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Mit Sand und Blut

[Prequel zu Schwarzer Komet]
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Mit diesem Kapitel hier haben alle vier Hauptcharaktere schon mal ihren PoV bekommen! Tada! XD"
Warum hier schon wieder so seltsam geschrieben wird, hängt mit der Art und Weise an, wie Yukino später auf die Anderen stößt. Ist also nicht aus einer reinen Laune heraus so entstanden.

Gran Doma PoV war zuerst gar nicht geplant und ich weiß auch noch gar nicht, ob sich das noch mal wiederholen wird, aber hier hat sich das irgendwie angeboten. Anders kann ich es nicht erklären^^'

Und ich hoffe, der Kampf am Ende wirkt nicht zu übertrieben für das Alter >_<

Viel Spaß beim Lesen und vielen Dank im voraus für jeden Kommentar!
LG
Yosephia Komplett anzeigen

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Das gesegnete Kind

Als Gran Doma die Kinder endlich aus dem Unterricht entließ, hatte Sting es eilig, in den Inneren Kreis zu kommen, aber zu seiner Enttäuschung fand er Minerva dort nicht. Weder saß sie bei einem der Kochfeuer, noch sah sie bei den Kampfübungen der älteren Kinder zu. Auch auf einem der Aussichtsplätze auf den Felsen sah er sie nicht.

Vielleicht war sie in ihrer Schlafhöhle? Aber wo war eigentlich ihre Schlafhöhle? Ob sie zu Sting und den Anderen in die Kinderhöhle kommen würde?

Sting beschloss, es auf einen Versuch ankommen zu lassen, und tauchte in einen Höhlengang ein, der tief ins Innere der Zuflucht führte. Der Gang war nur spärlich mit Lampen beleuchtet, um Öl zu sparen, aber wie jeder andere Wüstennomade auch kannte Sting die Zuflucht so gut, dass er damit keine Probleme hatte.

Die Eingänge zu den einzelnen Familien- und Gemeinschaftshöhlen waren mit Knüpfteppichen vom Gang abgegrenzt, deren Muster historische oder mythologische Darstellungen enthielten – ganz nach Gefallen des jeweiligen Höhlenältesten. Ganz am Ende des Ganges – gut fünfzig Schritt vom Inneren Kreis an – befand sich die Kinderhöhle. Hier wurden die Waisen untergebracht, die keine Angehörigen hatten. Derzeit wurde sie nur von Sting und vier weiteren Kindern bewohnt, die jedoch allesamt deutlich älter als er waren.

Als Sting den großen Teppich mit einer Darstellung des Ersten Ritts zurückschob, erkannte er sofort, dass Minerva nicht hier war. Die einzelnen Schlafnischen waren leer und es gab auch noch keine Anzeichen dafür, dass Minerva hierher umgesiedelt werden sollte. Noch immer waren nur fünf Schlafnischen mit Bastmatten und Knüpfdecken ausgestattet. Welche davon Sting gehörte, war leicht zu erkennen: Seine Decke war unordentlich ans Fußende getreten worden, während die anderen sorgsam zusammen gelegt worden waren.

Frustriert machte Sting auf dem Absatz kehrt und ging zurück zum Inneren Kreis. Noch immer gab es dort keine Spur von Minerva. Auf dem Trainingsplatz sah Sting die anderen Kinder seiner Altersgruppe beim Training mit den Holzsäbeln. Einer von ihnen winkte ihm herausfordernd zu, aber Sting reagierte nicht darauf. Normalerweise brannte er darauf, die Kampftechniken der Wüstennomaden zu erlernen, um in die Fußstapfen seiner verstorbenen Mutter zu treten, aber er war im Moment zu unruhig dafür.

„Du suchst Minerva.“

Überrascht drehte Sting sich um und erblickte Gran Doma an seiner Lieblingsstelle, wo Minerva ihn bereits vorgestern so forsch um Hilfe gebeten hatte. Wie so oft nippte der Wüstenweise an seinem Datteltee. Der süße Geruch kitzelte Sting in der Nase. Er mochte lieber Apfeltee, etwas, was er mit seiner Mutter gemein hatte, wie man ihm erklärt hatte.

