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Was im frühlingshaften Palastgarten nicht alles geschehen kann...

The Vessel and the Fallen Sidestory 1
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Kleine Info am Rande: Dieses Kapitel spielt direkt nach dem vorherigen. Koumei ist hier vier, Kouen sechs, Hakuren sieben und Hakuyuu ist zehn Jahre alt. Kourin und Koujaku sind ebenfalls vier und Chuu'un sowie Seishuu acht. Komplett anzeigen

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Ein viel zu gutes Versteck


 

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„Hier steckst du also!“

„Äh?“ Schlaftrunken blickte Hakuren in das belustigte Gesicht seines älteren Bruders.

„Ich hätte nie gedacht, dass du auch nur ein einziges Mal freiwillig schlafen gehst. Noch dazu mitten am Tag“, staunte Hakuyuu.

„Mhm…“, machte der Jüngere und bemerkte erst jetzt, dass er immer noch unter Koujaku begraben war, während Kourin und Koumei friedlich zu seiner Rechten und Linken schlummerten.

„Offenbar hast du es sehr gemütlich hier“, stellte Hakuyuu fest.

Hakuren nickte zustimmend. Koumei hatte ein hervorragendes Gästezimmer mit einem herrlich weichen Bett erhalten, genauso wie es sich für einen Gast im Kaiserpalast gehörte. Gähnend legte er seine Wange auf das glatte Bettlaken und schloss die Augen. Welch seidiges Gefühl… heute konnte er Koumeis Vorliebe fürs Schlafen nachvollziehen. Ausnahmsweise.

„He, nicht weiter pennen! Hast du etwa vergessen, was wir jetzt machen wollten, Ren? Warst du nicht eben noch ganz wild darauf, Verstecken zu spielen?“

Ehe Hakuren stöhnend die Augen öffnen konnte, drang eine verwirrte Stimme in den Raum: „Prinz Hakuyuu? Seid ihr alle hier?“ Wenig später schob sich Kouen hinein. Irgendwie wirkte er gehetzt. Fragend blickte er zu Hakuyuu, ehe er den Rest der müden Verwandtschaft erkannte. Sogleich entspannten sich seine Gesichtszüge und er seufzte tief auf. „Welch ein Glück, dass wir sie endlich gefunden haben.“

„Warum?“, murmelte Hakuren, der sich immer noch nicht aufsetzen, geschweige denn aufstehen konnte, weil die schnarchende Koujaku ihn behinderte.

„Die Zofe der Mädchen war außer sich vor Sorge, weil sie die beiden nicht finden konnte“, erklärte sein Bruder ruhig und fuhr sich erschöpft durch die schwarzen Haare. „Wir haben eine kleine Suchaktion hinter uns. Irgendwann ist uns zum Glück eingefallen, dass du dich nach dem Essen heimlich davon gestohlen hast. Und da wir beide wissen, wie gerne du Koumei hast und welch einen Narren Koujaku an dir gefressen hat, haben wir eurer beiden Zimmer besucht.“

„Nach viel zu viel vermeidbarem Stress“, stimmte Kouen ermattet zu. Leise trat er an das Bett heran und zog Koujaku vom Bauch seines Vetters herunter.

Sobald dem kleinen Mädchen die warme Unterlage genommen wurde, wand sie sich leicht in Kouens Griff und öffnete langsam die Augen. In diesem Moment wirkte sie mehr denn je wie ein Vogeljunges. „Bruder En…“, murmelte sie und lächelte sogleich fröhlich, als hätte sie nicht bis vor wenigen Augenblicken so tief und fest geschlafen wie ein Stein. „Gehen wir jetzt spielen?“

Kouen erwiderte das Lächeln seiner kleinen Schwester, was für Hakuren einen sehr erstaunlichen Anblick darstellte. Sein Cousin lächelte sehr selten. Noch seltener wahrscheinlich als Koumei. Lieber knurrte er ungehalten vor sich hin.
 

Dann regte sich auch Kourin. Falls es überhaupt möglich war, erwachte sie noch schneller als Koujaku, denn kaum hatte sie sich einmal träge im Raum umgesehen, sprang sie auch schon auf und schritt damenhaft auf Hakuyuu zu, der ihr liebevoll über den Kopf wuschelte, was sie mit einem empörten Quieken quittierte. Also wirklich, feinen Damen zerstörte man doch nicht die Frisur! Nur Koumei wollte mal wieder nicht aufwachen, was zu erwarten gewesen war. Egal wie sehr Hakuren an seiner kleinen Schulter rüttelte, er erhielt kein Lebenszeichen außer entspannten, vollkommen gleichmäßigen Atem.

„Lass das ruhig Kouen übernehmen“, empfahl Hakuyuu, der mit einiger Genugtuung die vergeblichen Mühen des Jüngeren betrachtete.

Dieser musste wohl oder übel einsehen, dass er hier nichts mehr ausrichten konnte. Dennoch sah er äußerst verstimmt zu, wie Kouen das kleine Menschenbündel packte und im einen kräftigen Klaps auf die Wange versetzte, der bei seiner Wiederholung eher zum Schlag wurde, so wie es klatschte als Haut auf Haut traf.

„Steh auf, du Taugenichts!“, brummte Kouen bedrohlich und plötzlich klammerte sich ein ängstlicher Koumei an Hakurens Brust. Die rechte Seite seines Gesichts leuchtete in hellem Rot. Der Kleine zerknautschte zwar den Stoff der Kleidung zwischen seinen Fingern, doch Hakuren freute sich, dass er ihm offenbar genügend vertraute, um bei ihm Schutz suchen. Kein Wunder, Kouens Gesichtsausdruck konnte selbst einen gestandenen Mann das Fürchten lehren, wie der zweite Prinz mit widerwilliger Bewunderung feststellte. Er selbst konnte nur breit grinsen, weshalb ihn alle für unterbelichtet hielten. Dass sie damit nicht unbedingt Unrecht hatten, wusste er natürlich nicht.
 

Nachdem sich Koumei von dem unsanften Weckruf erholt hatte, nahm Hakuren ihn huckepack und trug ihn hinaus in den Garten. Die anderen waren bereits vorgegangen, weil die Mädchen nicht warten konnten und bereits begonnen hatten, das Zimmer zu zerlegen, als die Älteren drei Jungen Koumei grade mal in eine dicke, winterliche Robe hüllten. Da sie dem Kaiser jedoch nicht erklären wollten, weshalb das Gästezimmer und etliche teure Bücher darin derart ramponiert zurückblieben, hatten sie sich vorsichtshalber ohne Hakuren und Koumei ins Freie begeben. Das gefiel dem zweiten Prinzen sehr, denn so musste sich Koumei nicht vor erneuten Schlägen seitens Kouen fürchten und er hatte seinen neuen Freund ganz für sich alleine.

Während sie sich durch den langen Flur bewegten, murmelte Koumei benommen: „Ich würde so gerne liegen bleiben… warum muss ich mitspielen?“

„Du brauchst mal etwas Abwechslung! Bewegung tut gut!“, beteuerte Hakuren, wobei er sich da bei Koumei nicht mehr so sicher war.
 

Endlich schritten sie durch den raureifbedeckten Garten. Man hätte annehmen können, dass in der zweiten Tageshälfte etwas mildere Temperaturen herrschten, aber die Kälte biss immer noch genauso unbarmherzig in unbedeckte Hautstellen wie am frühen Morgen. Noch dazu wehte immer wieder ein leichter, dafür umso eisigerer Wind durch die erstarrten Büsche und kahlen Zweige der Bäume. Der graue Himmel sperrte die Sonne mitleidlos aus. Hakuren war mit diesem Winter überaus unzufrieden. Weshalb schneite es denn nicht? Im Winter musste es schneien! So konnte man doch keine Monster bauen und sich gegenseitig mit Schneebällen abwerfen. Dabei waren das die größten Freuden der kalten Jahreszeit! Vielleicht wäre Koumei bei einer weißgepuderten Umgebung etwas motivierter gewesen, aber jetzt hing er nur schlaff auf seinem Rücken und versuchte erfolglos zu dösen. Hakuren trug ihn in Richtung Sommerpavillon, da Hakuyuu diesen als Startpunkt für ihr Versteckspiel bestimmt hatte.
 

