Zum Inhalt der Seite

Zimoy - Im Winter

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Nachdem der erste Absatz vorgegeben war, habe ich diesen kursiv abgehoben, damit klar ist, ab wann mein Text beginnt. :) Komplett anzeigen

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Es war eine Vollmondnacht. Lucita dachte daran, das Rudel zu verlassen, aber sie konnte das Werwolfsrudel nicht im Stich lassen. Ihr Vater erwartete, dass sie Nachwuchs zur Welt bringen sollte. Aber sie wollte nicht. Gerne hätte sie statt diese Wildnis die Menschliche Welt kennen gelernt. Wie sollte sie sich entscheiden?
 

Mit ihren nunmehr fast zwanzig Jahren galt sie als erwachsen und man erwartete von ihr, dass sie innerhalb des Rudels Pflichten übernahm und Verantwortung. Man erwartete, dass sie sich, wie alle anderen auch, ins Rudel einfügte und das Leben zu schätzen lernte, das sie hier in Frieden und Abgeschiedenheit führen konnten. Es war ein gutes Leben, doch manchmal träumte sie sich dennoch weit fort in diese andere Welt, die da draußen auf sie zu warten schien.

Ein Teil von ihr hätte gern einfach alle Sorgen und Bedenken beiseite geschoben und sie veranlasst, das Rudel und damit ihre Familie und ihre Freunde hinter sich zu lassen, um die ihr unbekannte und so unendlich reizvolle Welt der Menschen zu erkunden, die so viele Wunder zu bieten haben schien. Doch ein anderer Teil sträubte sich gegen die Vorstellung, ihr ganzes Leben für etwas aufzugeben, das womöglich nicht so war, wie sie es sich erträumte. Denn zurückzukommen wäre nicht so einfach, dessen war sich die junge Werwölfin bewusst. Wer einmal ging würde nie mehr wirklich dazugehören, denn die Welt da draußen veränderte einen.

Die Familie ging über alles, das war eine eiserne, unausgesprochene Regel, die Lucita niemals angezweifelt hatte und selbst jetzt brachte sie es nicht über sich, damit zu brechen. Ein Leben ohne die Welt der Menschen schien ihr ähnlich unmöglich, aber konnte sie dafür auf die verzichten, die ihr am nächsten standen? Ihren kleinen Bruder Jost allein lassen? Ihren Eltern den Rücken kehren?
 

Als der Wanderer, wie sie ihn nannten, ihr Rudel besucht hatte, war man ihm freundlich begegnet, aber reserviert. Er gehörte nicht dazu und würde es nie. Er war ein Werwolf, der unter Menschen lebte und nur selten deren Gefilde verließ um in den schneebedeckten Weiten der Berge seinesgleichen zu suchen. Bei seinem letzten Besuch war Lucita noch klein gewesen, sie erinnerte sich kaum daran. Doch schon damals hatten seine Geschichten von Technik und funkelnden Lichtern, von unzähligen Menschen mit lauter seltsamen Ideen sie fasziniert. Sehr zum Unmut ihrer Eltern.

Dieses Mal hatten sie ihr direkt verboten, mit dem Wanderer zu sprechen, doch natürlich hatte sie sich nicht daran gehalten. Sie war erwachsen und es war ihre Entscheidung, ob sie den Anderen nun gefiel oder nicht. Und der Wanderer hatte freimütig erzählt, war offensichtlich sogar froh gewesen, mit jemandem offen reden zu können ohne abfällige Blicke und Spott zu ernten. Stundenlang hatte er von Kinos, Handys und Schulen erzählt. Einiges von dem, was er berichtete, hatte Lucita kaum verstanden, so seltsam und fremd hatte es geklungen und so viele ihr unbekannte Worte waren gefallen. Doch alles, was sie hörte, hatte sie nur noch neugieriger auf die Welt außerhalb der Wälder gemacht.
 

"Russland", murmelte sie leise, während sie durch den Schnee stapfte. So nannten die Menschen dieses Land. Ihr dichter, grauer Pelz hielt sie warm trotz der Kälte, doch ihr war klar, dass Menschen sich mit Kleidung schützen mussten. Einer der Gründe, weshalb das Rudel auf diese schwache, anfällige Gestalt zumeist verzichtete. Allein im Sommer war sie praktisch, um sich mit einem Bad in einem der Bergseen abzukühlen. Wie von selbst führten ihre Beine sie an die verborgene Klippe, von der aus sie auf ein menschliches Dorf hinabblicken konnte. Wie es wohl hieß? Das hatte der Wanderer nicht erwähnt, obwohl er zweifellos dort gewesen war auf seinen Reisen.

