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Drachenseele

Das Herz einer Priesterin
von

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*~Leyndarmál~*

"Das Geheimnis der Macht besteht darin, zu wissen, dass andere noch feiger sind als wir." – Ludwig Börne
 

Kapitel 39 – Leyndarmál

-Geheimnis-
 

*Ist es nicht töricht, als Träger eines Geheimnisses an diesem festzuhalten, wenn man sich dadurch einem stets zunehmenden Druck aussetzt?

Kann eine Information so viel wert sein, dass wir uns ihrer Bewahrung wegen selbst schaden, oder gar unser Leben gefährden?

Doch wo liegt der Sinn und Zweck eines anvertrauten Geheimnisses, wenn man es nicht schweigend in sich ruhen lässt?

Sind Geheimnisse nicht schließlich dafür bestimmt, nicht ans Tageslicht zu gelangen?*
 

ּ›~ • ~‹ּ
 

Abseits der großen Hauptgebäude und Gartenanlagen, fernab von den Quartierstätten der Menschen und Dämonen, saß Flúgar am Rande des Firsts eines kleinen Lagerhauses, teilnahmslos, den Blick stoisch abgewandt, in die Ferne gerichtet. In sich gekehrt, wie in Trance oder Abwesenheit des Geistes, verharrte er ohne jegliche Regung, die hellen Iriden blank wie frisch gefallener Schnee.

Seine rechte Hand ruhte auf der mittlerweile verheilten Wunde an seiner Flanke, die linke umschloss sicheren Griffes Skýdis, die an seinem leicht angewinkelten Bein lehnte.

Doch der Anschein, und jede damit verbundene Annahme, war irreleitend, falsch – besonders Menschen neigten dazu, sich in Fällen wie diesen von ihren Augen betrügen zu lassen, denn mit den Jahrhunderten ihrer Existenz hatte der Großteil von ihnen die Gabe des wahren Sehens eingebüßt.

Flúgar dachte nicht nach.

Sein Verstand war leer, befreit von allen Eindrücken, Erfahrungen und Erinnerungen, und das auf seltsam angenehme Art und Weise; seit langem hatte er das Gefühl, wieder richtig klar im Kopf und im harmonischen Einklang mit seiner Seele zu sein. Gewissermaßen fühlte er nichts, zumindest nichts Irdisches, nichts Menschliches, einfach nichts, das man erklären könnte… so, wie es hätte immer sein sollen, und wie er sich es immer herbeigesehnt hatte.

Dieser Zustand der Einigkeit in sich selbst, der tiefsten inneren Ruhe…

„Broðir…?“

Der Angesprochene gab einen dumpfen Laut von sich, legte den Kopf in den Nacken. Blævar störte, und die Ausgeglichenheit, die ihn erfasst hatte, wich allmählich ernster Verstimmung. Im Moment verlangte es ihm absolut nicht nach Gesellschaft, sondern nach dem Genuss der Einsamkeit, die sein Herz beruhigt und erfüllte.

Der jüngere Loftsdreki räusperte sich leise.

„Faðir wünscht dich zu sprechen, jetzt, auf der Stelle.“

Flúgars Miene verfinsterte sich augenblicklich; sämtliche Muskeln in seinem Körper spannten sich an, seine Züge wurden hart.

Ein Gespräch mit Súnnanvindur war für ihn noch nie sonderlich gut verlaufen, es machte schlichtweg keinen Sinn zu debattieren, ohne zu einer Übereinstimmung, geschweige denn einer Einigung, zu kommen – weder für ihn noch seinen Vater.

Zumeist eskalierte die Konversation ohnehin bereits in ihren Anfängen und fand ihr jähe Beendigung in einer überdeutlichen Machtdemonstration des ClanOberhauptes, die Flúgar regelmäßig einen sichtbaren physischen Beweis für seine rangniedrigere Stellung einbrachten.

Sich dem zu entziehen war – ungelogen - unmöglich, zu seinem persönlichen Leidwesen, denn dumm war Súnnanvindur bei Weitem nicht und der Luftdrache hatte früh realisiert, dass genau diese Eigenschaft das Problem darstellte.

Mit gewissem Unbehagen im Bauch, das von der unheilvollen Vorahnung rührte, heute wieder einmal eine gedenkwürdige Maßregelung zu erfahren, erhob er sich, den etwas hilflosen, mitleidigen Blick seines Bruders meidend. Sie beide waren sich dessen bewusst, was Flúgar erwartete – mit dem feinen Unterschied, dass dem Älteren der Grund für jenen erzwungenen Dialog bestens bekannt war.

Er hätte die Gunst der Stunde nutzen sollen, um diesem überheblichen Bastard von einem Menschen die Gurgel umzudrehen oder ihn aufzuschlitzen, ihn zu verschont zu haben, zeigte nun offen seine Nachteile.