Während er den frostbedeckten Weg dorthin entlang lief, näherten sich ihnen zwei wohlvertraute Gestalten.

„Hey, Prinzlein!“, rief die Kleinere und eilte neben die beiden. Koumei hob verwundert den Kopf und musterte den recht schmächtigen blauhaarigen Jungen, der nun neben ihnen herging.

„Tag, Pflaumenkopf“, gab Hakuren grinsend zurück und hätte dem Neuankömmling einen freundschaftlichen Knuff verpasst, wenn dann nicht der Cousin von seinem Rücken heruntergefallen wäre.

„Aber Seishuu! Wie oft soll ich dir noch sagen, dass man einen Prinzen nicht beleidigt, ganz egal ob man mit ihm befreundet ist oder nicht?!“, ertönte da eine aufgebrachte Stimme und ein anderer, deutlich größerer Junge tauchte hinter dem frechen Kerl auf. Wie immer hielt er seinen Langbogen fest umschlossen und in dem Köcher auf seinem Rücken steckten etliche Pfeile, wobei es an ein Wunder grenzte, falls er mit den langen braunen Haarfransen, die ihm ins Gesicht hingen überhaupt richtig zielen konnte.

Seishuu verzog das Gesicht. Er hatte einfach eine viel zu große Klappe, aber genau das mochte der Prinz an ihm.

„Ach, Chuu'un, ist doch nicht der Rede wert! Ich behandle ihn ja auch nicht netter“, wehrte Hakuren also ab.

„Genau, altes Wölkchen“, pflichtete ihm Seishuu bei und tätschelte Chuu'uns Schulter, wobei er sich sehr strecken musste.

Dieser freute sich gar nicht, nun auch mit einem Spitznamen bedacht zu werden und knurrte unverständliche Worte in sich hinein.

Hakuren merkte, wie Koumei sich den Hals verdrehte, um die beiden Fremden mit misstrauischen Blicken zu bedenken und blieb stehen, ehe er ihn herunter ließ.
 

„Ich habe euch jemanden vorzustellen!“, meinte er stolz und deutete auf den Rothaarigen. „Das hier ist mein Cousin Koumei Ren, der Bruder von Kouen. Und das, Meichen, sind Seishuu und Chuu'un, Adelssöhne die mit uns im Palast aufwachsen, weil ihre Väter wichtige Posten am Hof innehaben! Sie sind ein Jahr älter als ich und werden Yuu und mir eines Tages zur Seite stehen!“

„Sehr erfreut, junger Herr!“, meinte Chuu'un sofort und verneigte sich ehrerbietig, während Seishuu Koumei nachdenklich betrachtete, ehe er verkündete:

„Wie schön dich kennen zu lernen, aber du bist ziemlich winzig für Kouens Bruder!“

Chuu'un verschränkte die Arme vor der Brust. „Das musst du grade sagen“, stellte er trocken fest.

„Hey! Hack nicht immer auf meiner Größe herum, nur weil du nicht mehr mit dem Wachsen aufhören willst, du alter Riese!“, beschwerte sich Seishuu und trat nach seinem Freund. Doch der lächelte nur zufrieden in sich hinein.

Koumei betrachtete die beiden mit großen Augen.
 

Doch auf einmal beanspruchte etwas anderes Hakurens Aufmerksamkeit. Ein Kaninchen hoppelte aus einem steifgefrorenen Gebüsch und rannte unbekümmert an ihnen vorbei. Prompt kam Hakuren eine Idee, wie sie nur ungezogenen Knirpsen kommen konnte. „Was haltet ihr davon, wenn wir den anderen im Pavillon einen ordentlichen Schrecken einjagen, indem wir ihnen einen Kaninchenkopf mitbringen? Wenn Chuu'un schießt, können wir es locker erlegen!“

„Verzeihung, aber das halte ich für keine gute Idee“, wehrte der Junge ab.

Enttäuscht maulte Hakuren: „Mann, Chuu'un! Du bist viel zu langweilig, viel zu brav! Ich hoffe, mein Bruder nimmt dich später zum Vasallen, dann bekomme ich Seishuu, mit dem kann man wenigstens raufen. Du bist immer so steif, als hätte man dir einen Stock in den Hintern geschoben! Komm doch mal mehr aus dir heraus!“

Der Ältere reagierte gar nicht erst auf die Beleidigung.

Seishuu hingegen kicherte begeistert in sich hinein. „Wie recht unser Prinzlein doch hat!“, feixte er.
 

Doch plötzlich ergriff jemand das Wort, der sich die ganze Zeit über vornehm zurückgehalten hatte - Koumei: „Ich würde Chuu'un in jedem Falle Seishuu vorziehen. Er ist mutig und stark, aber er zeigt es nicht jedem. Er ist nicht feige, nur weil er dich nicht zum Lachen bringt, wie Seishuu es tut. Außerdem ist er viel verlässlicher und denkt im Gegensatz zu euch beiden, bevor er handelt.“

Verdutzt starrten alle auf den kleinen Jungen hinab, der sich mit einer Hand an Hakurens Hosenbein festhielt. Besonders Seishuu, der einen sehr eingeschnappten Eindruck erweckte. Aber auch Hakuren fühlte sich seltsam bloßgestellt. Chuu’un wirkte hingegen äußerst zufrieden. Koumei hatte für sein Alter grade verblüffende Menschenkenntnis bewiesen, denn was er so unverblümt daher sagte, war die reine Wahrheit.

„Also Herr Kaiserneffe, möchtest du damit sagen, dass ich dumm bin?“, maulte Seishuu verletzt, nachdem er sich wieder gefangen hatte. Koumei legte den Kopf schief. „Darüber musst du auch noch nachdenken?!“, kreischte Seishuu entsetzt. Hilfesuchend sah er zu Hakuren, der seinen Cousin immer noch überrascht anstarrte.

Eigentlich hatte er gedacht, dass sie als Freunde ähnliche Ansichten über Vasallen und Unterstützer vorweisen könnten, doch wenn er es sich recht überlegte, merkte er, dass Koumei das ziemliche Gegenteil von ihm darstellte. Kein Wunder, dass ihm der langweilige Chuu'un besser gefiel. Dieser war jedoch glücklich, dass endlich jemand seine Qualitäten erkannt hatte und strahlte über das ganze Gesicht. Soweit man es durch seine Haarmähne erahnen konnte. Hakuren fühlte sich manchmal von dessen unbewegter Erscheinung verunsichert.

Nun jedoch war Chuu'un eindeutig gut gelaunt. „Seishuu, du solltest mit dem Neffen des Kaisers in einem freundlicheren Tonfall sprechen“, tadelte er und klopfte seinem bedröppelten Freund wohlwollend auf die Schulter.

„Halt die Klappe!“, brummte Seishuu missmutig und funkelte Koumei an.

Hakuren fühlte sich langsam unwohl. Nicht dass der unbedachte Adelssohn sich noch auf seinen Cousin stürzen würde. Der Kleine versteckte sich bereits halb hinter seinem Rücken, sicherlich hatte er auch Angst.

„Ach, wie es aussieht hat eben jeder von uns eine andere Vorstellung, welche Art die beste ist. Wieso vergessen wir das Ganze nicht?“, schlug der Prinz deshalb vor.