Das Dorf gab es noch nicht lange, kaum zwei Generationen lang, und die Ältesten des Rudels hatten sich ausführlich darüber besprochen. Sie fanden, das Dorf war zu nahe, die Menschen drangen zu weit in ihr Revier ein. Einige meinten sogar, es wäre weise, sich höher in die Berge zurückzuziehen, um nicht entdeckt zu werden, doch schließlich hatte man sich dagegen entschieden. Die Menschen hielten sich fern von den Bergen und wandten den Blick nur in die andere Richtung, dort wo ihresgleichen Städte baute und die Welt ihnen gehörte.
 

Eine ganze Weile stand sie einfach nur da und beobachtete, wie die nächtliche Dunkelheit das Dorf erst zu umfangen schien, dann aber dutzende, hunderte von Lichtern in der Siedlung aufblinkten und schließlich das Einzige waren, was von den dort lebenden Menschen zeugte. Lucita fand es wunderschön. Wie alles schimmerte und leuchtete. Das gab es bei ihnen nicht. Wie Glühwürmchen nur sehr viel mehr und größer und schöner. Oft beobachtete sie diesen Anblick und einmal im Jahr, im tiefsten Winter, war es besonders. Da gab es ein paar Tage lang noch mehr Lichter und vielen, bunten Farben, sodass das Menschendorf aussah wie eine leuchtende Sommerwiese. Die Male, die sie heimlich davongeschlichen war, um diesen Anblick zu genießen, konnte Lucita schon lange nicht mehr an einer Hand abzählen.

Als sie schließlich den Heimweg antrat, war es schon spät und die meisten Mitglieder des Rudels hatten sich längst zur Ruhe gelegt. Einzig ihre Mutter war noch wach und begrüßte sie mit einem mahnenden Blick, der Lucita klar verriet, dass ihre Mutter sehr wohl ahnte, wo sie gesteckt hatte und dass sie das nicht guthieß. Lucita senkte den Blick und trottete zu ihrem kleinen Bruder, neben dem sie sich schließlich einrollte. Er atmete bereits in tiefen, ruhigen Atemzügen und verströmte eine angenehme Wärme, sodass sie schnell einschlief.
 

Die Tage vergingen wie im Fluge und mit jedem von ihnen nahm der Schneefall weiter zu. Bald würde ihr geheimer Platz kaum noch zu erreichen sein, weil der Pass in den Schneemengen unpassierbar würde. Doch nicht nur Lucita beobachtete das Wetter mit Sorge. Das ganze Rudel beäugte die Schneemassen besorgt. Sie würden es schwerer machen, Nahrung zu finden. Ihnen stand ein harter Winter bevor und nicht selten bedeutete das, dass die schwächsten Mitglieder des Rudels die kalte Jahreszeit nicht überlebten. Hunger und Entbehrung, Kälte und Krankheit kannten keine Gnade und sowohl Kinder als auch Alte fielen ihnen schnell zum Opfer.

Der Wanderer, das ahnten alle, würde sehr bald gehen, ehe der Weg zurück ins Menschendorf unzugänglich wäre. Bei den Menschen, hatte er ununterbrochen begonnen zu erzählen seit der Schneefall begann, sei es kein Problem über den Winter zu kommen. Niemand müsse frieren, wer krank würde, könnte von einem Heiler versorgt werden und vor allem müssten sie alle nicht hungern. Natürlich hatte das Rudel seine Worte nicht mit Wohlwollen quittiert, doch der Wanderer hatte sich davon nicht beirren lassen. Er wurde es nicht müde, ihnen zu erklären, dass es ein anderes Leben gäbe, das ihnen doch zumindest den Winter einfacher machen würde. Lucita hingegen fand die Vorstellung, mitzukommen und zumindest den Winter bei den Menschen zu verbringen, mehr als verlockend. Nicht nur, dass sie sich Hunger und Kälte ersparen könnte, sie könnte zugleich die Welt der Menschen erkunden gehen, die Welt da draußen ein wenig kennenlernen. Nur... würde ihr Rudel im Frühjahr noch ihres sein?
 

