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Schwarzes Wasser

von

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„Ich begleite dich ein Stück“, verkündet Marissa, deren Stimme aus heiterem Himmel sein Ohr erreicht.

Hunter bleibt stehen, damit sie auf ihren hohen Schuhen mit ihm aufholen kann. Sie betonen Marissas lange Beine, weil sie ihren Körper gern zu Schau stellt und das Wetter in Nyle Beach es oft genug erlaubt, nur mit kurzen Röcken oder Shorts herumzulaufen. Es hat eben seine Vorteile im Süden zu leben, denn die Kleiderordnung ist locker.

Das Café ist nicht einmal außer Sichtweite und sie haben sich vor nicht einmal zwei Minuten alle drei voneinander verabschiedet. Doch das verschmitzte Grinsen auf Marissas Lächeln sowie der verstohlene Blick, den sie in die Richtung wirft, in die Emma gegangen ist, um die Bar zu eröffnen, sagt ihm, dass sie etwas im Schild führt.

Er sieht auf die Uhr, die schlackernd an seinem Handgelenk sitzt. Noch zwanzig Minuten, bis seine Vorlesung über Sozialisierung der globalen Gemeinschaft beginnt. Sein Wissen zu dem Thema beschränkt sich auf die ersten sieben Seiten seines Textbuchs, das er über Marissas und Emmas Unterhaltung über die Aufgaben einer Schwimmlehrerin und die Effekte von Chlor auf der Haut hinweg mehr schlecht als recht gelesen hat.

Marissa erreicht ihn und hakt sich bei ihm ein, bevor sie weitergehen. „Meinst du, dass Oliver und Eunice heute Abend eure Schichten in der Bar übernehmen können?“, erkundigt sie sich und lehnt ihren Kopf gegen seine Schulter, um zu ihm aufzuschauen. Nichts ist mehr von der Arroganz und Feindseeligkeit zu spüren, die sie ihm vor Jahren bei ihrem ersten Treffen entgegen gebracht hat. Es ist witzig, wie die Zeit Dinge, vor allem jedoch manche Menschen, verändert.

„Kommt darauf an, was du im Sinn hast“, antwortet Hunter und hebt die Augenbrauen.

„Ich dachte mir, dass wir Emma testen könnten.“ Marissa zuckt mit den Schultern und Hunters gesamter Arm wackelt.

Hunter holt Luft, doch Marissa gibt ihm nicht die Gelegenheit Einspruch einzulegen.

„Ich weiß, was du denkst“, sagt sie stattdessen und lässt von ihm ab. „Aber ich meine es nicht böse, sondern gut. Irgendwann muss sie sich ihrer Angst stellen. Ganz besonders, wenn es ernsthaft ihr Wunsch ist, wieder Fuß in ein Schwimmbad zu setzen. Beruflich auch noch.“

„Glaubst du etwa, dass ich es noch nie versucht habe, sie mal ins Wasser zu bekommen?“, erkundigt sich Hunter. Sein Mund formt ein schmales Lächeln. „Allein sie bis zur Hüfte ins Meer zu bekommen, hat mich ein halbes Jahr gekostet. Du weißt, dass sie anfangs nicht einmal den Atlantik anschauen konnte, ohne dass dieser trauriger Blick auf ihrem Gesicht aufgetaucht ist.“ Dabei ist sie ihm nur ins Auge gefallen, weil sie stundenlang am Strand gesessen und auf das Meer hinausgesehen hat. Inmitten all der Menschen, die an dem besagten Vormittag in Bewegung gewesen sind, ist sie so still und allein gewesen. Ihre Blässe hat ihm jedoch verraten, dass sie ein Tourist gewesen ist, ebenso wie die langen Blicke, die sie für die brechenden Wellen übrig gehabt hat. Er ist sofort von ihr fasziniert gewesen, denn er kennt diese Blicke noch von sich selbst.

„Und genau deswegen müssen wir etwas tun“, plappert Marissa weiter. „Es wird einfach für Em sein, wenn sie den ersten Schritt macht, wenn nur wir dabei sind. Wie viel Druck wird sie ausgesetzt sein, wenn sie zu ihrem ersten Jobvorstellung geht und ewig keinen Fuß in eine Schwimmhalle gesetzt hat, hm?“ Sie fügt eine künstlerische Pause hinzu. „Wir lieben Emma. Daher ist es unsere Aufgabe sie zu unterstützen und darauf vorzubereiten.“ Marissa ballt die Hand zur Faust, weil sie immer Feuer und Flamme ist, was ihre Ideen angeht. Wenn sie sich erst einmal in etwas festbeißt, lässt sie nicht mehr los, ganz egal, was Hunter oder gar der Rest der Welt dazu sagt.