Chuu'un nickte zustimmend, obwohl Hakuren ihn eben noch beleidigt hatte. Nur Seishuu schmollte vor sich hin.
 

Als sie sich schließlich dem Sommerpavillon näherten, hatte der blauhaarige Junge jedoch wieder zu seiner vorlauten Natur zurückgefunden und tratschte mit Hakuren über die Dienerschaft des kaiserlichen Palastes. Da gab es unter anderem eine alte, verbitterte Bedienstete, die alle Kinder hassten, weil sie ihnen zur Strafe für unerwünschtes Verhalten mit Schriftrollen auf den Hinterkopf schlug. Zum anderen, und das fanden die beiden ungezogenen Jungen noch viel spannender, hatte Seishuu vor einigen Monaten in einer abgelegenen Ecke des Palastes einen höherrangigen Offizier aus der kaiserlichen Armee mit einem der jungen Eunuchen erwischt, welche eigentlich zum Schutz der Kaiserin dienten. Unerhört! Hätten sie bereits verstanden, was genau ein Eunuch darstellte, hätten sie diese, in ihren Augen höchst merkwürdige Beziehung, wohl noch interessanter gefunden. Andererseits hatten sie nie etwas Vergleichbares aufschnappen können und waren nun ernsthaft am überlegen, ob sich das so gehörte oder nicht. Hakuren war von Anfang an begeistert von dieser Erzählung gewesen, vor allem als er sie nach einer Weile selbst bestätigen konnte.
 

Die zwei Turteltäubchen, wie die beiden Jungen ihre Entdeckung getauft hatten, waren nie sehr einfallsreich bei der Wahl ihres Treffpunkts und so konnte man, wann immer man etwas Spannendes beobachten wollte, in diesen Teil des Palastes schleichen. Das ungleiche Paar musste furchtbar ineinander vernarrt sein, solch schmachtende Unterhaltungen kannte keiner der beiden von seinen Eltern. Nun gut, die hatten sich wahrscheinlich auch nicht für ein Treffen in eine winzige Besenkammer gequetscht. Ohnehin verstanden die Kinder nicht recht, wie zwei Männer dazu kamen, sich ineinander zu verlieben. Dennoch faszinierte sie das Ungewöhnliche und sie konnten es einfach nicht lassen, hin und wieder nach ihnen zu sehen. Genaugenommen passierte bei ihren Opfern nicht sonderlich viel, außer diesen lächerlich schnulzigen Gesprächen, welche einem vor Lachen die Tränen in die Augen treiben konnten. Auch das scheinbar zum Ritual gewordene, liebevolle Teilen eines Pfirsichs wirkte amüsant. Vor allen Dingen, wenn man den Offizier ansonsten lediglich als stattlichen, furchteinflößenden Riesen kannte.

„Meine liebste Lotusknospe, wie sehr habe ich mich die letzten Tage nach dir verzehrt“, klang aus seinem Mund eben nicht sonderlich glaubwürdig.

Erstaunlich, erstaunlich. Ein Wunder, dass die beiden kichernden Jungen noch nicht entlarvt worden waren.

Chuu'un, der nicht sonderlich viel für derartigen Klatsch erübrigen konnte, hielt sich wachsam neben Koumei und bemühte sich darum, ihn nicht allzu viel von dem Gespräch der Älteren hören zu lassen. Sonst würde er sicher genauso unerträglich werden wie sein Cousin. Außerdem verhinderte er auf diese Weise, dass der Winzling zurückfiel. Ihm kam der Sohn des Kaiserbruders wirklich noch sehr klein vor und er befürchtete, dass der sorglose zweite Prinz ihn irgendwo in den Weiten des Palastgartens verlieren könnte, wenn er sich mit Seishuu amüsierte. Also passte er auf den Kleinen auf, solange Hakuren abgelenkt war.
 

Natürlich kamen sie zu spät am Treffpunkt an. Kein Wunder, wenn Hakuren und Seishuu sich ausgiebig über ihr momentanes Lieblingsthema austauschten, konnten Stunden vergehen. Alle anderen Kinder hatten sich bereits versammelt. Ungeduldig wurden die vier Nachzügler von Hakuyuu empfangen, was Seishuu jedoch nicht davon abbrachte, Kouen stürmisch zu begrüßen. Neugierig ließ Hakuren seinen Blick über die Anwesenden schweifen. Außer seinem Bruder, Kouen und den beiden Mädchen waren da auch noch Kin Furui, ein zehnjähriges Mädchen und Schwester von Kin Gaku, der des Öfteren Ringen mit den jungen Prinzen übte. Furui kicherte, sobald Hakuren mal wieder auf dem eisigen Fliesenboden des Pavillons ausrutschte. Neben ihr lehnten die Zwillinge Kokusen und Kokuton Shuu an der Wand. Genau wie bei Chuu'un und Seishuu hatte ihr Vater eine hohe Stellung an der Seite des Kaisers inne. So waren die Kinder mehr oder weniger gemeinsam aufgewachsen. Etwas verlegen rappelte Hakuren sich vom kalten Boden auf und strahlte in die Runde. Perfekt, eigentlich waren alle gekommen, mit denen er etwas anfangen konnte. Zwar waren sämtliche Adelssprösslinge älter als er und deutlich besser mit Hakuyuu befreundet als mit ihm, doch er mochte sie trotzdem.
 

Nachdem er Koumei mal wieder vorgestellt hatte, der Winzling zu seiner Enttäuschung jedoch keine bemerkenswerte Aufmerksamkeit erhielt, ergriff sein großer Bruder das Wort:

„Sind endlich alle da?“

„Ja!“, kreischte Koujaku prompt. Kouen musste sie am Kragen packen, damit sie nicht johlend auf ihren kaiserlichen Cousin zu rannte. Das war nicht einmal zu ihrem Pech, denn sonst wäre sie sicherlich ebenfalls auf die Nase gefallen. Sicherlich würde er sie in Zukunft nicht mehr so oft an ihren Spielen teilhaben lassen, so aufgedreht wie sie sich benahm.

Immerhin hatten sich nun wirklich alle Teilnehmer des Spiels versammelt und so verkündete Hakuyuu: „Bevor wir beginnen, müssen wir uns überlegen, was wir mit Kouens Geschwistern machen. Wir können sie schlecht alleine im Garten herumlaufen lassen, nicht dass sie sich sonst verirren und wir sie nicht mehr wieder finden.“

„Aber Prinz Hakuyuu, ist es nicht Sinn des Versteckenspielens, nicht gefunden zu werden?“, erhob Kokusen kritisch die Stimme.

„Da liegst du natürlich richtig, Sen. Aber mein Onkel wird erzürnt sein, wenn seine Kinder verloren gehen.“

Hakuren knirschte mit den Zähnen. Eigentlich hatte er nichts gegen den kräftigen Jungen. Aber der Kerl musste sich immer auf dämliche Art und Weise in die Reden seines Bruders einmischen. An sich wäre das nichts Schlimmes, das tat Hakuren schließlich selbst oft genug. Allerdings wurde er dann meistens angepflaumt. Kokusen hingegen hatte von Hakuyuu nichts zu befürchten. Die zwei waren ein Herz und eine Seele. Wahrscheinlich sahen sie einander eher als Brüder an, anstatt ihre Blutsverwandten.

„Na schön“, lenkte Kokusen ein, „dann muss Kouen sich eben um seine Geschwister kümmern.“

Weder Kourin, noch Koujaku wirkten mit dieser Lösung zufrieden. Nur Koumei ließ keine Regung erkennen, er stand immer noch neben Chuu'un und fröstelte kaum merklich. Hakuyuu nickte nachdenklich.

