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Katzenjammer

von

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Lektion 9 - Hör auf deine freunde, nicht auf deinen Stolz.

„Er ist so komisch geworden, findest du nicht auch?“

 

„Definiere komisch.“

 

„Na ja, komisch eben.“

 

„Also ehrlich, wenn nicht mal du weißt, was du damit meinst, wie soll ich dir dann sagen, ob ich das genauso empfinde?“

 

„Mensch, Shinya, mach es mir nicht so schwer. Es kann doch nicht nur mir aufgefallen sein, dass er sich verändert hat, seit er von seinen Eltern zurückgekommen ist? Anfangs dachte ich noch, es läge nur daran, dass er keine so gute Zeit dort hatte und froh war, wieder hier zu sein, aber wir sind jetzt schon seit Wochen auf Tour und er verhält sich noch immer so untypisch.“

 

„Ich finde ja, er verhält sich endlich wieder wie ein Mensch und nicht wie ein Roboter. Meinetwegen kann das gern so bleiben. Es ist durchaus sehr angenehm, wenn er sich nicht nur um die Arbeit kümmert.“

 

„Das stimmt schon, irgendwie, und es ist auch nicht so, dass ich mich beschweren will, aber … Ach, keine Ahnung.“

 

„Mh, wenn ich genauer darüber nachdenke, ist sein Verhalten schon anders als sonst. Gestern erst hat er bemerkt, dass mein Vorrat an Tee zur Neige geht und sich gleich darum gekümmert, dass jemand vom Staff Neuen besorgt. Das war tatsächlich untypisch für ihn. Normalerweise hat er während einer Tour andere Prioritäten und ist weitaus weniger aufmerksam, was solche unbedeutenden Kleinigkeiten angeht.“

 

„Siehst du, sag ich doch.“

 

„Aber musst du deshalb so ein Gesicht machen? Du tust gerade so, als hätte er sich zum Negativen verändert.“

 

„Was? Nein, so meine ich das überhaupt nicht. Es sind nur viele kleine Dinge, die er plötzlich ganz anders macht als sonst, und ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll.“

 

„Gib mir ein Beispiel.“

 

Die seufzte und fuhr sich durch sein schulterlanges Haar. Die feuerroten Strähnen waren größtenteils einem natürlichen Schwarz gewichen und blitzten nur noch hier und da durch. Kaoru bedauerte diese Veränderung ein wenig, obwohl er zugeben musste, dass auch die neuen Haare seinem Freund überaus gut standen. Generell hatte er seit Beginn der Tour feststellen müssen, dass er Die intensiver musterte als früher und durchaus Gefallen an dem fand, was er zu Gesicht bekam.

Kaoru ahnte, was diese Entwicklung zu bedeuten hatte, hatte sich jedoch noch nicht die Zeit genommen, seine Gefühle genauer zu analysieren. Ob das feige von ihm war? Vielleicht, aber gerade war Dies Gespräch mit Shinya, das er so ungeniert belauschte, ohnehin viel wichtiger.

 

Er hätte nicht gedacht, dass sein Verhalten seinem Freund so aufs Gemüt schlug und das, wo er alles daransetzte, die Kluft zwischen ihnen, für die niemand anderer als er selbst verantwortlich war, wieder zu kitten. Und ganz ehrlich? Wer konnte ihm das verübeln? Als Kater hatte er nahezu jeden Augenblick mit Die verbracht, hatte mit ihm im selben Bett geschlafen und als lebendiges Kuscheltier hergehalten, wenn der andere sich nicht gut gefühlt hatte. Das konnte er nicht vergessen oder so tun, als wäre es nie passiert, auch wenn er nun wieder ein Mensch war. Er vermisste Die, obwohl sie auf Tour mehr Zeit als sonst in unmittelbarer räumlicher Nähe zueinander verbrachten. Doch je mehr er versuchte, die emotionale Distanz zwischen ihnen, die er kaum noch ertrug, zu überbrücken, desto irritierter schien sein Freund zu werden. Es war zum Haareraufen. Beinahe hätte Kaoru genau dies nun getan, hätte Die nicht in diesem Moment erneut zu reden begonnen.

 

„Ein Beispiel? Ich kann dir gleich mehrere geben. Er ist untypisch aufmerksam, sucht aktiv Kontakt, wo er sonst lieber für sich ist. Plötzlich ist er kein Workaholic mehr, sondern erinnert uns ständig daran, auch Pausen zu machen und verteilt Lob für Sachen, die ihm früher nie aufgefallen wären. Aber das Schärfste ist ja, dass er sich kurz vor der Tour noch einen Kater aus dem Tierheim geholt hat. Wusstest du das schon?“

 

„Hat er?“ Shinya runzelte die Stirn. „Ich hätte nicht gedacht, dass er sich zeitlich so an ein anderes Wesen binden würde.“

 

„Eben, meine Rede. Aber er tut alles für diesen Kater. Kannst du dir vorstellen, dass er ihn sogar mit in den Supermarkt genommen hat, um, und ich zitiere, ihn selbst sein Lieblingstrockenfutter heraussuchen zu lassen? Bei jedem anderen hätte ich das lustig gefunden, aber wir reden hier von Kaoru, der tut so etwas Irrationales nicht.“

 

Kaoru ging tiefer hinter den beiden Transportkisten aus Metall in Deckung, als Shinya mit nachdenklicher Miene in seine Richtung sah. Er konnte ohnehin von Glück reden, dass es backstage noch so ruhig und er bislang unentdeckt geblieben war. Toshiya hatte sich abgemeldet, um sich etwas die Gegend anzusehen, und Kyo war irgendwo in den verwinkelten Gängen verschollen. So wie er den Sänger kannte, hatte der sich ein ruhiges Plätzchen gesucht, um entweder etwas Schlaf nachzuholen oder sich mental auf die bevorstehende Show vorzubereiten.

 

„Okay, das ist selbst für unseren Leader sehr exzentrisch.“

 

Unwillkürlich rieb sich besagter Leader über den Hinterkopf, als würde es hier jemanden geben, der seine Verlegenheit bemerken konnte. Tat es zum Glück nicht, aber in Retrospektive musste er zugeben, dass die Aktion, Red in den Supermarkt mitzunehmen, nicht gerade eine Glanzleistung seinerseits gewesen war. Der arme Kater war mit den neuen Gerüchen und Geräuschen heillos überfordert gewesen und Kaoru hatte nicht bedacht, dass jedes einzelne Päckchen Trockenfutter aromaversiegelt verpackt sein musste. Red hatte somit keine Chance gehabt, sein Lieblingsfutter zu erschnuppern. Am Ende war ihnen nichts anderes übrig geblieben, als jede Sorte zu kaufen, die die gut bestückte Tierfachhandlung vorrätig hatte, und so lagerte in Kaorus zweitem Schlafzimmer, das er ohnehin nie benutzte, nun ein Futtervorrat, der ihnen die nächsten fünf Jahre reichen würde. Vorausgesetzt, Red verschmähte nicht alles, aber bislang hatte sich der Kater eher als wahre Fressmaschine gezeigt.

