und versuchte sich zu erinnern, wo er war. Erster Stock, richtig? Oder dritter? Oh verdammt.

Hilflos wandte er sich zu dem Fenster, durch das milchiges Mondlicht fiel. Der Mond schien überdimensional groß zu sein, deutlich konnte man die einzelnen Krater erkennen. Berry fühlte eine merkwürdige Verbundenheit zu diesem Himmelskörper, wie der uralte tierische Instinkt, der die Wölfe und Hunde bei Vollmond heulen ließ.

Aber Berry verspürte nicht den geringsten Drang zu heulen und versuchte, zu einer der Tür zu gehen. Doch er konnte nur schwanken...

"Bin ich denn besoffen?!" murmelte er leise in die Halbdunkelheit hinein und schüttelte sich, um einen klaren Kopf zu bekommen.

Entschlossen, und doch ohne zu wissen was er da tat, öffnete Berry die Tür vor ihm und blickte für einen winzigen Moment in die Hölle.

Dann verwandelte sich die heiße, schmerzhafte Fiktion wieder in ein leeres, mit Mondlicht übergossenes Krankenzimmer mit einem einfachen Stahlbett und weißen Vorhängen.

Berry stolperte rückwärts aus dem Zimmer stieß gegen die hintere Wand. Panisch stürzte er zum Aufzug und drückte hektisch auf die Schalter.

Die Türen des Aufzugs glitten sicher und irgendwie...ruhig...auseinander. Das Innere war blutverschmiert.

Trotzdem betrat Berry zaghaft den Stahlkasten und drückte auf den Knopf in den zweiten Stock.
 

Jessica schloss die Augen und schluckte. Sie hatte eine böse Vorahnung...aber als sie die Augen wieder öffnete, war Marien verschwunden.

Jessica ließ sich gegen eine Wand fallen und sank zu Boden.

Nach einiger Zeit rappelte sie sich wieder auf und atmete tief durch. Was brachte es, hier zu sitzen und zu heulen? Sie musste Berry finden, dann war sie wenigstens nicht allein.

Ein grauenhafter Gedanke kam ihr: Was, wenn Berry gar nicht mehr...da war? Wenn er...

Nein, sie wollte nicht daran denken. Sie verscheuchte diese Gedanken aus ihrem Kopf und wollte sich gerade dem Aufzug zuwenden, als...

...sie einen silbernen Schlüssel auf dem Boden liegen sah.

Sie wurde durch den glänzenden Reflex des Mondlichts darauf aufmerksam und wusste sofort, dass ihn Marien nur mit Absicht da hatte liegen lassen können. Er sah ein wenig altertümlich aus, mit geschnörkelten Griff und einem gebogenen Bart, und Jessica glaubte kaum, dass er auch nur in eine einzige Tür passen würde, aber sie steckte ihn trotzdem ein und wandte sich wieder dem Aufzug zu.

Der Knopf funktionierte nicht. Aber Jessica blieb - komischerweise - völlig ruhig. Sie drehte sich um und trat zur Tür - und steckte den Schlüssel ohne auch nur den geringsten Widerstand zu spüren in das Schlüsselloch.

Die Tür öffnete sich, und Jessica stand im Treppenhaus. Den Schlüssel steckte sie wieder in ihre Tasche. - in Berrys Tasche. Sie hatte immer noch seine Jacke an, was ihr jetzt erst wieder bewusst wurde und ihr einen schmerzhaften Stich in ihr Herz versetzte.

Jessica graute es, diese Treppe runterzugehen. Sie war nicht besonders breit und drehte sich an ihrem Ende.

Die Wände pulsierten.

Etwas schien dahinter zu kriechen und sich zu wenden...Die Wand dehnte sich wie eine elastische Haut, wie eine weiche Schale aus rotem Schleim, aus der eine Kaulquappe zu schlüpfen versucht. Wie Mariens Augen.

Jessica setzte ihren Fuß auf die erste Treppe und taumelte erschrocken zurück, als ein kreischender Schmerzensschrei erklang. Keuchend stieß sie gegen die Wand - und zuckte sofort wieder zurück, als sie daran dachte, dass sie jeden Moment aufbrechen und ein schleimiges Monster ausstoßen konnte.

Doch dem war nicht so, die Wand bewegte sich nur im Treppenhaus. Aber sie musste runter, es gab keinen anderen Weg hier heraus.