„Meister, warum willst du Minerva nicht helfen?“

Der Alte hob die Augenbrauen an. „Denkst du denn, dass ich das tun sollte?“

„Ja!“, erwiderte Sting sofort. „Sie ist eine von uns! Wir müssen ihr helfen!“

„Interessant, dass du das so siehst…“, murmelte Gran Doma und nahm einen weiteren Schluck Datteltee. „Sie ist keine Sandgeborene. Sie versteht noch nichts vom Herzschlag der Wüste. Wie kommst du darauf, dass sie zu uns gehört?“

Verwirrt runzelte Sting die Stirn und suchte nach einer Antwort, aber wenn er ehrlich war, hatte er die nicht. Für ihn war es einfach selbstverständlich, dass Minerva zu den Wüstennomaden gehörte, aber erklären konnte er es nicht.

Ahnungsvoll beugte der Wüstenweise sich vor. „Da dir die Sache so wichtig ist, solltest du dich um Minerva kümmern. Sie hat noch ihre Schwierigkeiten mit unseren Lebensgewohnheiten. Nimm einen Tagelmust für sie mit, sie ist draußen bei den Wächtern.“

Sting nickte eifrig und drehte sich bereits um, als Gran Doma noch mal das Wort erhob. „Ach, und Sting…“ Der Junge blickte zurück. Unter seinen buschigen Augenbrauen sah Gran Doma sehr eindringlich zu ihm auf. „Ich habe nie gesagt, dass ich Minerva nicht helfen werde. Ich habe nur gesagt, dass ich ihr jetzt nicht helfen werde.“

Richtig schlau wurde Sting aus diesen Worten nicht, aber er hatte es viel zu eilig, um sich jetzt damit zu beschäftigen. Er tat es einfach mit einem Nicken ab und eilte davon.
 

Nachdenklich blickte Gran Doma dem Jungen hinterher, der von einer der Wäscheleinen einen Tagelmust stibitzte und dann in den Nordgang eintauchte, der durch den Wall führte, der massiven Nordfront der Zuflucht.

Sting war schon immer ein besonderer Junge gewesen. Von der Sonne gesegnet, hatte seine Mutter Seral es genannt, als sie das blondhaarige Bündel nach der Geburt im Arm gehalten hatte. Noch gut konnte Gran Doma sich daran erinnern. Er hatte Serals Worte damals nicht verstanden, erst Jahre später, aber heute wusste er, dass Seral damals in der Zone gewesen war, in jenem Zwischenzustand, den Sterbende erreichten, wenn ihre Körperfunktionen Stück für Stück versagten, und der ihnen zuweilen besondere Einblicke gewährte. Vieles, was von den Menschen in der Zone gesagt wurde, ergab für die Lebenden keinen klaren Sinn, aber manchmal konnte dieser sich viele Jahre später erschließen. Bei Sting war das so ein Fall…

Dass Sting sich allerdings so sehr für Minerva einsetzte, hatte mit einem anderen Phänomen zu tun, das für Gran Doma nicht minder faszinierend war. Er hatte schon einige Male das Privileg gehabt, es beobachten zu dürfen, aber noch nie war es bei so jungen Kindern aufgetreten.

Ob Sting sich dessen bewusst war, dass er vom selben Sand wie Minerva war? Wahrscheinlich nicht. Er ließ sich anscheinend einfach von seinen Instinkten leiten – und die waren schon immer ausgesprochen scharf gewesen. In der Hinsicht war Sting ganz der Sohn seiner Mutter, einer der meist begabten Reiterinnen ihrer Generation…
 

Die Wächter waren vier große Felsnadeln, die sich wie Finger aus dem Sand erhoben, alle etwa in einem Abstand von zwanzig Schritten zum Nordgang. Vor mehreren Generationen waren sie von kunstfertigen Wüstennomaden zu menschenähnlichen Figuren gemeißelt worden und seitdem trugen sie ihren Beinamen, auch wenn der Sand im Wind der Stillen Wüste ihre Konturen bereits wieder abgeschliffen hatte. Für Kinder waren sie der letzte Außenposten der Zuflucht, zu dem sie alleine gehen durften. Danach begann für sie das verbotene Land, weit und verlockend und tödlich.