Ob Akaihoshi alles erzählt hatte? Würde er sich selber verraten, damit man seinen Widersacher gebührend bestrafte?

Immerhin war Midoriko dabei nicht von minderer Bedeutung, ihr Beisein und Wichtigkeit zu verschweigen, würde in eine unglaubwürdige Lüge münden. Die unverschämte Dreistigkeit, einem Dämonenfürsten die Wahrheit zu verwehren, besaßen wenige Sterbliche – und wer es wagte, erlebte keine zweite Gelegenheit dazu.

Damit war jedoch leider nicht zu rechnen, so sehr diese Option Flúgar auch zusagte; ging es um schwächliche Menschen, war Súnnanvindur milde gestimmt und nachsichtig, mit Seinesgleichen verfuhr er dagegen beinahe erschreckend strikt, unbarmherzig.

Noch ehe es dem Jungdrachen gelang, das zwiespältige Bildnis seines Vaters vor seinem geistigen Auge zu bannen, stand er vor dem Shouji des Aufenthaltsraumes, in dem sich zurzeit lediglich eine Person aufhielt. Um wen es sich dabei handelte, musste er sich wahrlich nicht fragen. Wie er das doch hasste…

Flúgar unterdrückte einen abgrundtiefen Seufzer, als er eher zögerlich als bestimmt die Hand ausstreckte, lautlos die Schiebetür öffnete und gesenkten Hauptes das in Totenstille versunkene Zimmer betrat.

Bunte Sitzkissen, Schalen mit Süßigkeiten, und Teegeschirr sowie ein kariertes Spielbrett erweckten einen gemütlichen und einladenden Anschein, doch die konträre Atmosphäre, die dort vorherrschte, erinnerte ihn mehr an eine Hinrichtung als an eine geeignete Basis für eine ‚klärende’ Unterhaltung und belehrte ihn eines Besseren.

Dem Geruch nach zu urteilen, hatte er zuvor Besuch gehabt, Inu No Taishou war hier gewesen. Nicht, dass ihn der Hundedämon aus dem Westen großartig interessierte, andernfalls erträglicher als jeder andere Gedanke, der ihm zurzeit durch den Kopf spukte.

Er blickte nicht auf, fixierte anstatt dessen den aus dunklen Holzbohlen gefertigten Boden, während er den Raum durchquerte.

Keine Begrüßung, keine überflüssigen Formalitäten… Súnnanvindurs Laune musste außerordentlich schlecht sein, wenn er die Etikette vernachlässigte. Gute Voraussetzungen nannte man definitiv etwas anderes.

Tonlos kniete er in einigermaßen höflicher Distanz nieder, die Haltung lethargisch, abweisend und unnahbar.

Auf welche Sorte von gewaltlosem Widerstand konnte er schon zurückgreifen, damit es nicht auf eine Provokation hinauslief?

Keine Erfolg versprechende.

„Fleygur, du enttäuschst mich.“

Die Neutralität, die seine Stimme und seine Mimik nachhaltig prägte, mochte Flúgar so ganz und gar nicht gefallen, es würde sich unter Garantie nicht bei einer Strafpredigt behalten, und die Wahrscheinlichkeit, dass er mit einer Verwarnung davonkam, betrug sich verschwindend gering.

„Anscheinend habe ich dich, deine Fähigkeiten, überschätzt.

Deine Abneigung gegenüber Menschen ist niemandem fremd, vor allem mir nicht. Trotz dessen hatte ich dir einen vertretbaren Grad an Selbstbeherrschung zugetraut.“

Er pausierte, atmete hörbar aus.

Schwieg sein Sohn aus Trotz? Wich er ihm deswegen aus und sah ihn nicht an?

Kalt und stur wie eine Felswand, und ein mindestens genauso lebendiger Gesprächspartner… war es seine Schuld?

Was hätte er denn tun sollen? Seinem Sohn weiterhin die Freiheit gestatten, mit den Menschen an diesem Ort zu verfahren, wie es ihm gerade beliebte?

Leben gefährden, oder anderweitig darüber zu verfügen, so etwas rechtfertigte auch ein Herrscherstatus nicht.

„Ungerechtfertigt, wie sich herausgestellt hat.

Ich verantworte jeden Schritt, den du hier tätigst – ein weiterer Zwischenfall und ich liefere dich persönlich bei Blaka ab.“

Drohungen gehörten in der Regel weniger zu den Mitteln, der sich Súnnanvindur zu bedienen pflegte – klare, dennoch niederschmetternd wahrheitsgetreue Worte reichten ihm ansonsten völlig aus; dieser verbissene Ernst bewegte sich weit über der Norm.