 

„Es ist so hart, damit umzugehen und mich gleichzeitig nicht zu verraten.“

 

„Ach Die …“ Shinya tätschelte seinem Gegenüber die Schulter und Kaoru bemerkte viel zu spät, dass er so in seinen Gedanken an seinen felinen Mitbewohner vertieft gewesen war, dass er einen essenziellen Teil der Unterhaltung nicht mitbekommen hatte.

„Jetzt verstehe ich, warum dich das alles so mitnimmt, aber vielleicht ist das deine Chance, endlich etwas zu ändern.“

 

Die schaute mehr als skeptisch und Kaoru knirschte mit den Zähnen – verflucht, er hatte auch wissen wollen, was seinen Freund so belastete. Nur deshalb lauerte er hier wie ein Schwerverbrecher in den Schatten und gerade, wo es interessant wurde, musste sein dummes Gehirn abdriften. Das war doch zum Mäusemelken.

 

„Als hätte ich nicht längst mein Glück versucht, stünde nicht so viel auf dem Spiel. Ich bin kein Masochist, Shin.“

 

„Das weiß ich, aber du hast auch die Tendenz, vorschnell das Handtuch zu werfen.“

 

„Leugnen ist zwecklos, was?“

 

„Absolut.“

 

„Na, schönen Dank auch.“ Die ließ kurz die Schultern hängen, atmete tief durch und richtete sich wieder zu seiner vollen Größe auf. „Aber mal im Ernst, danke fürs Zuhören. Es hat gut getan, mit jemandem darüber reden zu können.“

 

„Predige ich dir nicht schon seit Jahren, dass du nicht immer alles in dich hineinfressen sollst?“

 

„Ja, das tust du.“ Die lachte und fuhr sich auf diese leicht beschämte Art und Weise durchs Haar, die Kaorus Magen jedes Mal aufs Neue in Aufruhr versetzte.

„Wird es dir nicht langweilig, immer recht zu haben?“

 

„Nein, wird es nicht.“ Shinya lächelte und sagte noch irgendetwas, was Kaoru jedoch nicht mitbekam, weil hinter ihm plötzlich Schritte erklangen. Ertappt zuckte er zusammen und ließ den Hotelschlüssel, den er bereits die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte, hinter die Kisten fallen. Ging doch nichts darüber, vorbereitet zu sein. So kniete er keinen Herzschlag später vor dem schmalen Spalt zwischen Kisten und Wand und tat so, als würde er schon eine ganze Weile versuchen, seinen Schlüssel wieder an sich zu bringen.

 

„Ein interessantes Plätzchen hast du dir da ausgesucht.“

Schwarze Gucci Loafer traten in sein Blickfeld, als er den Kopf zur Seite drehte. Wie nicht anders zu erwarten, bestätigte ein Blick nach oben, dass sie zu niemand anderem als ihrem Sänger gehörten. Innerlich fuhr Kaoru erneut zusammen, als ihn das dumme Gefühl überkam, sich trotz aller Vorausschau verraten zu haben. Dennoch ließ er sich nichts anmerken, reckte sich noch einmal nach dem Schlüssel und zog ihn aus dem Spalt.

 

„Mir ist der Zimmerschlüssel heruntergefallen und hinter die Kisten gerutscht“, erklärte Kaoru sein Handeln in einem derart gelangweilten Tonfall, dass er sich selbst diese Lüge ohne Weiteres abgekauft hätte. Kyos hochgezogene Braue, die unter seinem fransigen Pony verschwunden wäre, hätte er sie sich nicht bis zur Unkenntlichkeit abrasiert, ließ ihn allerdings sogleich an seinen schauspielerischen Fähigkeiten zweifeln. Zu allem Überfluss hatten Shinya und Die sie entdeckt und gesellten sich zu ihnen.

 

„Jetzt fehlt nur noch Toshiya“, stellte der Drummer leise fest und Kaoru musste schlucken, um überhaupt einen Ton herauszubekommen.

 

„Er müsste in zehn Minuten zurück sein.“

Für einen zähen Augenblick war er sich sicher, aufgeflogen zu sein, aber eine entsprechende Reaktion seiner Kollegen blieb aus.

 

„So, so“, murmelte Kyo und zuckte in einer lapidaren Geste die Schultern. Einen endlosen Moment fixierten ihn die durchdringenden Augen noch, dann wandte sich der Sänger von ihm ab. Kaoru hätte am liebsten erleichtert ausgeatmet, lägen nicht zwei neugierige Augenpaare auf ihm.

 

„Was schaut ihr so? Lasst uns mit dem Soundcheck beginnen.“ Mit einer scheuchenden Handbewegung vertrieb er Shinyas und Dies interessierte Blicke und jagte die drei Musiker gleichzeitig vor sich her. Gut nur, dass Kyo grundsätzlich eher wenig Interesse an seinen Mitmenschen hegte und nicht nachgebohrt hatte. Dennoch hätte die ganze Sache auch besser laufen können. Es genügte ihm schon, dass Die noch immer ein Buch mit sieben Siegeln für ihn war und seine Spionageaktion dank seiner eigenen Dummheit vollkommen für die Katz gewesen war. Einen neugierigen, und wenn es darauf ankam, viel zu scharfsinnigen selbsterklärten Propheten an seinen Fersen kleben zu haben, war das Letzte, was er nun gebrauchen konnte.

 

~*~

 

„Tolle Show, Jungs“, lobte Kaoru, als er frisch geduscht in den Aufenthaltsraum der Konzerthalle zurückkehrte und sich auf das durchgesessene Sofa fallen ließ. Er war müde, aber zufrieden, denn ihr Konzert war reibungslos über die Bühne gegangen. Endlich schien ihre Pechsträhne, was die Technik und ihr Equipment anging, ein Ende zu haben, und selbst die Zeit saß ihnen heute Abend für einmal nicht im Nacken. Lieber spät als nie oder wie hieß es so schön? Ihr Abschlusskonzert würden sie erst übermorgen geben und sein Rücken freute sich bereits darauf, diese Nacht nicht auf der unbequemen Liege im Tourbus verbringen zu müssen. Gerade bildete er sich ein, den sirenengleichen Ruf seines weichen Hotelbetts hören zu können, als ihn eine Stimme ganz anderer Natur aus seinen Gedanken riss.