Jessica betrat sie erste Stufe. Wieder erklang ein Schrei, der ihr eine eiskalte Gänsehaut über den Rücken jagte. Am liebsten hätte sie gleich die zweite Stufe betreten, doch dazu hätte sie sich an der Wand stützen müssen.

Sie merkte, dass es sowieso nichts genützt hätte, denn auch an der zweiten Stufe dehnte sich das Entsetzten in Form einer Gänsehaut auf ihrem Körper aus, als ein noch lauterer Schrei erklang. Jessica zitterte am ganzen Körper.

An der fünften Stufe kamen ihr die Tränen, als sich der Schrei einer erwachsenen Frau in den Schrei eines kleinen Kindes wandelte. Sie zuckte zusammen und blieb stehen,

als eine schleimige,

mit Klauen besetzte

Hand

nach ihr griff.

Jessica erstarrte, innerlich wie äußerlich. Sie schloss entsetzt die Augen. Die Hand tastete sich an ihrer Schulter entlang auf ihren Rücken...sie sah verwest aus, grünschimmernd und schleimig, als würde das Fleisch bereits von den Knochen fallen - die weiß hervorschienen.

Jessica keuchte und setzte einen Fuß auf die nächste Treppe. Die Hand folgte ihr und riss dabei die Wand wie dünnes Pergamentpapier auf, aus der weitere Arme herausquollen und nach ihr griffen.

Blindlings stürzte Jessica den Rest der Treppe runter und achtete nicht mehr darauf, ob sie die Wand berührte und damit noch weitere Risse darin verursachte. Als sie dann unten stand und zurücksah, -

war da nichts mehr. Die Wände standen ruhig und weiß getüncht da, als ob nie ein grausiges, halb verwestes Monster sich hinter ihnen bewegt hätte.

Jessica ließ sich auf den Boden sinken und fing hemmungslos an zu weinen.
 

Berry fand sie zitternd am unteren Ende der Treppe. Sie hockte zusammengekauert in einer Ecke, und Tränen liefen ihr über das Gesicht, ohne dass sie eine Gefühlsregung zeigte.

"Jessica..." Berry tat es innerlich weh, sie so zu sehen. Er zog sie zu sich hoch und drückte sie so fest an sich, dass es ihm selbst wehtat. Jessica löste sich aus seinem Griff und suchte nach einem Taschentuch, das sie in Berrys Jacke fand.

"Okay, okay. Alles okay." Stammelte sie.

"Berry, wir müssen hier raus! Marien war bei mir, und..."

"Bei mir war sie auch." Sagte Berry betroffen.

"Was ist?" Jessica merkte, dass irgend etwas mit ihm nicht stimmte. Berry schwieg.

"Ich habe dir doch erzählt, dass...dass die Mädchen in der Schule mir sogar mit meiner Schwester etwas angehängt haben?" sagte er nach einer Weile. "Das war an deinem ersten Schultag hier. Nun ja...meine, meine Schwester ist seit acht Jahren verschwunden. Kein Mensch hat sie gesehen, und niemand weiß bis heute, wo sie steckt." Er lächelte gequält.

"Und diese Marien, nicht die, die wir gefunden haben, sondern das Mädchen, das vorher hier war...sie sah genau so aus wie meine Schwester, als sie verschwand. Sie heißt sogar genau so. Dass mir das nicht aufgefallen ist...meine Schwester hieß auch Marien...Und die Geschichte, die sie erzählt hat...das war auch meine Geschichte, nur dass wir nicht in ein Heim kamen, sondern zu einer Tante...bis Marien dann verschwand..."

Jessica biss sich auf die Lippe. Warum Berrys Schwester?

"Ich..." begann sie, doch Berry unterbrach sie.

"Schon gut, mach dir keine Sorgen darüber. Ja, es tut weh, aber...ich halte es aus." Jessica lächelte und küsste ihn.

"Dann lass uns hier verschwinden!" Berry nickte.
 

Sie gingen die Treppe runter, bis in den letzten Stock. Dort blieben sie vor der verglasten Tür stehen.

Draußen konnte man deutlich den Mond erkennen, sonst nur noch Berrys Wagen. Sonst war alles dunkel, selbst die Straßenleuchten waren jetzt nicht mehr an.

Nur die Schule war hell erleuchtet. Hinter den Fenstern schien jemand auf und ab zu gehen.

In heller Aufregung und Freude griff Jessica nach dem Schlüssel in ihrer Tasche - und fand ihn nicht.