„Wir können uns das nicht leisten, Fleygur, unsere Chancen, für beide Parteien nützliche Verbindungen mit dem Tennô zu knüpfen, sind einmalig. Ohne Unterstützung oder Bündnisse sieht es für die Zukunft der Loftsdrekar düster aus. Wir sind zu wenige, um uns behaupten zu können, und das gilt nicht nur für andere Clans, die Menschen werden immer zahlreicher, und sie lernen mit beängstigender Rasanz. Als Feinde sind wir Luftdrachen auf längere Voraussicht dem Untergang geweiht…“

Melancholie, ja, Resignation schwang in seinem Unterton, stetig, schwer. Erdrückend, und das höllische Gewicht dieser Einschätzung belasteten ihn nicht gerade wenig, er litt darunter.

Natürlich, für das Wohl der Loftsdrekar, um des Clans Willen… dem war höchste Priorität beizumessen – dieses Prinzip hatten sie unlängst verinnerlicht. Doch eine noble Absicht bewirkte nicht notwendigerweise das, was man anstrebte, und eine Allianz, die von Vornherein auf Lügen basierte und sich bald darauf stützte, würde sie keineswegs retten. Nein, genau das bedeutete früher oder später ihr eigens arrangiertes Verderben.

„Der Tennô ermöglicht uns-“

Flúgar biss sich auf die Unterlippe, presste ein unmissverständliches „Nein“ hervor.

Midoriko…

Der Ausdruck des Drachenoberhauptes gefror förmlich, seine Augen verengten sich gefährlich langsam zu schmalen Schlitzen.

Metaphorisch betrachtet waren die Risse in dem hauchdünnen Eis unter Flúgars Füßen zu gravierend, um ihn noch tragen zu können – das war der Gipfel der Respektlosigkeit, den er sich jemals in Gegenwart seines Vaters erlaubt hatte.

„Was meinst du mit ‚nein’?“

Noch wahrte sein Gegenüber die Geduld, noch.

Erlosch der Funke Neugier, der ihn in Sicherheit wähnte, war Schluss, dann würde ihm keine glückliche Fügung des Schicksals vor Súnnanvindurs Zorn schützen können.

Unwillentlich gruben sich seine Klauen in den Stoff seines Hakama.

Warum bereitete es ihm solch enorme Schwierigkeiten, sein Wissen zu formulieren und auszusprechen?

Vermutlich, weil es die Hoffnung seines Vaters für den Fortbestand des Clans zerschlagen und als Illusion enttarnen würde…

„Die Intentionen dieses Menschen… es ist alles gelogen. Ein Bund mit ihm besiegelt unser Tod, beginnend mit Inu No Taishou und Euch, Faðir.“

Ein Schatten von Unverständnis und Verwirrung zog über das Gesicht des älteren Luftdrachen, dann wurden seine Züge urplötzlich finster wie die Nacht des Neumondes. Was bildete sich dieses Kind ein? War sein Hass auf die Menschheit derart aus den Fugen geraten?

Er hätte es bemerken müssen…

„Wieso tust du das?“

Um ihn vor einer schwerwiegenden Fehlentscheidung zu bewahren, die nicht nur ihm erheblichen schaden würde… auf einmal begriff er, warum und zu welchem Zweck er so agierte.

Aber… obschon ihm seine Beweggründe einsichtig erschienen und offen vor ihm lagen, konnte er es nicht aussprechen.

„Weil ich es weiß.“

Blanke Wut verklärte die türkisfarbenen Augen, hüllte den Verstand des Drachen in einen undurchsichtigen Nebelschleier, der ihm das Urteilsvermögen und die Besonnenheit raubte, ihm die Kontrolle entriss.

Es war genug…

„Woher? Wer erzählt dir diesen Unsinn?!“

Bevor Flúgar auch nur zur geringsten Reaktion fähig war, schnitt es ihm gewaltsam die Luft ab, sodass sich kein Laut von seinen Lippen lösen mochte, als er den Mund öffnete.

Grob und rücksichtslos zwang ihn Súnnanvindurs harte Handhabe zum Aufsehen, die krallengleichen Nägel bohrten sich tiefer in die empfindliche Haut seines Halses.

„Sieh mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede und antworte mir!“

Gefügig hob er mühsam die Lider, begegnete dem erbosten, kalten Blick seines Vaters, dessen aufgebrachter Atem in unregelmäßigen Böen seine Wange streifte.

Der immense Druck auf seine Kehle trieb ihm Schwindel in den Kopf, die Tränen in die Augenwinkel und der Schmerz in seiner Brust wurde unerträglich, doch er wehrte sich nicht, rührte keinen Muskel. Wenngleich ihm mehr als unwohl dabei war, er dem warnenden Ruf seines Instinktes nachfolgen und fliehen wollte, ignorierte sein Körper geflissentlich seine Anweisungen. Dieses Gefühl der Hilflosigkeit und… ja, und was? Verspürte er daneben Furcht?