 

„Deine Witze waren auch schon mal besser“, murrte Die, der schräg von ihm auf einem der Klappstühle lümmelte und seine glimmende Zigarette mit einem derart finsteren Blick anstarrte, dass das arme Tabakröllchen schreiend davongelaufen wäre, würde es sich nicht im Todesgriff seiner Finger befinden.

 

„Das war kein Scherz.“ Irritiert runzelte Kaoru die Stirn. „Alles in Ordnung mit dir?“

 

„In Ordnung? Ja, das wäre es vielleicht, wenn du dich endlich wieder normal verhalten würdest.“ Die vernichtete den Rest seiner Zigarette in einem Pappbecher, der ihm als behelfsmäßiger Aschenbecher diente und erhob sich.

„Ich hab mich drei Mal verspielt und da redest ausgerechnet du von einer guten Show? Normalerweise müsste ich längst so klein mit Hut sein.“

Die hielt ihm Daumen und Zeigefinger vor die Nase und wies damit auf den winzigen Spalt hin, den er zur Verdeutlichung seiner Aussage dazwischen gelassen hatte.

 

Nun gut, wo sein Freund recht hatte, hatte er recht und wenn er Shinyas und Kyos Mienen richtig deutete, waren auch die beiden der Meinung, dass Kaorus Lob unangebracht gewesen war. Verdammt, und da hatte er geglaubt, Die einen Gefallen damit zu tun, seine kleinen Patzer großmütig zu überhören. Eine derbe Fehleinschätzung– mal wieder. Nun jedoch zurückzurudern, war ganz und gar nicht sein Stil, also zuckte er nur nonchalant mit den Schultern.

 

„Ich bin mir sicher, so wie wir den Fans eingeheizt haben, ist das niemandem aufgefallen.“ Er winkte ab. „Zieh also nicht so eine Mine, der Gesamteindruck zählt.“

 

Die holte Luft und sah noch immer so unzufrieden und auf Krawall gebürstet aus, dass Kaoru alles, nur kein Einlenken erwartete. Noch bevor sein Gitarristenkollege jedoch loslegen konnte, betrat Toshiya den Raum und lenkte die Aufmerksamkeit aller auf sich.

 

„Hey, was haltet ihr davon, wenn wir heute Abend nicht im Hotel essen? Ich hab vorhin nicht weit von hier einen coolen Diner entdeckt, in dem es riesige Burger gibt.“

Der Bassist war in der Mitte des Raums stehen geblieben und rubbelte mit einem Handtuch über seine noch tropfenden Haare.

 

„Können wir machen“, murrte Die mit wenig Elan, als hätte ihn sein Beinahe-Ausbruch sämtliche Energie gekostet. Er zupfte sich einen Zopfgummi vom Handgelenk, um sich die Haare zu einem unordentlichen Knoten im Nacken zusammenzubinden, zog seine Jacke von der Stuhllehne und schob sich an Toshiya vorbei aus dem Raum. Kaoru biss sich auf die Unterlippe – verflucht, er wurde aus diesem Kerl einfach nicht schlau.

 

„Was hat er denn?“, murmelte Toshiya, den fragenden Blick auf die Tür gerichtet, durch die ihr Gitarrist gerade verschwunden war.

 

„Wenn ich das mal wüsste“, seufzte Kaoru lauter, als er gewollt hatte und zündete sich nun seinerseits eine Zigarette an.

 

„Ja, also …“ Für einen kurzen Moment wirkte Toshiya irritiert, dann jedoch kehrte das Lächeln auf seine Lippen zurück. „Was sagt der Rest zu meinem Vorschlag? Leader-sama, kommst du mit?“

 

„Mh, Burger klingen gut, ich bin dabei.“

 

Normalerweise war Kaoru nach einer Show lieber für sich, um runterzukommen und den Stress des Tages in Ruhe abbauen zu können. Nach Dies Reaktion würde er jetzt jedoch den Teufel tun und ihn so vom Haken lassen. Ja, zugegeben, er hatte mit seinem Lob wieder einmal genau das Falsche zum falschen Zeitpunkt gesagt, aber das gab Die noch lange nicht das Recht, so überzureagieren. Was war nur los mit ihm?

 

„Und was ist mit euch? Kyo? Shinya?“, hörte er Toshiya fragen, aber achtete nicht weiter darauf, was gesagt wurde. Nach so vielen Jahren ihrer Zusammenarbeit hätte der Bassist längst wissen müssen, dass er sich bei den beiden auf verlorenem Posten befand. Nach einer Show war Kyo meist froh, wenn er nur noch ins Bett kam, und riesige Burger waren nichts, womit man Shinya aus der Reserve locken konnte. Dennoch fühlte sich Kaoru in diesem Augenblick auf eine verquere Art mit dem jüngeren Mann verbunden. Es war zwar etwas anderes, Kyo und Shinya nicht davon überzeugen zu können, gemeinsam Abendessen zu gehen, dennoch biss sich Kaoru an Die gerade auf ähnliche Weise die Zähne aus.

 

Was musste er tun, um diesen Dickschädel dazu zu bringen, ihm zu sagen, was er falsch machte? Je mehr er sich bemühte, seinem Freund etwas Gutes zu tun, desto unleidiger wurde er.

In Momenten wie diesen wäre er gern wieder Kao, der Kater. Dann würde er Die nun suchen, um seine Beine schmeicheln und so laut und herzzerreißend Maunzen, bis der Große gar keine andere Wahl hatte, als ihn auf den Arm zu nehmen. Er vermisste es, Dies lange Finger in seinem Fell zu spüren und die Nase an seiner Halsbeuge zu vergraben, um diesen anheimelnden Duft nach allem, was Die war, in sich aufnehmen zu können. Kaorus Herz zog auf diese ganz bestimmte Weise, die er in den letzten Wochen als Sehnsucht identifiziert hatte, und ließ ihn schwer seufzen.

 

„Ehm, Kaoru? Kommst du?“

 

Toshiyas zögerliche Stimme holte ihn ins Hier und Jetzt zurück und er musste feststellen, dass seine Zigarette unbeachtet bis auf den Filter heruntergebrannt war. Himmel, er musste aufhören, gedanklich ständig abzudriften. Von Shinya und Kyo war nichts mehr zu sehen und als er sich erhob, hielt ihm der Bassist mit einem einladenden Lächeln die Tür auf. Er konnte die Frage, was mit ihm los war, in den dunklen Augen funkeln sehen und entschied sich dafür, sie mit einer wegwischenden Handbewegung abzutun.