Sehnsüchtig blickte Sting zur Stillen Wüste hinaus, ein schier unendliches Meer aus Sand. Irgendwo dort draußen waren die Basilisken – vielleicht wurde sogar just in diesem Moment einer von ihnen geritten – und all die anderen mysteriösen Bewohner der Wüste. Es gab viele Geschichten darüber, dass es immer noch überlebende Golems gab, und zuweilen wurde auch über andere Dämonen gemunkelt. Sting wünschte sich, er könnte diese Geheimnisse endlich selbst ergründen, aber damit musste er warten, bis er ein vollwertiger Wüstennomade war.

Das Flattern des Kopftuches in seiner Hand erinnerte ihn daran, weshalb er hierher gekommen war, und er sah sich suchend nach Minerva um. Tatsächlich entdeckte er sie auf dem Buckligen, dem kleinsten der Wächter, der von den Kinder besonders gerne erklommen wurde.

Minerva saß ganz alleine dort oben, die Arme um die angezogenen Knie geschlungen, auf welchen sie das Kinn abgestützt hatte. Ihr Blick war nach Norden gerichtet. Ob sie hoffte, dort ihre Heimat zu sehen? Unwillkürlich zögerte Sting, einfach zu ihr hinauf zu klettern. Alles in ihm trieb ihn in Minervas Richtung, aber er begriff auch, dass sie aus einer ganz anderen Welt als er kam. Sie war inmitten von Grünländern mit ihren Grünländergewohnheiten aufgewachsen. Für sie musste das alles hier fremd und vielleicht sogar beängstigend sein.

Zögerlich erklomm Sting schließlich doch den Buckligen und krabbelte über dessen Kuppe hinweg zu Minerva. Sie versteifte sich, als sie ihn hörte, sagte und tat jedoch nichts. Da er selbst auch nicht wusste, was er sonst sagen sollte, legte Sting ihr das Kopftuch über die rabenschwarzen Haare, die sich in der Nachmittagssonne bereits ganz schön aufgeheizt hatten. Die heilende Paste in Minervas Gesicht war auch schon ausgetrocknet und größtenteils von ihren verbrannten Wangen herabgebröselt.

„Wenn du in die Sonne gehst, solltest du einen Tagelmust tragen“, sagte Sting daher und machte es sich im Schneidersitz neben Minerva bequem, ehe er seine Feldflasche von seinem Kordelgürtel knüpfte und dem Mädchen hinhielt. „Und du solltest immer Wasser dabei haben.“

„Du trägst doch auch kein Kopftuch“, erwiderte Minerva trotzig und ignorierte sein Wasser. Ihre Stimme war ein heiseres Krächzen, kein gutes Anzeichen, wie Sting wusste.

„Ich brauche keins, du schon.“

„Warum nicht?“

„Ist halt so.“ Ratlos zuckte Sting mit den Schultern. Er entkorkte die Feldflasche und spritzte Minerva Wasser ins Gesicht.

„Hey!“ Protestierend hob das Mädchen die Hände und funkelte ihn an. Seine Augen waren gerötet und geschwollen. „Weißt du eigentlich, wer ich bin?!“

„Du bist Minerva“, verstand er sie absichtlich falsch und spritzte noch mal mit dem Wasser, ehe er den Korken wieder in die Flasche stopfte und diese dann dem Mädchen in die Hände drückte. „Und du brauchst Wasser, sonst siehst du irgendwann Sandschatten.“

„Ich bin Minerva Orland! Ich bin die zukünftige Fürstin von Sabertooth!“, krächzte sie kläglich. Sting vermutete, dass sie eigentlich hatte rufen wollen, aber ihre ausgedörrte Kehle ließ das nicht mehr zu.

„Bei uns gibt es keine Fürsten. Trink’ endlich.“

Minerva knurrte ihn leise an, entkorkte jedoch die Flasche und folgte seiner Anweisung, was ihm ein Grinsen entlockte. Ihre olivgrünen Augen funkelten ihn böse an, doch er ließ sich davon nicht beeindrucken.

„Ich bin übrigens Sting Eucliffe.“

Ihre einzige Reaktion darauf war ein Brummen, aber zumindest schickte sie ihn nicht wieder fort und ergriff auch nicht die Flucht. Sie blieb einfach neben ihm sitzen und als sie die Flasche wieder verkorkt hatte, blickte sie erneut nach Norden.