So hatte er seinen Vater noch nie erlebt…

Wenn er Pech hatte, würde er ihn in seinem besinnungslosen Zustand jenseits der Vernunft in den nächsten Momenten töten.

Es tat weh, physisch wie psychisch – warum?

Der endlosen Schwärze der Bewusstlosigkeit nahe, schloss Flúgar die Augen und eine einzelne Träne bahnte sich ihren Weg über seine rechte Wange, tropfte auf den Arm des Drachenfürsten.

Erschrocken fuhr dieser zusammen, lockerte seinen Griff und zog beschämt die Hand zurück. Was hatte er nur getan…?

Derweil brach sein Sohn hustend vor ihm auf dem Boden zusammen.

„Geh.“

Súnnanvindur zitterte.

Sein kraftloser Befehl war kaum mehr als ein Wispern.

Noch lange nachdem Flúgar den Raum verlassen hatte, saß er dort, alleine, regungslos.

Verzeih mir…
 

Der Mantel der Dämmerung breitete sich bereits über die Idylle des großen, zentral gelegenen Hofgartens, der von einer Ringmauer umgeben, abgegrenzt von allen störenden Einflüssen und Aktivitäten lag, als Midoriko – erfrischt und endlich wieder in ihre bevorzugten Priesterroben gekleidet – eben diesen Ort erreichte, ein stummes Lächeln der Zufriedenheit auf den Lippen, während sie durch die farbenfrohe und artenreiche Vielfalt der von Menschenhand angelegten Natur spazierte.

Viele der Pflanzen, die hier wuchsen, waren ihr fremd und bei einigen Zierbäumen und Sträuchern rätselte sie, ob es sich einheimische Gewächse oder Importe aus fernen Ländern handelte.

Die Ruhe, die Entspannung genießend, die sie mit der lauen Brise und dem Rauschen der Wellen überkam, schaute die junge Miko zum ungetrübten Firmament auf, an dem die letzten lichten Streifen als vergängliche Zeugen des Tages nach und nach verblassten. Sicherlich würde die Nacht wunderschön werden, klar und hell erleuchtet von Mond und Sternen, jedoch ebenso kühl und windig.

Ob es sich lohnte, zu bleiben und auf den Einbruch der Dunkelheit zu warten, um den mit unzähligen, winzigen Lichtern bestickten Himmel zu bewundern?

Kaneko hielt inne, hob die Nase und witterte sorgfältig in der frischen Abendluft. Da sie ein Dämon des Feuers war, erkannte sie die Bedeutung der Botschaft, die der Wind, der aus der Richtung des Meeres wehte, mit sich trug. Irgendetwas bahnte sich an, und diese Ansage bezog sich nicht allein auf den entfernten Vulkan, der bald ausbrechen würde… nein, dahinter steckte mehr.

Auch Midoriko schien dies nicht zu entgehen, denn ihre Haltung straffte sich merklich, als sie den Kopf zum Horizont wandte. Ein besorgniserregendes Gefühl beschlich sie, vage, aber eindringlich; was geschah dort nur? Oder war das lediglich der Beginn, gewissermaßen der Auftakt zu einer umfangreicheren Angelegenheit…?

Beunruhigt warf sie dem Nekoyoukai, dessen Nackenhaare sich unter der Anspannung sträubten, einen kurzen Seitenblick zu. Einbildung war es nicht, soviel konnte sie mit Sicherheit feststellen, alles Weitere verbarg sich hinter einer undurchdringlichen Maske, die herrenlos durch die Finsternis wandelte.

Doch da war noch etwas…

Wesentlich näher, stärker und bedrohlicher in seiner Präsenz, dass Midoriko ein kalter Schauer den Rücken hinab rann. Diese Kälte, die sie mit einem Mal umfing… war das das Youki eines Dämons?

Alarmiert fuhr sie herum, folgte eiligen Schrittes dem schmalen Pfad, der in die hinteren Teilbereiche der Gartenanlage führte. Kaneko heftete sich unverzüglich an ihre Fersen; es gab eine Verbindung zwischen alledem, ohne Zweifel…

Erst, als sie vollkommen außer Atem war und die Schmerzen in ihren Lungenflügeln und Beinen unerträglich wurden, wurde ihr bewusst, dass sie die ganze Strecke bis zu diesem Punkt in einem infernalischen Tempo zurückgelegt hatte. Vor Anstrengung keuchend verlangsamte sie ihre Bewegungen und bog um die nächste Kurve, stoppte abrupt, als sie den mannshohen Holunderbusch zu ihrer Linken passiert hatte und ihr Sichtfeld frei von – ihrer Meinung nach - überpflegter Vegetation war.