 

„Ich bin wohl müder, als ich gedacht habe“, murmelte er mit einem schiefen Grinsen und boxte Toshiya beim Vorbeigehen angedeutet in den Bauch. „Also, wo bleibst du? Alte Männer brauchen was in den Magen, damit sie endlich ins Bett können.“

 

„Ha! Das hast jetzt du gesagt, aber ich werde mich hüten, dir zu widersprechen.“

 

~*~

 

Sein Burger schmeckte hervorragend und wüsste Kaoru nicht, dass er es später bereuen würde, hätte er sich noch einen Zweiten bestellt. Allerdings schien das Essen nicht bei allen Anwesenden so gut anzukommen.

 

„Schmeckt es dir nicht?“, fragte er mit nur halb leerem Mund, als sein Blick auf Dies Teller fiel, der noch nahezu unberührt war.

 

„Doch, doch, ich lass mir nur mehr Zeit.“

 

„Aber dann wird dein Essen kalt“, schaltete sich Toshiya ein und schob sich seine letzte Pommes in den Mund. „Ich hol mir noch eine Portion, willst du auch, Leader?“

 

„Nein, aber danke.“ Einen Moment sah er ihrem Bassisten hinterher, bevor er sich wieder Die zuwandte. Sein Freund zupfte einen schmalen Streifen Salat aus seinem Burger, betrachtete ihn einen Herzschlag lang, bevor er ihn sich in den Mund schob. Kaoru grinste, beobachtete dieses Schauspiel noch drei weitere Male, bevor er sich einen Kommentar nicht länger verkneifen konnte.

 

„Du hättest dir auch einen Salat bestellen können.“

 

„Hu?“

 

„Na, wenn du sowieso nur das Grünzeug isst.“

 

Dies Miene verfinsterte sich, bevor er kurz mit den Augen rollte, den Burger in beide Hände nahm und demonstrativ ein großes Stück abbiss.

 

„Jetzt zufrieden?“, maulte er mit vollem Mund und mühte sich redlich ab, den zu großen Bissen hinunterzuwürgen. Irgendwie verging Kaoru gerade der Appetit, was weniger an Dies Tischmanieren und vielmehr an der noch immer miesen Laune des anderen lag.

 

„So war das nicht gemeint.“

 

Kaoru unterdrückte ein Seufzen und schaute seitlich aus dem Fenster. Die Scheibe spiegelte so stark, dass er in der nächtlichen Dunkelheit kaum etwas erkennen konnte, aber selbst tagsüber bot diese Gegend nichts Sehenswertes. Das Diner lag nur einen Steinwurf von der Konzerthalle entfernt in einem Industriegebiet außerhalb der Stadt. Nichtssagende Bürokomplexe reihten sich zwischen heruntergekommenen Lagerhallen und Fertigungsanlagen mit hohen Schornsteinen aneinander und Kaoru schätzte, dass das einzig Aufregende, das diese Gegend regelmäßig zu Gesicht bekam, die Konzertbesucher waren.

Selbst das Innere des Diners schien sich seinem Standort angepasst zu haben und wartete mit zweifelhaft verlebtem Charme auf. Die Sitzbänke und Hocker waren durchgesessen und wo die Kunstlederbezüge zu ihren Glanzzeiten in kräftigem Rot geleuchtet haben mussten, war davon lediglich ein verblasst schmutziges Rosa übrig geblieben. Der wischbare Boden war vergilbt, klebte von zu vielen Putzmittelrückständen und bei manchen hartnäckigen Flecken wollte Kaoru gar nicht wissen, was sie verursacht hatte. Hätte er seine Umgebung mit einem Wort beschreiben müssen, wäre es trostlos gewesen. Ebenso trostlos wie er sich fühlte, wenn er an Die dachte. Was hatte er nun schon wieder falschgemacht?

 

Toshiya, der sich mit einem lang gezogenen Ausatmen wieder auf seinen Hocker fallen ließ, holte ihn aus dem unangenehmen Schweigen, das sich über ihn und seinen Freund gelegt hatte. Worüber hätten Die und er auch reden sollen? Auf eine lockere Unterhaltung hatte sein Gegenüber heute offensichtlich keine Lust und auf die Frage, was Dies verdammtes Problem war, würde Kaoru nur eine ausweichende oder gar keine Antwort bekommen. Dafür kannte er den anderen zu gut.

 

„Was los?“, erkundigte er sich also stattdessen bei ihrem Bassisten. Toshiya lächelte ihn schief an, bevor er seine Extraportion Pommes in die Mitte des Tisches schob und einladend darauf wies.

 

„Mir ist nur gerade bewusst geworden, dass wir alt werden.“

Kaoru, der sich soeben drei der Kartoffelstäbchen in den Mund geschoben hatte, hob fragend die rechte Braue, während Die nur weiterhin mürrisch versuchte, seinen Burger mit Blicken zu vernichten.

„Früher haben wir es nach einer Show krachen lassen und heute sitzen wir in einem Diner und stopfen uns mit leeren Kalorien voll.“

 

„Schließ nicht von dir auf andere“, murrte Die, legte seinen nicht einmal halb aufgegessenen Burger beiseite und hielt sich stattdessen an seiner Cola light fest. Gerade so schaffte Kaoru es, nicht mit den Augen zu rollen – ein bockiger Teenager war nichts gegen das Theater, das der Gitarrist gerade veranstaltete. Warum war er überhaupt mitgekommen, wenn man ihm nichts recht machen konnte?

 

„Wenn ich mich an unsere letzte After-Show-Party in Amerika erinnere, bin ich froh, dass wir alt geworden sind“, meinte Kaoru an ihren Bassisten gewandt und schickte ein gepeinigtes Grinsen hinterher. „Ich möchte dich daran erinnern, dass du im Krankenhaus gelandet bist, weil du dachtest, im Klub einen auf Patrick Swayze machen zu müssen.“

 

„Das war es allemal wert. Außerdem verdrehst du gerade die Tatsachen.“ Toshiya lachte, eindeutig in den Fängen der Nostalgie gefangen, denn damals hatte der jüngere Mann definitiv nicht viel zu lachen gehabt.

„Ich hatte schon vor der Tour Probleme mit dem Rücken, meine Tanzeinlage hat ihm vermutlich nur den Rest gegeben.“

 

„Schlimm genug“, brummte Kaoru, den Mund voll Pommes, die er mit einem großen Schluck Cola hinunterspülte. „Und kaum warst du wieder auf den Beinen und wir endlich am Flughafen, ist uns aufgefallen, dass Die seinen Pass verloren hat.“

 

„Stimmt, das war …“ Toshiya begann zu lachen und machte eine Bewegung, als hätte er Die auf die Schulter klopfen wollen, aber der Gitarrist war ihm zuvorgekommen und so schwungvoll aufgestanden, dass sein Stuhl mit lautem Klappern nach hinten umkippte.

 

„Ich fasse es nicht, dass du mir das noch immer vorwirfst“, zischte er und funkelte Kaoru aus zusammengekniffenen Augen derart giftig an, dass sich in seinem Magen ein bleierner Klumpen formte. „Mir reicht‘s, ich verschwinde.“

 

Kaoru war so überrumpelt von Dies Ausbruch, dass er ihm nur mit offen stehendem Mund hinterhersehen konnte. In seinem Kopf herrschte gähnende Leere, während er zu begreifen versuchte, was soeben geschehen war.

 

„Oje.“ Toshiya seufzte, beugte sich zur Seite und richtete den umgeworfenen Stuhl wieder auf. „Das nenne ich mal ein gehöriges Missverständnis.“

 

„Missverständnis?“ Kaorus Schock wandelte sich in Ärger, als er nach seiner Cola griff und den Rest seiner Starre mit der dunklen Brause herunterschluckte. „Er benimmt sich wie ein unreifer Teenager, der auf Teufel komm raus nach einem Grund sucht, um wütend zu sein. Das hat nichts mit einem Missverständnis zu tun.“

 

„Geh ihm nach.“

 

„Wieso sollte ich? Er ist alt genug, um sich allein wieder einzukriegen.“

 

„Spricht da nicht gerade nur dein verletzter Stolz aus dir?“

 

„Wie bitte?“

 

„Ich meine ja nur. Wenn dir sowieso schon aufgefallen ist, dass mit Die heute irgendwas nicht stimmt, ist das jetzt der perfekte Zeitpunkt, um herauszufinden, was los ist.“

 

„Das …“, Kaoru rieb sich über seinen getrimmten Kinnbart. „Das ist erstaunlich logisch.“

 

„Tu nicht so, als könnte man von mir keine logischen Schlüsse erwarten.“

 

„Na ja, häufig sind sie nicht.“

 

„Hau ab, Leader, und kümmere dich um Die, sonst gibt es gleich noch ein Bandmitglied, das nicht gut auf dich zu sprechen ist.“

 

Kaoru presste die Lippen aufeinander, als er sich erhob und sich aus der Bank schob. Dies Worte hatten ihn gekränkt, aber Toshiya hatte recht – seinen Freund nun zu konfrontieren, war besser, als weiterhin im Nebel zu stochern.

 

„Wartest du hier auf uns oder nimmst du dir selbst ein Taxi zurück zum Hotel?“

 

„Vielen Dank, Toshiya, für deinen unbezahlbaren Rat, was würde ich nur ohne dich tun? Ach, keine Ursache, Leader, das hab ich doch gern gemacht.“

Kaorus rechte Braue stieg immer höher, während er darauf wartete, dass der zu groß geratene Kindskopf namens Toshiya mit seinem Schauspiel fertig wurde.

„Schon gut, schon gut. Ich nehme mir ein Taxi. Mann, Mann, Mann, da bekommt man es ja mit der Angst zu tun, wenn du einen so anstarrst.“

 

„Hast du die Adresse vom Hotel?“ Ohne auf Toshiyas Worte einzugehen und ohne seine Antwort abzuwarten, zog Kaoru eine der Visitenkarten des Hotels aus der Jackentasche, die er am Morgen noch vorausschauend eingesteckt hatte, und hielt sie dem Bassisten hin. „Hier.“

 

„Danke, Leader.“ Die Karte verschwand in den Tiefen von Toshiyas Umhängetasche, bevor ihn die dunklen Augen des jüngeren Mannes für einen langen Moment fixierten. Toshiyas Art mochte oft quirlig und oberflächlich wirken, aber in Augenblicken wie diesen war unverkennbar, wie wichtig ihm die Menschen um ihn herum waren. „Viel Erfolg. Ich drück ‘nen Daumen, okay?“

 

„Drück lieber beide.“

 

~*~

 

„Die? Die!“ Kaoru ging über den nur schummrig beleuchteten Parkplatz des Diners und hoffte inständig, seinen Freund noch zu entdecken. Wer wusste schon, ob der andere sich die Adresse des Hotels gemerkt hatte oder wo er landen würde, würde er versuchen, einem Taxifahrer den Weg zu beschreiben. Anders als der Rest von ihnen sprach der Gitarrist zwar wenigstens ausreichend Englisch, um sich überhaupt verständigen zu können, aber man musste ja nichts riskieren.

„Die!“

 

„Würdest du bitte aufhören, auf einem gottverlassenen Parkplatz in der amerikanischen Pampa nach dem Tod zu schreien?“, zischte es plötzlich auf seiner linken Seite und eine Hand packte seinen Arm. Kaoru zuckte erschrocken zusammen, obwohl er die Stimme seines Freundes bereits nach den ersten Worten erkannt hatte.

 

„Das ist dein verdammter Name, Die, wie soll ich dich sonst rufen?“, schnappte er und rieb sich über die Brust, wo sein Herz wie wild pochte. Es war unsinnig gewesen, so schnippisch reagiert zu haben, aber seine Nerven lagen blank und ihre Umgebung trug nicht gerade dazu bei, dass er sich sicher fühlte.

 

„Was willst du?“

 

„Na, was werde ich schon wollen? Mit dir reden, zum einen, und zum anderen dafür sorgen, dass du nicht abhandenkommst.“

 

Die schnaubte, zog ein letztes Mal an seiner heruntergebrannten Zigarette, bevor er sie unter dem Absatz seiner Stiefel zerdrückte. Seine Augen funkelten im schummrigen Licht der Parkplatzbeleuchtung, als er Kaoru finster musterte.

 

„Ich bin ein erwachsener Mann, falls du das vergessen haben solltest, und brauche keinen Babysitter.“

 

„Dann benimm dich wie einer und nicht wie ein bockiges Kind“, knurrte Kaoru, selbst eine Zigarette zwischen den Lippen, die er sich gerade ansteckte. Er nahm einen tiefen Zug, bis seine Lungen brannten, und atmete mit einem leisen Seufzen aus. Er musste sich beruhigen.

„Wenn du ein Problem mit mir hast, dann sag es endlich. Lass uns darüber reden und die Sache aus der Welt schaffen, in Ordnung?“

 

„Schön, von mir aus. Ich sag dir, was mein Problem ist“, zischte Die, entfernte sich einige Schritte von ihm und fuhr sich aufgebracht durch die Haare, bevor er sich wieder zu ihm herumdrehte.

„Du wirfst mir Dinge vor, die Jahre zurückliegen und dann tust du so, als hätte ich übertrieben reagiert! Geht es eigentlich noch?“

 

„Die.“ Kaoru atmete bewusst tief ein und aus, um sich von Dies hitzigem Temperament nicht anstecken zu lassen. Wie leicht wäre es gerade, ebenso aufgebracht zu reagieren, den anderen auf gleiche Weise anzuschreien, aber nein, das würde rein gar nichts bringen. Er ballte die Fäuste und lockerte die Finger wieder, bevor er den Blick hob, um seinen Freund offen anzusehen.

„Du solltest wissen, dass ich dir diese Sache nie übel genommen habe – damals nicht und heute auch nicht. Das gerade eben war ein Scherz und es tut mir leid, dass ich nicht vorher darüber nachgedacht habe, dass dich meine Worte verletzen könnten.“

 

„Du tust es schon wieder“, wisperte Die und im Gegensatz zu Kaoru waren seine Fäuste so fest geballt, dass seine Arme zu zittern begannen. „Hör auf damit.“

 

„Womit?“ Kaoru schüttelte den Kopf. Er verstand nicht, was der andere von ihm wollte und zu der noch immer schwelenden Wut in seinem Magen gesellte sich nach und nach Hilflosigkeit – eine Mischung, die explosiver nicht hätte sein können.

 

„Hör auf, dich zu entschuldigen“, zischte Die. „Hör auf mich Dutzend Mal am Tag zu fragen, wie es mir geht und hör auf mit Lob um dich zu werfen, wo es nichts zu loben gibt. Ich ertrage es nicht mehr, ständig deine Blicke im Nacken zu spüren, verstehst du? Ich habe keine Ahnung, was du dir in deinem Oberstübchen zusammengesponnen hast noch was das Ganze zu bedeuten hat, aber ich werde nicht länger das Versuchskaninchen für dein Sozialexperiment spielen!“ Die letzten Worte hatte die ihm ins Gesicht geschrien, bevor er sich schwungvoll herumgedreht hatte und davonging.

 

„Bleib stehen“, murmelte Kaoru, warf seine Zigarette zu Boden und eilte dem Gitarristen hinterher. Das Blut rauschte so laut in seinen Ohren, dass er sich selbst nicht mehr denken hören konnte. Vielleicht dachte er aber auch gar nicht, als er die Hand nach Dies Schulter ausstreckte und ihn schwungvoll herumdrehte.

„Ich sagte, bleib stehen!“ Nun war Kaoru es, der laut geworden war und dem der Atem in hektischen, kurzen Stößen über die Lippen kam. „Könntest du endlich damit aufhören, dich in deine Hirngespinste hineinzusteigern, und einfach vernünftig mit mir reden?“

 

„Hirngespinste? Willst du behaupten, ich bilde mir nur ein, dass du dich seit Wochen nicht mehr wie du selbst benimmst?“

 

„Die, ich …“

 

„Nein.“ Dies Hand schnitt durch die Luft, als würde er eine unsichtbare Linie zwischen ihnen ziehen, eine Grenze, die Kaoru nicht zu überschreiten hatte.

„Es gibt nichts zu bereden! Ich will einfach meinen Freund zurück, nicht den Zombie, der sich in Arbeit vergräbt und auch nicht diesen Abklatsch eines guten Samariters!“

 

Dies feuriger Blick paralysierte ihn und gleichzeitig stieg in Kaoru ein Gefühl auf, das ihm einen Schauer über den Rücken jagte. Sein Herzschlag beschleunigte sich, ließ seine Gliedmaßen beben und schickte Hitze in seine Wangen. Er dachte nicht nach, als er seine Finger in den Stoff von Dies Sweatshirt grub oder als er den größeren Mann näher und auf Augenhöhe zog. Dies Mund stand einen Spalt offen, ob vor Überraschung oder Empörung hätte Kaoru nicht sagen können.

„Du machst mich wahnsinnig!“

 

„Ich mach dich wahnsinnig? Du machst mich wahnsinnig! Einmal würde ich wissen wollen, woran ich bei dir bin und was zum Teufel du eigentlich von mir willst!“

 

„Was ich von dir will?“ Ihre erhitzten Gesichter waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt und Kaorus Hand zitterte, so fest krallte er die Finger noch immer in Dies Oberteil.

„Im Moment will ich dich am liebsten küssen, damit du wenigstens für eine Sekunde den Mund hältst und zuhörst!“

 

Kaoru erstarrte in jeder Bewegung und selbst Die schien die Luft angehalten zu haben. Eine unerträgliche Ewigkeit starrte er seinem Gegenüber in die schockgeweiteten Augen, obwohl er am liebsten im Erdboden versunken wäre. Viel zu langsam kehrte das Leben in seine Gliedmaßen zurück, bis er es endlich schaffte, seinen Klammergriff vorsichtig zu lösen. Kaoru senkte den Arm und den Blick gleichermaßen, bevor er einen Schritt zurücktrat.

 

„Das war … es tut mir …“

 

„Was hast du da gerade gesagt?“ Dies Stimme war nicht mehr als ein Hauchen und wenn Kaoru ehrlich war, erstaunte es ihn, dass der andere überhaupt ein Wort herausbrachte.

 

„Nichts. Ich …“

Er schüttelte den Kopf und hasste sich dafür, keinen klaren Gedanken fassen zu können.

„Kannst du mir für einen Moment einfach nur zuhören?“, bat er und suchte fahrig nach einer weiteren Zigarette. Seine Finger zitterten, als er die Letzte aus der Schachtel zog, aber statt sie sich zwischen die Lippen zu klemmen, fiel sie auf den schmutzigen Asphalt zu seinen Füßen.

 „Fuck“, zischte er, fuhr sich übers Gesicht, bevor er die Kippe Kippe sein ließ und erneut den Blick seines Freundes suchte. Dies Miene hatte sich nicht verändert, aber nun nickte er lauernd, als wäre er ein Raubtier, das nur auf einen Fehler seiner Beute wartete, um zuzuschlagen. Kaoru schluckte.