„Das wäre eine Möglichkeit. Nur kann er sich mit drei weiteren Leuten schlecht verstecken. Deshalb schlage ich vor, dass immer nur einer von den Kleinen mit jemandem von uns mitgeht.“
 

Sofort stieg nicht zu bändigende Freude in Hakuren auf. „Ich nehme Mei!“, rief er begeistert. Sein älterer Bruder rieb sich zweifelnd die Stirn.

Traut er mir etwa nicht zu, mich um Meichen zu kümmern?!, dachte der zweite Prinz fassungslos. Entrüstet bellte er: „Denk ja nicht daran, es mir zu verbieten! Koumei und ich kommen hervorragend miteinander aus. Wir sind Freunde!“

„Was sagst du dazu, Kouen?“, argwöhnte Hakuyuu.

„Ich wüsste nicht, was dagegen spricht. Koumei scheint jedenfalls mit seinem Vorschlag einverstanden zu sein“, entgegnete dieser sorglos.

Überrascht, dass von Kouen kein Widerspruch kam, hakte Hakuren nach: „Heißt das, wir dürfen zu zweit in den Garten? Alleine, ohne einen von euch?“

„Natürlich, du Hohlkopf“, brummte Hakuyuu genervt und stupste ihn mit seinem Zeigefinger vor die Stirn, „aber du musst dich auf vorbildlichste Weise um unseren Vetter kümmern, immerhin bist du der Sohn des Kaisers!“

Stolz leuchtete in den Augen des übermütigen Prinzen. „Das werde ich, Yuu! Versprochen!“

Kaum war diese Frage geklärt, rutschte und schlitterte Koumei zu ihm herüber. Chuu'un warf ihm einen beinahe wehmütigen Blick hinterher, offenbar hatte nicht nur Hakuren den kleinen Jungen liebgewonnen. Aber das war dem Prinzen egal. Grinsend wuschelte er dem Winzling durch die Haare, was ein empörtes Quieken auslöste. Unterdessen teilte Hakuyuu Koujaku und Kourin auf Kouen und sich selbst auf. Endlich bekam die älteste Schwester was sie wollte: Die Aufmerksamkeit des ersten Prinzen. Mit einem seligen Lächeln auf den Lippen umklammerte sie seine Hand und sah sehr niedlich aus.

Koujaku hingegen sträubte sich mal wieder gegen Kouens rauen Griff. „Ich will aber nicht mit En gehen!“, heulte sie verzweifelt.

„Doch das wirst du! Du veranstaltest immer nur Unsinn, also bleibst du bei mir! Es wäre eine Zumutung, dich jemand anderem zu überlassen!“, blaffte ihr Bruder und hielt sie unerbittlich fest.

„Hakuren! Lass mich nicht im Stich!“, wimmerte sie bitterlich, aber ihr Cousin war bereits mit Koumei bedient und sehr glücklich über diese Einteilung.

Wahrscheinlich wäre er mit dem quirligen Spatzenmädchen heillos überfordert gewesen. Koumei hingegen konnte er sich zur Not einfach über die Schulter werfen. Der liebe Knirps würde ihm sicherlich keine Schwierigkeiten bereiten. Im Gegenteil, bestimmt würde er ihm treuherzig in das Versteck folgen, welches sich der Prinz bereits am Morgen überlegt hatte, denn er kannte sich in großen Teilen des Gartens selbst im Schlaf aus.
 

Nachdem alles weitere geklärt worden war, stapfte Hakuren mit Koumei an seiner Seite durch das reifbedeckte Gras. Ein wenig hektisch trieb er seinen Cousin zur Eile an. Seishuu sollte als Erster suchen und zählte grade im Pavillon von 100 auf Null herunter. Bis dahin mussten sie wenigstens hinter den Büschen verschwunden sein. Dies gestaltete sich als komplizierter als erwartet. Aus irgendeinem Grund vergaß der Prinz immer wieder, dass Koumei dank seiner geringen Größe und seinem Alter noch nicht besonders schnell laufen konnte. Mittlerweile musste Seishuu mindestens bei 50 angekommen sein, aber sie hatten sich dem sicheren Terrain nicht nennenswert angenähert.

„Meichen, beeil dich!“, drängte er. Dabei ging dessen Atem bereits beängstigend abgehackt.

„Geht nicht!“, stieß der Kleine hervor und versuchte trotzdem schneller hinter ihm her zu trippeln, weil Hakuren beschleunigte. Ein paar Meter entfernt drehte er sich nach seinem Cousin um.
 

„Schneller!“

Doch Koumei stolperte lediglich über seine eigenen Füße. Beunruhigt sprang Hakuren zu ihm hinüber und hievte ihn auf seinen Arm. So schnell er mit seiner Last konnte, lief er zwischen die Äste eines großen Holunderbusches. Leider besaß dieser im Winter keinerlei Blätter. Im Sommer wäre er ein großartiges Versteck gewesen. Nun mussten sie sich weiter ins Gebüsch vorkämpfen, um nicht als erste gefunden zu werden. Koumei hing an Hakurens Hals wie ein Stein.

„Wieso bist du nur so schwer?“, stöhnte der Prinz.

„Du bist zu klein und schwach!“, erwiderte der Knirps.

„Ist das dein Ernst?“

„Ja, Herr Hakuren. Du bist lediglich drei Jahre älter, da ist es nicht verwunderlich, dass es für dich anstrengend ist, jemanden zu tragen, selbst wenn er noch sehr jung ist. Du bist ja auch sehr jung.“

Dieser Einwand war durchaus berechtigt, fand Hakuren. Verbissen zwängte er sich durch die hochgewachsenen Stauden.

„Dauert dieses Spiel noch lange? Wohin gehen wir? Ich bin müde und es ist so kalt!“, klagte Koumei.

Verstimmt runzelte der Ältere die Stirn. „Wir haben grade erst angefangen. Bestimmt dauert es noch bis zum Abend. Hoffentlich. Ich habe ein tolles Versteck für uns überlegt! Wirst schon sehen. Da ist es sogar wärmer, weil kein Wind dorthin kommt. Dort kannst du dich sogar ausruhen!“

An dem betrübten Blick des Kleinen konnte er jedoch gleich erkennen, dass ihm das Bett tausendmal lieber gewesen wäre. Aber darum wollte der Schwarzhaarige sich jetzt nicht kümmern. Ihr Weg wurde nun nämlich ein bisschen steiler. Mit einem kleinen Knubbel auf dem Arm eine echte Herausforderung.
 

Bald röchelte auch der aktive Prinz vor Anstrengung. Dafür befanden sie sich endlich am Ziel des beschwerlichen Weges: Zwischen ein paar immergrünen Sträuchern, unter einer knorrigen Kiefer, ragte ein mächtiger Fels in die Höhe. Niemand, der nicht bereits einmal durch Zufall hineingefallen war, hätte den Spalt zu dessen Fuße gefunden. Kurzum: Ein hervorragendes Versteck. Der moosbewachsene Gesteinsbrocken war von schimmerndem Frost überzogen. Ein hübscher Anblick. Selbstzufrieden setzte Hakuren Koumei ab und kroch zu der schmalen Öffnung, welche, wie er aus schmerzhafter Erfahrung wusste, in eine kleine Höhle unter dem Felsen führte. Eigentlich war es mehr ein Hohlraum, in den mit Ach und Krach zwei kleine Kinder passten. Aber für Hakuren war es eben eine Höhle, weil er diese Bezeichnung spannender fand.

„Also Meichen, hier ist unser Versteck. Es ist ein wenig dunkel, aber du musst keine Angst haben. Ich bin ja bei dir.“

„Mhm…“, machte der Rothaarige und schielte unbehaglich auf den finsteren Spalt. „Gibt es da Spinnen?“, flüsterte er furchtsam.