"Der Schlüssel." Flüsterte sie entsetzt.

"Der Schlüssel ist weg." Vor Wut und Enttäuschung versagte ihre Stimme. Marien quälte sie. Warum ließ sie sie den Schlüssel erst finden und dann wieder verschwinden?

Jessica atmete tief durch. Sie ließ ihre Hand noch einmal nervös in die Jackentasche gleiten. Er war weg.

Nein, der Schlüssel war nicht weg. Entweder er war da oder er hatte nie existiert, und sie hatte die untere Tür aufgeschlossen. Also musste er da sein.

Er ist da. Er muss da sein. ER IST DA, redete sie sich ein. Natürlich ist er da.

Sie griff wieder in die Tasche, und tatsächlich fühlte sie das kühle Metall in ihrer Hand. Lächelnd fischte sie ihn aus der Tasche und schloss die Tür auf, und sie ging tatsächlich auf.

Noch einen Schritt, und sie waren aus dem Krankenhaus raus.

Jessica packte Berrys Hand und drückte sie ganz fest an sich. Sie wollte hier raus, aber nicht ohne Berry. Wenn er hier drin bliebe, würde sie wieder reinwollen. Sie würde nicht von dieser Tür weggehen, bevor er nicht auch draußen war. Nie im Leben.

Also zog sie ihn dicht an sich heran und trat aus der Tür.

Nichts passierte. Die Tür fiel nicht zu, sie explodierte nicht und führte auch nicht in eine andere Dimension.

Sie standen jetzt auf einem betoniertem Parkplatz. Direkt nebenan begann der Rasen, der die Schule säumte.

Berrys Wagen stand auf der andere Seite des Parkplatzes, aber sie gingen trotzdem hin. Berry suchte in der Innentasche seiner Jacke, die Jessica noch immer anhatte, nach den Wagenschlüsseln. Er fand sie und setzte sich in den Wagen.

Aber er sprang nicht an. Berry versuchte es immer wieder, doch das Schrottding sprang nicht an.

Jessica seufzte, drehte sich um und lehnte sich gegen den Wagen. Ihr Blick fiel auf die Schule, die als einziges Gebäude beleuchtet war. Hinter den Fenstern der oberen Stockwerken schien immer noch jemand geschäftig hin und her zu laufen...

"Hey...lass uns zur Schule gehen..." murmelte Jessica und machte sich bereits auf den Weg. Dann stockte sie - hinter ihr schien ein Geräusch zu entstehen...als würde...Luft aus ihrer Hülle weichen...

Sie drehte sich langsam um. Die Vordertür von Berrys Wagen stand immer noch offen, und Berry selbst saß auch noch in seinem Wagen. Zumindest das, was davon noch übrig war.

Berry schien zu Sand geworden zu sein. Sein Gesicht war noch da, seine Augen. Ein gequälter Ausdruck darin. Von Kopf bis zu den Schultern war er noch da. Sein gesamter Oberkörper war noch da, aus Sand, aber er war da.

Nur sein Unterkörper...floss auseinander. Es war nur noch ein Haufen Sand.

Jessica trat zu ihm und starrte ihn an. Ihre Hand erhob sich wie von selbst und strich über seine Wange -

und er zerfiel vollends.

Jessica schluckte. Nein, nicht weinen. Nicht weinen. Er ist nicht tot, er kann darf will es nicht sein. Er ist es nicht.

Starr und ohne eine Gefühlsregung drehte er sich um und näherte sich der Schule.
 

Als sie die große Eingangstür aufzog, blendete sie das helle künstliche Deckenlicht. Jessica betrat den breiten Gang.

Sie bekam plötzlich den Drang, sich zu beeilen. Etwas sagte ihr, dass sie schnell machen müsste...

Jessica rannte fast den Gang entlang - dann blieb sie abrupt stehen.

Was mache ich hier?

Jessica lehnte sich schnell atmend an einen der dunkelblau gestrichenen Spinde des Ganges. Sie drehte sich um, um nachzusehen, ob sie die Tür richtig geschlossen hatte - und glitt erschrocken an der glatten Spindwand entlang auf den Boden.

Marien stand vor ihr.

Jessica presste sich gegen den Spind und versuchte, vor Marien Schutz zu finden. Marien lächelte ein abfälliges Lächeln und strich ihre Haare zurück.

"Na, Jessica? Wo ist denn dein süßer Freund geblieben?"

