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Ich bin bereits tot

John-Cleaver-Reihe
von

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Kapitel 4: Hätte ich ihn das fragen sollen?

Ich liebe den Geruch von Kaffee. Ich konnte den Geschmack noch nie ertragen, aber der Geruch ist für mich so angenehm, dass ich allein dafür gern immer welchen kochen würde – wenn das keine Verschwendung von Geld wäre.

Mein Vater hatte oft Kaffee getrunken, deswegen erinnerte mich dieses Getränk auch immer an ihn. Vielleicht mag ich den Geruch deswegen so sehr.

An diesem Morgen wurde er von dem Aroma gebratenen Specks und Rührei überdeckt. Beides war vor mir aufgetürmt, die Serviererin musste entweder Mitleid mit mir haben, weil ich so übernächtigt aussah oder weil Faren mit ihr geflirtet hatte. Ich war mir nicht sicher, aber im Endeffekt war es ja auch egal.

Für das Frühstück hatten Faren und ich beschlossen, ein Diner aufzusuchen. Ich wusste inzwischen, wie viel Pech man mit diesen haben konnte, aber hier waren wir in ein gutes geraten. Entsprechend war jeder Tisch besetzt, am Tresen saßen Trucker, die schweigend ihren Kaffee tranken. Die Jukebox spielte irgendein Jazzstück, das ich nicht kannte, ein Mann mit einer kernigen Stimme schmetterte ein Lied, das einem eigentlich gute Laune bescheren sollte, meine Stimmung blieb dennoch am schachbrettartig gemusterten und frisch gewischten Boden. Trotz der frostigen Temperaturen draußen, drehte sich der Deckenventilator, langsam und behäbig, als wäre es für ihn auch nur noch eine Pflichtübung.

Farens Bagel lag noch unberührt auf dem Teller, viel zu sehr war er damit beschäftigt, die mitgeführten Unterlagen durchzublättern und seinen Kaffee zu trinken. Ich hatte ihm bereits im Auto alles erzählt, was vorgefallen war, weswegen ich nun die Gelegenheit bekam, mein Frühstück zu essen. Auch wenn schlingen die bessere Bezeichnung war. Wenn ich schon müde war, wollte ich den Energieverlust zumindest mit Essen wieder ausgleichen.

„Es ist schlecht, dass wir nicht wissen, wieso er seine Opfer tötet.“ Faren sortierte die Datenblätter wieder sorgsam. „Wir haben damit absolut keinen Anhaltspunkt.“

Kaum erinnerte ich mich wieder an den Anblick der Leiche auf dem Bett, verging mir der Appetit, lustlos stocherte ich in den letzten Resten des Rühreis. „Hätte ich ihn das fragen sollen?“

In meinem Kopf tastete ich zaghaft nach der Erinnerung des Toten, in der Hoffnung, dort einen Hinweis zu finden, aber natürlich konnte ich sie nicht abrufen. Sie waren nur noch Ballast, der auf einem Regal in meinem Inneren Staub ansetzte. Verschlüsselte Daten, die nicht mehr decodiert werden konnten, weil die entsprechende Dechiffriermaschine verlorengegangen war.

Also blieb mir nur, mich auf meine Erinnerung zu verlassen. Aber die wenigen Fetzen, die ich hatte begreifen können, halfen mir nicht. Warum der Baseballspieler mit dem Verwelkten in einem Motel gewesen war, entzog sich meinem Wissen. Was der Mörder von ihm gewollt hatte, war mir immer noch ein Rätsel.

Faren sah mich an, die Stirn in Falten gelegt, die Brauen zusammengezogen. „Natürlich nicht. Du kannst ohne jede Vorbereitung froh sein, dass du da wieder rausgekommen bist. Er hätte dich auch ganz einfach kaltmachen können.“

„Ich dachte, er will dir etwas antun.“ Ich blickte auf meinen Teller hinunter, um nicht sehen zu müssen, wie Faren mich nach diesen Worten ansah.

Glücklicherweise ging er nicht näher darauf ein, sondern sprach weiter über etwas anderes: „Vielleicht wollen sie mehr über dich herausfinden, um dich anzuwerben.“

„Oder meine Schwächen auszuloten.“ Ich sah ihn nun doch wieder direkt an. „Nachdem ich so viele Verwelkte getötet habe, müssen sie mich hassen. Sicher wollen sie mich loswerden.“

Dass wir über ein derartiges Thema sprachen, obwohl wir uns in einem vollbesetzten Diner befanden, mag auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinen – aber eigentlich ist es ziemlich logisch. Jeder an diesem Ort war mit seinem Begleiter beschäftigt, abgesehen von den Truckern am Tresen und der Bedienung. Aber diese waren allesamt von der Jukebox und allen stattfindenden Gesprächen geradezu übersättigt an Eindrücken, so dass sie einem einzelnen Gespräch kein Gehör schenken konnten, egal wie verräterisch oder belastend es war.