„Dort liegt Sabertooth, richtig?“, setzte Sting das Gespräch munter fort. „Irgendwann musst du es mir zeigen, wenn wir Beide richtige Wüstennomaden sind!“

„Wenn es dann überhaupt noch da ist“, murmelte Minerva düster und senkte den Blick auf die Flasche in ihren rissigen Händen.

„Ganz bestimmt.“ Mit einem Stirnrunzeln hob das Mädchen den Blick. Sting schenkte ihm ein zuversichtliches Lächeln. „Es wird auf dich warten. Die Menschen dort wissen sicher, wer ihre wahre Fürstin ist, denkst du nicht?“

„Verstehst du überhaupt, was ein Fürst ist?“, fragte die Schwarzhaarige skeptisch.

„Ein Anführer, oder? So hat Loirg es mir gestern Abend zumindest erklärt.“

Minerva schien schon zu einer langwierigen Erklärung anzusetzen, doch dann seufzte sie nur und zuckte mit den Schultern. „Ist ja auch egal… Euch kümmert das alles ja sowieso nicht.“ Und sie sank in sich zusammen, die Arme wieder fest um die Beine geschlungen, und sagte kein Wort mehr.

Sting hatte das Gefühl, dass sie sehr traurig und einsam war, aber leider wusste er nicht, wie er ihr helfen sollte. Also blieb er schweigend neben ihr sitzen und blickte mit ihr nach Norden, während links von ihnen langsam die Sonne unterging. Minerva rührte sich erst wieder, als einer der Erwachsenen für eine Kontrollrunde nach draußen kam und sie Beide in die Zuflucht zurück rief.
 

Zärtlich strich der Wind durch die kurzen, weißen Haare des Mädchens, das sich am Geländer des Krähennestes festhielt und mit den bloßen Füßen herumschlenkerte. Er spielte mit den Verschnürungen des Rahsegels und ließ die schwarze Flagge mit dem roten Mond hinter zwei weißen Wolken träge flattern. Hoch oben am Himmel hörte das Mädchen zahlreiche Ringschnabelmöwen kreischen, die sich wohl von der großen Kogge Beute erhofften. Doch die Roter Mond war kein Fischerschiff, sie war das größte Handelsschiff von Galuna. Gleichwohl blieben die Möwen ein ständiger Begleiter.

Für das Mädchen war ihr Gekreisch daher zu einem alltäglichen Begleitgesang geworden. Eine einzelne Melodie im Orchester des Meeres, begleitet vom Rauschen der Wellen, vom Knarren des Holzes, vom Klatschen des Wassers auf Holz, vom Lachen, Rufen und Fluchen der Matrosen. Das Mädchen war mit diesem Orchester im Ohr aufgewachsen. Es war sein erstes Schlaflied gewesen, war ihm so vertraut, dass es die feinsten Veränderungen sofort wahrnehmen konnte.

Seit einiger Zeit war zu diesem Orchester ein neues Element dazu gekommen. Das Klirren von Klingen, die aufeinander trafen. Dumpfe Aufprallgeräusche auf den Planken. Angriffsschreie. Anfeuerungsrufe. Stöhnen und Keuchen. Herausforderungen, Provokationen. Erklärungen.

Auch heute spielte dieses neue Element und das Mädchen konnte von seiner erhöhten Position aus die Urheber dieses Elements beobachten. Seine Schwester, zehn Zyklen älter mit edlen Gesichtszügen und langen, weißen Haaren, und der Sohn des Kommandanten, der zur Zeit mit auf der Roter Mond reiste, hochgewachsen, noch etwas schlaksig mit seinen sechzehn Sommern, aber mit einem Herzensbrechergesicht, wie die Schwester des Mädchens es mal spöttisch bezeichnet hatte. Seine rotbraunen Haare klebten ihm im Gesicht, aber selbst jetzt noch hatte er dieses breite, gewinnende Lächeln aufgelegt, das dem Mädchen schon immer so komisch vorgekommen war.

Die Schwester hatte ihn dazu überredet, ihr den Umgang mit Schwert und Dolch beizubringen. Er hatte sich zuerst entrüstet, dass ein so schönes Mädchen das Kriegshandwerk nicht erlernen sollte. Daraufhin hatte die Schwester ihn zum Ringen herausgefordert und ihn besiegt. Das Mädchen hatte mit vor Stolz geschwellter Brust zugesehen.