Das konnte nicht Koumeis Ernst sein. Wer fürchtete sich schon vor den kleinen Krabbeltieren? Gut, es gab einige Tiere, die echt ekelig waren, aber ein paar kleine, niedliche Spinnchen waren doch einfach putzig! Es kribbelte so schön, wenn sie einem über die Arme krabbelten.

Um des Spiels willen bediente sich der kleine Prinz einer raschen Notlüge: „Ach nein, wieso sollte es denn da Spinnen geben?“

„Es ist dunkel.“

„Eben. Wenn ich eine Spinne wäre, würde ich lieber in einem Baum leben. Da ist es viel heller und schöner.“

„Aber Spinnen mögen die Dunkelheit…“

„Das sagen immer nur alle. Woher sollen sie das wissen? Hast du etwa schon mal mit einer geredet?“

„N-nein, Ren“, gab Koumei kleinlaut zu, „aber bei uns zu Hause gibt es eine Abstellkammer, die ganz dunkel ist und da leben riesige Spinnen. Koujaku hat mich dort einmal eingesperrt. Ich hatte solche Angst.“

Mitleidig schaute Hakuren auf ihn herab. Koujaku hatte eindeutig viel mehr auf dem Kasten, als man ihr ansah. „Meichen, das ist ja schrecklich! Aber hier gibt es ganz sicher keine Spinnen und du bist weder eingesperrt noch alleine. Ich passe auf dich auf. Ich kümmere mich um dich. Falls dort eine Spinne ist, werde ich sie für dich fangen und rauswerfen, in Ordnung?“

Der kleine Junge zögerte und wand sich. „Na gut…“, gab er schließlich nach.

Hakuren hätte ihm um den Hals fallen können. Vielleicht schafften sie es heute doch noch, sich zu verstecken.
 

„Gut, ich gehe zuerst rein und du folgst mir, ja?“

Koumei senkte zustimmend den Kopf, ließ ihn nicht aus den Augen. Dieser unschuldige, liebe Blick machte Hakuren ein wenig nervös. Was, wenn seinem Cousin zur Begrüßung als allererstes eine Spinne über die Stirn krabbeln würde, die es doch angeblich nicht in dieser Höhle gab? Koumei würde ihm das bestimmt auf ewig nachtragen. Dennoch zwang sich der Prinz, durch den Spalt in die Finsternis zu kriechen. Natürlich streiften seine Hände Spinnenweben und der nackte Fels war eiskalt. Zitternd kauerte sich Hakuren in die äußerste Ecke, um etwas Platz zu schaffen. Vorsichtshalber vergrub er seine Finger in der warmen Winterrobe. Himmel noch mal, war es hier frostig! Hoffentlich würde der Kleine nicht den Schock seines Lebens bekommen. Ach was, das übersteht er schon. Zur Not steckst du ihn mit unter deine Robe.

„Mei, du kannst!“, rief er.

„Mag nicht“, wisperte es von außen, so leise, dass sich Hakuren die Worte eher aus dem Kontext erschlossen, als dass sie zu hören waren.

„Was? Du hast doch grade gesagt, dass du mitkommst!“

„Will nicht“, piepste es wieder. „Es ist dunkel und da sind Spinnen. Ganz sicher.“

„Quatsch, nur ein paar Spinnenweben!“

„Also sind dort auch Spinnen!“

„Nein, Mei, ich habe noch keine einzige gesehen!“

„Kannst du ohne Licht ja gar nicht!“

Hakuren seufzte geschlagen. Sein Cousin war viel zu schlau für sein geringes Alter. Das konnte nicht mit rechten Dingen zugehen. Immer schaffte er es, seine Argumente zu entkräften. Ein vierjähriger Winzling! Offenbar hatte er panische Angst vor Spinnen.
 

Dann würde Koumei eben draußen warten müssen. Dem Prinzen gefiel diese Idee überhaupt nicht. So ein kleiner Rotschopf mitten in der Landschaft war verdächtig. Selbst ein Trottel wie Seishuu würde das erkennen. Hoffentlich verriet Koumei das Versteck nicht. „Dann wartest du hier, bis wir gefunden werden, ja? Und du sagst niemandem wo ich bin, verstanden?“, schärfte er ihm ein.

Koumei meinte: „In Ordnung. Glaubst du, dass es lange dauert, bis Seishuu herkommt?“

„Je nachdem. Eigentlich kennt er das Versteck, weil wir öfters hier reinkriechen. Aber von alleine findet er nicht immer in diesen Teil des Gartens, weil er sich schnell verläuft. Also wird es schon noch etwas dauern“, mutmaßte der Ältere.

„Oh nein…“, seufzte Koumei und klang dabei wie ein alter, eingerosteter Greis, der gleich vor Erschöpfung eines qualvollen Todes sterben würde.

„Komm schon, Mei! Reiß dich einmal kurz zusammen. Außerdem müssen wir langsam leise sein, sonst findet Seishuu uns sofort!“

„Das wäre schön…“

„Nein! Der Gewinner des Spiels ist doch, wer als letztes gefunden wird! Das wollen doch wir sein, oder nicht, Meichen?“

„Mir egal… es ist so kalt.“

Na toll, Koumei verstand einfach keinen Spaß. Wenigstens gab der Winzling jetzt Ruhe. Normalerweise redete er so wenig, aber jetzt verspürte er wohl das Bedürfnis, sich mitzuteilen. Na ja, im Gegensatz zu Koujaku konnte man ihn aber noch verhältnismäßig schnell zum Schweigen bringen. Welch ein Glück.
 

Fröstelnd wickelte sich Hakuren fester in das dicke Gewand. Niemals hätte er vermutet, dass es in dieser Höhle noch kälter als an der Winterluft sein könnte. Hoffentlich wurde es bald Frühling. Dieses eisige Wetter hatte er langsam satt. Er wollte wieder den ganzen Tag draußen toben und Kampfübungen im Garten erteilt bekommen. Außerdem folgte auf den Beginn des neuen Jahres sein Geburtstag. Hakuren konnte es gar nicht mehr abwarten, bis er sein achtes Lebensjahr erreichte. Zum einen wegen den großartigen Feiern und außergewöhnlichen Geschenken, die sein Vater für seine Söhne stets organisierte, zum anderen weil er endlich erwachsen sein wollte. Dann würden ihn die Menschen endlich für voll nehmen und er wäre nicht länger der dumme, kleine zweite Prinz, auf den alle herab sahen. Nein, sobald er endlich sein sechzehntes Lebensjahr erreicht hätte, würde er sicherlich mehr Autorität besitzen und nicht mehr im unüberwindlichen Schatten seines großen Bruders versinken. Genau, die Berater seines Vaters würden dann ehrfürchtig vor ihm niederknien, um Hakurens Befehl auszuführen. Dieses Szenario spielte er sich immer wieder in Gedanken vor. Wie sehr er sich danach sehnte, selbst über sein Schicksal zu bestimmen! Nicht, dass ihm das jemals bedingungslos möglich sein würde… Sein heftiges Zähneklappern riss den Prinzen aus den träumerischen Gedanken. Verdammt, diese Kälte! Irgendwie wusste der Junge langsam nicht mehr, ob er sich freuen sollte, dass Seishuu noch nicht aufgetaucht war. Vielleicht sollte er lieber aus seinem Versteck herauskommen und sich freiwillig stellen, um nicht am Höhlenboden festzufrieren. Ob es gut für Koumei war, so lange draußen zu warten? Ab und an fegten im Winter scharfe Windböen durch den Palastgarten, die bei diesen unterirdischen Temperaturen wie Nadelstiche auf den entblößten Wangen schmerzten. Wie lange hockte er überhaupt schon hier? In der Dunkelheit konnte man sich nicht mal am Stand der Sonne orientieren. Wobei dies bei dem wolkenverhangenen grauen Himmel ohnehin ein Ding der Unmöglichkeit darstellte.
 