 

 „Während meiner unfreiwilligen Auszeit …“

‚Während ich als Kater mit dir zusammengelebt habe …‘, dachte er im Stillen und fühlte, wie sich ein dicker Kloß in seiner Kehle bildete. ‚Verflucht, das kann doch nicht so schwer sein!‘

Kaoru presste die Lippen aufeinander, zwang sich jedoch, weiterzusprechen, auch wenn es sich so anfühlte, als wären seine Gedanken nichts weiter als chaotisch umherwirbelnde, vollkommen nutzlose Fragmente.

„Ich meine, ich hatte die Chance, über vieles nachzudenken. Mir ist bewusst geworden, dass ich Fehler gemacht habe und dass ich mich vor allem dir gegenüber unfair verhalten habe. Ich weiß, dass ich dich in letzter Zeit ständig weggestoßen habe, obwohl du dir Sorgen gemacht hast, und ich denke, ich verstehe jetzt, wie sehr es dich gekränkt haben muss, dass ich deine Hilfe nie annehmen konnte. Ich war in einem Strudel aus Arbeit gefangen und habe darüber vergessen, dass ich nicht alles allein erledigen muss. Meine Unfähigkeit, Verantwortung abzugeben, hat dich verletzt und das tut mir aufrichtig leid.“

 

Kaoru seufzte und rieb sich über seine müden Augen.

„Du bist mir wichtig. Ich meine, vermutlich bist du der einzige Mensch auf dieser Welt, der stur genug ist, es mit mir auszuhalten.“

Ein schiefes Lächeln schlich sich auf Kaorus Lippen und als er den Blick hob, sah er, dass auch Dies Mundwinkel verräterisch zuckten.

„Ich war dumm, mal wieder. Ich hätte gleich mit dir reden sollen, statt dich mit meinen übertriebenen Versuchen, alles wiedergutzumachen, noch mehr zu kränken.“ Kaoru verstummte in Erwartung einer Reaktion, die jedoch auch nach mehreren langen Sekunden auf sich warten ließ.

„Ehm, Die? Du weißt, wie unfähig ich in solchen Dingen bin, also sag mir bitte, ob es etwas gibt, womit ich diese ganze Misere aus der Welt schaffen kann.“

 

Dies Blick wirkte ungläubig, als er mit Daumen und Zeigefinger seine Nasenwurzel massierte, bevor er für einen langen Moment in den Himmel starte. In Kaorus Magen rumorte es und er war sich sicher, dass das nicht von dem Burger herrührte.

 

„Ja verdammt, es gibt etwas“, sagte Die endlich und in seiner Stimme lag ein Unterton, den Kaoru nicht näher erklären konnte. War sein Freund noch immer wütend auf ihn? Oder war er gelinde gesagt am Ende seiner Geduld angekommen, weil Kaoru erneut unfähig war, die einfachsten, zwischenmenschlichen Konzepte zu begreifen? Was auch immer der Fall sein mochte, allein die Tatsache, dass es etwas gab, womit er alles wieder ins Lot bringen konnte, ließ ihm die Knie vor Erleichterung weich werden.

 

„Und was?“

 

„Sag noch einmal, was du vorhin gesagt hast.“

 

Kaorus Mund öffnete sich, aber fürs Erste kam ihm kein Wort über die Lippen. Ein naiver Teil in ihm hatte gehofft, Die hätte ihn vorhin nicht verstanden oder hätte seinen Ausrutscher als eine weitere Eigenartigkeit in seinem Verhalten abgetan, der er keine weitere Beachtung schenken musste. Eine derbe Fehleinschätzung seinerseits – schon wieder. Für einen Augenblick spielte er mit dem Gedanken, sich dumm zu stellen und zu behaupten, dass er nicht wüsste, wovon Die sprach. Aber nein, das würde der andere ihm niemals abkaufen und außerdem wäre es respektlos, ihn so vor den Kopf zu stoßen. Das hatte Die nicht verdient. Kaorus Kiefer schmerzte, so fest presste er die Zähne aufeinander und ein dumpfes Pochen in seinen Schläfen kündigte aufziehende Kopfschmerzen an.  Verflucht, wo war eine Zigarette, wenn man eine brauchte?

 

„Die, ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist.“

 

„Sag es noch einmal“, knurrte sein Gegenüber gefährlich und funkelte ihn aus halb zusammengekniffenen Augen an.

 

„Im Moment …“, begann er stockend, „will ich dich am liebsten küssen, damit …“

 

„Das reicht schon.“

 

„Okay“, murmelte Kaoru mit tauben Lippen und nur seinem Stolz war es zu verdanken, dass er nun nicht feige die Augen schloss, sondern seinem Freund weiterhin ins Gesicht sah. „Die, ich …“

 

Eine harsche Handbewegung unterbrach ihn. Dies Miene war ausdruckslos, als er fragte: „Und was ist, wenn ich das nicht will?“

 

‚Worte sind scharf wie eine Messerklinge.‘

Kaoru erinnerte sich daran, diesen Satz einmal in einem Buch gelesen zu haben. Er wusste nicht mehr, wie der Titel lautete oder wer der Autor des Romans gewesen war. Was er jedoch bestätigen konnte, war die Wahrheit, die in diesen wenigen Worten steckte. Er senkte den Blick und für einen irrwitzigen Moment glaubte er tatsächlich, ein blutiges Messer in seiner Brust stecken zu sehen.

 

„Dann …“, hörte er sich wie aus weiter Ferne sagen, als er den Kopf hob und mit einem Blick in Dies Augen das Messer noch tiefer drückte. „Hoffe ich, dass du mir diese Dummheit verzeihen kannst und mir die Chance gibst, dir endlich wieder der Freund zu sein, den du verdient hast.“

 

Die Zeit schien still zu stehen und hätte sich hinter ihm ein Abgrund aufgetan, in den Dies Urteil ihn stürzen würde, hätte es ihn nicht gewundert. Statt jedoch weiterer Worte teilte erst ein Lächeln und dann ein befreites Lachen Dies Lippen, was es schaffte, Kaoru endgültig zu verunsichern. Er fühlte sich klein und dumm, als er die Reste seines Stolzes wie einen schützenden Mantel um sich legte und die Arme vor der Brust verschränkte.

 

„Wir sollten zurück ins Hotel“, stellte er tonlos fest und wandte sich zum Gehen. Oder er hätte es getan, hätte sich in diesem Moment nicht Dies Hand auf seinen Unterarm gelegt. Kaoru fixierte die langen Finger, die blasse Haut, die sich über sie spannte. Verdammt, sie waren ihm so vertraut.