Inu No Taishou…?

Unweit eines mit Seerosen bedeckten Teiches saß der Hundedämon im Gras, die Augen geschlossen, seinem Ausdruck nach zu urteilen in tiefste Konzentration versunken. Schwarze Schatten verdunkelten sein Gesicht, seine Körperspannung verriet Missbehagen und Unstimmigkeit.

Quer über dem Schoß lag sein Schwert, das er an Griff und Scheide krampfhaft, mit aller ihm verfügbaren Macht, umfasste, sodass die Knöchel seiner Finger weiß hervortraten.

Mächtige dämonische Energien wogen sich gegeneinander auf, fochten im Stillen unerbittlich einen Kampf um des uneingeschränkten Sieges Willen, um den Gewinn der Oberhand, aus – ohne einen zu ergründenden Sinn. Allerdings war es nicht unbedingt das, was sie zunehmend stutzig werden ließ. Wie konnte es sein, dass ein Schwert eine solch gewaltige und zugleich korrumpierte Kraft ausstrahlte?

Irgendetwas stimmte nicht, das war mehr als nur ungewöhnlich.

Dummer Hund… denkst du, ich gebe so leicht auf? Nein, heute nicht, ich habe viel zu lange geschwiegen.

Verunsichert wich Midoriko zurück, Beklemmung schnürte ihr die Brust zusammen, ihr Herz schlug schneller. Eine Stimme?

Ausgeschlossen, außer Inu No Taishou, seinem Sohn, der die Begebenheiten aus einiger Entfernung beobachtete, und ihr war niemand in der Nähe. Oder…?

Moment, bedeutete das etwa, das Schwert… konnte sprechen?! Wie war das möglich…?

Violetter Dunst waberte um das runde, kristallähnliche Endstück der Tsuka wie Unheil verkündende Gewitterwolken, die schier unbeteiligt über dem Geschehen kreisten, erleuchtet durch das Glühen eines unabwendbaren Schicksals.

Sieh an, eine Priesterin… einst befreite mich eine deinesgleichen aus den Niederungen der Hölle und brachte mich hierher. Offenbar ist das Glück mir hold, deine reine Gegenwart schwächt den dämmenden Einfluss des Köters auf mich beträchtlich…

Ihr war, als würde sich vor ihrem Geist das Abbild einer Seele formen, deren grausames Gelächter ihr wie ein unangenehmer Impuls durch Mark und Knochen fuhr. Viel verriet ihr die durchscheinende Silhouette mit den kontrastlosen Konturen nicht, dennoch war es ausreichend um festzustellen, dass jenes gestaltlose Phantom eine umfassende Bedrohung beschrieb und gegen die Entfesselung dieser Gefahr musste sie etwas unternehmen, gleichgültig wie.

Instinktiv lief sie los, in ihren Augen spiegelte sich nichts als pure Entschlossenheit, geradewegs auf den nun offensichtlich in Bedrängnis geratenen Hundeyoukai zu und kniete vor ihm ab. Schweiß perlte ihm von der Stirn und das Zähneknirschen, das von ihm zu vernehmen war, bezeugte die Ausweglosigkeit der Situation, in der er sich befand.

Für lange Überlegungen verblieb keine Zeit, also legte sie kurzum die Hände ebenfalls auf den Schaft des Schwertes, den steten Fluss ihrer Mikokräfte gebündelt, entgegen der maliziösen Aura gerichtet. Wenn sie diese läuterte, wäre das Risiko auf ewig gebannt, unfähig, jemals wieder einem Unschuldigen zu schaden. Jedoch… die Gegenwehr, die sie dann erfuhr, war beängstigend heftig, drängte sie binnen weniger Augenblicke in den Engpass zur Niederlage.

Soviel elender Stumpfsinn auf einem Fleck… wie wollt ihr beide gegen mich, Sou’unga, bestehen? Eure Fertigkeiten heben einander auf, ihr macht es mir einfach.

Inu No Taishous gedankliches Knurren wechselte in ein dumpfes Grollen über, die Geduld der Menschenfrau war an ihrem Ende angelangt, ihre Bemühungen wurden offensiv. Um keinen Preis der Welt würde sie erlauben, dass dieses Schwert ungehindert seine Willkür entfalten könnte…

Ihrem Gespür vertrauend überantwortete sie sich diesem bedingungslos, präzisierte die Wahrnehmung ihrer Sinne.

Dieses Geräusch… das Meer?