Es hatte auch jetzt allen Grund, stolz zu sein. Seine Schwester war sehr talentiert. Sie hatte sich den Respekt der anderen Soldaten an Bord verdient und erhielt jetzt von ihnen allerlei Ratschläge. Jeden Tag wurde sie besser. Bald schon würde sie besser als ihr erster Lehrer sein und auch dann würde sie sich noch weiter entwickeln.

Aber das Mädchen war nicht mehr stolz, es war traurig, denn mittlerweile hatte es begriffen, dass seine Schwester nicht aus Spaß diesen Unterricht nahm. Seine Schwester arbeitete auf etwas hin, was unweigerlich zur Trennung führen würde. In wenigen Wochen würde die Roter Mond in Hargeon anlegen, um seine Ladung zu löschen und neue Waren aufzunehmen – und in Hargeon gab es eine Kaserne der Kaiserlichen Armee…
 

„Sehr gut, Sting, deine Angriffe sind schnell, das nimmt deinem Gegner die Gelegenheit, eine funktionierende Verteidigungshaltung einzunehmen“, lobte Nark zufrieden.

Er war ein Reiterveteran mit wettergegerbter Haut und einigen Säbelnarben an den muskulösen Oberarmen, seine Augen dunkelbraun, seine Haare ergraut. Um seinen Hals hing der zurückgeschlagene Tagelmust, den jeder Wüstennomade für gewöhnlich immer bei sich trug. Seiner war zerfranst und fadenscheinig, die einstmals blaue Färbung kaum noch zu erkennen, die liebevollen Stickereien nur noch undeutlich. Sting hatte mal gehört, dass Narks erste Gefährtin eine Knüpferin gewesen war, aber er hatte den Säbelmeister nie danach gefragt. Das Leben der Wüstennomaden war hart und verlustreich. Jeder von ihnen hatte sein Päckchen zu schleppen.

Narks Miene verdüsterte sich jedoch langsam. „Allerdings wollte ich, dass du dich heute verteidigst, Sting. Das musst du auch lernen.“

„Aber hast du nicht mal gesagt, dass Angriff die beste Verteidigung ist?“, schmollte Sting, dem es nicht passte, dass Nark das ausgerechnet in Niuras Beisein gesagt hatte. Das Mädchen nahm die Anweisungen der Lehrer immer so ungemein wichtig!

Manchmal ist es die beste Verteidigung, aber es ist nicht die einzige“, brummte der Säbelmeister. „Minerva, du bist am Hof in der Kunst des Säbels unterrichtet worden, richtig? Vielleicht willst du uns zeigen, was du dort gelernt hast?“

„Mehr als ihr hier“, schnaubte das Mädchen herablassend und verschränkte die Arme vor der Brust.

Aus dem Augenwinkel sah Sting, wie Niura und einige der anderen Kinder die Augen verdrehten. Minerva war nun schon seit einem Mond in der Zuflucht, aber bisher hatte sie sich immer von allen ferngehalten. Sie nahm ihre Mahlzeiten alleine ein, beteiligte sich nicht am Unterricht von Meister Gran Doma und schottete sich auch in der Kinderhöhle immer von Sting und den anderen Waisen ab. Am schlimmsten wog aber für die anderen Kinder, dass Minerva sie immer wieder spüren ließ, dass sie sich für etwas Besseres hielt.

Sting glaubte nicht an dieses Gehabe. Wenn er abends Minervas mageren Körper in der Schlafnische sah, kam sie ihm immer nur einsam vor. Wie sie immer und überall alleine saß, das machte ihn irgendwie traurig. Aber er wusste nicht, wie er ihr helfen sollte. So oft schon hatte er versucht, sie in ein Gespräch zu verwickeln, aber sie ließ ihn einfach nicht an sich heran.

Jetzt jedoch witterte er eine Chance und zeigte mit seinem Holzsäbel in Minervas Richtung. „Beweis’ es mir doch!“

Minerva schien ihn zuerst abweisen zu wollen, doch dann zuckte sie mit den Schultern und sprang von dem Felsvorsprung, von dem aus sie die bisherigen Übungskämpfe beobachtet hatte. Geschmeidig wie eine Katze landete sie auf allen Vieren. Sie mochte sich sonst vor den Gebräuchen der Wüstennomaden abschirmen, aber wie jedes Sandkind hatte sie es sich zur Gewohnheit gemacht, auf die Felsvorsprünge zu klettern, wann immer sie im Inneren Kreis war.