„Ich weiß, dass du es gut meinst, aber ich weiß nicht, was Emma dazu sagen wird“, fasst Hunter schlussendlich zusammen, denn nette Gesten verärgerten sie mindestens genauso oft wie sie Emma erfreuen. Sie ist zu sehr in ihrem eigenen Wünschen und Ängsten vertieft, um nicht hinter jeder Geste einen doppelten Boden zu erahnen. Selbst von ihnen, unabsichtlich wie es ist.

„Du hast dir meinen Plan doch noch nicht einmal angehört“, mault Marissa. Sie packt ihn am Arm und zieht ihn zu einer unbesetzten Parkbank hinüber, die sich gegenüber von einem Zeitungsstand befindet, der obendrein auch Nyle Beach-Souvenirs verkauft.

In der Auslage bemerkt Hunter auch weiße Porzellantassen, die das typische Nyle Beach-Motiv tragen, einen aufgemalten Golf von Mexiko mit seinem Palmenstrand. Dieselbe Tasse wird an unzähligen anderen Souvenirständen in der Gegend verkauft und knapp ein Dutzend dieser Tassen stehen in Emmas Küchenregal, da Emma sie sich selbst zum Einzug gekauft hatte, um Geschirr zu besitzen.

Neunanfänge sind schwer, Hunter weiß das am besten. Sein ganzes Leben besteht aus Neuanfängen, denn immer wenn er sich etwas aufbaut, fällt es wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Vielleicht fällt es ihm deshalb so schwer, über seinen Schatten zu springen und Marissa und Emma zu fragen, ob es nicht womöglich Zeit wäre über eine gemeinsame Wohnung nachzudenken.

„Hunter“, ruft Marissa und wedelt mit der freien Hand vor seinem Gesicht herum. „Wo bist du schon wieder mit deinen Gedanken?“ Sie setzt sich mit übereinandergeschlagenen Beinen hin und ihre Hand, die noch immer an seinem Arm festhält, zieht ihn zu sich auf die Bank. Ihre Oberschenkel berühren sich und erinnern ihn an zu viele Nächte zu dritt in Marissas Doppelbett und ihrem leises Geflüster, da sie Aubreys Gitarrenklänge im Nebenzimmer vernehmen konnten.

Hunter blinzelt. „Doch, aber ich muss gleich zur Vorlesung.“

„Hör’ zu“, sagt Marissa. „Ich kenne da jemanden, der mir noch einen Gefallen schuldet. Reinzufällig hat dieser Jemand Zugang zu einem Pool und ich bin sicher, dass er uns seinen Schlüssel für eine Nacht ausborgt. Bist du dabei oder nicht?“

Sie beide starren sich durch ihre Sonnenbrillen hindurch an, wobei Hunters Augen auch über ihr Gesicht wandern. Feine Fältchen liegen um ihre Mundwinkel und trotz ihrer Bräune glühen ihre Wangen vor Aufregung.

„In Ordnung“, ringt sich Hunter ab. „Aber wenn Emma sauer ist, werde ich dir die Schuld geben.“ Er grinst und erhebt sich. Den Riemen seiner Tasche schiebt er höher auf die Schulter, als er sich vorbeugt und ihr Gesicht in seine Händen nimmt. „Außerdem ziehst du das sowieso durch, ob er ich nun mitmache oder nicht. Also tu nicht so, Mar.“ Er küsst ihre Proteste fort, die ihr sogleich auf den Lippen liegen. „Ich werde mit Eunice und Oliver reden. Schick mir einfach eine Textnachricht mit dem Ort und der Uhrzeit. Irgendwie werde ich Emma dort schon hinbekommen“, verspricht er, bevor er sich löst. „Versprich mir nur, dass du dich deswegen nicht verrückt machst. Stress ist niemals gut.“ Mit diesen Worten geht er davon.

Marissa schnauft belustigt, der Laut folgt ihm die Promenade hinauf. Doch dass sie ihm nichts nachruft und ihn nicht weiter verfolgt, sagt ihm, dass sie zufrieden mit seiner Antwort und schon wieder am Planen ist. Emma zerdenkt alles, aber Marissa ist ein geborener Stratege. Nur den Hang zum übertriebenen Ehrgeiz haben sie gemeinsam, geht es Hunter durch den Kopf, als er seine Zigarettenschachtel aus der Tasche seiner Dreiviertelhose fischt, um sich einen neuen Glimmstängel auf dem Weg zum College anzuzünden.



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