„Meichen?“, rief Hakuren also leise, um zu erfahren, ob sein Cousin nicht zu einem Eisklotz erstarrt war.

Doch statt einer zarten Stimme antwortete eine ungehobelte: „Falsch gedacht, ich bin‘s! Hab ich euch zwei endlich! Wieso bin ich nicht früher hier vorbeigekommen? War doch klar, dass ich euch hier finden würde!“ Schon erschien Seishuus freches Gesicht im Höhleneingang.

„Freu dich“, murrte Hakuren. War ja klar gewesen, dass Meis Haare selbst diesen orientierungslosen Kerl anlocken würden. „Wusste gar nicht, dass du dich an den Weg zur Höhle erinnern kannst.“

Seishuu zuckte nur die Achseln und ergriff den Arm des Prinzen, um ihn aus dem dunklen Spalt zu ziehen.

„Sind wir wenigstens die letzten?“

„Nein, Kokuton fehlt noch.“

„Na toll, dann hätten wir uns besser hinter einem Baum versteckt. Ich wusste, dass Koumeis rote Haare wie ein Signalfeuer zwischen den Sträuchern hindurch leuchten würden“, grummelte Hakuren.

Verwirrt starrte Seishuu ihn an und kratzte sich hinterm Ohr. „Wo leuchtet bitte Koumeis Haar? Ich habe nichts davon gesehen! Ist er etwa nicht hinter dir in der Höhle? Komm, ich zieh ihn auch noch raus!“ Rasch spähte der Blauhaarige hinter Hakuren in den Felsspalt. Natürlich entdeckte er dort keinen Winzling.

Allerdings fand Hakuren hier draußen plötzlich auch keinen mehr. Zuerst hatte er das darauf geschoben, dass das Licht ihn nach dem langen Warten in der Dunkelheit blendete, doch das konnte nicht der Grund sein, weshalb er seinen kleinen Freund nicht entdecken konnte: Koumei hielt sich tatsächlich nicht länger vor dem Höhleneingang auf, wie der Prinz es ihm befohlen hatte!
 

Als die beiden Jungen hinter dem Felsen und in dem Busch daneben nachsahen, gerieten sie erst recht ins Stutzen: Kein Koumei! So ein Mist! Kouen hatte ihm seinen Bruder gnädig anvertraut und Hakuren hatte nichts Besseres im Sinn, als seinen niedlichen Cousin irgendwo in der Kälte zu verlieren, weil er gerne ein tolles Versteck erschließen wollte. Kein Wunder, dass Koumei offenbar ohne ihn weitergezogen war.

Nachdem sie die umliegenden Sträucher durchkämmt hatten, stieß Seishuu angespannt hervor: „Sag bitte nicht, dass er weg ist.“

„Sieht aber ganz danach aus!“, knurrte Hakuren, der sich verzweifelt die Haare raufte. Langsam aber sicher wurde ihm ein wenig mulmig zu Mute. Auch er war, als er kleiner war, des Öfteren angeblich spurlos verschwunden, nur um nach ein paar Stunden glücklich und wohlbehalten an einem unerwarteten Ort wieder zu erscheinen. Das einzige Problem, welches heute bestand, war die tödliche Kälte. Wenn sie Koumei nicht schleunigst fanden, drohte dem Kleinen großes Unheil. Plötzlich bemerkte Hakuren, dass Kouen noch gar nicht wutschnaubend neben ihm stand und seinen Hals zerquetschte. „Wo sind eigentlich die anderen?“

Seishuu tätschelte ihm beruhigend die Schulter. „Sie warten am Pavillon, weil sie keine Lust hatten, sich in der Kälte zu bewegen. Eigentlich dumm, schließlich hält Bewegung warm. Wir sollten zurückgehen und sie bitten, uns bei der Suche zu helfen, dann finden wir deinen Cousin im Handumdrehen“, schlug der Ältere vor.

Der Prinz nickte steif. Er wurde langsam unruhig. Hoffentlich würden sie Koumei schnell finden, sonst würde es für ihn gefährlich werden.
 

Schnell gelangten sie zum Rest der Kinder. Sogar Kokuton war anwesend. Offenbar hatte er keine Lust gehabt, weiter in seinem unbequemen Versteck zu kauern.

Den Ausraster, den Hakuren von Kouen vorhin vergeblich erwartet hatte, bekam er nun auf einem Silbertablett serviert.

Kaum begriff sein Cousin, dass Seishuu und der Prinz es wagten, ohne Koumei aufzuschlagen, stürzte er sich auf den Älteren. „Wo ist mein Bruder?!“, brüllte er und packte ihn am Kragen. Wenn es ernst wurde, vergaß er sogar seinen Respekt. Ohnehin kümmerte sich Kouen um nichts anderes mehr, außer Koumeis Verschwinden. Dafür dass er kleiner als Hakuren war, fiel es ihm ganz schön leicht, ihn erbarmungslos durchzurütteln.

Die Umstehenden beobachteten das beängstigende Schauspiel unbehaglich.

Die Unruhe des zweiten Prinzen wurde prompt zu Scham. Mit hochrotem Kopf ließ er Kouens Wut über sich ergehen und starrte zu Boden. Dessen Zorn hatte er wirklich mehr als verdient. „Ich weiß es nicht…“, flüsterte er betreten.

„WAS?!“, schrie der Jüngere außer sich. Entsetzt riss er an Hakurens Robe. „Du solltest doch auf ihn aufpassen! Ich dachte, ich könnte dir vertrauen! Wie konnte ich nur so blöd sein und Hakuyuus Bedenken in den Wind schlagen?!“, keuchte Kouen. Auch sein Gesicht war knallrot angelaufen, während der Rest seines Körpers vor Kälte zitterte. Er wirkte, als wollte er Hakuren am liebsten den Schädel einschlagen.
 

Doch bevor es dazu kommen konnte, nahm Hakuyuu den tobenden Jungen beiseite. „Das reicht!“, befahl er.

Leider kehrte keine Ruhe ein, nachdem Kouen verstummt war: Es gab noch zwei andere Kinder, die mit dem Verschwinden ihres Bruders zu kämpfen hatten. Kourin und Koujaku lagen sich heulend in den Armen. Offenbar hegten sie bereits die schlimmsten Vermutungen, was dem Vermissten zugestoßen sein könnte.

„Er ist von einem Mörder verschleppt und zerstückelt worden!“, schluchzte Koujaku und krallte sich verzweifelt an ihre Schwester, die ihrerseits wimmerte:

„Ein Bär hat ihn zerrissen und gefressen! Und ich habe ihm gar nicht mehr gesagt, dass ich ihn liebhabe, obwohl er immer nur schläft und liest!“
 

Seufzend musterte Hakuyuu seine vollkommen geschafften Familienmitglieder. Alle waren augenscheinlich einem Nervenzusammenbruch nahe. Wie nachvollziehbar. Er hatte gewusst, dass die Verantwortung für ein Kleinkind zu viel für Hakuren war, aber da Kouen es ihm erlaubt hatte, hatte er schließlich doch zugestimmt. Nun musste er seine Nachlässigkeit wieder ausbaden. Nicht auszudenken, wenn Koumei wirklich etwas zugestoßen war, oder sie ihn nicht rechtzeitig fanden. Bei diesem fürchterlichen Winterwetter würde er in Windeseile erfrieren. „Wir beruhigen uns jetzt alle mal wieder“, beschloss er fest. Tatsächlich ließ sein entschlossenes Auftreten keinerlei Widerspruch zu. Beklommen wandte Kouen den Blick ab, während das lautstarke Heulen seiner kleinen Schwestern zu einem erträglichen Weinen abklang. „Am besten suchen wir Koumei sofort. Wir teilen uns auf. Ren, du führst En zu der Stelle, wo du Koumei als letztes gesehen hast, klar? Geht schon mal, den Rest regele ich. Und auf Kourin und Koujaku passen wir hier auch auf.“

Gehorsam stürmten die Cousins los. Eigentlich war es kein schönes Gefühl mit einem vor Wut und Angst kochenden Kouen in einen abgelegenen Teil des Gartens zu rennen, doch Hakurens Gedanken wurden zu sehr von der Furcht um Koumei beeinträchtigt.
 