Prüfend wog Minerva den Holzsäbel, den Nark ihr reichte, drehte ihn mehrmals in der rechten Hand, warf ihn dann in die linke Hand und drehte ihn auch dort. Schließlich nickte sie zufrieden und begab sich in eine federnde Halbhockstellung, den Säbel mit der Linken neben dem Gesicht erhoben, die Rechte mit der Handfläche in Stings Richtung gewandt.

„Was ist das?“ Irritiert sah Sting von Minerva zu Nark und wieder zurück.

„So sieht das aus, wenn man mit Technik kämpft, Sting“, schnaubte der Säbelmeister amüsiert. „Das ist eine Ausgangsstellung.“

Ehe Sting noch nachfragen konnte, griff Minerva an. Sie sprang vor und ging in eine spektakuläre Drehung über, in deren Ende sie den Säbel von rechts oben nach links unten zog. Im letzten Moment sprang Sting nach hinten, landete dabei jedoch auf dem Hosenboden. Verblüfft blickte er zu dem Mädchen auf. So langsam dämmerte ihm, dass er – endlich! – einen anspruchsvollen Gegner in seiner Altersgruppe hatte.

Mit einem übermütigen Grinsen stemmte er sich geschickt in die Höhe und sprang Minerva an, den Säbel schräg von unten schlagend. Sie blockte und drückte sich dagegen, ehe sie ruckartig nach hinten auswich. Sting stolperte nach vorn, aber im Fallen drehte er sich und riss den Säbel hoch, sodass er den auf seinen Rücken gezielten Hieb parieren konnte.

Ungeschickt landete er mit einer Rückwärtsrolle in der Hocke. Er zitterte vor Aufregung. Minerva war gut. So richtig, richtig gut!

Wieder griff er an, probierte all die Finten aus, die Nark ihm bereits beigebracht hatte, und improvisierte ordentlich herum. Minerva war ihm in Sachen Technik und Strategie eindeutig überlegen und sie war auch überraschend stark. Wenn sie ihre Säbel gegeneinander drückten, schaffte es keiner, eindeutig die Oberhand zu gewinnen. Aber Sting bemerkte nach einigen Angriffen, dass Minerva ein begrenztes Repertoire an Angriffs- und Verteidigungstechniken besaß. Jede ihrer Bewegungen wirkte einstudiert. In Sabertooth lernte man wohl ganz anders den Umgang mit dem Säbel als hier bei den Wüstennomaden, wo man die Kinder in der ersten Zeit zunächst nur bei ihren eigenen Übungen beobachtete, ehe man begann, ihnen konkrete Techniken beizubringen. Minerva pflegte einen Kampfstil für eine zivilisierte Arena, die Wüstennomaden hingegen kämpften überwiegend nach Instinkt.

Dennoch war es eine aufregende Herausforderung für Sting. Als es nach mehreren Schlagabtäuschen immer noch keinen eindeutigen Sieger gab, waren Sting und Minerva Beide schweißüberströmt und zitterten vor Anstrengung. Sting konnte sich nicht erinnern, jemals zuvor nach einem Übungskampf derartig erschöpft gewesen zu sein. Selbst im Kampf gegen Loirg, der vier Zyklen älter war, sich allerdings nie besonders viel aus dem Säbel gemacht hatte, hatte Sting sich nicht so verausgabt!

„Ich denke, das reicht für heute“, entschied Nark und trat zu ihnen, als sie gerade wieder ihre Säbel gegeneinander drückten.

Die Kinder ignorierten ihn und stemmten ihre Übungswaffen mit noch mehr Kraft nach vorn. Stings Blick begegnete dabei Minervas und er erkannte darin eine unbändige Freude. In ihren olivgrünen Augen loderte ein Feuer der Entschlossenheit, das ausnahmsweise mal überhaupt nichts mit ihrem Wunsch, Sabertooth zurück zu erobern, zu tun hatte. Bei diesem Anblick musste Sting vor Freude lachen.

„Das ist toll!“, rief er und trat einen halben Schritt zurück, wobei ihm Minerva vor Überraschung beinahe in die Arme fiel. Er wischte sich mit dem nackten Arm über die schweißnasse Stirn. „Du bist stark! Das macht Spaß!“

„Du auch“, nuschelte Minerva, offensichtlich mit der Situation überfordert.

„Lass’ uns morgen wieder kämpfen!“, schlug Sting begeistert vor und bot Minerva die Hand an.

Sie zögerte kurz, doch dann nickte sie und schlug ein.

„Sehr schön.“ Äußerst zufrieden nickte Nark. „Dann hat Sting endlich mal jemanden, der ihn auf Trab hält… Du hattest in Sabertooth einen guten Lehrer, Minerva.“

Der Freudenfunken in Minervas Augen erlosch sofort wieder und Sting musste mit Bestürzung feststellen, dass auf einmal stattdessen Tränen darin schimmerten. „Ich habe es von Onkel Athenaeos gelernt…“, krächzte sie. Es war, als hätte der Kampf einen Damm in dem Mädchen gebrochen. Es zitterte am ganzen Körper, schniefte und dann brach es richtig in Tränen aus.

Sting könnte im Nachhinein nicht mehr erklären, was er sich dabei gedacht hatte, aber etwas in ihm sträubte sich davor, zu zulassen, dass die Anderen Minerva so sehen konnten. Er ließ seinen Säbel einfach fallen, machte einen Schritt nach vorn und zog die Schwarzhaarige in seine Arme, ihr Gesicht an seine Brust gedrückt, damit ihre Tränen vor allen anderen verborgen blieben. Beinahe rechnete er damit, dass sie sich dagegen wehren würde, aber stattdessen klammerte sie sich an ihn und weinte sich hemmungslos alles von der Seele, was sie offensichtlich schon so lange in sich hinein gefressen hatte.

Böse blickte Sting in Richtung der anderen Kinder, die unverhohlen gafften und erst damit aufhörten, als Nark sie mit ernster Miene fortschickte. Erst als er sicher sein konnte, ganz alleine mit Minerva zu sein, strich Sting ihr vorsichtig über die rabenschwarzen Haare. Er hatte keine Ahnung, ob das wirklich hilfreich war, aber er hoffte es von ganzem Herzen!



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: Arianrhod-
2018-03-18T15:28:27+00:00 18.03.2018 16:28
Die Kapitel dieser Fic werden immer besser, zumindest hat mir dieses hier extrem gut gefallen. :) Ich habe auch das Gefühl, dass du immer besser in die Story reinkommst. Keine Ahnung, es ist nur so ein Gefühl, dass sich alles irgendwie noch besser zusammenfügt. :) Aber das ist natürlich nur positiv. Ich hab es jedenfalls genossen, das Kapitel zu lesen. Wie immer war auch das Worldbuilding schön zu lesen. Mit jedem Kapitel gibt es ein kleines Stück mehr, das die Welt noch lebendiger scheinen lässt. Dazu gehören auch die kleinen Details über die unwichtigen Nebencharaktere (z.B. Nark und sein Tagelmust).

Zuerst einmal muss ich nochmal sagen, wie sehr mir Minervas Darstellung gefällt. Sie hat so viele Ecken und Kanten, die einfach zu ihrem Charakter und auch dem Setting passen. Die Arroganz, die wohl auch mit ihrer Erziehung und früheren Umgebung zusammenhängt, ihr ausgeprägtes Selbstvertrauen und die Art, wie sie die Welt und ihren Platz sieht, das ein wenig (sehr) mit dem clasht, wie sie jetzt behandelt wird, ihre Selbstsicherheit, die sie sich auch in dieser fremden Umgebung nicht nehmen lässt.
Und trotzdem erscheint sie mir sympathisch. Vielleicht, weil wir sie durch Stings Augen sehen, der sie trotz allem zu durchschauen scheint (übrigens ein interessanter Zug für ihn) und erkennt, dass hinter ihrer arroganten, abweisenden Fassade durchaus eine verletzliche Seele steckt.
Ich hoffe trotzdem, dass sie bald von ihrem hohen Ross heruntersteigt und erkennt, dass den Wüstennomaden ihr Titel, ihre Familie und ihre Herkunft ziemlich egal ist, damit sie zumindest vorübergehend eine neue Heimat finden kann.