Jessica wurde bleich. Obwohl sie die ganze Zeit gewusst hatte, dass es eigentlich nur Marien gewesen sein konnte, die Berry zu einem Haufen Sand gemacht hatte, wurde es ihr erst jetzt schmerzlich bewusst. Und als ob diese Einsicht genügt hätte, fing sie an zu weinen. Ein schmerzhafter Keil schien sich bei dem Gedanken an Berrys kalte, sandige Augen durch ihr Herz zu treiben.

"Es tut mir leid, dass ich ihn töten musste..." fuhr Marien in einem gönnerhaften Ton fort. Sie betonte das Wort "töten" ganz besonders.

"...aber es ging leider nun mal nicht anders. Mein Zauber wirkt nicht auf ihn, wenn du dabei bist...ich habe mehrmals versucht, euch zu trennen, aber immer da hast du seine Hand genommen...ich habe es ja nur einmal geschafft, wie du ja wohl bemerkt hast. Ich frage mich bloß, welchen Fehler ich begonnen habe, dass du ihn wieder gefunden hast..."

Marien sprach fröhlich weiter. Jessica keuchte. Wie konnte sie nur!

Jessica schob sich vom Spind weg und versuchte, vor Marien zu fliehen. Sie schaffte es, auf die Beine zu kommen und ein Stück vor ihr davonzulaufen - aber dann spürte sie einen schmerzhaften Schlag auf ihren Rücken und ging wieder zu Boden.

"Aber aber, wer wird denn hier weglaufen..." Jessica lag am Boden und krümmte sich vor Schmerz. Ihr Blick fiel auf Marien - sie hatte einen Baseballschläger in der Hand.

"Deshalb musste ich ihn leider...aus dem Weg schaffen. Das verstehst du doch, nicht wahr? Du bist mir deswegen doch nicht böse?"

Jessica drehte sich um, richtete sich auf.

Und versetzte Marien einen heftigen Schlag.

Sie war darauf nicht vorbereitet gewesen und wahrscheinlich tat es Jessica mehr weh als Marien, aber es brachte Marien aus dem Gleichgewicht, ließ sie zurücktaumeln und zu Boden sinken.

Jessica drehte sich um und rannte den Gang entlang in die Kantine. Ihr fiel auf, dass sämtliche Schulsachen noch vorhanden waren, nur die Schüler selbst waren verschwunden. Vielleicht waren sie so zu Staub zerfallen wie Berry.

Sie konnte schon von hier aus sehen, dass alle Türen, die aus dem Gebäude herausführten, fest verschlossen waren. Also lief sie durch die Reihe von Tischen zur Treppe. Auf vielen Tischen lagen Hefte mit halb gemachter Hausaufgabe, und auf einem Tisch lag ein Messer.

Während Jessica die Treppe hoch rannte, erhob Marien sich wieder. Sie wischte mit dem Handrücken ein Blutstropfen von ihrem Kinn.

Dann tastete sie nach dem Baseballschläger und stand auf.
 

Jessica war am oberen Ende der Treppe angelangt. Hier war es dunkel, obwohl der Mond direkt über der Glaskuppel hell und riesig leuchtete. Die Türen waren alle verschlossen...nur unter einer schien Licht hervor.

Jessica hörte Marien in die Kantine treten und beeilte sich, zu der Tür zu kommen.

"Jessica, komm doch her...willst du nicht deinen Berry wiedertreffen..?"

Marien sah sie nicht, aber sie würde sie entdecken, wenn sie nach oben sah. Aber wenn Jessica durch die Tür trat, würde Marien sie auch bemerken...

Jessica beschloss, das Risiko einzugehen und rannte zur Tür.

Sie stieß sie auf, ließ sich mit geschlossenen Augen gegen das Innere der Tür sinken und schloss ab. Vielleicht hatte sie mit dem Betreten der Tür einen großen Fehler gemacht...

Als sie die Augen aufschlug, dachte sie zumindest felsenfest daran.

Vor dem Fenster stand Marien.

Auf dem Lehrerpult saß Marien.

Auf den Schultischen saß Marien.

Marien sah ihr mindestens sechszehnmal entgegen. Alle hatten sie dunkle, leere Augen, nicht die roten, pulsierenden von der ersten Marien, sondern absolut dunkle Spiegel der Seele.

Hinter Jessica schlug etwas hart gegen die Tür. Panisch ließ Jessica vor Schreck das Messer fallen und suchte nach einem Stuhl. Auf jedem saß eine Marien.

Sie stieß sie einfach herunter und zog den Stuhl unter die Tür.

In dem Moment wurde die Klinke heruntergedrückt. Hysterisch sprang Jessica zurück und stolperte gegen eine Marien.

Der Stuhl, auf dem sie saß, rutschte unter ihr hinweg und Jessica saß auf kaltem Sand.

Hektisch stand sie auf und versucht, den Sand von sich abzuschütteln, als Marien draußen schon wieder anfing zu sprechen.

"Hey, Jessica...siehst du meine Schwestern da drin sitzen? Es sind alles meine Schwestern. Ich bin der Teufel, also sind sie die Schwestern des Teufels. Sind sie nicht wunderschön? Sieh nur hin, du kannst dich in ihren schönen Augen sogar spiegeln...Doch wenn du sie berührst, werden sie alle zu Staub...das ist der Unterschied zwischen ihnen und mir..."

Jessica wurde von allen Seiten angestarrt. Mariens Schwestern ließen sie nicht aus den Augen. Jessica stand zitternd auf und zog mit einem Ruck den Stuhl unter einer von ihnen weg. Sie zerfiel sofort zu Sand.

Jessica erbleichte.

"Fällt es dir jetzt ein, Jessica? Merkst du es jetzt?"

Jessica fror plötzlich.

"Dein...herzallerliebster Berry...er zerfiel auch zu Sand..."

"Was...hast du getan...?" stammelte Jessica. Sie starrte den Sand vor sich an.

"Was ich gemacht habe? Ich habe gar nichts gemacht...zumindest nichts, was für mich irgendwelche Schäden tragen würde...ich habe einfach nur eine dumme, kleine, unbedeutende Spielfigur beseitigt. Oh...aber dich habe ich ganz vergessen! Aber es macht dir doch bestimmt nichts aus, oder? Ich hätte dich nicht fragen müssen, nicht wahr?..." Marien redete immer weiter und schlug auf die Tür ein.

"Aber Berry war schließlich schon immer mein Bruder. Hat er es dir vorher nicht erzählt? Aber du hättest es doch merken müssen! Als ihr mich gestern aus dem Krankenhaus geholt habt,

[GESTERN?]

was denkst du, wie er die Tür aufgekriegt hat? Oder wie er in das Treppenhaus kam, zu dem du einen Schlüssel brauchtest? Ist dir das nicht aufgefallen? Er hatte eine Schwester...oder soll ich lieber sagen, er hat eine? Wenn meine Schwestern zu Sand zerfallen, warum sollte mein Bruder eine Ausnahme bilden?"

Die kalten Worte Mariens schienen Jessica regelrecht körperlich weh zu tun.

"Hör auf!" schrie sie. "Hör auf damit!"

"Ach, soll ich Lügen erzählen?" fragte Marien ärgerlich.

"Okay, hier eine astreine Lüge: Es war ein mal ein glücklicher junger Mann, der Berry hieß, und der hatte eine hübsche Freundin, die Jessica hieß, und die beiden lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage...willst du das hören? Das wird nie geschehen! Berry ist tot! Was willst du eigentlich noch?"

Jessica hielt den Worten Mariens nicht mehr stand. Es war zu viel für sie. Die höllische Wunde, die Begegnung mit Marien, der Tod Berrys...und jetzt das...sie konnte nicht mehr...

...sie gab auf...

Jessica ließ sich zu Boden sinken, da fiel ihr Blick wieder auf das Messer. Eine blinde, heftige Wut stieg in ihr auf, und sie nahm es und rammte es einer Marien nach der anderen in die Brust.

Jessica verlor die Kontrolle.

Ihr Körper - und ihr Geist - erreichte einen Punkt, den er eigentlich nie erreichen sollte. Er überschritt sein Limit und lebte nur noch für den Augenblick der Rache. Jessica konnte nicht mehr entscheiden, was sie tat oder dachte, sie tat es einfach.

Jessica stieß die Tür auf.

Jeder einzelne Muskel in ihrem Körper war gespannt, ihre Sinne hatten sich verfünffacht -

aber Marien war schneller.

Sie war nicht darauf gefasst, dass die Tür sich öffnete, aber sie hatte blitzschnell reagiert.

Jessica konnte zwar Mariens Schlag etwas abmildern, aber das hatte nur zur Folge, dass sie jetzt auf dem Boden lag.

Und Marien über ihr.

"Hey, das war gut...aber trotzdem nicht gut genug..."

Die Wut schlich sich aus Jessica Körper und wich einer dumpfen, tauben Leere. Sie verzweifelte.

Das kalte Metall des Messers streifte sie. Jessica tastete nach dem Griff - und riss das Messer in hohem Bogen noch einmal auf die andere Seite.

Ein roter Streifen entstand in der Luft. Das ist das Ende, dachte Jessica.

Dann tropfte etwas auf ihren Hals.

Noch mal.

Noch mal.

Wieder.

Jessica öffnete ihre Augen. Marien lag immer noch über ihr; aber sie war erstarrt.

Durch ihre Augen zog sich ein feiner schwarzer Strich. Blut tröpfelte daraus heraus.

Marien starrte Jessica an, doch ihr eigenes Blut verschleierte ihr die Sicht. Sie blinzelte. Das Blut fiel in einem großen Tropfen auf Jessicas Pullover. Mariens Augen füllten sich wieder. Ich habe ihre Augen getroffen, dachte Jessica. Ich habe ihre Augen aufgeschnitten.

Dann stutzte sie. Der Schnitt des Messers zog sich genau durch beide Augen, eine gerade, sehr dünne, aber klare Linie. Doch die Haut um sie herum war nicht verletzt.

Blut.

Jessica zwängte sich unter Marien hervor.

[Du kannst mich nicht töten. Du bist gut und wo es gut gibt, gibt es auch böse. Mich wird es immer geben. Ich werde nie sterben, und wenn doch, dann wird ein anderer meine Stelle einnehmen. Du kannst mich nicht für immer besiegen, aber für einige Zeit. Nur für einige Zeit.

Und du hast es geschafft.

Wie soll ich sagen, ich...bewundere dich.

Du hast dir etwas verdient.]

Jessica schluckte. Wieder diese Stimme. Sie hatte sie gehört, aber niemand hatte es gesagt.

Aus Mariens Augen tropfte immer noch Blut. Doch ihre Augen hatten nicht mehr diese intensive rote Farbe, sondern wurden immer...blasser und farbloser. Leerer. Jessica konnte ihren Blick nicht davon abwenden. Auch wenn es ihr einen kalten Schauer über den Rücken jagte, auch wenn es bei ihr Brechreiz auslöste, auch wenn es ihr die Tränen in die Augen trieb, sie konnte nicht wegsehen. Sie starrte Marien an, bis der letzte Blutstropfen auf den Boden fiel und Marien ebenfalls zu grauem Sand zerfiel.
 

Epilog
 

Jessica verließ langsam das Klassenzimmer. Dann die Schule.

Vor der Eingangstür lief ihr Berry in die Arme.

Jessica war so überglücklich, ihn zu sehen, dass sie erst jetzt den Sinn der Worte verstand, die vorher gesprochen wurden: Du hast dir etwas verdient.

Und als hätte diese Erkenntnis gereicht, ging die Sonne auf, und die ersten Schüler drängten sich durch die Tür, die Jessica und Berry versperrten.

Jessica weinte vor Glück.

Sie sah schrecklich aus, war blutverschmiert und dreckig, mit Sand in den Haaren und Kleidern, aber sie war hier, sie war nicht allein und sie lebte.

Sie weinte.
 

14.04.2001
 

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und jetzt? kommentar?? *anfleh* ;-)

bye-bye, misasan



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Kommentare zu dieser Fanfic (2)

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Von: abgemeldet
2002-09-18T15:43:26+00:00 18.09.2002 17:43
Zum Gruseln gut!

Sammy
Von: abgemeldet
2002-08-27T12:20:03+00:00 27.08.2002 14:20
Hallo ich hab deine Geschichte gelesen.Ich dachte mir nach dem du uns so angefleht hast einen Kommentar zu schreiben, na dann schreib ich dir mal einen. Denn wo ich angefangen hatte meine Geschichte zu Veröffentlichen haben auch nur wenige (eine ^-^ )einen Kommentar geschrieben. Denn Geschichte fand ich richtig gut und dann auch gleich so viel. Ich würde mich freuen wenn es noch weiter geht. Wenn du möchtest lies doch mal meine Geschichte (unter Mauseli). Würd mich sehr darüber freuen. und vergiss nicht einen Kommentar zu schreiben.

mauseli


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