Als sie außer Atem an der Höhle ankamen, runzelte Kouen bekümmert die Stirn. Hakuren beobachtete voller Reue, was er angerichtet hatte. Hätte er Koumei doch mit in sein Versteck gezerrt, dann wäre er niemals verloren gegangen.

Sein Cousin kam beinahe um vor Sorge. Fieberhaft warf er den Kopf in jegliche erdenkliche Himmelsrichtung und erfasste hektisch die Umgebung. Blindwütig bogen sie undurchdringliches Gestrüpp auseinander, krochen in die Höhle, lugten hinter Bäume… erfolglos. Kouens Bewegungen wurden immer aggressiver. Er schlug die Äste beiseite, als seien sie seine persönlichen Feinde und brüllte in einem fort den Namen seines Bruders. „Verdammt!“, stieß er schließlich heiser aus. „Hier sind überall Büsche, er könnte unter jedem von ihnen sein!“ Daran, dass Kouen in Gegenwart eines Prinzen fluchte, erkannte man, dass er vollkommen in Panik verfallen war.

Diese Panik übertrug sich allmählich auf Hakuren. „Es tut mir so leid!“, beteuerte er. Der arme Junge machte sich schreckliche Vorwürfe. Weshalb hatte er Koumei überhaupt zum Verstecken spielen gezwungen, der Kleine hatte von Anfang an keinerlei Interesse an diesem verfluchten Spiel gezeigt und nun war er dabei auch noch verschollen! Wie furchtbar! Tränen sammelten sich in seinen Augenwinkeln, als er daran dachte, dass das Letzte, was er von seinem Freund gehört hatte, eine Klage über die unerträgliche Kälte gewesen war, weil Hakuren unbedingt spielen wollte. Dabei hatte er mal wieder nicht gemerkt, dass Koumei keinerlei Spaß an der Aktivität empfand. Am liebsten hätte Hakuren sich selbst geschlagen. Was für ein schlechter Freund er war!
 

Nachdem jeder Fleck unbedeckter Haut der beiden Jungen gefühlt abgestorben war und sie kaum noch die Finger bewegen konnten, beschloss Kouen, dass sie zu den anderen zurückkehren sollten. „Lass uns den Weg zum Pavillon absuchen, vielleicht ist er weitergekommen, als gedacht“, schlug der Rothaarige vor und raufte sich erschöpft die Haare.

„Wie du meinst, En“, flüsterte Hakuren und wischte sich verstohlen eine Träne beiseite. Das hier war der schlimmste Moment seines Lebens. Am besten schalteten sie bald einen Erwachsenen ein, sonst wäre Koumei bald nur noch ein erfrorenes Häuflein Elend. Falls er überhaupt noch lebte. Ein eingedrungener Bär wäre zwar unwahrscheinlich, aber wer wusste schon, ob sich nicht tatsächlich ein Entführer und Mörder im Palastgarten herumtrieb, der gierig in den Schatten lauerte, um sich unschuldige, wehrlose Kinder zu schnappen. Vielleicht war Koumei auch irgendwo im Eis eingebrochen… Mit den schlimmsten Befürchtungen vor Augen folgte Hakuren seinem ältesten Cousin. Seine Schultern hingen schlaff herab. Was, wenn er für den Tod seines Freundes verantwortlich war? Kouen wechselte kein Wort mit ihm. Wenn sie Koumei nicht bald quicklebendig wiederfinden würden, würde das auch für den Rest ihres Lebens so bleiben. Er war so sehr in seine trübseligen Gedanken versunken, dass er gar nicht merkte, dass Kouen plötzlich stehen geblieben war.
 

„Was ist?“, fragte der Prinz kleinlaut, doch der andere antwortete nicht. „En?“

Sein Cousin glich einer erstarrten Salzsäule. Ehe er aus heiterem Himmel in einen ausladenden, immergrünen Busch am Wegesrand sprang.

„Warte!“, rief Hakuren, doch er stieß lediglich auf taube Ohren. Also zwängte er sich hinter Kouen in das Gestrüpp hinein. Von seinem Cousin war nicht mehr viel zu erkennen, außer einem Robenzipfel, der ebenfalls flink hinter raureifbedeckten Blättern verschwand. Nach ein paar Schritten, nach denen der Prinz sich bereits etliche Dornen ins Fleisch gezogen hatte, gab er es auf Kouen folgen zu wollen. Was war das nur für ein lebensfeindliches Gewächs! Umgeben von seinen weißen Atemwölkchen kämpfte er sich wieder aus dem Busch hervor, der ihn wohl um jeden Preis in sich behalten wollte. Die Dornen kratzten brutal an seiner Haut, doch der Junge ignorierte den Schmerz. Kouen ging es jetzt bestimmt noch schlimmer als ihm.
 

Damit hatte er nicht Unrecht. Der Kaiserneffe wehrte sich verbissen gegen die Zweige und Dornen, welche sich bald überall an ihm verfangen hatten. Doch das Stechen und Pieken kümmerte ihn nicht. Nein, er hatte am Wegesrand etwas erspäht, was ihn sehr stutzig machte. Ein winziger Fetzen einer gelben Robe, wie sie sein kleiner Bruder so oft trug, hatte an einem dünnen Ästchen gehangen. Kouen wusste nicht, was beim Anblick des Stoffstückchens in ihm vorgegangen war, aber jede Faser seines Körpers hatte ihn mit einem Mal in dieses düstere Dickicht getrieben. Verzweifelt kroch er zwischen Blättern und Dornen hindurch. Und dann sah er ihn. „Koumei!“, brüllte er und stürzte an seine Seite. Sein Bruder lag zusammengerollt im Busch und rührte sich nicht. Angstvoll rüttelte er ihn an der Schulter, erhielt jedoch keinerlei Lebenszeichen. Panisch zerrte er das kalte Bündel in seine Arme und kroch mit ihm ins Freie. Der Weg zurück durch das Geäst glich einer Folter. Koumei wurde immer schwerer und schwerer und seine Gewänder verfingen sich immer wieder in den Dornen. Doch schließlich erblickte er wieder das reine Tageslicht, wo er bang erwartet wurde.
 

Als ein zerzauster Kouen mitsamt einem totenbleichen Koumei auf dem Arm aus dem Busch taumelte, wollte Hakuren seinen Augen nicht trauen. Dem winzigen Jungen schimmerte Raureif in Wimpern und Haar. Er sah vollkommen erfroren aus. Erschrocken beäugte der Prinz die beiden und fragte sich, woher Kouen gewusst hatte, an welcher Stelle er suchen musste. Doch viel stärker nagte die Sorge um den reglosen Winzling an seinem Herzen. Er würde doch nicht etwa…?

„Er lebt“, verkündete Kouen, als er den furchtsamen Blick Hakurens wahrnahm. Sofort entwich die Anspannung aus dem Körper des Prinzen. Kouen funkelte ihn vorwurfsvoll an. Der Schock stand ihm noch ins Gesicht geschrieben und er machte keinen Hehl daraus, dass er alleine Hakuren dafür verantwortlich sah. Vorsichtig drückte er seinen Bruder an die Brust. Er schien mal wieder eins seiner nervtötenden Schläfchen abzuhalten. Bei dieser Kälte? Offenbar schon. Dabei sollte er eigentlich ganz genau wissen, dass man daran sterben konnte.
 