"Ich danke euch für eure Gastfreundschaft und will sie nicht weiter beanspruchen. Wenn ich darf, möchte ich euch gern im nächsten Sommer besuchen." Niemadn war überrascht von den Worten des Wanderers, eher hatte man schon eher damit gerechnet. Er zögerte. "Wer möchte, ist noch immer herzlich eingeladen, mich zu begleiten, um zumindest den Winter bei den Menschen zu verbringen. Wenn der Schnee erst die Wege versperrt..." Ein strenger Blick seitens eines Ältesten genügte, um den Wanderer zum Schweigen zu bringen. "Wir wünschen dir eine gute Reise und du bist uns als Gast auch zukünftig willkommen." Eine klare Ansage. Er dürfte kommen, aber niemand wollte ihn als Mitglied des Rudels und käme er nicht zurück, würde niemand hier einen Gedanken daran verschwenden.

Lucita hatte viel überlegt seit der Wanderer hier war und sie wusste, niemand hier würde seinen Vorschlag annehmen. Niemand, außer ihr. Sofern sie den Mut hatte, zu fragen. Was würden die Anderen von ihr denken? Würde sie jemals wieder aufgenommen werden? Konnte sie das überhaupt oder wäre sie verändert, wenn sie zurückkehrte, sodass sie nie mehr dazupassen könnte? Sie hätte lügen müssen, um zu behaupten, sie hätte keine Angst, doch ihre Entscheidung war eigentlich längst gefallen, als sie sich in die funkelnden bunten Lichter der Menschensiedlung verliebt hatte.
 

"Ich möchte mitkommen." Sie hatte sehr mit sich gerungen, doch das war ihr Entschluss. Die Blicke des Rudels verrieten klar, was sie davon hielten, doch ebenso klar war auch, dass niemand sich ihr in den Weg stellen würde. Sie war erwachsen und es stand ihr zu, selbst zu entscheiden, ob sie gehen wollte. Sie konnte sehen, wie ihres Vaters Blick von ihr zu den jungen Männchen des Rudels wanderte, von denen eines ihr Lebensgefährte, ihr Partner geworden wäre und es noch immer werden sollte. "Wenn...", fuhr Lucita vorsichtig fort. "Wenn ich als Teil des Rudels zurückkehren darf, sobald die Wege wieder frei sind. Ich möchte die Dörfer der Menschen sehen, ihr alle wisst das."

Oh, und wie sie das wussten. Es war ein offenes Geheimnis, dass Lucita häufig gescholten wurde, sie solle ihre Gedanken nicht an die Menschen verschwenden, denn diese wären lediglich sich immer weiter verbreitende Eindringlinge in dieser Welt. "Aber nicht um den Preis, euch zu verlieren. Ihr seid mein Rudel, meine Familie und ich liebe euch mehr als ich jemals irgendetwas anderes lieben könnte."
 

Einige Augenblicke herrschte Schweigen. Blicke wurden getauscht und schließlich war es die Älteste Orinne, die vortrat. "Du bist eine von uns und wenn es für dich nur eine Überwinterung sein soll, so wirst du eine von uns sein, wenn du in den Schoß des Rudels zurückkehrst. Doch bedenke, welche Gefahren deine Entscheidung für dich birgt. Du wirst nicht mehr die gleiche sein, wenn du zurückkehrst und vielleicht nie mehr ein Teil des Rudels sein können, wie du es jetzt bist." Die weise Wölfin sprach aus, was ohnehin alle dachten und fürchteten, Lucita eingeschlossen. Doch obwohl sie Angst davor hatte, die Älteste Orinne könnte Recht behalten, hatte doch die Neugier längst gesiegt.

Tief sah sie der Ältesten in die bernsteinfarbenen Augen, dann senkte Lucita den Blick. Niemand hatte sich eingemischt, nicht einmal ihre Familie, obwohl sie es beinahe erwartet hatte. Die Entscheidung der Ältesten lag fest und jeder würde sich ihr beugen.Orinne hatte viele Winter erlebt, hatte Kinder und sogar Enkel kommen und gehen sehen. Sie war alt und weise. Lucita vertraute auf ihren Ratschlag wie alle im Rudel. Auch wenn sie offiziell keine besondere Position innehatte, galt sie doch für die meisten als die Oberste der Ältesten.

Drückend und schwer hatte sich Stille über sie gelegt, die die junge Werwölfin nicht zu durchdringen wagte. Es war die graue Wölfin vor ihr, die dies schließlich tat. "Gib auf dich Acht, Kind. Und kehre im Frühling gesund als Lucita zu uns zurück." Dankbar hob Lucita den Blick und ließ diesen ein letztes Mal für diesen Winter den Blick über ihr Rudel schweifen. "Bis zum Frühling", versprach sie.
 