Endlich griff Faren sich seinen Bagel und biss ein Stück ab, um dann mit vollem Mund weiterzusprechen: „Aber das ist bei dir doch total einfach.“

Auf mein tadelndes Stirnrunzeln hin, schluckte er erst einmal und spülte mit Kaffee hinterher.

„Der Kerl hat doch gesehen, wie du allein bei ihm schon zusammengebrochen bist. Wie gesagt, er hätte dich ganz einfach töten können. Oder zumindest mitnehmen.“

Aber es gab Gründe dafür, dass nichts davon geschehen war. Mich mitzunehmen war wohl wegen der Polizei, die bereits alles umstellt hatte, ein Ding der Unmöglichkeit gewesen. Er allein war dem Blick der Beamten entkommen, aber mit einem unter Schmerzen leidenden Anhängsel? Nein, das war wirklich absolut nicht möglich.

Auch dafür, dass er mich nicht direkt getötet hatte, gab es eine Begründung, das wusste ich einfach.

„Vielleicht geht es ihnen nicht darum, mich aus Rache zu töten. Sie sind Dämonen, ich würde eher darauf wetten, dass sie mich so lange wie möglich quälen wollen.“

Faren verzog das Gesicht zu einer Grimasse, ließ mir aber nicht die Gelegenheit, noch etwas zu sagen oder etwas zurückzunehmen, weil er direkt darauf einging: „Und du glaubst, sie tun das, indem sie mir etwas antun?“

Das war der einzig logische Schluss. Meine Eltern waren tot, mehr Familie besaß ich nicht. Mit der Flucht aus meiner Heimatstadt hatte ich auch sämtliche Bande zu Freunden und Bekannten gekappt. Niemand wäre in der Lage, diese zu finden und gegen mich zu verwenden.

Aber Faren war hier. Wir teilten ein Zimmer, ein Bett, waren eigentlich immer zusammen zu sehen. Wenn jemand sich an mir rächen wollte, dann ganz gewiss über Faren.

Doch auf meine Besorgnis hin, winkte er, fast schon gelangweilt, ab. „Ich glaube kaum, dass das notwendig ist. Kieran, du würdest dich wahrscheinlich sogar für einen Wildfremden in die Höhle des Löwen stürzen, selbst wenn dieser ausgehungert wäre und du dich langsamer als eine Schnecke bewegen würdest. Das ist einfach dein Naturell.“

Im Grunde sagte er mir damit, dass ich auf jeden Fall in einer Zwickmühle saß. Aber ich durfte nicht zulassen, dass ich in eine passive Position gedrängt wurde, aus der ich mich nicht mehr befreien könnte. Ich musste aktiv werden, ich musste diesen Verwelkten finden.

„Aber wie sollen wir das ohne jeden Anhaltspunkt anstellen?“, fragte Faren mich.

Normalerweise konnten wir Zeitungsberichte und die Nachrichten verfolgen, um uns ein umfassendes Bild über den Verwelkten zu machen und ihn dann in den Unterlagen meines Vaters erkennen. Aber in diesen Fällen war den Dämonen meine Anwesenheit, meine Existenz, nie bewusst gewesen. Sie waren nicht gewarnt gewesen. Das war diesmal anders.

„Wenn du mich fragst, befinden wir uns bereits in einer passiven Position.“ Faren lehnte sich mit seiner Tasse zurück und legte den freien Arm ausgestreckt auf die Rückenlehne. „Es würde mich nicht wundern, wenn sie eine Verbindung zur Polizei haben und deswegen noch mehr über dich wissen als vorher.“

Da er das nun erwähnte, konnte ich diesen Gedanken auch nicht mehr abschütteln. Glücklicherweise benutzten wir die Pseudonyme, so konnte niemand, den ich kannte …

Ich erstarrte augenblicklich, als ich das dachte. Natürlich könnten Personen, die ich kannte, Ziel der Verwelkten werden. Auch wenn ich keine Freundschaften aufgebaut hatte, sollte niemand zu Schaden kommen, nur weil er mich zufällig kannte. Aber was konnte ich jetzt noch tun? Den Supermarkt überwachen, in dem ich arbeitete? Auch wenn es immer nur drei Stunden in der Woche gewesen waren? Ich könnte die anderen Angestellten nicht mal erkennen, wenn ich sie irgendwo unterwegs träfe.