Die Szene, wo die beiden oben auf dem Buckligen ihren Moment haben, und Minerva beginnt, Sting an sich heranzulassen. Auch wenn er nicht wirklich alles versteht, was so vor sich geht. Er rennt einfach mit dem Kopf voran, weil er das gerade so will.
Ich fand es total lustig, wie er sie teilweise einfach auflaufen lässt und ihr so klar macht, dass sie hier eine andere Rolle einnimmt als in Sabertooth, ohne sie irgendwie wirklich in ihrem Stolz zu verletzen. „Ist halt so.“ fand ich schon in der Fic echt lustig, aber es bezieht sich auch auf diese Situation und Minerva muss lernen, damit zurechtzukommen. ‚Ist halt so, dein Rang spielt hier keine Rolle.‘

Gran Doma bringt hier eine ganz andere Perspektive rein. Die Situation aus den Augen eines (wohlwollenden) Außenstehenden finde ich echt interessant zu sehen. Ich bin gespannt, was er in Zukunft noch über alles zu sagen hat – durch sein Alter/seine Erfahrung, den Abstand und sein Wissen versteht er sicher einige Zusammenhänge und Ereignisse weit besser als die direkt daran beteiligten jüngeren Charaktere. Jetzt nicht nur solch abstraktes Zeug wie das ‚vom selben Sand‘ oder so, sondern auch die politischen und kulturellen Sachen.

So und dann Yukino. Das ist eine ganz neue Perspektive und tatsächlich erfährt man gar nicht viel über sie, ihre Situation oder… naja, irgendetwas. Außer, dass sie eine Schwester hat, die offensichtlich der Armee beitreten will. Sie wirkt nur sehr jung und ein wenig hilflos.
Das ist nicht gerade schlecht, immerhin diente die Szene auch ein wenig dazu, sie einzuführen und ich fand sie sehr gelungen und atmosphärisch. :)
Ich bin mir gerade nicht sicher, wer der Sohn des Kommandanten ist. O.o

Und dann die letzte Szene.
Ha! Endlich hat Sting etwas gefunden, mit dem er a) Minerva aus der Reserve locken und b) eine Verbindung mit ihr knüpfen kann. Dass es ausgerechnet der Kampf ist, verwundert mich so im Nachhinein überhaupt nicht. Sting hat sowieso eine Affinität zum Kampf und Minerva geht auch keinem Streit aus dem Weg. Aber es freut mich für die beiden, dass sie hier etwas für sich gefunden haben!
Die unterschiedlichen Arten, wie die Leute von Sabertooth und die Wüstennomaden an so einen Unterricht herangehen, finde ich spannend und zeigt deutlich die Unterschiede zwischen den beiden Völkern. Wobei ich nicht weiß, welches besser ist. Vermutlich eine Mischung von beidem. XD“ Oder halt auf das individuelle Kind zugeschnitten – Sting kommt mit dieser Art des Lernens offensichtlich sehr gut zurecht, andere haben da sicher mehr Schwierigkeiten.
(Er ist außerdem so ein Smartass – Angriff ist die beste Verteidigung, wtf. Das war hier nicht wirklich der Punkt.)

Schön fand ich auch, dass Nark einige Worte des Lobes für sie übrig hatte, das zeigt, dass die Wüstennomaden anfangen, sie in ihrer Mitte zu akzeptieren, obwohl sie sich so dagegen sträubt. Obwohl dieser Schuss dann natürlich nach hinten losging. Aber das konnte er ja nicht wissen.
Und das Ende selbst… Trotz des Themas fand ich den Moment echt schön und er hat wohl am Ende auch den endgültigen Grundstein für die Freundschaft zwischen den beiden gelegt. Sting zeigt auch mal wieder, dass er sich wirklich auf seine Intuition verlassen kann. Ich glaube, hätte er versucht irgendetwas zu sagen oder sie anders zu trösten oder so, hätte Minerva negativ darauf reagieren können. Da gab es einfach nichts, von daher finde ich, dass er alles richtig gemacht hat. Hoffentlich bedeutet das jetzt auch einen Wandel für sie und dass sie sich endlich auf die Wüstennomaden und ihr Leben dort einlassen kann.

Ich hoffe, nächstes Mal hören wir mal wieder was von Minerva. :)
Gruß
Arian


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