„K-Koumei?“, hauchte Hakuren hilflos und strich dem Zottel zärtlich über die eiskalte Wange. Irrte er sich, oder entdeckte er da grade die ersten Eiskristalle auf der vernarbten Haut?

„Nimm die Pfoten von ihm! Du hast für heute genug Schaden angerichtet!“, knurrte Kouen und drehte sich zur Seite.

Verletzt beobachtete Hakuren, wie der Jüngere Koumei besorgt im Arm hielt und so gut wie möglich in seine Gewänder miteinwickelte. Er wollte doch nur schauen, ob es dem Kleinen wirklich so schlecht ging, wie er aussah. Diese schrecklichen Schuldgefühle, die sich in seiner Brust eingenistet hatten, wollten unbedingt gelindert werden. Aber jetzt ließ Kouen nicht mal zu, dass Hakuren sich ebenfalls um Koumei kümmern wollte. Nun gut, irgendwie konnte der Prinz ihn verstehen. Er hatte seine Aufgabe gründlich vermasselt. War kläglich daran gescheitert, auf das kleine Menschenbündel aufzupassen, weshalb sein Cousin nun ganz schwach und bewusstlos auf Kouens Arm hing. Niedergeschlagen trottete er hinter den beiden her. Während Kouen schleunigst den Weg zum Palast einschlug, befahl er Hakuren, den anderen Bescheid zu geben, damit sie nicht weiter vergeblich suchten. Eigentlich verspürte dieser den Drang seinen Cousins zu folgen, weil er sich sehr um Koumei sorgte, doch Kouens glühender Blick ließ keinerlei Widerspruch durchgehen. Obwohl eigentlich Hakuren das Sagen hatte, kuschte er vor der feurigen Wut in Kouens Miene. Der Rothaarige erinnerte ihn an einen brüllenden Löwen, wirkte nur noch furchteinflößend. So blieb Hakuren nichts anderes übrig, als die restlichen Kinder zusammen zu trommeln und ihnen die gute Nachricht über Koumeis Erscheinen zu überbringen. Natürlich waren alle erleichtert, dass Hakurens Fahrlässigkeit kein allzu böses Ende genommen hatte. Zumindest hofften sie dies. Koumei hatte wirklich sehr ungesund ausgesehen…
 

Wenig später führte Hakuren Kourin und Koujaku zu ihrem Bruder. Allen drei war bang bei dem Gedanken, was sie wohl erwarten mochte. In Koumeis Gemächern angekommen wunderten sie sich sofort über die niedrigen Temperaturen. Eine Palastheilerin namens Xi, die normalerweise für die beiden Kaisersöhne zuständig war, beugte sich mit konzentriertem Blick über seinen Cousin, nicht ohne dabei von Kouen keine Sekunde aus den Augen gelassen zu werden.

„Seid ihr verrückt? Ihr müsst es Meichen warm machen, er war doch eben noch eiskalt!“, schrie der Prinz entsetzt und stürzte zu dem ausladenden Bett, in dessen Mitte die schmächtige Gestalt seines neuen Freundes ruhte. Oh je, wie schlecht er aussah! Seine Lippen waren ganz blau angelaufen und seine Haut immer noch totenbleich! Er brauchte dringend Wärme!

Kouen wirbelte prompt zu ihm herum. „Du hast hier gar nichts mehr zu sagen! Wer meinen Bruder einfach in der Wildnis allein lässt, sollte mir lieber nicht mehr unter die Augen treten!“, fauchte er.

„Ich habe ihn nicht allein gelassen! Er war plötzlich nicht mehr da, wo er sein sollte! Und ihr könnt ihn nicht einfach erfrieren lassen!“, brüllte Hakuren zurück.
 

Unterdessen drängelte sich Kourin zwischen den beiden Älteren hindurch. Neugierig starrte sie auf ihren starren Bruder. „Ist er tot? Erfroren? Darf ich ihn mal anfassen? Ich will gucken ob er dann in kleine Splitter zerspringt!“ In Koujakus Augen zeichnete sich daraufhin eine makabere Faszination ab.

„Seid doch ein einziges Mal still!“, keifte Kouen und packte sie so grob am Arm, dass seine Schwestern zu weinen begannen.

„Kinder, beruhigt euch“, tadelte Xi streng. „Es gibt keinen Grund zur Sorge. „Koumei ist einfach nur ein wenig unterkühlt. Er hat unfassbares Glück gehabt, dass ihr ihn rechtzeitig gefunden habt, sonst wäre er vielleicht wirklich tot. Aber das wird schon wieder. Wenn wir ihn jetzt ganz langsam aufwärmen, wird er in ein zwei Tagen vollkommen wiederhergestellt sein. Warum geht ihr nicht weiterspielen? Ich werde mich gut um ihn kümmern.“

Unsicher wechselten die Kinder verschämte Blicke. Offenbar tat es Kourin leid, dass sie derart gedankenlose Bemerkungen von sich gegeben hatte. Hakuren bereute immer noch seine Dummheit. Nie wieder würde er einen derart schwerwiegenden Fehler begehen, schwor er sich. Koumei war noch kleiner und hilfloser als er, da war es einfach nur dämlich zu glauben, dass er alleine in der Kälte warten konnte. Bestimmt war es ihm irgendwann zu viel geworden und er hatte beschlossen, nach den anderen zu suchen. Weit gekommen war er allerdings nicht. Wahrscheinlich hatte er sich in der Hoffnung unter dem Busch wenigstens vor dem gröbsten Wind geschützt zu sein in die Blätterhöhle verzogen und war dort eingeschlafen, wie es von ihm zu erwarten war. Ein glücklicher Zufall, dass Kouen ihn gerettet hatte.
 

So ging der frostige Wintertag im kaiserlichen Palast deutlich deprimierter zu Ende, als erwartet. Hakuren, der große Erwartungen auf das Beisammensein mit seinem kleinen Cousin gesetzt hatte, war bitter enttäuscht und erschreckt worden. Zwar hatte mit dem Besuch bei den Tauben alles schön und gut begonnen (zumindest für Koumei), doch bereits das Mittagessen hatte einen unangenehmen Beigeschmack bekommen. Dann dieser nervige Mittagsschlaf und abschließend das verstörende Desaster. Nun gut, wahrscheinlich hatten alle am Versteckspiel Beteiligten einen mehr oder minder großen Schock davon getragen. Immerhin hatte der Abend dann doch noch ein gutes oder zumindest kein katastrophales Ende genommen. Nachdem sie gemeinsam ein leichtes Abendmahl eingenommen hatten, torkelten die Kinder hundemüde zu ihren Betten. Dabei legte sich Hakuren bereits einen Plan zurecht, mit welchem er seine Verfehlungen wieder gut machen könnte: Zuerst würde er morgenfrüh nach Koumei sehen und sich bei ihm entschuldigen, bevor er sich wieder mit Kouen gutstellen würde. Genau. Das sollte er wirklich tun. Es wäre doch unendlich schade, wenn seine Cousins nur wegen diesem unglücklichen Vorfall nichts mehr mit ihm zu tun haben wollten.
 

*-*.
 


Nachwort zu diesem Kapitel:
So, ich hoffe das Kennenlernen von Hakuren und Koumei hat euch gefallen :)
Das nächste Kapitel wird einige Jahre später spielen und vorerst wahrscheinlich das letzte sein, da ich mich gerne mehr auf mein Prosa Projekt konzentrieren möchte. Dennoch habe ich hierfür noch einige Szenen in Planung und wäre auch für Vorschläge offen.

Bei Fehlerfund oder Anmerkungen dürft ihr euch sehr gern melden. Komplett anzeigen

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