All die umherschwirrenden Gedanken brachten meinen Kopf wieder zum Schmerzen. Mit einem leisen Stöhnen griff ich mir an die Stirn und schob mit der anderen Hand den Teller von mir.

Faren schmunzelte. „Du bist wirklich nicht jemand, der gern nachdenkt, oder?“

„Ich arbeite lieber praktisch. Von allen Wenns und Abers bekomme ich nur Kopfschmerzen.“

Und sie hatten meinen Vater getötet. Statt weiter umzuziehen, wie er es sein ganzes Leben lang gemacht hatte, war er in derselben Stadt wie meine Mutter geblieben. Mit Wenns und Abers hatte er sich davon überzeugt, dass er niemals gefunden werden könnte. Und was war am Ende geschehen?

„Das einzige, was wir tun könnten, wäre herumzufahren und darauf zu hoffen, dass du sie irgendwo spüren kannst. Aber ich glaube, das könnte für deine neuen Freunde Verdacht genug sein, um dich wieder einzusperren.“

Faren deutete mit dem Kinn nach draußen. Von meinem Platz aus konnte ich den Parkplatz überblicken. Etwas weiter entfernt stand ein unauffälliger dunkler Wagen, in dem zwei Männer saßen und aus Pappbechern tranken. Sie sahen zu mir herüber und machten sich nicht einmal die Mühe, auch nur im Mindesten unverdächtig zu wirken.

„Idioten“, seufzte ich. „Was denken die denn? Dass ich vor ihren Augen einen Mord begehe?“

„Ich denke, sie sind ziemlich wütend, dass sie dich gehen lassen mussten. Sie brauchen irgendeinen Schuldigen, damit die Schäfchen wieder ruhig schlafen können.“

Es könnte problematisch werden, dass ich den eigentlichen Schuldigen umbringen wollte, statt ihn der Polizei auszuliefern.

„Aber sieh das Gute daran: Wenn es während der Observation zu einem weiteren Todesfall kommt, wissen sie, dass es nicht du warst.“

Dennoch wollte ich jedes weitere Opfer eigentlich vermeiden. „Wir sollten gehen. Setzen wir deinen Vorschlag um und fahren durch die Gegend, bis ich die Anwesenheit eines anderen Verwelkten spüre.“

Faren stellte die Tasse wieder ab. „Gut, geht klar.“

Ohne jedes weitere Wort stand er auf und ging in Richtung der Toiletten davon. Mein Blick wanderte derweil wieder auf den Parkplatz hinaus. Die beiden Beamten unterhielten sich inzwischen und bemühten sich wohl, nicht mehr so auffällig zu sein. Ich fragte mich, ob sie mich wirklich für so bescheuert hielten, dass sie damit durchkommen könnten. Aber vielleicht sprachen sie nun auch über etwas ganz anderes. Wenn sie Partner waren, kannten sie sich wohl immerhin mit dem Privatleben des jeweils anderen aus. Ich sollte mir nicht derart viele Gedanken um Leute machen, selbst wenn sie mich observieren sollten.

Jemand lief an meinem Tisch vorbei, aber ich schenkte dem keine Beachtung – bis ich bemerkte, dass ein Zettel neben meiner Hand lag. Eine Nachricht war darauf gekritzelt, was mich sofort aufspringen ließ.

Hastig lief ich ebenfalls in Richtung der Toiletten, wo ich den Schreiber wähnte, lief stattdessen aber direkt in Farens Arme, als dieser gerade heraustrat. „Na, nicht so stürmisch, Kieran~. Was ist denn los?“

„Hast du gerade jemanden hineingehen sehen?“

Er warf einen Blick über seine Schulter, schüttelte dann aber mit dem Kopf. „Ich war der einzige da drinnen. Warum? Was ist denn?“

Ich drückte ihm den Zettel gegen die Brust. „Das da wurde mir gerade auf den Tisch gelegt, aber ich weiß nicht, von wem. Ich dachte, er wäre da reingegangen.“

Geduldig nahm Faren mir das Papier aus der Hand, dann glättete er es, um zu lesen.

Mit sicherer, aber absolut gefühlloser Hand hatte dort jemand eine Aufforderung geschrieben:
 

Du willst wissen, was die Begabten von dir wollen?

Komm heute um Mitternacht zur Tür unter der Turnpike Bridge.

J.W.C.



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