 

„Sieh mich an.“

Er tat, was von ihm verlangt wurde und wurde mit einem Lächeln belohnt, das sich so unerwartet wie zu Hause anfühlte, dass ihm der Atem stockte.

„Ich wusste, dass er noch in dir ist.“

 

„Wer?“, krächzte Kaoru mit halb versagender Stimme.

 

„Der immer rationale, sture, komplizierte, und unmögliche Mann, in den ich mich vor Jahren verliebt habe.“

 

Mit jedem Adjektiv war Die ihm näher gekommen, bis Kaoru jedes ruhige Ausatmen als Kribbeln auf seinem Gesicht fühlen konnte. Es gab keine Worte, die er in diesem Augenblick hätte sagen können, keine Entschuldigungen oder Rechtfertigungen. Das Messer fiel klappernd zu Boden und die Wunde in seinem Herzen schloss sich, als es Adrenalin und unbändige Freude durch seine Adern pumpte. Noch vor wenigen Stunden war er sich nicht sicher gewesen, was diese neuen Gefühle für seinen alten Freund zu bedeuten hatten, und jetzt war es beinahe lachhaft, wie sehr er sich etwas vorgemacht hatte.

 

„Dann … hast du nichts dagegen, wenn ich dich küsse?“

 

„Absolut nicht.“

 

Es bedurfte lediglich einer minimalen Bewegung, einem Zucken gleich, um Dies Lippen mit den eigenen zu berühren. Der Parkplatz, der Diner, ja, vielleicht sogar ganz Amerika rückten in den Hintergrund, als sich Die ins Zentrum seines Universums schob. Kaoru erschauerte knochentief und warme Hände legten sich an seine Schultern, brachten ihn näher gegen den größeren Körper. Traumwandlerisch langsam löste er die Verschränkung seiner arme, glitt mit gespreizten Fingern über Dies Brust, den Hals hinauf, bis er die Rechte in den weichen Strähnen vergrub. Die Zeit war ein Konzept, das bedeutungslos geworden war, als sich die etwas spröden Lippen seines Freundes teilten und eine warme Zunge den Geschmack nach Tabak und Cola in seinem eigenen Mund verstärkte. Wenn es einen perfekten Kuss gab, dann war es dieser hier in all seiner glorreichen Unperfektheit.

 

Ein lautes Krachen ganz in ihrer Nähe riss sie aus ihrer glückseligen Zweisamkeit und ließ sie erschrocken auseinanderfahren.

 

„Fuck!“

 

„Was zum …?“

 

Panisch schauten sie zu den großen Abfallcontainern, aus deren Richtung der Lärm gekommen war. Hatte sie jemand gesehen? Was, wenn sich ein Fan hierher verirrt und sie erkannt hatte? Oder schlimmer noch, was wenn jemand ein Problem damit hatte, dass sie sich in aller Öffentlichkeit geküsst hatten? Verdammt, wie hatten sie nur so unvorsichtig sein können. Doch ein erster Blick enthüllte keinen Menschen, der sich in den Schatten herumdrückte, nur zwei grüne Katzenaugen, die im schummrigen Licht fast unheimlich leuchteten.

 

„Nur eine Katze“, murmelte Die hörbar erleichtert und gluckste. „Ich bin um mindestens zehn Jahre gealtert.“

 

„Dafür hast du dich aber gut gehalten.“ Kaoru grinste, wenn auch noch etwas zittrig. Sein erster Gedanke war gewesen, dass die Zauberkatze ihn bis nach Amerika verfolgt hatte, um ihn wieder in einen Kater zu verwandeln, weil er, was Gefühle anging, einfach ein Idiot war. Aber nein, das war selbst für das, was er erlebt hatte, zu weit hergeholt, oder?

Ihr feliner Besucher wählte genau diesen Moment, um einen beeindruckenden Buckel zu machen, bevor er mit leisem Fauchen vom Container sprang und blitzschnell über den Parkplatz davonhuschte. Der schwache Schein einer Laterne enthüllte mehrfarbiges, geschecktes Fell, kein tiefes Schwarz, und unwillkürlich atmete Kaoru erleichtert aus. Er war wirklich ein paranoider Dummkopf. Für einige Herzschläge sah er dem Tier hinterher, bevor er sich wieder zu seinem Freund herumdrehte. Dies Lachen war verstummt und als ihm Kaoru fragend ins Gesicht sah, lag ein zärtliches Lächeln auf seinen Lippen.

 

„Was ist?“

 

„Nichts weiter.“ Die schüttelte den Kopf und legte ihm den Arm um die Schultern, wie er es früher so oft getan hatte, wenn sie spät nachts und angeheitert nach Hause gewankt waren. Kaorus Inneres wurde weich wie Butter und bevor sein Stolz auf die Idee kommen konnte, diesen schönen Moment zu versauen, lehnte er sich gegen seinen Freund und genoss seine Nähe, die er viel zu lange schon vermisst hatte. Auch wenn er kein Kater mehr war, und sicher kein Verlangen danach hatte, das jemals wieder zu ändern, gab es Dinge, auf die er so schnell nicht mehr verzichten wollte. Und das hier gehörte definitiv dazu.

 

„Lass uns im Hotel weiterreden, okay? Ich glaube, ein Parkplatz in der amerikanischen Pampa ist nicht gerade der richtige Ort dafür.“

 

„Vor allem nicht, wenn mir der Sinn nach mehr als nur reden steht.“ Die kicherte, ein so alberner Laut, dass Kaoru breit grinsen musste, obwohl sein Magen unverzüglich begonnen hatte, wilde Purzelbäume zu schlagen. Er schielte zu seinem Freund hinauf, auf dessen Wangen sich ein leichter Rotschimmer zeigte. Kaorus Grinsen vertiefte sich. Sie würden reden müssen, egal was Die angedeutet hatte, aber die Nacht war lang und selbst er war nicht vernünftig genug, um sich nicht mindestens einen ausführlichen und diesmal ungestörten Kuss zu gönnen.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  -Pharao-Atemu-
2024-04-27T21:16:56+00:00 27.04.2024 23:16
Hihi
Jaja, "Zieh dich aus, leg dich hin, wir müssen Reden."
*hüstel*
Von:  yamo-chan
2022-10-01T10:44:38+00:00 01.10.2022 12:44
😻😻 so süß! Ich liebe es! Ich liebe es! ❤️💜
Antwort von:  yamimaru
01.10.2022 13:19
Hehe, vielen Dank für deinen Kommentar. Freut mich riesig, dass dir die Story gefällt. Das letzte Kapitel ist schon in Arbeit und kommt hoffentlich ganz bald. <3


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