Nein, ein grenzenloser Ozean in Schwarz…

Grelle Lichtblitze durchzuckten den Wirbel aus schwarzen Wogen, die aufeinander prallten, sich schäumend brachen und zu einem Strudel vereinigten, Funken stoben, als sich ein heller Schemen, der wie aus dem Nichts auftauchte, lautstark dazwischen schob.

Schlangengleich wand sich das Band der Helligkeit um die wettstreitenden Dämonenenergien, mit der Absicht sie wie ein Beutetier zu ersticken und anschließend zu vertilgen, umschlang den Orkan der tobenden Gewalten immer fester und verdichtete ihn bis zum äußersten Anschlag.

Entladungen elektrischer Stöße manifestierten sich knisternd, aufleuchtend an den Grenzbereichen der unterschiedlich gepolten Auren, erreichten alsbald ihre Kapazitäten, die finale Kollision.

Inmitten der stürmischen Auseinandersetzung und Youkispiralen schimmerten die Umrisse eines gleißenden Kreuzes…

Das Dröhnen der unvermeidlichen Explosion verhallte bald, danach ward Stille, die See zeigte sich spiegelglatt, jedoch in der Tiefe lauerte weiterhin die schattenhafte Bestie ohne materielle Gestalt…

Zwecklos…

Midoriko erschrak zutiefst, als sie der Wirkungslosigkeit ihrer beachtenswerten Fähigkeit gewiss wurde; es funktionierte nicht, ihr Läuterungsversuch war kläglich gescheitert.

„Eine Drachenseele…“

Fassungslos betrachtete sie die nun wieder gänzlich leblos wirkende Hiebwaffe. Unglaublich…

„Seit wann…?“

Herausgerissen aus ihrer Zerrüttung fuhr die Angesprochene zusammen, setzte sich ein Stück zurück und neigte den Kopf hastig zu einer angemessenen, höflichen Begrüßung.

„Entschuldigt bitte meine taktlose Störung, Inu No Taishou. Es war nicht in Ordnung, mich ungefragt einzumischen…“

Der weißhaarige Youkai schüttelte betont den Kopf, bedachte das Schwert mit einem abwesenden Blick, ehe er sich wieder ihr zuwendete.

„Ich weiß zwar nicht, was du getan hast, aber ich muss mich dafür bedanken. Könnte Sou’unga mich überwältigen, käme das einer Katastrophe gleich…“

Mit leicht geröteten Wangen erwiderte sie die Verbeugung, strich sich durch das lange Haar. Nach einem Fixpunkt suchend, traf ihr Blick auf Sesshoumaru, der mit einem viel sagenden, ja sadistischen Funkeln in den bernsteinfarbenen Augen seine Beute prüfend abschätzte. Dem Frosch hingegen, der vergeblich an seinem linken Beinchen zerrte, um dieses aus der Hand des jungen Hundes zu befreien, war die Panik auf die Stirn geschrieben; das arme gelbäugige Tier mit dem grünbraunen Rumpf strampelte um sein Leben, was seinem Bebachter ungemeine Freude bereitete.

Dubios, was einem Dämon ein solch königliches Vergnügen bescherte, sogar ein verzerrtes Lächeln abrang, wo durchweg nur Gleichgültigkeit regierte…

„Oi, Midoriko.“

Die zaghafte Berührung an der Schulter weckte sie aus ihrer Starre absurder Faszination an der Grausamkeit des Dämonenkindes, brachte sie wiederholt in Verlegenheit.

„Ihr braucht mir nicht zu danken, ich habe den Geist des Schwertes unglücklicher Weise nicht läutern können. Tut mir leid.“

Er seufzte, schenkte ihr ein erschöpftes Lächeln.

„Sou’ungas Boshaftigkeit und Allmacht aus der Hölle, die über Jahrhunderte genährt wurde, bin selbst ich kaum gewachsen, und meine Suche nach einem Weg, es dauerhaft ruhig zu stellen, ist bis jetzt nicht von Erfolg gekrönt gewesen. Dieses Schwert birgt nur Unglück und seine Besitzer scheinen dem Tode geweiht…“

Nachdenklich tippte sie sich ans Kinn.

„Also etwas, wie ein allgegenwärtiges Gegengewicht…?“

Ein heiliges Pendant, das die Bösartigkeit des Schwertes zu kompensieren vermochte? Wieso eigentlich nicht?

Als hätte er ihre Überlegungen verfolgt, verneinte er sofort mit einem klaren Abwinken.

„Eine weitere, fremde Macht von dieser Dimension würde das Desaster komplettieren. Das ist eine Bürde, die niemand tragen könnte, es wäre unverantwortlich.

Zumindest habe ich die Gewissheit, dass, solange ich lebe, ich Sou’unga unter strengstem Verschluss halten werde.“

Aus ihm referierte das Herz eines wahren Kriegers, der ihrer Vorstellung aus Kindheitstagen an ihren Vater entsprach, die bis jetzt in ihrem Verstand gefestigt hatte.

Chichi-ue…

Verbunden damit meldete sich ihr Gedächtnis, zahlreiche Gedanken an den Verlauf des Tages schwirrten ihr durch den Kopf.

Richtig! Fast hätte sie es vergessen.

„Anou… ich möchte nicht unverschämt erscheinen, und ich weiß, dass mich Eure Angelegenheiten nichts angehen, aber habt Ihr Euch heute Nachmittag mit Flúgar oder seinem verehrten Herrn Vater unterhalten? Über ein etwas, nun ja, heikleres Thema?“

Der Hundedämon runzelte die Stirn, fixierte jedoch unentwegt Sou’unga mit einem kritischen Blick, die Züge angespannt, undefinierbar.

„Ich verstehe nicht, worauf du hinaus willst.“

Demnach nicht…

Hatte sie sich eventuell zu kompliziert oder umständlich ausgedrückt?

Midoriko murmelte einen unverständlichen Fluch, drängte die in ihr hochsteigende Verärgerung zurück, denn es konnte unter Umständen eine evidente Erklärung dafür geben. Und dafür musste sie wohl oder übel direkt an der Quelle, bei Flúgar, nach Informationen erkundigen.

Dieser Idiot forderte es geradezu heraus!

Übermäßig Eindruck hatte ihre Aussage und Warnung bei ihm nicht geschunden, und offensichtlich wurde er nur annähernd vernünftig, wenn sein Leben akut bedroht war. Mit einem wachen Sinn – insbesondere, was den Gebrauch seines Gehirns betraf – war er wahrlich nicht gesegnet.

Allerdings half Nichtstun kein Stückchen weiter; und ohnehin hätte sie ihre Anwesenheit als überflüssig bezeichnet, denn Inu No Taishou war mit sich selbst, mit Sou’unga, beschäftigt, beachtete sie nicht weiter, und auch Sesshoumaru frönte ihrer ungeachtet seiner diabolischen Obsession.

Sie deutete eine Verbeugung zum Abschied an und erhob sich, wählte denselben Weg, der sie vorhin hierher geführt hatte, zurück zu den beiden sich gegenüberliegenden Quartiergebäuden.

Konnte sie es wagen, sich heimlich in das der Loftsdrekar zu schleichen um nach Flúgar zu suchen?

Nein, da bedurfte es keiner langen Überlegungsphase, das Risiko auf frischer Tat ertappt zu werden war schlichtweg zu hoch und nicht als Appell an ihr Geschick zu interpretieren.

Über eine clevere Strategie grübelnd, passierte sie die Steinpfeiler der Gartenmauer, die die parkähnliche Außenanlage mit einer offenen, weitläufigen Pforte als Zugang abschlossen; als sie diesen bereits halbwegs durchquert hatte, blieb ihr vor lauter Schreck um ein Haar das Herz stehen. An der äußeren Seite der Säule, dort stand jemand, verborgen in den nächtlichen Halbschatten, den Rücken an die glatte Granitfläche gelehnt, die Arme vor der Brust verschränkt.

„Wer…?“

Unter den Stiefelsohlen des Namenlosen knirschten einige Steinchen, als er sein Gewicht verlagerte und sich gemächlich von ihr entfernte.

„Halte dich in Zukunft fern von meinem Bruder. Du bringst nur Ärger.“

Wie bitte?

Midoriko war sprachlos, benötigte die Zeit mehrerer Wimpernschläge, um sich wieder zu fangen.

„Wer bist du? Und was bitte soll das hier?“

Der Widerhall seiner Schritte war kaum mehr zu vernehmen.

„Ich warne dich, lass Flúgar zufrieden.

Du magst eine Frau sein, aber du bist nur ein Mensch. Mach dir keine falschen Hoffnungen, du hast keine Chance, du wirst nicht lange genug leben, um etwas zu erreichen.

Außerdem ist Flúgar seit jüngster Kindheit versprochen.“
 

ּ›~ • ~‹ּ
 

***>>>Kapitel 40:

>“Das Geflecht längst gesponnener Intrigen schimmert den vermeintlichen Opfern im schwindenden Licht der Sonne verräterisch entgegen, während diejenigen, die einen bedeutenden Part übernehmen sollen, das erste Mal aufeinander treffen und im Angesicht des unendlich wirkenden Ozeans zu ihrer Mission aufbrechen…“

Inbou



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Kommentare zu diesem Kapitel (5)

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Von:  Mondvogel
2007-08-07T13:47:59+00:00 07.08.2007 15:47
Boah... Da knallst du zum Schluss so einen Satz hin und zack ist das Kapitel schon fertig. Mensch, bin ich froh, dass ich gleich weiterlesen kann!

Es gefällt mir immer wahnsinnig gut wie du die Beziehungen zwischen den einzelnen Figuren darstellst und verdeutlichst. Wie z.B bei Flúgar und seinem Vater. Das Verhältnis der beiden ist ja mehr als schlecht. Mir kommt es allerdings so vor, als ob dem Vater dennoch etwas an Flúgar liegt. Immerhin hat es ihm hinterher Leid getan was er gemacht hat.
Aber warum verstehen sich die beiden so schlecht? Und warum flippt der Vater bei Flúgars Informationen derart aus? Da steckt sicher noch was dahinter.

Was mich in diesem Kapitel sehr erschreckt hat, war das Verhalten Sesshomarus. Er spielt da mit diesem armen Frosch herum. Das arme Tier. Schon als Kind war Sesshomaru nicht gerade ein lieber Kerl...


Von:  Lizard
2007-06-07T18:47:29+00:00 07.06.2007 20:47
Ein bisschen bringen mich immer die vielen unterschiedlichen Namen durcheinander, aber du kriegst es gut, dass man schnell wieder weiß, um wen es geht. Und ich finde die Namen alle so schön klingend und faszinierend, also will ich auf keinen Fall darüber meckern. Wollt's nur anmerken, dass du beim Schreiben weiter drauf achtest keine Verwirrung zu stiften.

Was den Inhalt angeht: gefiel sehr. Liegt vielleicht auch daran, dass ich schon immer eine Schwäche für dramatische Vater-Sohn-Geschichten hatte. Außerdem ist so was ja eine durchaus typische Konfliktentwicklung in einer Familie. Trotzdem hoffe ich natürlich, dass alles nicht zu schlimm wird.
Die Szene mit dem Inu no Taishou, Midoriko und Souunga schlug einen schönen Bogen zu deiner Souunga-Kurzgeschichte. Außerdem passt das mit der Drachenseele ja auch perfekt in die Story und zu Souunga selbst auch (ich weiß nicht genau, was Gokuryuuha heißt, aber das hatte doch was mit 'Höllendrache' zu tun, oder?)
Tja hmm, und was die kleinen sadistischen Anfälle eines gewissen kleinen Dämons angeht... passt ja hervorragend zu seiner späteren Beziehung zu einem bedauernswerten Kröterich... Und das heiterte die sonst sehr ernste Szene zudem angenehm auf.

Es geht spannend weiter...
Von:  Carcajou
2007-06-05T17:46:46+00:00 05.06.2007 19:46
Oh, Mann...
Flugar und sein Vater, das ist traurig- und man kann es sich so gut vorstellen.
dieses Gefühl der Hilflosigkeit gegenüber dem übermächtigen Elternteil, mit dem man sich eh schon nicht sonderlich gut versteht, diese absolute unmöglichkeit, miteinander auf einer Ebene zu reden, WIRKLICH zu reden, sich aus zu tauschen...
Eltern und Kinder.
*Seufz*
Neee, wieder mal toll geschrieben.
Die Düsteren Vorahnungen, die sich mir schon seit den letzten Kapiteln aufdrängen, haben nochmal kräftig Rückenwind bekommen.
Puh.

Sesshoumaru und der Frosch, irgendwie morbide faszinierend, wie gerade dieser Youkai an so was Freude hat, obwohl er sich da von so manchem menschlichen Kind nicht unbedingt unterscheidet.
Und von manchen menschlichen Erwachsenen auch nicht!

Hat mich im übrigen gefreut, das es mit diesem Kapitel so schnell ging.
Habe mir auch vorgenommen, die Autoren nicht mehr so zu nerven*gg*
Merke gerade selbst, wie langsam sich das Eichhörnchen nährt...

liebe Grüße, Carcajou
Von: abgemeldet
2007-06-04T20:00:36+00:00 04.06.2007 22:00
wWw die Lage bei Flugar und seinem Vater hat sie ja ziemlich zu gespitzt.......ob das noch ein gutes Ende hat......?


Die Szene mit Sesshomaru und dem Frosch fand ich sehr witzig. g***



24
Von:  Hotepneith
2007-06-04T08:42:56+00:00 04.06.2007 10:42
Flugars Verhältnis zu seinem Vater ist nicht gerade das Beste....aber ob dieser dennoch einmal darüber nachdenkt, was sein Sohn gesagt hat?
Aber So´unga und eine Drachenseele? Interessante Theorie.

Insgesamt läuft das auf eine Kathastrophe hinaus....*seufz* Ich hoffe gegen besseres Wissen ja immer noch.

bye

hotep

Irgendwie hoffe ich


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