Lucita hielt Wort. Kaum, dass der Schnee in den Pässen schmolz, verließ sie das Menschendorf. Als sie im Schneegestöber dem Wanderer zur Siedlung gefolgt war, war die Angst mit jedem Schritt gewichen und hatte Neugier Platz gemacht, Erwartung, Freude. Sie hatte es kaum abwarten können, die Wunder dieses Ortes zu erkunden. Leider hatte sie eine Weile warten müssen, verborgen im Schnee, bis ihr der Wanderer Kleidung brachte. Die würde sie benötigen, hatte er ihr erklärt. Befremdlich, aber immerhin hatten die Kleider sie etwas gewärmt. Staunend war sie ihm durch die Straßen gefolgt, hatte die bunten Lichterketten und Bilder bewundert und ihren Augen kaum getraut. Die Erläuterungen des Wanderers hatte sie dabei kaum gelauscht. Viel zu sehr hatte der Zauber dieses Lichterspiels und der vielen, geschäftig umhereilenden Menschen sie eingefangen.

Die Wohnung des Wanderers war warm. Wie im Frühling. Völlig erstaunt hatte sie die sogenannte Heizung befühlt und sich genüsslich daran gelehnt. Wie gut sich das angefühlt hatte! Beinahe hätte sie darüber das Gefühl der Beengung vergessen, dass sie Wohnung in ihr auslöste. Keine Bäume, kein Geruch von Erde und Laub. Irgendwie falsch. Als sie ihre Bedenken mit dem Wanderer geteilt hatte, hatte der nur gelächert und versucht, ihr zu erklären, dass alle Menschen so lebten.
 

In den ersten Tagen war sie viel durch das Dorf gelaufen, hatte sich nicht satt sehen können an all den kleinen und großen Wundern, die sie dort umgaben. Dann hatte sie das Fernsehen entdeckt und die Wärme der kleinen Wohnung genossen. Erst da hatte sie gelernt, wie groß die Welt war. Unendlich viel größer, als sie je geahnt hätte. Für sie war der Wald die Welt gewesen, das Menschendorf vielleicht noch. Dass selbst dies alles nur ein winziger Bruchteil der Welt war, hatte sie erschüttert. Wie wenig sie doch wussten! Wie wenig das Rudel ahnte, von all dem, was in der Welt der Menschen vor sich ging und längst nicht nur die Menschen betraf.

Schnell waren Freude und Euphorie gewichen, hatten Angst und Abscheu Platz gemacht. Die Menschen töteten die Wälder, töteten die ganze Welt und sie wussten es! Sie wussten so viel und doch so unglaublich wenig! Gifte, die in den Boden sickerten, Tiere, die schrecklich ausgeschlachtet wurden, nur um dann nicht gefressen zu werden. Künstliche Dinge überall, die die Natur ersetzen sollten. Das meiste davon hatte sie nicht einmal ganz verstanden, doch sogar ihr war klar gewesen, dass es gefährlich war und über ein Dorf oder eine Menschengruppe weit hinausging. Und sie wussten es! Obendrein gingen sie mit ihresgleichen nicht besser um. Die Vorstellung, dass sie ihresgleichen verhungern ließen, während sie so viel wegwarfen, stieß Lucita gänzlich ab. Waren sie nicht eine Art? In einem Werwolfsrudel wäre das undenkbar! Sie standen für einander ein und würden einander niemals so im Stich lassen!
 

Bald schon hatte sie mit dem Wanderer diskutiert. Weshalb wollte er SO leben? Er hatte nicht einmal versucht, abzustreiten, was Lucita durch die Nachrichten-Sendungen im Fernseher erfahren hatte. Seine Miene hatte ihn sofort verraten. Er hatte all das gewusst und wusste vermutlich noch sehr viel mehr. Wie konnte er das akzeptieren? Wie konnte er so leben wollen wie die Menschen, die all diese abscheulichen Dinge taten? Das war es nicht, was Lucita geglaubt hatte, in der Menschenwelt erfahren zu dürfen. Fort war der Zauber schöner Licht, fort die romantischen Ideen von einer unerforschten, geheimen Welt. Sie sah statt bunten Lichtern bloßen Verbrauch von Energie, die für Wichtigeres hätte verwendet werden können. Verschwenderisch und blind.

Wäre der Schneefall nicht so stark gewesen und der Weg frei, Lucita wäre noch im tiefsten Winter jederzeit gerne zum Rudel zurückgekehrt. Lieber hätte sie mit ihresgleichen gefroren und gehungert, als den Überfluss der menschlichen Dummheit zu leben. Während sie in den ersten Wochen viel diskutieren und der Wanderer versuchte, ihr zu erklären, wie es in der menschlichen Geschichte zu diesem Zustand gekommen war, schwiegen sie einander am Ende nur noch an. Lucita war dieser kalten Welt überdrüssig. Die Menschen waren nicht für einander da. Sie lebten nebeneinander her, blind für die anderen um sich herum und ignorant für jedes Lebewesen, das kein Mensch war. Sie sahen nicht das große Ganze, obwohl sie so viel mehr Wissen hatten, auf das jeder zugreifen konnte. Sie sahen nicht die Welt, die verschiedenen Arten und wie jede von ihnen wichtig war. Diese essentielle Erkenntnis hatten sie einfach nicht und das war Lucita absolut unverständlich. Jedes Werwolfkind wusste das instinktiv. Niemand brauchte ihnen sagen, dass die Spinne ebenso wichtig war wie der Hirsch, dass die Biene gebraucht wurde und selbst Flöhe ihren Beitrag leisteten für das große Gleichgewicht.
 

"Lucita!" Es war ihr kleiner Bruder, ein wenig abgemagert, aber zu ihrer Erleichterung bei bester Gesundheit, der sie begrüßte. "Du bist wieder da! Wir dachten, du wartest, bis der Schnee ganz geschmolzen ist und einige meinten, du kämst vielleicht niemals zurück." Wie immer plapperte er drauf los ohne Nachzudenken. Sie war so froh, ihn zu sehen. Ihn und nach und nach auch all die anderen. Oder zumindest die meisten. Vier Mitglieder ihres Rudels hatten den Winter nicht überlebt. Es war ein kalter Winter und auch wenn sie ihn im Warmen hatte verbringen können, so hatte Lucita doch oft an ihre Familie gedacht und an all die anderen, die ihr alle lieb und teuer waren. "Ich wäre gerne eher zurückgekommen", gab sie offen zu. "Die Menschen sind furchtbar. Hätte ich geahnt..." Sie hielt inne und seufzte. "Ich wäre nie gegangen."

Jetzt, wo sie die Dummheit der Menschen gesehen hatte, kam es ihr plötzlich viel erstrebenswerter vor, Teil des Rudels zu sein und ihre eigene Familie zu gründen. Ob Marin sie noch wollen würde? Ob sie wirklich wieder eine von ihnen sein könnte? Sie hoffte es inständig, denn nichts wünschte sich Lucita mehr. Ihr Rudel mochte klein sein, die Winter hart, aber sie hatten einander und das war mehr wert als alles, was sie im Menschendorf hatte erleben können. Um nichts in der Welt würde sie tauschen wollen.
 

Grau war ihr Fell, trüb ihre Augen und schwer ihre Glieder, als Lucita ihren Enkeln diese Geschichte erzählte. Es schien ihr wie gestern, dass sie die Gräuel der weiten Welt erfahren hatte und doch so unendlich weit weg. Sie war nie wieder eine Wölfin gewesen wie alle anderen, denn sie wusste, was außerhalb ihrer kleinen, geschützten Welt lauerte. Als Älteste hatte sie den Jüngeren geraten, nicht dem gleichen Pfad zu folgen, wie sie es in jugendlicher Naivität getan hatte und die meisten hörten auf sie. Doch ihre Zeit neigte sich nun dem Ende. Lucita wusste das. Sie war alt und schon im vergangenen Winter, der sanft ausgefallen war, hatte eine Krankheit sie beinahe aus der Welt gerissen. Dieser Winter aber versprach ein langer zu werden und schon jetzt, im Herbst fühlte sie die Kälte in ihren schmerzenden Knochen. Ihre Zeit war vorüber, doch ihre Kinder und Enkel würden die Erinnerung an sie weitertragen und alles Wissen, dass sie an sie hatte weitergeben können.

Es war ein milder Herbstmorgen, als das Rudel Lucita unter buntem Laub vergrub. Sie war in Frieden gegangen und jeder im Rudel erinnerte sich mit Dankbarkeit und Liebe im Herzen an die alte Wölfin, die immer ein wenig anders gewesen war als alle anderen.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück