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Zwischenwelten

Ereri
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Hi!

Im letzten Kapitel haben wir einen Einblick in Levis und Hanjis Verhältnis bekommen. Außerdem beginnt sich Eren auch immer mehr in Levis Kreis der wenigen Menschen zu drängen, bei denen er eine emotionale Verbindung zulässt.

Ich wünsche euch viel Spaß beim fünften Kapitel! Komplett anzeigen

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Gezeiten

„Ich glaub's einfach nicht!“
 

Connie war nicht der einzige, der an diesem schwülen Juniabend ungläubig auf der Wiese vor ihrem Wohngebäude saß und den Kopf schüttelte.
 

„Ja, es kam vor allem so plötzlich.“ Reiner schüttelte grimmig mit dem Kopf.
 

„Ich finde es seltsam, dass das an einem Sonntag verkündet wird“, sinnierte Historia, während sie ihren langen Rock ordnete.
 

Sie saßen alle auf Decken und hatten sich ihr Bier mit raus genommen, um den Sommerabend etwas genießen zu können.
 

„Objektiv betrachtet sind die geflogen, mit denen die meisten von uns am wenigsten zu tun hatten“, stellte Armin klar, was ihm aller Aufmerksamkeit einbrachte.
 

Tim Janmaat, Richard Pedro, Oliver Rémy, Louis Cabaye, Thiago Paletta und David Ramos. Das waren die Namen der Rekruten, die heute morgen unvermittelt von Levi verabschiedet worden waren.
 

„Glaubst du, dass wir das Maß für die anderen anlegen?“, fragte Connie skeptisch.
 

„Du bestimmt nicht, Kretin. Aber Armin und meine süße Historia hier wahrscheinlich“, lachte Ymir und knuffte Connie grob.
 

„Ymir“, schalt Historia ihre Freundin sanft. Die Zwei standen sich unheimlich nah, aber zusammen waren sie seltsamerweise nicht, obwohl ihre Augen mehr als Freundschaft füreinander versprachen.
 

„Ich bin gespannt, was diesen Monat noch kommt. Der General-Leutnant erwies sich bisher als sehr fantasievoll“, seufzte Marco.
 

Es war bisher in der Tat eine skurrile und anstrengende Ausbildungseinheit gewesen.
 

Am ersten Tag der 6. Einheit geschah erst einmal gar nichts. Es war der pure Horror zu warten bis etwas passierte. Und als es dann losging wurden sie in den Wald gekarrt und ihnen befohlen eine weiße Box zu suchen. Im Dunkel stehend und ausgerüstet mit Taschenlampen brauchten sie die ganze Nacht. Sie schliefen zwei Stunden bis zum Frühstück. Danach ging es in München weiter. Sie sollten Hanji ausfindig machen, wobei Berthold die Suche leiten sollte.

Solche und andere seltsame Aufträge mussten sie die ersten vier Wochen ausführen, wobei immer jemand anderes den Einsatz leiten musste. Levi war stets bei ihnen und beobachtete sie.
 

Im Mai mussten sie haargenau dieselben Einsätze ausführen, die sie während der letzten Einheit aufgegeben bekommen hatten. Levi hatte sich Zwanzig davon ausgesucht und da sie sich an die Sachverhalte erinnerten und die Probleme kannten, wunderten sie sich zuerst über den Sinn der Aufgabe. Klar, ihnen wurde eine Hierarchie vorgeben, aber sonst?

Als Levi in der Rolle des Kriminellen vor ihnen stand, begriffen sie.
 

Außerdem hielt Levi die Einsätze anfangs oft an, um sie zu belehren und am Samstag saßen sie den ganzen Tag im Unterrichtsraum, analysierten die Videoaufnahmen der wöchentlichen Einsätze, diskutierten darüber und lernten.

Levi war ein fantastischer Lehrer. Man musste bloß seine Flüche und ungehobelte, radikal-ehrliche Art ausblenden und tadaa! Sie wurden immer besser.
 

Der plötzliche Rauswurf sechs ihrer Kameraden verunsicherte sie deswegen umso mehr. Es zeigte, dass sie noch nicht am Ende ihrer Reise waren und jeder fliegen konnte, egal wie gut sie sich anstellten. Und gut, verdammt nochmal, waren sie alle.
 

„Eren Jäger!“, rief Mike plötzlich aus einem der Fenster im Verwaltungsgebäude gegenüber.
 

Er stand auf: „Ja, Sir?“
 

„Komm her! Telefon!“
 

Ein eiskalter Schauer lief Erens Rücken hinab und sein Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Er warf Armin einen schockierten Blick zu, bevor er Mike zurief, dass er käme.
 

„Soll ich mitkommen?“, fragte ihn Armin besorgt und war bereits dabei aufzustehen.
 

„Nein, schon gut“, winkte Eren schroff ab und lief zum Eingang des Gebäudes.
 

Er ignorierte die verwirrten Blicke und Fragen der anderen. Armin würde es ihnen schon erklären.
 

Als Eren schließlich ins Büro trat, zitterte er am ganzen Leibe. Mike hielt ihm das Telefon hin, das Gesicht blank und unverbindlich. Er nahm es und presste es sich ans Ohr.
 

Es gab nur eine Person, die ihn anrufen würde. Der Tod. Nur der Tod oder das Leben.
 

„Jäger, hallo“, brachte er atemlos hervor. Am Rande bemerkte er wie Mike den Raum verließ.
 

Dann verschwamm alles. Es gab nur noch dieses taube Gefühl, seine schwitzigen Hände, die sich krampfhaft in den Hörer krallten und das leere Rauschen am anderen Ende des Apparates.
 

Oh Gott! Bitte! Bitte lass sie nicht tot sein!
 

„Eren Jäger? Guten Abend! Dr. Brzenska hier“, ertönte die tiefe, unterschwellig ungeduldige Stimme der Ärztin, die Eren besser kannte als ihm lieb war, „Ich muss Ihnen mitteilen, dass sich der Zustand Ihrer Schwester etwas verschlechtert hat und wir sie an ein Atemgerät anschließen müssen. Ich brauche dafür Ihr Einverständnis.“
 

Seine Beine gaben bei diesen Worten nach und er sank mit einem erstickten Laut auf die Tischkante.
 

„Herr Jäger?“
 

„H-Heute Morgen war noch alles okay“, presste er zwischen den Zähnen hervor.
 

„Ihre Schwester hatte einen Kreislaufzusammenbruch, aber wir haben das in den Griff gekriegt. Sie ist soweit stabil, aber zur Sicherheit würde ich sie gerne bei der Atmung unterstützen.“
 

„Ja. Ja, machen Sie das.“ Ein gewaltiger Druck baute sich hinter Erens Augen auf.
 

„Es ist nichts allzu Besorgnis erregendes“, erklärte Rico Brzenska mit einem Seufzen in der Stimme, „Es ist nicht ungewöhnlich, dass Wachkomapatienten beatmet werden müssen.“
 

„Ich... Ich fahre zu Ihnen.“
 

„Das wäre Zeitverschwendung. Wir haben die Situation im Griff“, stellte die Ärztin klar. Sie nahm kein Blatt vor den Mund, was letztlich erträglicher für Eren war.
 

„Sind Sie sicher? Ich mein, ich-“
 

„Herr Jäger“, unterbrach ihn Brzenska resolut, doch ihre Stimme wurde etwas weicher, als sie fortfuhr, „Ich habe Ihnen bereits gesagt, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Mikasa wieder aufwacht bei 0,3 % liegt. Wir haben schon oft über Euthanasie gesprochen und Sie sollten es erneut in Erwägung ziehen; ob Ihre Schwester diesen Zustand gewollt hätte, in dem sie sich befindet.“
 

„Ich werde sie nicht töten“, er hörte wie Brzenska widersprechen wollte und erstickte es im Keim, „Egal wie schlecht es aussieht, ich kann Mikasa nicht aufgeben. Sie würde dasselbe für mich tun und ich weiß, solange es nur die winzigste Chance gibt... Sie wird wieder aufwachen!“
 

Eren wurde zum Schluss hin immer lauter. Umso erdrückender wog die Stille danach. Er hörte das Knistern im Telefon, wartete angespannt. Ein Seufzen erklang am anderen Ende.
 

„Machen Sie sich keine Sorgen, Herr Jäger. Ich kümmere mich um Ihre Schwester und halte sie auf dem Laufenden.“
 

Eren nickte, merkte dann, dass sie das nicht sehen kann.

„Danke.“
 

„Auf Wiederhören.“
 

„Wiederhören.“
 

Ein Knacken und die Stille wurde unerträglich.
 

Die Sekunden tickten träge voran.
 

Tik. Tok. Tik. Tok. Tik. Tok. Tik. Tok. Tik. Tok. Tik. Tok.
 

Seine Glieder fühlten sich bleiern und schwer an. Erst das laute rücksichtslose Geräusch der sich öffnenden Tür ließ ihn aus der Dumpfheit schrecken.
 

Wie ein Reh im Scheinwerferlicht starrte er Mike an, der ihn sichtlich prüfend begutachtete.
 

„Du warst fast eine halbe Stunde hier drin“, erklärte Mike mit ebener Stimme.
 

Mit einem sichtlichen Ruck riss sich Eren zusammen und legte den Hörer auf.

„Entschuldigen Sie.“ Mehr brachte er nicht über die Lippen.
 

Mike nickte.

„Ich muss noch etwas Papierkram erledigen. Du findest raus?“
 

„Ja. Danke, Sir.“ Mit steifen Schritten verließ Eren den Raum und versuchte das unnachgiebige Pochen in seinen Ohren zu ignorieren. Seine Schritte hallten synchron dazu und er krallte sich daran, um sich nicht in der Schwärze, die vor seinen Augen tanzte zu verlieren.
 

Als er aus dem Gebäude trat, sog er die frische Luft ein wie ein Ertrinkender.
 

Es beruhigte ihn etwas im Freien zu stehen, obgleich sich die aufwühlende Verzweiflung weiterhin eines Drahtseils gleich um seine Brust schnürte.
 

Er hörte die Stimmen seiner Kameraden und der Gedanke an ihnen vorbeizugehen oder gar mit Armin über das Telefonat reden zu müssen, verursachte eine ätzende Übelkeit, die ihm rasch den Magen hochstieg. Er schluckte schwer und die Magensäure runter.
 

Eren dachte nicht wirklich nach, als er abbog und an der Wand entlang hinter den Sträuchern zu dem großen Gebäude lief, in dem er eine Zeit lang oft gewesen war.
 

Die Haustüre war offen. Leise Musik ertönte von links und er machte die Tür auf.
 

Als er die Person, die er gesucht hatte, mit einem Buch auf der Couch liegen sah, atmete er erleichtert aus.
 

„Hanji, Ma'am.“
 

Mit verblüfft zusammengezogenen Augenbrauen schielte Hanji über den Buchrand und warf ihm erst einen irritierten Blick zu. Als sie seinen Gesichtsausdruck sah, setzte sie sich alarmiert auf.
 

„Eren! Was ist passiert?“ Mit besorgten Augen schob sie ihre Brille zurecht und stand auf, das Buch immer noch in der einen Hand.
 

„Entschuldigen Sie die Störung. Ich... Eigentlich ist es dumm, aber...“ Eren kam sich auf einmal wie der größte Vollidiot auf der ganzen Welt vor. Er machte sich hier gerade zum Volldepp und wegen was? Einem Telefonat, einer Situation, die nicht neu war. Er war wirklich erbärmlich.
 

Plötzlich legte sich ein sanfter Ausdruck auf Hanjis Gesichtszüge und sie schritt auf ihn zu wie auf eine scheue Katze.

„Eren, Sweetie. Komm, setz' dich zu mir.“
 

Sie fasste ihn beruhigend an den Schultern und sah ihm mit dieser besonnenen Sicherheit in die Augen, zu der man sofort Vertrauen fasste.
 

Er ließ sich von ihr zur Couch dirigieren und sie setzten sich nebeneinander.
 

Hanji vermied diese seltsame Stimmung, die unangenehmen Gesprächen immanent war, indem sie sofort auf ihn einredete.

„Ich freue mich, dass du da bist, Eren. Ich habe neben meiner Offiziersausbildung und meinem Medizinstudium nicht Psychologie studiert, weil mir langweilig geworden ist. Ich wollte meine Kameraden nicht nur körperlich zusammenflicken können. Es ist genau richtig, dass du zu mir kommst, Eren. Auch wenn es irgendein Sexualproblem ist. Ich meine, es ist nicht einfach so lange abgeschottet zu leben, da stauen sich auch bei erwachsenen Männern die Hormone auf und-“
 

„Stop! Stop! Stop!“, brachte Eren entsetzt hervor, „Hanji, Ma'am! Das ist es nicht!“
 

Sie lächelte ihn gutherzig an. Unaufdringlich und so gekonnt manipulierend, dass man ihr alle seine Geheimnisse verraten wollte und sie in guten Händen glaubte.
 

„Fang einfach damit an, was du heute Abend getan hast“, schlug sie vor.
 

„Wir sind draußen gesessen“, begann Eren stockend, doch es fiel ihm zunehmend leichter sich zu fassen, „und haben über die Kameraden gesprochen, die gehen mussten. Dann hat Mike nach mir gerufen, weil jemand für mich angerufen hatte und ich wusste sofort, dass es nur das Krankenhaus sein konnte. Es gibt sonst niemanden und Armins Mutter spricht nur im Rahmen ihrer Telefonate mit ihm gelegentlich mit mir. Und da ich heute Morgen erst mit Dr. Brzenska gesprochen habe, habe ich Mikasa schon tot und kalt auf einer sterilen Metallbarre liegen gesehen.“
 

Eren atmete tief durch. Er starrte angestrengt auf seine unruhigen Hände in seinem Schoß und obwohl es ihn viel Kraft kostete, suchte er schließlich Hanjis Blick.
 

„Sie ist normalerweise stabil, aber sie hatte heute einen Kreislaufzusammenbruch und muss zur Sicherheit beatmet werden. Dr. Brzenska hat mir wegen der 0,3 %-Chance und der langen Zeit erneut ans Herz gelegt eine Euthanasie in Erwägung zu ziehen. Und ich weiß, dass es rational gesehen richtig wäre und dass Mikasa nie ein Leben lang so dahinvegetieren wollen würde. Aber ich kann es nicht.“
 

Seine Stimme brach unter seiner Verzweiflung und er wurde sehr leise, aber bestimmt, als er fortfuhr.
 

„Ich kann sie nicht töten lassen. Ich kann sie nicht so aufgeben. Sie hat immer gekämpft. Sie war stark in allen Bereichen. Armin und ich waren ihre einzigen Schwachpunkte und sie hat alles für uns getan, immer. Sie ist eine Kämpferin und ich weiß einfach, dass sie angepisst ist und auf ihren regungslosen Körper schaut und nur darauf wartet, bis er wieder genug Kraft hat, um aufzuwachen. Ich weiß, sie kann aufwachen. Wenn jemand in diese verfickten 0,3 % fällt, dann Mikasa!“
 

Erens Atem zitterte, er spürte nur am Rande, wie sich seine Fingernägel in seine Handinnenflächen bohrten. Er war aufgewühlt und wütend. So unglaublich wütend.
 

Hanji hielt seinen Blick unbewegt. Eine Maske lag über ihren tiefgründigen, haselnussbraunen Augen, die ihre Gedanken verbarg. Ein gleichmäßiges, verständnisvolles Schimmern nahm ihm alle offenkundigen Aggressionen, zurückblieb brodelnde Unruhe und stumme Entschlossenheit.
 

„Es ist eine unmögliche Entscheidung. Man kann nicht über das Leben eines geliebten Menschen entscheiden. Dass man dazu gezwungen wird, ist eine unaussprechliche Qual und eine Verantwortung, der man nie gewachsen sein kann“, sprach Hanji mit sanfter, leiser Stimme. Es war eine Tonlage, die man ihr nicht zutraute. Dennoch war Eren nicht überrascht von ihr.
 

„Sie wissen so viel. Sie haben schon so viel gesehen. Bitte. Bitte untersuchen Sie meine Schwester. Bitte sagen Sie mir, ob es bei 0,3 % bleibt“, bat Eren mit ernster Stimme, sich gänzlich bewusst was er verlangte.
 

Hanji atmete langsam aus, ansonsten rührte sich nichts an ihr. Dann lehnte sie sich leicht vor und griff nach Erens verkrampften Händen und nahm sie in ihre.
 

„Wo ist der Unterschied, wenn die Wahrscheinlichkeit bei 0,1 % oder 30 % liegt?“
 

„Es macht keinen Unterschied. Ich will nur wissen, ob auch Sie nichts ändern können.“
 

Hanji schloss die Augen und seufzte.

„Wenn die Ausbildung abgeschlossen ist, kann ich nach Berlin reisen.“
 

Das war die Antwort, die er wollte. Er atmete zittrig durch und schloss kurz die Augen. Seine Ohren rauschten und die Energie schien ihm geradezu aus jeder Faser des Körpers zu strömen.
 

„Danke.“ Es war nur ein Wort und reichte kaum, um diesem Gefallen gerecht zu werden, den Hanji ihm ohne jede Verpflichtung tun wollte.
 

Dennoch lächelte sie ihn an.

„Komm schon, Eren!“
 

Sie grinste und ihre Augen funkelten wieder mit diesem verstohlenen Wagemut und einem Kopf voller irrer Gedanken.
 

Sie stand auf, seine Hände immer noch in den ihren und zog ihn mit hoch.
 

„Ich weiß ganz genau, was du jetzt brauchst“, sagte sie überzeugt und führte ihn aus dem Gemeinschaftsraum.
 

Sie erhob den Zeigefinger zu ihren schelmisch geschwungenen Lippen. Eren betrachtete sie verwundert dabei, wie sie beinahe lautlos die Küchentür öffnete und sich hineinschlich.
 

Eren starrte in die Küche und begriff Hanjis seltsames Verhalten.
 

Wenn sie wollte, konnte sich Hanji erstaunlich leise bewegen und so pirschte sie sich von hinten an ihr Opfer an, das mit dem Rücken zu ihr am Herd stand und in einem großen Topf herumrührte.
 

Mit euphorischem Lächeln duckte sie sich und hob die Hände, bereit mit ihnen nach dem Körper vor ihr zu greifen.
 

„Vierauge. Was hab ich dir verkackten Hohlbirne vorhin gesagt? Fuck off!“
 

Hanji erstarrte in ihrer Pose wenige Millimeter mit ihren Fingerspitzen über Levis Rücken. Dann umschlang sie in einer fließenden Bewegung seine Taille und drückte sich an ihn.
 

„Ooooh!“, machte Hanji bemitleidend, „Das sieht doch schon fertig aus, außerdem-“
 

Weiter kam sie nicht. Levi drehte sich abrupt in ihrer Umarmung und schlug ihr mit einem Holzlöffel auf den Kopf, der zuvor noch unberührt und sauber auf der Küchentheke gelegen hatte.
 

Noch währenddessen kreuzte Erens überraschter Blick den Levis.
 

„-haben wir einen Gast“, beendete Hanji ihren Satz und rieb sich wehleidig den Kopf, „Mensch, Levi! Das hat echt weh getan!“
 

„Noch ein Wort und ich schieb dir den Löffel in den Arsch“, grollte er abschätzig.
 

„Du gönnst mir auch gar nichts“, jammerte Hanji, doch ihre Augen blitzten wieder spitzbübisch.
 

Levi rollte mit den Augen und seufzte genervt.

„Hier! Wasch ab, was du dreckig gemacht hast“, befahl er und drückte ihr den Holzlöffel gegen die Brust.
 

„Wahhh?“, sie nahm ihn reflexartig und schwenkte ihn mit einer Hand in der Luft, „Du warst doch derjenige, der mich wie ein altes, verbittertes Hausmütterchen damit geschlagen hat!“
 

Levi warf ihr einen mörderischen Blick zu und wenn Eren richtig sah, zuckte sein rechtes Bein kurz auffällig mit der Bereitschaft Hanji so richtig fest in den Arsch zu treten.
 

Er riss sich jedoch zusammen und beschränkte sich auf böses Starren. Sie rührten sich ein paar Sekunden nicht, belauerten sich wie Raubtiere. Man konnte die Spannung regelrecht knistern hören.
 

Eren zuckte zusammen, als Hanji sich plötzlich bewegte und zum Spülbecken sprang, um den Löffel abzuspülen.
 

Als die Zwei ihre Angelegenheiten geregelt hatten, richtete sich Levis Aufmerksamkeit jedoch auf ihn und Eren wusste augenblicklich nicht, ob ihm das sonderlich gefiel. Die dunkelblaue Schürze lenkte ihn allerdings zu sehr ab, um Levis Mimik zu lesen.
 

„Ihre Schürze ist falsch herum“, rutschte es Eren heraus, sowie ihm diese Tatsache ins Auge stach. Die Randnähte waren deutlich sichtbar und der Stoff war matt. Es war vermutlich nicht die eleganteste Art ein Gespräch mit seinem Vorgesetzten zu beginnen.
 

„Das ist mir verfickt nochmal auch klar, Schlauberger“, erwiderte Levi hart und Eren verwarf jeden Gedanken an politisch korrekte Begrüßungen.
 

„Bist du fertig? Ich habe Hunger!“, rief Hanji und hielt ihre Nase über den großen Topf, von dem Levi sie grob am Kragen wegzerrte.
 

„Ich hab gesagt, verpiss dich! Halt gefälligst deinen widerlichen Zinken nicht über den Topf, Vierauge!“, fluchte Levi sichtlich gereizt.
 

Hanji wehrte sich nicht gegen diese derbe Behandlung, sondern wandte sich, als sei dieser Umgang das normalste von der Welt, an Eren.

„Ich hoffe, du hast noch ein bisschen Platz für Suppe. Levi hier kann echt toll kochen.“
 

„Ähm“, Eren blinzelte sie etwas überfordert an, was Levi anscheinend beobachtet hatte.
 

„Wo hast du ihn überhaupt aufgegabelt, Vierauge? Und warum guckt er, als hätte ihm jemand ins Gehirn gefickt?“
 

„Levi!“ Hanji wandte sich ruckartig zu ihrem Kameraden und bedachte ihn mit einem scheltenden Blick, den Eren so erst einmal gesehen hatte und zwar als Levi ihm vor ein paar Monaten aus Versehen den Arm ausgekugelt hatte. Es schien seine Wirkung zu erzielen; Levi stockte in seinem Tun und und hob fragend eine Augenbraue.
 

„Hanji hat mich nicht aufgegabelt. Ich habe sie aufgesucht“, erklärte Eren mit sanfter Stimme und zog die ungeteilte Aufmerksamkeit auf sich, „Und vielen Dank für das Angebot, aber ich möchte wirklich nicht weiter stören.“
 

„Papperlapapp! Du störst gar nicht“, grinste Hanji und zwinkerte ihm bei den folgenden Worten zu, „Außerdem musst du einfach Levis Essen probieren! Das ist eine einmalige Gelegenheit! Glaub mir, ich selbst kann noch haargenau aufzählen wie oft Levi für irgendjemand anderen als für sich gekocht hat, also genieß dieses Privileg!“
 

„Ach ja? Wie oft?“
 

„Mit heute das 36. Mal“, kam Hanjis Antwort wie aus der Pistole geschossen, „Und das seit ich dich kenne.“
 

Levi zuckte unbeeindruckt mit den Schultern.
 

„Also Eren, setz' dich“, lächelte Hanji und deutete auf den Küchenstuhl gegenüber der Küchenzeile auf der Wandseite.
 

Eren gab nach und lächelte Hanji an.

„Danke.“
 

Wie ein Wirbelsturm deckte sie den Tisch für fünf Personen und setzte sich anschließend freudig auf dem Stuhl wippend neben Eren.
 

Sie quietschte wie ein Meerschweinchen als Levi den großen Suppentopf auf den Tisch hievte, was Eren mit einem amüsierten Lächeln beobachtete.
 

Hanji hielt ihren Teller vor Levis Nase, damit er ihr als erstes von der Suppe gab, doch der zog verständnislos die Augenbrauen zusammen.

„Wo sind deine Manieren, Vierauge? Tu' deinen beschissenen Teller da weg und gib' mir Erens.“
 

Bedauernd schmollte Hanji und seufzte schwer, während Eren Levis Kommando nachkam und seinen Teller reichte.

„Vielen Dank, Sir!“
 

Levi bedachte ihn mit einem schrägen Blick.

„Krieg' dich ein. Es ist bloß Suppe und ich bin kein beschissener Sternekoch, ich verbrenne nur bloß nicht alles.“
 

„Trotzdem vielen Dank“, lächelte Eren, als er den Teller wieder nahm und obwohl Levi weiterhin genervt und missmutig dreinschaute, wurde der Ausdruck in seinen Augen einen Moment lang weicher.
 

Es freute Eren jedes Mal, wenn er an Levis Fassade kratzen konnte, Emotionen sah, insbesondere positive.
 

Es war eine helle Gemüsesuppe mit Hackfleischklößchen und es roch fantastisch. Trotz des ganzen Gefühlschaos begann sich sein Magen langsam zu entkrampfen und der Gedanke etwas zu essen wurde immer annehmbarer.
 

„Du vergiftest dich schon nicht“, kommentierte Levi trocken, als er sich ebenfalls hinsetzte und Erens Zögern wohl als Skepsis interpretiert hatte.
 

„Oh nein, das ist es nicht“, erklärte er schnell und griff nach dem Löffel, „Ich war bloß in Gedanken. Das sieht wirklich lecker aus!“
 

„Ist lecker“, nuschelte Hanji bereits mit dem Löffel im Mund, als sie die heiße Suppe schonungslos hinunterschlang.
 

Als Eren die Suppe probierte wurde er angenehm überrascht und lächelte.

„Das schmeckt wirklich fantastisch!“
 

Levi warf ihm einen kurzen wohlwollenden Blick zu.
 

Mit jedem Löffel ging es Eren ein wenig besser. Die heiße Suppe beruhigte ihn und er genoss jeden Schluck und Bissen. Sie war genau richtig gewürzt, das Gemüse nicht zu knackig, nicht zu weichgekocht und selbst die Hackfleischklößchen hatten die richtige Konsistenz. Eren machte bei sowas immer etwas falsch. Meistens wurde das Fleisch zu hart oder die Karotten zu fest.
 

„Wow, da sind sogar Eier drin“, stellte Eren freudig überrascht fest und zerteilte eines mit dem Löffel, „Das ist wirklich die beste Gemüsesuppe, die ich je gegessen habe!“
 

„Jetzt trägst du aber zu dick auf, Schleimschleuder“, schnaubte Levi, in seinen Augen deutliche Skepsis.
 

„Nein, ich meine das ernst. Ich könnte Ihnen nur eine Person sagen, die so leckere Suppen machen kann.“
 

„Das ist das einfachste von der Welt“, kommentierte er abschätzig.
 

„Vielleicht schlampen deswegen alle bei der Zubereitung. Ich verkoche es meistens.“
 

„Hm.“
 

„Noch einen bitte!“, unterbrach Hanji sie und hielt ihren Teller grinsend Levi vor die Nase.
 

„Du bist der reinste Müllschlucker, Vierauge. Unglaublich“, moserte Levi, schenkte ihr jedoch nach.
 

Sie aßen ein paar Minuten in Ruhe weiter, nur das klirrende Geräusch der Löffel hallte durch die Küche.
 

Als Eren fertig war, konnte er sich nicht mehr zurückhalten.

„Ich möchte nicht unverschämt klingen oder so, aber woher kommt denn dieser Neckname „Vierauge“?“
 

Hanji lachte prompt, während Levi sich zurücklehnte und die Arme verschränkte.
 

„Woher wohl? Sie trägt eine Brille“, erklärte er das Offensichtliche.
 

„Das ist klar, aber wie sind Sie darauf gekommen beziehungsweise seit wann?“
 

„Einfach so und keine Ahnung.“ Damit schien für Levi das Thema beendet.
 

Glücklicherweise war Hanji gesprächswilliger, sodass sie ihn aufklärte, während sie Levi erneut den Teller hinhielt, welcher sichtlich genervt ihrer Aufforderung nachkam.
 

„Eigentlich hat er immer „four eyes“ zu mir gesagt - neben einer ganzen Palette anderer Dinge natürlich - aber das hat sich am hartnäckigsten gehalten. Wir haben alle irgendwelche Spitznamen. Im Militär geht es oft derbe zu und Spitznamen machen es lustig und auch einfacher, weil jeder gleich weiß, wer gemeint ist.“
 

„Also haben Sie alle Vier Spitznamen?“
 

„Jepp“, grinste Hanji breit und warf Levi einen wagemutigen Blick zu.
 

„Willst du auch noch was, Eren?“, fragte Levi mit üblich gelangweilter Stimme.
 

„Gerne, danke“, lächelte er und überreichte den Teller.
 

„Was würdest du uns denn für Spitznamen verpassen? Bestimmt habt ihr Rekruten Spitznamen für uns. Sag' mal!“
 

„Ähm, na ja“, zögerte Eren.
 

Levi gab ihm den Teller zurück.

„Wir fressen dich nicht, wenn du es uns sagst.“
 

„Es gibt eigentlich keine festen Spitznamen“, erklärte Eren, „Eher sowas wie Riese, Big Foot, Boss, Prince Charming, verrücktes Eichhörnchen, Psychotante oder Sklaventreiber.“
 

„Es ist nicht schwer herauszufinden, wen ihr mit welchen Bezeichnungen meint“, stellte Levi fest und aß selbst noch einen Teller Suppe.
 

„Psychotante hab ich schon oft gehört, aber verrücktes Eichhörnchen ist mir neu“, kicherte Hanji vergnügt.
 

„Sklaventreiber ist das einzige, was euch zu mir einfällt?“, hakte Levi nach, „Oder traust du dich bloß nicht?“
 

Eren blickte Levi direkt in die Augen.

„Doch, es ist der einzige Name, der öfter fällt. Meistens reden wir über Sie als Rivaille. Anfangs sind viele andere Bezeichnungen gefallen, aber das hat sich nach dem ersten halben Jahr gelegt. Es ist meistens wirklich nur Rivaille.“
 

„Hast du auch einen Spitznamen?“, wollte Hanji mit neugierig funkelnden Augen wissen.
 

„Es geht eher in die Richtung Kamikaze“, gab Eren zu, „Meistens beschimpfen aber nur Pferdefresse und ich uns gegenseitig.“
 

Levi warf ihm einen fast amüsierten Blick zu, während Hanji so breit grinste, dass sie Muskelkater davon kriegen musste.
 

„Ich habe in meiner Theoriestunde mal was von Kartoffelmädchen gehört. Was hat es damit auf sich?“
 

„Ach!“, lachte Eren kurz auf, „Das verfolgt Sasha. Sie hat am Anfang ständig Kartoffelgerichte gekocht und dauernd heiße Kartoffeln gegessen und rumgeschleppt. Das fanden wir so ulkig, dass irgendwer, ich glaub Connie, sie mal so genannt hat. Sie wird es wahrscheinlich nicht mehr los, auch wenn sie nun nicht mehr so häufig Kartoffeln isst.“
 

„Die Frau ist ein Phänomen. Die frisst Mengen wie ein Schwein, ist trotzdem agil und schnell wie ein Wiesel“, pflichtete Levi trocken bei.
 

„Guter Stoffwechsel“, rief Hanji mit herumschwingendem Löffel, wobei ein paar Tropfen Suppe auf dem Tisch landeten.
 

„Du dumme Pute, hör' auf hier alles dreckig zu machen!“ Levi sah Hanji wie ein widerliches Insekt an und warf den Tropfen auf dem Holztisch denselben Blick zu.
 

Hanji gluckste bloß und wischte mit ihrer Serviette drüber, wobei sie es nicht unbedingt verbesserte.
 

„Du musst wissen, Eren“, begann sie schelmisch grinsend an ihn gewandt, „Levi ist ein Saubarkeitsfanatiker. Und damit meine ich nicht bloße Ordentlichkeit, sondern eine echte Zwangsstörung.“
 

„Halt deine verschissene Fresse!“, grollte Levi mit finsterem Blick, sodass Eren ein Schauer den Rücken runterlief.
 

„Man könnte auch meinen, er habe Koprolalie“, fügte Hanji trocken hinzu und zuckte mit den Schultern.
 

„Kopro- Was?“, entfuhr es Eren, wofür auch er einen bösen Blick kassierte, sich jedoch nur für Hanji interessierte.
 

„Das bezeichnet die Neigung zum Aussprechen unanständiger, obszöner Wörter, die oft einen Zusammenhang zum Verdauungstrakt aufweisen“, erklärte Hanji mit gesenkter, pseudo heimlichtuerischer Stimme.
 

Sie zuckten beide zusammen, als Levi den Stuhl beim Aufstehen geräuschvoll zurückschob. Er beachtete sie jedoch nicht weiter, sondern räumte das Geschirr weg, sodass Hanji sich ungestört wieder an ihn wandte.
 

„Bei Levi liegt das aber nicht in einer psychischen Krankheit begründet, er kann auch anders, wenn er will. Und das ständige Putzen ist nicht sonderlich stark ausgeprägt. Leute mit Zwangsstörungen sind oft viel stärker betroffen und wären schwerlich als Soldaten geeignet.“
 

„Aha“, machte Eren und stand ebenfalls auf.
 

Er ignorierte Hanjis Irritation und sammelte ihre zwei Teller ein, um sie in die Spülmaschine zu räumen. Levi ignorierte ihn, als er sich neben ihn stellte und auch, als Eren einen Lappen nahm, um den Esstisch damit zu wischen.
 

Erst als Eren den Lappen auswusch, richtete Levi seine Aufmerksamkeit auf ihn.
 

„Schon wieder am Schleimen?“
 

„Ach, kommen Sie! So gut müssten Sie mich mittlerweile kennen“, echauffierte sich Eren künstlich und grinste Levi gutmütig an.
 

Es schien zu wirken, denn statt einer unverzüglich scharfen Erwiderung, zögerte Levi. Eren sah es genau in seinen Augen. Diese verfluchten sturmgrauen Augen, die das Licht immer so stark spiegelten und der einzige Indikator für die Gefühle dieses verschlossenen Menschen waren, dessen Mimik fast ununterbrochen abweisend und statisch blieb.
 

Eren wünschte sich in diesem Moment durch diese Augen in seine Seele eindringen und sie räubern zu können. Er wollte alles über diesen Mann wissen und es machte ihn wahnsinnig, wenn er jedesmal abprallte.
 

„Ich weiß nicht, warum du hier bist“, stellte Levi ruhig fest und betrachtete ihn abwartend, beinahe lauernd.
 

Hanji erhob die Stimme, doch Eren bedeutete ihr mit der Hand zu schweigen. Eine völlig unangebrachte Geste und viel zu herrisch, aber in diesem Augenblick sah Eren bloß die Erwartung in Levis Augen, dass er einen Rückzieher machen würde.
 

Eren machte natürlich keinen Rückzieher, er war unfähig diese Herausforderung vorbeiziehen zu lassen.
 

„Ich bat Hanji sich meine Schwester anzusehen. Das Krankenhaus rief vorhin an, weil sie kurzzeitig beatmet werden muss und die Ärztin rät mir ständig Mikasa endlich zu töten, weil 0,3 % nicht wahrscheinlich genug sind, dass sie wieder aufwacht.“ Erens Stimme war beängstigend ruhig, wenn auch monoton, als er es erklärte.
 

Levi wandte seinen Blick keine Sekunde lang ab und seine nächsten Worte ließen Eren überrascht tief ausatmen.
 

„0,3 % sind mehr als genug.“
 

Eren riss die Augen auf und Hanji intervenierte.
 

„Das kannst du nicht pauschal sagen, Levi.“ Ihre Stimme klang ernst und bestimmt.
 

Er beachtete sie nicht, als er antwortete. Seine Augen bohrten sich weiterhin in Erens und strahlten dabei eine unaussprechliche Überzeugungskraft aus, die - ohne es zu wollen - Halt gab.
 

„Sie lebt. Sie wird nicht nur von Maschinen am Leben erhalten. 0,3 % reichen. Es sind Menschen auch nach 23 Jahren noch aufgewacht.“
 

Am Rande hörte Eren im Hintergrund Hanji unzufrieden schnaufen. Er blieb in Levis Blick gefangen, sah darin genau das, was er sehen wollte. Das leise Einverständnis, dass sein Tun natürlich, legitim war. Dass er-
 

„Ob es richtig ist, jemanden so lange vor sich hin vegetieren zu lassen, weiß ich nicht. Aber das weiß man erst hinterher.“
 

Eren lehnte sich leicht zurück, innerlich gegen die Konsequenz der Aussage protestierend.

„Was soll das heißen? Was würden Sie tun?“
 

„Das heißt, du musst die Alternative wählen, die du am wenigsten bereust. Keiner kann in die Zukunft sehen, man kann nur hoffen eine Entscheidung zu treffen, die einem am Ende gefällt. Ob sie das tut, wirst du nie wissen, egal wie gut du es dir überlegt hast und was dafür und dagegen spricht. Das Ergebnis bleibt ein Rätsel. Akzeptiere es und entscheide dich für das, was du potentiell weniger bereust.“
 

Das machte Eren nachdenklich.

„Also sollte man auf sein Bauchgefühl hören?“
 

Levi neigte den Kopf leicht.

„Du kannst auch auf das Jucken in deinem Arschloch hören, wenn es dich glücklich macht.“
 

Eren klappte der Kiefer runter wegen dieser trockenen Aussage und starrte perplex in die blitzenden Augen, als Levis Mundwinkel belustigt zuckte.
 

„Wo wir uns der Koprolalie wieder annähern würden“, bemerkte Hanji, was Levi schnauben ließ.
 

Er drehte sich um und zog die Schürze aus. Eren begriff, warum er sie falsch herum trug, als er das Motiv auf der Vorderseite sah.
 

Eren musste auflachen.

„Ein nackter Männerkörper als Motiv auf einer Kochschürze?“
 

Hanji brach in Gelächter aus, während Levi ihm einen genervten Blick zuwarf, dem ihm persönlich jedoch nicht galt.
 

„Vierauge wollte, dass ich nackt koche und als ich mich geweigert habe, hat sie diese alberne Abscheulichkeit gekauft.“
 

„Sie gönnen ihr auch gar nichts“, scherzte Eren.
 

„Meine Rede!“, gackerte Hanji und schlug schallend auf den Tisch.
 

Levi hob eine Augenbraue an.

„Du kannst dich ja gerne mit hängendem Schwanz hier hin stellen.“
 

„Nach so vielen Jahren Bekanntschaft ist doch nichts mehr dabei“, lavierte sich Eren um die Aufforderung sich hier und jetzt auszuziehen.
 

„Es geht ums Prinzip. Außerdem verabscheue ich es voll gesabbert zu werden.“
 

„Und was machen Sie beim Küssen?“
 

„Bitte?“
 

Erst der harte Ausdruck in Levis Augen und der strapazierte Ton, ließen Eren realisieren, dass er im Eifer im vollen Galopp durch die Wand gerauscht war, die Levis persönliche Schmerzgrenze darstellte und die Stimmung ziemlich schnell ziemlich schmerzhaft für Eren umkippen lassen könnte.
 

Ihm schoss prompt die Schamröte ins Gesicht und er fühlte sich plötzlich ganz heiß und sämtliche Härchen stellten sich ihm vor Nervosität auf.
 

„Entschuldigung“, brachte Eren mit standfester Stimme heraus, was herzlich wenig souverän wirken dürfte, so heiß, wie sich seine Wangen anfühlten, „Das ist mir leider so rausgerutscht. Es war die nächstliegende Frage in diesem Zusammenhang, aber ich hätte sie Ihnen nicht stellen dürfen.“
 

Levi durchbohrte ihn einige Sekunden lang mit seinem gefährlich ausdruckslosen Blick, der alle Handlungsalternativen offen ließ und Eren schlicht fertig machte. Er musste sich beherrschen nicht irgendwo unsicher zu nesteln wie er es am Anfang der Ausbildung noch getan hatte.
 

„Ich hätte mir denken können, dass du verkappte Jungfer keine Ahnung vom Küssen oder gar Sex hast“, erwiderte Levi schließlich für seine Verhältnisse schnippisch und trotz seiner Worte war Eren erleichtert. Damit konnte er umgehen. Damit konnte er weitermachen.
 

„Das Thema hatten wir doch schon. Sie wissen doch ganz genau, dass ich keine Jungfrau mehr bin“, grinste Eren herausfordernd.
 

„Umso erbärmlicher. Ich kann deine Affären nur bemitleiden, wenn du bei Sabbern gleich an Küssen denkst.“ Levi zeigte keinerlei Gefühlsregung. Es war, als blicke ihm eine Statue entgegen.
 

„Ich meinte auch weniger die Küsse auf die Lippen, sondern die am Körper.“ Eren spürte erneut die Hitze in seinen Wangen brennen. Es war zum Kotzen und gemein, dass er so schnell rot wurde!
 

„Ach so? Du schlabberst deine Partner also ab wie ein Hund?“, Levi verzog verekelt den Mund, „Wie widerlich. Kein Wunder, dass du so unerfahren bist.“
 

„Das stimmt doch gar nicht!“, brauste Eren kurz auf, fing sich jedoch schnell wieder und versuchte das Gespräch in geordnete Bahnen zu lenken. Es nutzte ihm nichts, wenn er sich von Levi aus der Fassung bringen ließ.

„Ich sollte mich nicht wundern, dass Sie eine andere Vorstellung vom Vorspiel haben. Im Militär hat hat man wahrscheinlich keine Zeit, um sich lange damit aufzuhalten.“
 

Eren klopfte sich mental auf die Schulter für diese Formulierung. So hatte er nichts beleidigendes gesagt und etwas von sich abgelenkt.
 

„Im Militär ist keine Zeit für schlechten Sex. Da hast du recht.“
 

Na ja. Vielleicht ist das auch eine Einbahnstraße.
 

„Gut, dann belassen wir es dabei, dass wir Beide gut im Bett sind.“ Was sollte er schon sagen, ohne wieder zu weit zu gehen.
 

„Ich weiß, dass ich gut bin. Bei dir Göre bezweifle ich es.“
 

Anscheinend hatte Levi beschlossen die Grenzen guten Benehmens völlig über Bord zu werfen, also ging Eren mit. War ihm doch egal, wenn er jetzt eine auf die Fresse bekam. Levi wollte es wohl nicht anders.
 

„Da ich Sie mit Worten nicht überzeugen kann, blieben bloß noch Taten, aber ich zweifle an Ihrer Spontanität.“
 

Eren hatte erwartet, dass er dafür eine körperliche Sanktion kassieren würde. Er hatte jedoch nicht vorausgesehen, dass Levi ihn am Kragen packen und ihn auf Augenniveau ziehen würde, während eine andere Hand ihm suggestiv und viel zu sanft über die Seite strich.
 

„Du bist wie ein kleiner Welpe, der fröhlich durch die Dunkelheit direkt auf den Abgrund zu tappt. Ich hoffe, du magst Schmerz, denn der Fall wird tief“, raunte Levi mit gesenkter Stimme und einem Funkeln in den Augen, das Eren bisher nicht kannte. Es hatte etwas nostalgisches und zugleich bedrohliches an sich, als spräche Levi über eine unheilvolle Vergangenheit. Dann änderte sich der Ausdruck in den sturmgrauen Augen und er sah, dass Levi wieder in der Gegenwart war, ihn sah und ihn nun aus der Fassung bringen wollte.
 

Wie gerieten sie bloß immer in solche Situationen?
 

„Du weißt nicht wovon du redest. Du bist das größte Unschuldslamm auf diesem Gelände und dennoch reißt du dermaßen die Klappe auf. Du hast keinen blassen Schimmer, was du tun würdest, wenn du bekämest, wovon du sprichst.“
 

Aus irgendeinem Grund verschwand jegliche Unsicherheit und Furcht, als er Levis Worten lauschte und ihm dabei eine Handbreit von seinem Gesicht entfernt in die intensiven Augen starrte. Er fühlte sich auf einmal nicht mehr unwohl und obwohl Eren diesen Stimmungswechsel nicht erklären konnte, nahm er es einfach als gegeben hin.
 

„Unterschätzen Sie mich nicht“, erwiderte Eren mit einem gekonnt verführerischen Lächeln und fuhr seinerseits mit einer Hand Levis Taille entlang, während er mit der anderen die Hand an seinem Kragen griff. Levis Hand war etwas kleiner und seine Finger schlank und lang wie die eines Pianisten, sodass Eren sich kurzzeitig über die immense Kraft in ihnen wunderte, als er seine Hand umfasste.
 

Er spürte, wie Levi erschauderte, ansonsten rührte er jedoch keinen Muskel. Nach endlosen Sekunden stahl sich jedoch eine gewisse Belustigung in seine Augen. Sie waren wieder bei ihrem Selbstverteidigungstraining in den Weihnachtsferien angelangt, wo sie ebenfalls in diese Richtung abgedriftet waren. Damals konnte Eren Levi verscheuchen, heute wollte dies jedoch nicht so recht gelingen. Er war nicht der Einzige, der sich zurückerinnerte und Levi schien entschlossen ihn diesmal auflaufen zu lassen.
 

Levi trat ein wenig näher, sodass Eren sich etwas entgegen dem eisernen Griff aufrichten musste. Ihre Nasenspitzen berührten sich fast, als er leicht nach unten in Levis sturmgraue Augen blickte und seinen Atem auf seiner Mundpartie spürte. Diese unbotmäßige Nähe zu seinem Vorgesetzten ließ sein Herz rasen und ihm schummrig werden.
 

„Und was wirst du jetzt tun, Jäger?“, raunte Levi insbesondere seinen Nachnamen.
 

Mist verdammter! Dieser Kerl trieb ihn schier in den Wahnsinn! Scheiß auf die Hierarchie!
 

Stur wie Eren war, legte er seinen freien Arm um Levis Taille und drückte ihn an sich, während er mit der anderen Hand Levis von seinem Kragen soweit lockerte, dass sie nicht zusammenstießen und er sich ganz aufrichten konnte.
 

Levis freie Hand lag zwischen ihnen auf Erens Brust. Zwar nicht direkt auf seinem Herz, aber er musste dennoch das schnelle Pochen fühlen können.
 

Jeden Moment konnte die Stimmung kippen und Levi ihn auf den Boden schicken. Umso mehr genoss Eren die wenigen Sekunden, in denen Levi zu ihm hochsah und bewegungslos quasi in seinem Arm lag. Eren spürte seine Körperwärme und wie angespannt jede Muskelfaser war und für einen kurzen Augenblick wunderte er sich, ob Levi sich jemals fallen ließ.
 

Als Levi nichts unternahm außer ihm in die Augen zu blicken, begann Eren ihn eingehend zu studieren.
 

Die sturmgrauen Augen, in denen er eine Mischung aus neugieriger Zurückhaltung und sturer Ungeduld meinte zu erkennen, waren überraschenderweise blau. So tiefblau, dass sie im Licht grau schimmerten. Die etwas mandelförmigen Augen mussten von einem asiatischen Vorfahren stammen, vielleicht kam auch daher die eher geringe Körpergröße, zierliche Nase und die tiefschwarzen Haare, die manchmal bläulich glänzten. Seine Augenbrauen waren dünn und seine Wimpern nicht sonderlich lang, aber dicht und geschwungen. Die Schatten um seine Augen verrieten ein schweres Leben mit vielen Sorgen und schlechtem Schlaf. Dafür war seine helle Haut makellos und jugendlich. Seine blassrosa Unterlippe war voller als die Oberlippe und wirkte einladend weich.
 

Levi war die Sorte Mann, die nicht von weitem nach Schönheit und Attraktivität schrie, sondern auf eine herbe, rohe Art eine autoritäre Ausstrahlung besaß, die ihn anziehend machte. Er war gutaussehend, nicht hübsch. Und das machte diese Sorte Männer viel gefährlicher als wahrhaftige Models, denn man wurde von ihnen unerwartet mitgerissen und angezogen und hatte erst einmal keine Ahnung wieso.
 

Eren konnte nie verstehen, wenn die Frauen ihrer Einheit von Levi sprachen und ihn als anziehend bezeichneten. Klar, gut gebaut war er, das hatte keiner von ihnen abgestritten. Aber das war nicht, was die Mädchen meinten. Sie konnten es nur mit „der hat sowas an sich“ oder „seine Ausstrahlung ist einfach sexy“ erklären, was für alle männlichen Kameraden nicht nachvollziehbar war. Von den drei Militärs hätten sie Erwin und Mike, aber nicht Levi als Frauenschwarm bezeichnet. Aber die beiden Männer wirkten weniger auf die Frauen, obwohl sie größer und schöner waren.

Auch jetzt verstand Eren es noch nicht so ganz, aber er begriff, dass Schönheit und Attraktivität komplexer waren und ein hübsches Gesicht dafür nicht ausreichte. Er begriff, dass Levis Aussehen auch eine Waffe war und Eren ihn gerade anstarrte und in seinen Augen versank, um erneut in ihnen zu lesen.
 

„Was ist denn hier los?“, ertönte plötzlich eine kräftige, tiefe Stimme hinter ihnen, was sie beide zusammenzucken und einen Schritt zurückgehen ließ.
 

Erwin stand plötzlich in der Küchentür und warf ihnen einen verwunderten Blick zu, den Eren erschrocken und Levi gewohnt genervt erwiderte.
 

Dann wandte sich Erwin plötzlich grinsend zu Hanji, welche die Szene zuvor mucksmäuschenstill und gebannt beobachtet hatte.

„Hanji, was lässt du die Zwei da machen? Hast du von ihnen verlangt eine deiner geheimen Fantasien nachzustellen?“
 

Hanji schmollte und lehnte sich jammernd zurück.

„Es war gerade so spannend! Mensch, Erwin! Warum musstest du gerade jetzt hereinplatzen? Wer weiß wo das noch hingeführt hätte?!“
 

„Wahrscheinlich zu großen Schmerzen“, murmelte Eren unwillkürlich vor sich hin, doch Levi stand noch nah genug, um es zu hören und schnaubte.
 

„Darauf kannst du wetten, du freches Balg.“ Ihre Blicke begegneten sich kurz. Levis Augen blitzten belustigt und seine Lippen hatten sich zu einem leichten Schmunzeln auseinandergezogen.
 

Eren wandte verschämt lächelnd den Blick ab und rieb sich über die Nase.

„Ich glaube, ich gehe besser.“
 

„Ja, geh. Nicht dass dich noch der böse Wolf frisst, Rotkäppchen“, kommentierte Levi prompt seine Schüchternheit und es war bei Gott noch einer der nettesten Kommentare, die sich in dieser Situation anboten.
 

„Hast du gekocht, Eren?“, fragte Erwin, als er gänzlich in die Küche trat und in den Suppentopf, der immer noch auf der Theke stand, schaute.
 

„Nein, Sir. Das hat Levi gekocht.“ Es blieb seltsam vor Erwin über die anderen mit Vornamen zu sprechen, aber immerhin durfte Eren auch ihn hier mit Vornamen anreden.
 

„Ach so?“, erstaunt hob Erwin seine Augenbrauen an, „Was verschafft uns die Ehre?“
 

„Ich bin nicht in Stimmung“, murrte Levi und ging demonstrativ an Erwin vorbei.
 

Der schien heute besonders guter Laune zu sein.

„Will ich wissen in was für einer Stimmung du bist?“
 

„Kommt darauf an. Willst du sie ausbaden?“
 

„Ich dachte, diese Art der Überzeugung hättest du seit deiner Aufnahme ins Militär abgelegt?“, grinste Erwin provozierend.
 

„Fick. Dich. Hart.“ Mit diesen Worten schlug Levi die Tür hinter sich zu.
 

Erwin lachte erheitert und warf Eren einen gelassenen Blick zu.

„Nimm dir an diesem Umgangston bitte kein Beispiel.“
 

„Ach, ich glaube Eren hat schon seine ganz eigene Umgangsart gefunden“, feixte Hanji und zwinkerte Eren grinsend zu.
 

„Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend“, presste Eren mit brennenden Wangen hervor und nickte beiden zu, bevor er regelrecht aus dem Raum und dem Gebäude flüchtete.
 

Seine Gedanken rasten und kamen zu einem plötzlichen Stopp, als er Armin mit kreidebleichem Gesicht und besorgtem Blick auf seinem Bett sitzen sah.
 

*~*
 

„Jetzt ohne Spaß, was war das vorhin?“, hakte Erwin mit geerdeter Stimme nach, während er die Suppe aufwärmte.
 

Hanji konnte nicht umhin die Augen zu verdrehen, ob der abrupten Ernsthaftigkeit in Erwins Attitüde. Der Mann war schon immer ein Grübler gewesen, selten ausgelassen und der Spaßvogel, der sich in ihm verbarg und nur Unsinn im Kopf hatte. Manchmal übertrieb er es.
 

„Das ist etwas kompliziert, aber der Ausgangspunkt für die Szene vorhin war die Schürze dort.“ Hanji deutete auf den blauen Stoff, der ordentlich gefaltet über einem Ständer an der Wand hing.
 

Erwin ging hin und schmunzelte, als er die Schürze aufschüttelte.
 

„Levi meinte, ich habe ihm dies gegeben, weil er sich geweigert hatte nackt zu kochen. Eren war der Meinung, Levi gönne mir nichts - was ich absolut unterschreibe - und daraufhin meinte er, dass er nicht von mir voll gesabbert werden wollte. Und na ja, Eren dachte dabei wohl an Küsse und so driftete es ab Richtung Sex und Machtspielchen. Was du gesehen hast, war der Moment vor der Entscheidung und ich hätte wirklich gern gesehen, was passiert. Sie haben beide kein Stück nachgegeben und so wie Eren es gelungen ist Levi aus der Reserve zu locken... Das war sooo toll! Und dabei war er gehemmt. Levi ist schließlich trotz allem sein Vorgesetzter und kann ziemlich explizit werden, wenn ihm was gegen den Strich geht und trotzdem! Eren war so putzig!“ Schwärmend wippte Hanji auf dem Stuhl hin und her.
 

Sie war begeistert von Eren. Sie hatte Weihnachten bereits gesehen, dass er mit Levi auf der selben Wellenlänge lag und sie sich gegenseitig gut taten. Levi konnte Eren fördern, wie der das brauchte und Eren steckte Levi mit seiner Leidenschaft an. Leidenschaft, die Eren so lange mühevoll unterdrückt hatte und durch Levi wieder entfalten konnte. Es war ein wunderbarer Teufelskreis. Je mehr Levi Eren half, desto stärker wurde er von Eren mitgerissen.
 

„Muss ich mir wegen der anderen Rekruten Gedanken machen?“, holte Erwin Hanji wieder zurück auf den Boden der Tatsachen.
 

„Nö, wieso?“
 

„Warum war Eren hier?“
 

„Er wollte mit mir über seine Schwester reden. Ich werde sie begutachten, wenn ich Urlaub habe.“
 

Erwin legte den Kopf schief, eine Aufforderung weiter zu erklären.
 

„Der arme Junge wird wiederholt mit der Euthanasie seiner Schwester konfrontiert und wollte wohl einfach mit jemand Neutralem darüber reden. Ich finde es klasse, dass er dafür zu mir gekommen ist und es tut mir nicht weh einen Blick auf seine Schwester zu werfen.“
 

„Wenn du das in deiner Freizeit tun möchtest“, Erwin zuckte mit den Schultern und nahm den Topf vom Herd, „Glaubst du wirklich, dass der Umgang mit Eren Levi gut tut?“
 

„Du brauchst dich nicht zu sorgen“, winkte Hanji ab, „Eren tut ihm gut.“
 

„In welchem Verhältnis stehen sie zueinander?“, bohrte Erwin weiter nach.
 

„Ich hoffe, dass sie sich anfreunden. Sie mögen sich. Es verhält sich ähnlich wie mit dir und Levi. Allerdings ist Eren viel impulsiver und nicht so verknöchert wie du.“
 

Erwin warf ihr einen schiefen Blick zu, wurde von dem ersten Schluck Suppe jedoch abgelenkt.

„Das schmeckt wirklich gut.“
 

„Jepp“, lächelte Hanji gelassen.
 

„Also du meinst, ich muss mir keine Gedanken um Levi machen?“, ließ Erwin nicht nach und Hanji konnte seine Besorgnis bloß belächeln.
 

„Es läuft gut.“
 

„Hm“, machte Erwin und genoss schweigend seine Suppe.
 

Er würde seine Argusaugen so oder so nicht von Levi nehmen und ihn bewachen wie eine Glucke ihr Küken.
 

Erwin war ein sehr emotionaler Mann, aber er konnte es schlecht zeigen. Er hatte so viele Ideale und verfolgte stets ein unerreichbares Ziel, das durch seine Hartnäckigkeit und Klugheit Stück für Stück erreichbarer wurde. Er konnte es nicht erreichen, wenn er sich zu sehr mit Gefühlen aufhielt. Er hatte keine Zeit der Liebe nachzugeben, keine Zeit um zu trauern, wenn Kameraden fielen, keine Zeit um komplizierte Beziehungen wie innige Freundschaften zu unterhalten. Das machte einsam. Erwin nahm die Einsamkeit in Kauf. Ihm waren seine Ideale und Ziele wichtiger. Er war einer der wenigen Menschen, die zu etwas Höherem berufen waren. Etwas, wozu kaum ein Mensch im Stande war, weil eben jene Dinge für sie nicht abzustreifen waren.
 

Erwin hielt sich stets auf Distanz zu seinen Mitmenschen und es gab kaum Ausnahmen. Eine davon war die Frau, die sein alter Schulfreund und Kamerad Nile Dawk geheiratet hatte und die andere war Levi.
 

Obschon Levi für Erwin das beste Rennpferd auf dem Weg zu seinen Zielen war, hatte sich der wilde, zornige Junge, der Levi gewesen war, mit mehr Mut und Glück als Verstand bereits bei ihrer ersten Begegnung unwissend in Erwins Gedächtnis gebrannt und irgendwann in sein Herz.
 

So sehr wie Erwin Levis Fähigkeiten ausnutzte, so sehr verehrte er ihn auch.
 

Levi war der Einzige, der Erwins Gefühlskälte vorbehaltlos akzeptierte und verstand, dass er alles andere als kalt und gefühllos war. Es war natürlich ein holpriger Weg bis dahin, aber sie hatten ihn zurückgelegt.
 

Erwin konnte im Gegenzug Levis Handlungen nachvollziehen und auf ihn eingehen, wie er es brauchte zu dem Zeitpunkt, den er brauchte.
 

Sie vertrauten einander. Aber uneigennützige Freundschaft konnte Erwin nicht bieten.
 

Hanji fand es schade. Sie mochte Erwin, obgleich sie ihn mehr noch respektierte. Selbst Mike, der Erwin von ihnen am längsten kannte und stets hinter ihm gestanden hatte, konnte nicht richtig auf ihn zugreifen.
 

„Du hättest sehen sollen, wie sich Levi während dem Essen langsam beruhigt hat. Anfangs nur am Fluchen und dann immer weniger. Es ist lustig, wie man Levis Stimmung an der Anzahl der Schimpfwörter messen kann“, grinste Hanji.
 

„Wie das?“
 

Hanji zuckte mit den Schultern.

„Außerdem hat Levi bewusst versucht Eren durch seine vulgären Worte von dem Euthanasiethema abzulenken und es hat wunderbar geklappt“, fügte Hanji enthusiastisch hinzu.
 

„Ich weiß, dass Levi dein Lieblingsforschungsobjekt ist, aber übertreib es bitte nicht“, mahnte Erwin und musterte sie mit seinen stahlblauen Augen analysierend.
 

„Ach, Erwin! Warum soll ich es denn übertreiben? Ich sag Levi doch nicht alles. Es würde ihn bloß vertreiben. Ich freu mich bloß, dass es ihm sichtlich besser geht und dass wir obendrein einen vielversprechenden ESE-Polizisten kriegen, den ich vor einem Jahr noch fast rausgeschmissen hätte.“
 

Überrascht sah Erwin ihr direkt in die Augen.

„Ihr kocht auch immer euer eigenes Süppchen. Ich glaub, ich sollte mich öfter einmischen, sonst verpasse ich das Beste.“ Demonstrativ deutete Erwin auf den Suppentopf, was Hanji mit einem Nicken kichernd bestätigte.
 

„Aber gedeckt haben wir für dich und Mike auch!“ Grinsend zeigte sie auf den unberührten Teller, der für Mike bestimmt sein sollte.
 

„Davon haben wir viel, wenn ihr uns nicht ruft“, sagte Erwin und aß einen zweiten Gang Suppe.
 

Für Mike blieb am Ende tatsächlich kaum eine Kelle voll übrig.
 

~*~
 

Es blieb ihm nur noch der Juni. Es kam ihm vor, als flöge die Zeit nur so dahin und obwohl die Rekruten geradezu Fortsprünge machten, genügte es nicht. Levi sah diese jungen, talentierten Polizisten an und wollte sie am liebsten irgendwo einsperren oder zu Mama schicken.
 

Er ärgerte sich über diesen unangebrachten Beschützerinstinkt, den er zuvor nie auf diese Weise verspürt hatte. Er hatte sich früher immer um das Wohl seiner Kameraden und Untergebenen gesorgt, aber er wäre nie auf die Idee gekommen ihnen ihre Sicherheit aufzuzwingen. Man wurde nicht Soldat, wenn man lieber daheim im gemütlichen Wohnzimmer hockte. Wer Soldat wurde hatte zwangsweise einen an der Klatschte.

Welches Tier zog schon ohne existenzielle Not freiwillig in den Kampf?
 

Sie waren schon besondere Exemplare und wussten, wofür sie sich entschieden hatten. Es war sinnlos und lächerlich dies in Frage zu stellen.
 

Ähnlich waren die Auszubildenden für die ESE, die im Grunde nichts anderes als Soldaten in Polizeiuniform waren. Immerhin durfte im Innland kein Militär eingesetzt werden, außer es handelte sich um eine der zahlreichen Naturkatastrophen wie Überschwemmungen, Waldbrände oder Orkane.
 

Levi musste sich regelrecht ermahnen mit dem Training nicht zu übertreiben und zu streng und zu harsch zu reagieren, wenn etwas nicht perfekt verlief. Er wollte nicht überreagieren. Er wollte keine Angst haben.
 

Er hatte in der ersten Juniwoche begonnen die Rekruten an ihre physischen und psychischen Grenzen zu treiben.

Er ließ sie stundenlang zu ihrem Zielort laufen, bevor er sie in den Einsatz schickte, in dem sie sich ihm stellen mussten. Die Einsatzorte waren sorgfältig präparierte Gebäude aus dem Bavaria Stuntman- und Filmstudio in München, wo sie allerlei Fallen und Hindernisse aufgestellt hatten. Polizeischüler aus dem Abschlusssemester spielten die Ganoven und bespaßten die Rekruten mit gezielten Manövern unter Zuhilfenahme der technischen Raffinessen der Gebäude. Das Ergebnis war eine Mischung aus Thriller und Geisterbahn mit vielen Beulen, Hämatomen und verdrehten Körperteilen - nichts ernstes. Danach durften die Rekruten abends wieder heimlaufen, nur um maximal fünf Stunden später wieder aufzustehen.
 

Er wollte die Rekruten nicht quälen und ihnen nicht absichtlich Schmerzen zufügen oder Schrecken einjagen. Aber Levi musste wissen wie weit er gehen konnte. Er musste wissen, wie sie mit solcherlei Stresssituationen umgingen.
 

Also schmiss er am Sonntagmorgen James Shaw raus. Er war ein guter Polizist, aber es hatte Levi nicht überrascht, dass er nervlich nicht mithielt. James hatte keinen richtigen Anschluss gefunden, war mit dem Herzen bei seinem bereits neunjährigen Sohn, den er unehelich gezeugt hatte, sich jedoch um ihn kümmerte wie er konnte. Das Kind war ihm letztlich wichtiger als diese Einheit und das schlug schlussendlich auf seine Leistungen durch. Er war einer der Wackelkandidaten gewesen, die Hanji nur aus Opportunismus nicht rausschmiss und nun hatte Levi dies ausgenutzt.
 

Durch die abrupte Verabschiedung James' zu dieser Unzeit an einem Sonntag hatte er eine noch größere Unruhe reinbringen können, als zuvor mit der Entlassung von sechs anderen Rekruten.

Und je nachdem wie sich die Rekruten verhielten, standen noch Stefanos Gekas und Severin Miller auf seiner Abschussliste, die er zum geeigneten Moment entlassen konnte, um den Stressfaktor in die Höhe zu treiben.
 

Da der Sonntag frei war, konnten die Rekruten sich richtig schön in ihrem Unverständnis suhlen und sich über Levi das Maul zerreißen, was ihrer dringend notwendigen Erholung nicht gerade zuträglich war.
 

Levi tat ihnen nur den Gefallen sich den restlichen Tag nicht blicken zu lassen. Er hatte die Zeit in seinem Appartement mit Planungen und Telefonaten verbracht und abends sichtlich selbst die Schnauze voll und wollte sich nur noch irgendwo eingraben und von diesen ganzen anstrengenden Menschen abschotten.
 

Zuvor beschloss er allerdings ein wenig zu schwimmen, um seinen steifen Nacken zu entspannen. Er wähnte sich in Sicherheit, kein Rekrut würde nach der Woche auf die Idee kommen noch Sport zu treiben, sodass er bereits um 18:30 Uhr die Schwimmhalle betrat.
 

Levi schwamm ein paar Bahnen im geruhsamen Tempo, um seine Muskeln zu strecken und tauchte kreuz und quer. Eigentlich liebte er es ziellos umher zu schwimmen, zu tauchen, nur zu plantschen. Als Kind hatte er sich nach Wasser gesehnt und das Meer bestaunt. Leider war das Meer in Bangkok völlig verdreckt und voller Feuerquallen gewesen. Da hätte man sich genauso gut in eine Pfütze im Slum legen können.
 

Die Erinnerungen an seine Kindheit verdrängte er meistens. Sie hinterließen bloßes Bedauern und viele Selbstzweifel. Und der kindliche Impuls einfach loszulassen, zu albern und sinnlosen Spaß zu haben, war über die Jahre beinahe verloren gegangen. Es gab kaum solche Momente und nur eine Person hatte ihm je das Gefühl geben können, das ihn manchmal durchdrehen und wie ein glückliches Kind toben ließ.
 

Levi atmete stoßweise aus, sodass die Luftblasen gluckernd an die Wasseroberfläche drangen und ihn am Kinn kitzelten.
 

Er drehte sich auf den Rücken und tauchte leise auf, ließ sich treiben. Er schloss die Augen, schluckte trocken, doch der immense Druck in seiner Brust drückte sie nur fester zusammen.
 

Das Blut rauschte in seinen Ohren und er versuchte sich darauf zu konzentrieren, um jegliche Gedanken an die Vergangenheit zu ersticken.
 

„Ich dachte, das Becken wäre zum Schwimmen da.“
 

Die Stimme klang gedämpft und leise an seine Unterwasser liegenden Ohren, dennoch schrak Levi unangenehm zusammen und brachte sich wieder in Schwimmposition.
 

Seine Augen fanden sofort Seegrüne.
 

Eren saß am Beckenrand und lehnte entspannt mit dem Oberkörper gegen einen der Startblöcke. Er stützte seinen rechten Ellbogen darauf ab und seinen Kopf auf seine Hand, deren Finger sich in den braunen Haaren vergruben. Auf seinen Lippen lag ein sanftes Lächeln, das sich in seinen frappierenden Augen wiederfand.
 

Er sah aus wie hingegossen.
 

„Was lümmelst du hier rum?“, fragte Levi harsch und wenig begeistert davon, dass Eren sich so hatte anschleichen können.
 

Das Lächeln wurde ein wenig breiter und Amüsement blitzte in seinen Augen auf, statt sich von Levis Unfreundlichkeit abschrecken zu lassen.
 

„Mir tut alles weh. Ich wollte auch ein wenig im Wasser liegen und mich entspannen“, erklärte Eren mit einer Ruhe in der Stimme, die Levi irritierte.
 

Normalerweise schwang stets ein leicht passionierter oder entschlossener Unterton bei Erens Worten mit. Nie hatte seine Stimme so samtig und geradezu friedlich geklungen.
 

„Warum treffe ich immer nur auf dich?“ Die Frage galt nicht nur Eren und klang selbst in seinen Ohren ein wenig frustriert. Erens Ausstrahlung brachte Levi heute seltsam durcheinander.
 

Eren lachte leise und der raue Ton jagte Levi einen kühlen Schauer über den Rücken.
 

Zur Hölle...?
 

„Armin liegt wie erschlagen im Bett und ist sogar zu müde zum Lesen. Die anderen haben sich auch unter ihren Decken vergraben und ich wollte niemanden heraus scheuchen. Und allgemein bin ich anscheinend die einzige Wasserratte hier.“
 

„Du bist komisch.“
 

„Warum?“, Eren neigte leicht den Kopf in Verständnislosigkeit, „Weil ich eine Wasserratte bin?“
 

„Nein“, entgegnete Levi genervt und unterdrückte ein Schnauben, „Du wirkst als hättest du dir gerade das Hirn herausgevögelt.“
 

Erens Gesichtszüge entgleisten auf so herrlich empörte Weise, dass Levis Mundwinkel zuckten. Es war schier unglaublich wie ehrlich unschuldig dieser wunderschöne junge Mann war. So pur.
 

Es dauerte einen kurzen Moment, ehe sich Eren wieder fing und sich bemühte seine geröteten Wangen zu ignorieren. Das brachte Levi fast zum Schmunzeln.
 

„Schön wär's“, war schließlich die überraschend trockene Antwort, „Ich kann mich gar nicht mehr ans letzte Mal erinnern.“
 

„Vor sechs Jahren?“, half Levi nach.
 

Eren warf ihm wieder einen amüsierten Blick zu, Schalk blitze in seinen seegrünen Augen.

„Muss ich mir Gedanken machen, dass Sie so viel über mein Sexleben nachdenken?“
 

Levi schnaubte erheitert und schüttelte den Kopf.

„In einem Moment bist du völlig verschämt und im nächsten reißt du dein freches Maul auf. Sehr gut, Eren.“
 

„Das war eine ernsthafte Frage“, schmollte Eren mit vorwurfsvollen Augen und roten Wangen, was Levi tatsächlich verhalten Lachen ließ.
 

Wenn es ging, schmollte Eren noch mehr.

„Ich freu' mich ja wirklich, dass ich Sie zum Lachen bringen kann, aber es ist trotzdem gemein.“
 

Levi schielte Eren mit schweren Lidern an und gluckste ein wenig.

„Bist du wirklich 26? Du musst als Kind der reine Horror gewesen sein, wenn du selbst jetzt noch so dreinschauen kannst.“
 

„Ich war ein schreckliches Kind. Stürmisch, frech und ständig gerauft habe ich auch“, sinnierte Eren und zog seine Augenbrauen überlegend zusammen, „Wahrscheinlich habe ich das wirklich nur überlebt, weil ich zu süß war und meine Mutter mich nicht lange mit Schweigen bestrafen konnte.“
 

„Du wurdest mit Schweigen bestraft?“ Levis Stimme wurde ungläubig. Für ihn wäre das ein Segen gewesen, aber es passte wohl zu Eren. Er hatte ein starkes Bedürfnis nach Bestätigung.
 

„Nicht nur. Aber das Ohren langziehen und auf den Hintern hauen, half nicht.“
 

„Also kann man dich weder mit Worten noch mit Taten zähmen?“
 

„Mit Taten nicht dauerhaft“, kam die schnelle Antwort, „Aber Worte beziehungsweise schweigende Reaktionen auf mein Verhalten machen mich fertig.“
 

„So ein Sensibelchen.“
 

„In gewisser Weise. Ich weiß, dass das ein Schwachpunkt von mir ist.“
 

„Gut.“ Wenn man seine Schwächen kannte, konnte man an ihnen arbeiten oder sie akzeptieren und ausmerzen.
 

„Um ehrlich zu sein glaube ich nicht, dass man mich zähmen kann. Ich halte mich zu stur dafür“, meinte Eren mit leiserer Stimme und sah in Gedanken auf den Boden. Schmerz spiegelte sich in seinen intensiven Augen.
 

„Hm“, stimmte Levi zu, „Dich kann man nur so in Verlegenheit bringen, dass du deinen eigenen Namen vergisst.“
 

Erens Kopf schnellte wieder zu ihm, Augen überrascht aufgerissen. Die Belustigung kehrte wieder zurück.
 

Ein breites Grinsen zog seine vollen Lippen auseinander.

„Das könnte natürlich passieren. Allerdings nur bei Leuten, die mir näher stehen. Bei anderen ist es mir scheißegal.“
 

„Ich stehe dir also näher?“, hakte Levi mit suggestiver Stimme nach. Erens unmittelbare Reaktion war zu amüsant, um der Verlockung zu widerstehen.
 

Zwar errötete er erneut, doch diesmal blieb er völlig gefasst.

„Ich muss Sie enttäuschen. Die Anforderungen sind nicht sonderlich hoch. Jeder, den ich regelmäßig sehe, steht mir nah.“
 

„Also könnte dich dein verfickter Bäcker auch aus dem Konzept bringen?“
 

Eren lachte wieder leise und auf diese Art, die Levi schaudern ließ.
 

„Ich denke, es kommt darauf an, wie mein Bäcker aussieht“, grinste Eren zwinkernd, „Aber bei Ihnen ist es Ihre Stellung.“
 

Levi verzog missmutig die Lippen.

„Du findest mich also hässlich?“
 

Anders als bezweckt, brachte er Eren dadurch nicht wieder zum Rudern. Im Gegenteil. Leider.
 

„Oh nein, keineswegs“, raunte Eren und verdammt nochmal, dieses elendige Balg konnte verfickt anzüglich und verführerisch klingen und schauen, wenn er wollte. Seine seegrünen Augen funkelten unter gesenkten Lidern vielversprechend und als er sich mit der Zunge über die Lippen leckte, erschauderte Levi innerlich. Das konnte doch wohl nicht wahr sein!
 

„Du hättest als Hure eine Karriere sondergleichen hingelegt“, stellte Levi trocken fest und ohne es zu wollen, brachte er Erens anrüchige Maske zum Bruch.
 

Allerdings blieb seine Stimme ruhig und seine Gedanken geordnet, auch wenn er seine Verwunderung deutlich zeigte.

„Wie können Sie das sagen, wenn Sie mich zuvor als prüde bezeichnet haben?“
 

„Ich kann nichts für deine Ambivalenz.“
 

„Okay“, sagte Eren langsam und blickte ihm wieder direkt in die Augen, „Und wie kommen Sie darauf mich mit einer Hure zu vergleichen?“
 

„Ach komm, du wirst doch nicht ernsthaft deswegen beleidigt sein“, schnaubte Levi und verdrehte innerlich die Augen. Als er sah, dass Eren ihn abwartend anstarrte, schnaubte er erneut.

„Es ist der verfickte feuchte Traum eines jeden Mannes ein anrüchiges Unschuldslamm zu vögeln.“
 

Eren legte nachdenklich den Kopf schief.

„Weil sich die meisten Männer eine verruchte Jungfer wünschen?“
 

Levi nickte.
 

„Und wie kommen Sie da auf Hure? Das ist ziemlich herabwürdigend.“ Eren zog streng die Augenbrauen zusammen.
 

„Komm mir nicht auf die scheiß Moralische, Balg. Ich bin in Bangkok aufgewachsen. Das ist sozusagen das Hurenhaus der Welt und außerdem bezeichne ich weibliche wie männliche Prostituierte als Hure. Also kein Grund mir mit dem ganzen Toleranzscheiß zu kommen.“
 

„Aha“, machte Eren ausatmend.
 

Sein Blick war zwar nicht mehr vorwurfsvoll, aber er sah ihn immer noch analysierend an. Es war entnervend. Doch bevor er ihn deswegen anblaffen konnte, stand Eren auf und stieg auf den Startblock.
 

Er stellte sich absprungbereit darauf und Levi erkannte deutlich, wie viel kräftiger Erens Körper in den letzten Monaten geworden war.
 

Er tauchte tadellos ins Wasser, schwamm aber im geruhsamen Tempo einige Meter Unterwasser, bevor er sanft auftauchte. Eren war genauso wenig daran interessiert ernsthaft zu schwimmen und genoss ebenfalls die Schwerelosigkeit und angenehme Kühle in dieser heißen Sommernacht.
 

Levi tauchte auch wieder unter und zog gemütlich seine Bahnen, doch ein fader Beigeschmack blieb in seinem Mund zurück. Das Gespräch mit Eren hallte in seinen Gedanken immer und immer wieder wider und jedes Mal wurde er etwas wütender darüber.
 

Nach einer geschätzten halben Stunde stieg Levi wortlos aus dem Becken und ging zu den Duschen. Er hatte einen Stein im Magen und war zu ungut, um Eren noch einmal anzugucken.
 

Er duschte sich erst kalt ab, dann fröstelte es ihn doch zu sehr und er stellte sich das Wasser auf warm. Sein ganzer Körper wurde von Gänsehaut überzogen und er zog sich aus.
 

Levi ließ sich mit geschlossenen Augen berieseln und knirschte mit den Zähnen, als er Erens Anwesenheit eher spürte als hörte. Er hätte sich denken können, dass das Balg nachkommen würde. Er rechnete sicherlich damit, dass er absperren wollte.
 

Er ignorierte ihn.
 

Er ignorierte ihn, als er neben ihm duschte.

Er ignorierte ihn, als sie sich anzogen.

Er ignorierte seine inquisitorischen Blicke.
 

„Gute Nacht, Sir“, verabschiedete sich Eren mit sanfter Stimme. Freundlich. Vorwurfslos.
 

Levi nickte ihm zu ohne ihn anzusehen.
 

***
 

„General-Leutnant! Sir!“
 

Er erkannte die atemlose Stimme mit einem innerlichen Grollen und verlangsamte seinen Schritt. Als er bemerkte, dass alle stehen geblieben waren, hielt auch er an und drehte sich um.
 

Die Rekruten waren allesamt schweißüberströmt und japsten nach Luft. Ihre Augen waren glasig vor Erschöpfung und in ihren Gesichtern spiegelte sich die Scheu vor dem, was er noch von ihnen verlangen könnte.
 

Nur ein Paar Augen blickte ihn dennoch entschlossen und mit einer hart erarbeiteten Selbstsicherheit an.
 

„Können wir bitte eine Pause machen, Sir?“
 

„So schnell schon am Ende, Jäger?“, stellte Levi die Gegenfrage mit erbarmungsloser Stimme. Er hatte Eren fast zwei Wochen lang konsequent ignoriert, soweit es von der Ausbildung her möglich war.
 

„Nicht nur ich, Sir. Einige von uns sind kurz vorm Zusammenbrechen und soweit sollte es nicht kommen“, antwortete Eren sachlich und ruhig, doch in seinen Augen flackerte Wut auf.
 

„Sollte es nicht, huh?“ Levi ging einige Schritte auf Eren zu und sah in den Augenwinkeln, wie die anderen Rekruten zurückzuckten. Auch in Erens Augen stahl sich kurz eine gewisse Unsicherheit, aber er blieb standhaft.

„Was verleitet dich zur Annahme, dass ich nicht genau das will?“
 

Für einen Moment schien er sprachlos, doch Eren konnte durchaus denken, wenn er wollte.

„Sie haben uns unsere Grenzen aufgezeigt. Und das ist eine davon. Wir kommen als Team nicht weiter als bis hierher.“
 

Levi sah sich um.

„Dort hinten ist ein Park. Dort pausieren wir.“
 

Erleichterung sprang den Rekruten aus den Gesichtern und Erens Lippen zogen sich zu einem ermatteten Lächeln auseinander.
 

Levi hatte das Training noch einmal verschärft und nun geschah genau das, worauf er es angelegt hatte: sie streikten. Glücklicherweise musste nicht erst jemand zusammenbrechen und es war anscheinend Erens beherztes Eingreifen zu verdanken, dass es nicht so weit kam. Es hätte Levi vermutlich nicht so sehr überraschen sollen, wie es das tat.
 

Obschon er mehreren nach Krankheit Privattraining hatte angedeihen lassen, hatte er die meiste Zeit in Eren investiert. Er hatte verglichen mit den anderen keine Scheu mehr vor ihm und wusste wie er dachte. Eigentlich genau das was Levi erreichen wollte, aber nun ärgerte es ihn nur, dass kein anderer Rekrut die Traute hatte, ihn anzusprechen - Verantwortung zu übernehmen.
 

Eren als Führungspersönlichkeit einzusetzen war noch zu früh. Ihm fehlte es an der nötigen Nüchternheit, war zu emotional. Er war ein guter Beta.
 

In dem kleinen Park am Rande Münchens ruhten sie sich etwas aus und tranken die letzten Wasservorräte leer. Es dämmerte zwar bereits, doch die Hitze des Tages drückte schwül auf sie herab. Sie hatten noch zwanzig Kilometer bis zum Ausbildungskomplex.
 

Levi zog sein Smartphone aus der rechten Hosentasche und schrieb Hanji einen kurzen eLetter. Normalerweise rief er die Leute lieber an als ihnen Kurznachrichten zu schicken, aber bei Hanji machte er eine Ausnahme. Einmal an der Strippe, würde er sie kaum mehr loswerden, geschweige denn dazu kommen ihr sein Anliegen mitzuteilen.
 

Die Rekruten schienen nicht darauf versessen recht bald weiterzulaufen. Sie hockten in kleinen Grüppchen auf dem Boden oder lehnten an Bäumen. Insbesondere die Frauen brauchten diese Auszeit, die Levi mit ihrem Durchhaltevermögen ohnehin positiv überrascht hatten.
 

Als Hanji mit dem Bus angefahren kam, starrten die Rekruten darauf wie auf eine Fata Morgana.
 

Wortlos ging Levi darauf zu, ungläubig folgten ihm die anderen.
 

„Braucht jemand eine Mitfahrgelegenheit?“, grinste Hanji wie ein Honigkuchenpferd, als sie die Türe öffnete und Levi neben sie trat, „Immer nur hineinspaziert!“
 

Verblüfft und unheimlich erleichtert traten die ersten Rekruten ein und ließen sich auf die gepolsterten Sitze des Minibusses sinken. Manche nickten ihm sogar dankbar zu und begrüßten Hanji lächelnd.
 

Als Eren die Stiege hinauf trat, stemmte Levi seine Hand in Erens Brust, um ihn aufzuhalten.

„Du nicht. Du gehst zu Fuß.“
 

Erens Gesichtsausdruck wäre unter anderen Umständen vermutlich komisch gewesen. Seine Mimik wechselte von überrascht zu ungläubig, um sich schließlich in aufgebrachter Resignation zu verlieren. Seine seegrünen Augen funkelten ihn wütend an, aber Eren hatte genug dazugelernt, um die Klappe zu halten und kehrt zu machen.
 

Die anderen Rekruten nahmen diese Wendung mit gemischten Gefühlen auf. Sie tuschelten, fluchten, resignierten. Und wer bereits saß, stieg aus. Allesamt.
 

Levi betrachtete die Rekruten und wie Eren auf sie einredete doch mitzufahren. Reiner, Armin, Marco, Historia, Thomas,... Sie blieben alle.
 

„Ihr kennt den Weg. Den Wachen sag' ich Bescheid.“ Mit diesen Worten wandte sich Levi ab und setzte sich hin, während Hanji mit ratlosem Gesichtsausdruck die Türe des Minibusses schloss.
 

Sie fuhren einige Kilometer in Stille, ehe Hanji mit distanzierter, halbinquisitorischer Stimme nachfragte: „Warum hast du ihn angeguckt wie ein widerliches Insekt?“
 

„Ich gucke immer so.“
 

„Nein, du guckst immer desinteressiert und wenn, dann genervt.“
 

„Was ist dein scheiß Problem, Vierauge?“
 

„Hat dir Eren was getan?“, brachte sie es auf den Punkt, „Oder warum haben sich bei dir plötzlich sämtliche Nackenhaare aufgestellt?“
 

Levis Magen verknotete sich ungut und eine unzufriedene Welle leichter Wut wogte seinen Bauch hinauf, die er nur mit Mühe zurückbeißen konnte. Er knirschte mit den Zähne und stemmte einen Fuß gegen die Trennwand zwischen erster Sitzreihe und Fahrerhaus.

„Nein.“
 

„Du weißt schon, dass ich dich im Innenspiegel sehen kann?“ Hanjis Tonfall sank in Ebenen, in denen es nicht mehr lustig war, sie zu vergackeiern.
 

„Fick dich.“
 

„Das Thema hatten wir doch schon“, erwiderte sie in einer Stimme, als rede sie mit einem Kind, das zum tausendsten Mal etwas Selbstverständliches fragte.
 

„Kümmere dich um deinen eigenen Scheißdreck“, grollte er. Dieses scheiß Weib verbiss sich unsäglich genau da, wo es wehtat.
 

„Ich mag Eren. Er ist so ein gut aussehender junger Mann und ein Traum von einem Koch noch dazu“, schwärmte Hanji und driftete wohl von ihrer Kernaussage ab, „Er ist freundlich, leidenschaftlich, sehr emphatisch, willensstark, mutig und hach... Wenn ich könnte, würde ich ihn heiraten.“
 

Levi schnaubte.

„Er wäre gar nicht dein Typ.“
 

„Ach so? Was ist denn mein Typ?“ Hanji blickte ihn kurz durch den Innenspiegel an.
 

„Irgendjemand der dich bändigen kann wie Moblit Berner. Eren kann ich mir beim besten Willen nicht mit dir vorstellen.“
 

„Mag sein“, erwiderte sie nachdenklich. Es war vermutlich etwas unfair Moblit zu erwähnen, da sie der verpassten Chance immer noch hinterher trauerte. Glücklicherweise war Hanji niemand, der sich lange mit tristen Gedanken aufhielt.

„Aber für eine Affäre vielleicht? Wenn die Einheit zu Ende ist und er nicht mehr Schutzbefohlener ist?“
 

Levis Lippen verzogen sich angewidert.

„Auch das kann ich mir nicht vorstellen. Will ich auch gar nicht.“
 

Hanji kicherte belustigt vor sich hin. Sie hatte in der Vergangenheit zwar so gut wie jeden hübschen Soldaten ins Bett gezerrt, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass sie ernsthaft in Erwägung zog Eren zu verführen. Der arme Junge wäre fürs Leben gezeichnet.
 

Obwohl...
 

Vor zwei Wochen hatte er eine Seite an Eren gesehen, die er ihm nicht zugetraut hätte. Was wusste er schon von dem Balg? Vielleicht würde er Hanji zum Schreien bringen?
 

Der Gedanke ließ ihn erneut verekelt den Mund verziehen. Sein Gehirn visualisierte viel zu schnell.
 

„Ich hoffe, du stößt ihn nicht von dir“, riss Hanji ihn aus seinen Gedanken.
 

„Bitte?“ Er verstand nicht und der abrupte Themenwechsel half nicht.
 

„Eren konnte sich nur Dank dir so großartig weiterentwickeln und er ist dir dafür sehr dankbar. Es wäre schade, wenn du das kaputt machen würdest, indem du ihn auf Distanz hältst.“
 

„Was soll ich kaputt machen?“
 

„Er ist der Einzige der Rekruten, der für dich ohne zu Zögern durchs Feuer gehen würde.“
 

„Ich will kein Schoßhündchen.“
 

„Er vertraut dir und ist loyal. Er wäre ein guter Freund.“
 

„Ich brauche keine Freunde. Ich brauche ESE-Polizisten.“
 

„Das schließt einander nicht aus“, sagte Hanji resolut mit strenger Stimme, „Wir fanden uns alle und andere lebenslange Freundschaften im Beruf. Es hat uns nicht geschadet.“
 

„Das ist relativ“, flüsterte Levi verbittert und sprang auf. Sie waren da.
 

***
 

Levi blieb wach bis die Rekruten ungefähr vier Stunden später kurz nach Mitternacht ankamen. Sie hatten sich Zeit gelassen, aber daran gab es in diesem Fall nichts auszusetzen.
 

Am nächsten Morgen suchte er Erwin und fand ihn in der Küche mit einem Kaffee stehend und mit Mike plaudernd, der sich ein Honigbrot schmierte.
 

„Guten Morgen, Levi“, begrüßte Erwin ihn mit diesem weißer-Ritter-Lächeln, für das Levi ihn am liebsten watschen würde.
 

Mike sah kurz über seine Schulter und nickte ihm mit einem weniger aufdringlichen „Morgen“ zu.
 

Levi nickte ebenfalls und fixierte Erwin.

„Wir müssen reden.“
 

Erwins strahlende Schwiegersohnfassade brach in sich zusammen und wurde zu dieser ernsten Offiziersvisage, die er ihm noch lieber aus dem Gesicht wischen wollte.

„Was ist passiert?“
 

Levi schlenderte zur Küchentheke und suchte sich Teekanne und Teeblätter heraus. Er hatte oben zwar schon einen Earl Grey getrunken, aber was das anging, konnte er nie genug haben.

„Nichts. Ich bin bloß fertig.“
 

Erwin sah irritiert auf ihn hinab. Mike drehte sich mit dem Brot in der Hand um und betrachtete ihn neugierig.
 

„Was meinst du mit fertig?“, hakte Erwin mit lächerlich lauernder Stimme nach, als verberge sich in der kommenden Antwort das größte Übel.
 

„Mit der Auswahl der Rekruten. Zwei werde ich heute noch rausschmeißen und dann sind sie fertig.“ Er zuckte gelangweilt mit den Schultern, während er heißes Wasser aufsetzte und die Teeblätter in ein Sieb gab, das im Verschluss der Teekanne steckte.
 

„Das ist aber erfreulich!“, platzte es aus Erwin heraus, nun entspannt, ob der guten Neuigkeiten.
 

„Wie viele bleiben denn übrig?“, wollte Mike zwischen zwei Bissen wissen.
 

„16. Zehn Männer und sechs Frauen.“

Er schüttete das heiße Wasser durch das Sieb in die Kanne und warf einen Blick auf seine Armbanduhr - ein altes verschlissenes Ding aus lederummanteltem Edelstahl.
 

„Wunderbar, dann haben wir die Quoten erfüllt. Das Justizministerium wird erfreut sein.“ Erwins Lippen zogen sich zu einem triumphierenden Grinsen auseinander.
 

„Meinst du die sechs Frauen ernst?“, fragte Mike mit skeptisch erhobener Augenbraue.
 

„Natürlich meine ich das ernst“, fuhr Levi ihn an und nahm das Sieb raus, schmiss die gebrauchten Teeblätter weg und nahm sich eine Tasse.
 

Mike zuckte mit aufgesetzter Unschuldsmiene mit den Schultern und schob sich das letzte Stück Brötchen in den Mund. Er schleckte sich die honigverschmierten Finger ab und griff erneut zum Messer, um sich noch eine Scheibe zu schmieren. Levi verzog angewidert den Mund, als er den schmutzigen Messergriff sah.
 

„Was willst du-“, begann Erwin, wurde jedoch von der aufschlagenden Küchentür unterbrochen.
 

„Levi!“, rief Hanji mit gewöhnlich aufgeregter, lauter Stimme.
 

Er war versucht sich die Ohren zuzuhalten, beschränkte sich letztlich jedoch auf einen strafenden Blick, der nur an Hanji so glorreich abprallen konnte.
 

„Die Rekruten stehen gebügelt und gestriegelt zum Appel auf dem Platz!“
 

Die Verblüffung über diese Nachricht ließ Levi seine Teetasse zur Seite stellen und Hanji folgen, die ihm theatralisch die Eingangstür aufhielt.
 

Es war 9:00 Uhr morgens und er hatte die Rekruten mit Absicht liegen lassen, in der Erwartung, dass sie dankbar bis Mittag verschliefen. Dennoch standen sie nun in Reih' und Glied auf dem Platz und rührten keinen Muskel, als er vor sie trat. Was für ein Unterschied zum Anfang!
 

„Eigentlich wollte ich euch liegen lassen“, begrüßte Levi die Rekruten mit gelangweilter Stimme, die sein Erstaunen gänzlich ertränkte, „Aber wenn ihr schon da seid: Ich gebe euch bis Ende der Woche frei. Allerdings müsst ihr auf dem Gelände bleiben.“
 

Die Rekruten sahen ihn an wie eine Scharr Hühner, die darauf wartete, dass er ihr die Körner hinwarf. Dieser Anblick belustigte Levi.
 

„Severin Miller und Stefanos Gekas muss ich an dieser Stelle verabschieden. Ihr könnt eure Abschlussbeurteilung und Papiere ab 10:00 Uhr im Büro von Erwin Smith abholen.“
 

Genannte Rekruten starrten ihn wie Karpfen an, Augen groß, empört und ohne jeden Biss. Es waren gute, sehr gute Polizisten, aber sie waren froh gehen zu dürfen. Sie hatten eine andere Vorstellung von ihrem Leben als die restlichen 16 Rekruten.
 

Levi schweifte mit ausdruckslosem Blick über die Männer und Frauen, mit denen er in nächster Zeit lebensgefährliche Einsätze ausführen würde und schluckte die bittere Pille des Zweifels herunter. Er hatte sich die Besten ausgesucht und sie waren so bereit wie sie sein konnten.
 

Er wandte sich wortlos ab und überließ es ihnen sich das Maul über ihn zu zerreißen.
 

*~*
 

Es war Donnerstag und der Aspekt, dass sie erstmal nicht auf Hab Acht sein mussten, ließ sie alle förmlich in sich zusammensacken. Klar, dass Severin und Steff gehen mussten, war ein Schock und verunsicherte sie genauso wie sie Mitleid empfanden.
 

Eren hatte sich mit Beiden verstanden, aber nie viel zu sagen gehabt. Größtenteils war er froh, dass es nicht ihn erwischt hatte, um ehrlich zu sein.
 

„Ich glaube, ich schlafe bis Samstag durch“, seufzte Armin, als er sich aufs Bett fallen ließ.
 

Tief durchatmend plumpste Eren ebenfalls auf die Matratze und blieb mit ausgestreckten Extremitäten am Rücken liegen.

„Was meinst du, wie viele fliegen noch?“
 

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass überhaupt noch jemand fliegt. Aber ich wurde schon öfter überrascht.“
 

„Sehr beruhigend“, schnaubte Eren, was Armin jedoch als Unzufriedenheit mit seiner Aussage aufzufassen schien.
 

„Du kannst ihn ja bei einer der Schwimmrunden fragen, ob er noch jemanden rauswerfen will“, schlug Armin leicht pikiert vor und sah Eren wie ein getretener Welpe an.
 

„Erstens würde er mir bei der Frage einen Vogel zeigen und zweitens scheint er zur Zeit sauer auf mich zu sein“, erwiderte Eren ungeduldig, ob Armins unbegründeter Eifersucht.
 

Es war nicht das erste Mal, dass er wegen Levi einschnappte. Armin mochte es scheinbar nicht, wenn Eren ihn bewunderte aus Angst, dass er Armin links liegen ließ. Das war natürlich Quatsch, aber Armin hatte in der Vergangenheit schlimme Erfahrungen mit sogenannten Freunden gemacht und konnte eine gewisse Unsicherheit auch gegenüber Eren zuweilen nicht abstellen.
 

Eren liebte Armin wie einen Bruder. Doch in Momenten wie diesen würde er ihm am liebsten für sein mangelndes Vertrauen eine scheuern.
 

„Wieso sollte er sauer sein? Wegen dem Gespräch, von dem du mir neulich erzählt hast?“
 

Er nickte.

„Seitdem ignoriert er mich soweit er kann.“
 

„Meinst du nicht, dass du dir das bloß einbildest?“, fragte Armin behutsam nach. Er hatte gemerkt, dass Eren gereizt war.
 

„Nein. Nach dem Schwimmen hat er mich nicht einmal angeguckt und seitdem ist er einfach reservierter; interagiert nur mit mir, wenn’s sein muss.“
 

„Vielleicht hatte er einen schlechten Tag. Außerdem ist er generell reserviert. Ich denke nicht, dass er sehr viel Wert auf Verbrüderung legt. Und man darf nicht vergessen, dass er Kriegsveteran ist, keiner kann erahnen, wie ihn der Krieg geprägt hat.“
 

Die Worte ergaben für Eren nur begrenzt Sinn. Er wollte einfach nicht einsehen, dass er nicht einen Draht zu Levi hatte. Er hatte nicht den Eindruck gehabt sich ihm aufzudrängen, im Gegenteil. Eigentlich verstanden sie sich. Irgendwie musste er Levi klar machen, wie viel ihm sein Einsatz für ihn bedeutete. Eren war nicht dumm genug, um zu übersehen, dass er es ohne Levis gewollte und ungewollte Lektionen nicht so weit gebracht hätte.
 

„Ich muss ihn beleidigt haben“, nuschelte Eren vor sich hin, was Armin fragend zu ihm blicken ließ, doch er winkte ab.
 

*~*
 

Als am Sonnabend Hannah Meyer vor seiner Appartementtür stand, hätte sich Levi eigentlich nur darüber wundern müssen, was sie von ihm wollte, nicht wie sie hinaufgekommen war.
 

Die junge Frau war zweifellos auf der Suche nach ihm an Hanji geraten, denn keiner sonst käme auf die Idee jemanden zu ihm zu schicken, anstatt ihn zu holen.
 

Hannah blickte Levi wie ein verschrecktes Reh an. Sie war nie sonderlich auffällig, eher die graue Maus mit dem technischen Verstand und der Ruhe eines Bombenentschärfers. Er hatte sie nicht ohne Grund ausgewählt und die Tatsache, dass sie ihn mit einer Art von Unsicherheit und Schreck anstarrte, die nicht allein seinem griesgrämigen Gesichtsausdruck zu verdanken war, verhieß nichts Gutes.
 

„Es tut mir leid, dass ich Sie störe...“, begann sie und bemühte sich sichtlich um eine selbstbewusste Stimme. Gewöhnliche Menschen hätte sie sicherlich getäuscht.
 

„Komm herein“, sagte Levi desinteressiert und ging in die Küche. Er hatte sich gerade Tee aufgesetzt: „Willst du auch eine Tasse Jasminblütentee?“
 

„Nein, danke. Ich möchte Sie nicht lange aufhalten.“
 

Er hörte das Klicken der Tür, als sie ins Schloss fiel und fand Hannah unschlüssig davor stehen.
 

„Setz' dich auf die Couch. Hier ist nichts, was dich auffressen will“, meinte Levi leicht genervt und und setzte sich kurz darauf mit einer Tasse Tee ihr gegenüber in den Sessel.
 

Sie starrte auf ihre Hände, mit denen sie an ihrer dunkelblauen Bluse herumspielte. Es machte Levi verrückt.

„Hast du deine Zunge verschluckt?“
 

Sie sah ruckartig auf, sichtlich betreten und klaubte ihre sieben Sinne zusammen.

„Entschuldigen Sie. Ich bin selbst etwas durcheinander“, begann Hannah und Levi begann zu erahnen, wohin das führte, „Ich war vorhin bei Generaloberstabsärtzin Hanji und sie hat meine Befürchtung bestätigt. Ich bin in der dritten Woche schwanger.“
 

Bingo. Richtig vermutet.
 

„Und was willst du jetzt tun?“, fragte Levi, als Hannah ihn bang ansah.
 

Sie zuckte mit den Schultern.

„Ich weiß es nicht.“
 

Levi lehnte sich im Sessel zurück und betrachtete die junge Frau, die eindeutig ungeplant schwanger geworden war. Wie man das heutzutage noch schaffte, war ihm ein Rätsel.

„Bei unserer Tätigkeit bist du ab der 14. Schwangerschaftswoche in Mutterschutz. Du kannst bis dahin als Teil der ESE arbeiten, allerdings würde ich dich nicht in den aktiven Dienst schicken, sondern hinter die Kulissen. Du könntest nach der Entbindung entweder drei Monate später wieder mit dieser Tätigkeit anfangen oder nach einem Jahr. Wenn du mehr als ein Jahr fernbleibst, müsstest du eine erneute Eignungsprüfung ablegen. Ich weiß allerdings nicht, wie die aussehen würde. Das steckt noch in den Kinderschuhen, aber es sollte sich an den sonstigen polizeilichen Eignungsprüfungen orientieren, nur anspruchsvoller.“
 

Hannah sah ihn mit kugelrunden Augen an.

„Sie schmeißen mich also nicht raus? Sie behalten mich? Ich komme zur ESE und obwohl ich schwanger bin?“
 

Levi wunderte sich über die Kindlichkeit dieser Generation. Aber vielleicht kam es ihm auch nur so vor, weil er ein völlig anderes Leben kannte und wenig „normale“ Menschen um sich gehabt hatte.

„Ja. Du brauchst dich nicht sofort zu entscheiden, aber ich sollte es bis Mitte nächster Woche wissen.“
 

„Danke“, brachte sie überwältigt heraus, „Ich will arbeiten. Ich weiß nur nicht...“
 

„Nimm dir Zeit“, sagte Levi zwischen zwei Schlücken des herrlich duftenden Tees, „Was sagt der Vater dazu?“
 

„Der weiß es noch nicht“, gab Hannah betreten zu, „Ich bin sofort zu Ihnen gegangen.“
 

„Das ist sehr pflichtbeflissen von dir, aber du solltest Franz Bescheid sagen.“
 

„Woher-?“
 

Sie wurde von Levis willst-du-mich-verarschen-Blick am weitersprechen gehindert.

„Ich werde morgen mit den Rekruten unter anderem über dieses Thema sprechen, wenn es in Ordnung für dich ist.“
 

„Klar, ich werde es Franz nachher gleich beichten und dann kann es von mir aus jeder wissen.“
 

„Gut. Sonst noch was?“
 

„Ist Franz auch bei der ESE?“, kam es wie aus der Pistole geschossen.
 

Levi wollte sie zuerst auf Morgen vertrösten, doch in Anbetracht der Tatsache, dass er noch vorm Kindsvater von den Neuigkeiten erfahren hatte, plauderte er aus dem Nähkästchen.

„Ja, ist er. Aber behaltet es für euch.“
 

Zum ersten Mal strahlte sie vor Freude und die Art wie sie lächelte und ihre Augen glänzten, gab Levi ein Eindruck von der versteckten Attraktivität Hannahs.
 

„Viel Dank, Sir!“ Sie saß bereit zum Aufstehen, sodass Levi sich erhob und mit ihr zur Wohnungstür ging.
 

„Es ist zwar eine Unzeit, aber du solltest dich über das Kind freuen. Es hat es bestimmt gut bei euch“, meinte Levi ehrlich, als Hannah im Hausflur stand, die ihm einen verblüfften, aber warmen Blick schenkte. Sie dachte womöglich erst jetzt daran, was die Schwangerschaft noch alles bedeuten konnte als einen möglichen Karrierekiller.
 

„Ich danke Ihnen“, lächelte sie, „Gute Nacht!“
 

Levi nickte ihr zu und schloss die Tür.
 

***
 

„Wie zum Teufel kann Frau heutzutage aus Versehen schwanger werden?“
 

„Levi, findest du die Ausdrucksweise passend?“, schalt Hanji ihn am nächsten Morgen, als er sie in der Gemeinschaftsküche fand.
 

„Ich brauch keinen verdammten Moralapostel, Vierauge“, grummelte Levi und starrte sie abwartend an.
 

Hanji seufzte theatralisch.

„Indem man die Depotspritzen vergisst zum Beispiel.“
 

„Also aus purer Dummheit“, schloss Levi emotionslos.
 

Den Frauen wurden kleine runde, chipartige Plättchen unter die Haut - meistens im Oberarm - eingesetzt, die man alle drei bis zwölf Monate mit einer einfachen Spritze genau in eine vorgesehene Stelle des Chips auffrischen konnte. Diese Chips gaben gleichmäßig den Stoff ab, der eine Empfängnis verhinderte und machte die vor vielen Jahren marktführende Antibabypille obsolet.
 

„Während unseres Einsatzes in Asien war es für die Frauen so gut wie unmöglich regelmäßig zu spritzen und vom Krieg rede ich noch gar nicht. Was glaubst du, wie viele Kürettagen ich machen musste?“
 

„Du musstest Abtreibungen vornehmen? Das ist krank. Wie konntest du das tun?“
 

„Was hätte ich tun sollen?“, verteidigte sich Hanji mit in die Hüften gestemmte Hände, „Die Frauen mit dicken Bäuchen durch den Kugelhagel robben lassen? Ich hatte keine Wahl, sonst hätten sie anders versucht abzutreiben und vertrau mir Levi, ich habe schon gesehen, auf was für Ideen die verzweifelten Frauen da kommen und wie mies das ausgehen kann. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich weniger Schaden anrichte. Was natürlich nicht heißt, dass ich das wortlos tue.“
 

Zwar konnte Levi Hanjis Sichtweise nachvollziehen und sich gut vorstellen, wie sie den Frauen eine saftige Lektion verpasste, die sie ihren Lebtag nicht vergaßen. Trotzdem verzog er verächtlich den Mund und konnte ihr nicht in die Augen sehen.
 

Für ihn war eine Abtreibung genauso Mord wie der Schuss einer Waffe auf den Kopf seines Gegners. Im Gegensatz zu seinem Gegner war ungeborenes Leben und kleine Kinder wehrlos und unverdorben. Sie waren schützenswert und etwas Besonderes. Nur bei Vergewaltigungen konnte er eine Abtreibung akzeptieren oder wenn die Schwangerschaft das Leben der Mutter bedrohte.
 

Levi verabscheute sinnlose Tode.
 

„Hast du auch mal sowas gebraucht?“, fragte er leise und fixierte dabei einen Wassertropfen auf der Küchentheke. Er schimmerte wie ein Diamant im hereinscheinenden Morgenlicht der Sonne.
 

„Nein“, erwiderte Hanji leise, „Aber ich hatte in dem Sinne Glück wie ich nach dem Krieg festgestellt habe.“
 

Hanjis tiefer Ton ließ Levi verwundert aufsehen. In ihren haselnussbraunen Augen spiegelte sich erstickendes Bedauern.

„Die Wahrscheinlichkeit, dass ich je Kinder kriegen kann, liegt bei 5,32 %. Mein Körper stößt den Embryo ab.“
 

„Das ist mehr als genug“, erwiderte Levi wie aus der Pistole geschossen, bevor er kurz inne hielt und Hanji zurückhaltend betrachtete, „Ich habe nie darüber nachgedacht, dass du mal wirfst und Bälger an den Händen baumeln haben könntest. Du warst für mich immer nur die verrückte Wissenschaftlerin, die uns zusammenflicken konnte.“
 

Sie schenkte ihm ein leichtes Lächeln und sah ihn nachdenklich an.

„Man will immer das, was man nicht haben kann. Aber abgesehen davon fehlt mir dafür schon der passende Mann.“
 

„Die meisten Frauen kriegen zwischen 35 und 45 Kinder. Da hast du noch genügend Zeit zum Mann finden und üben.“
 

„Und? Lust ein wenig mit mir zu üben?“, zwinkerte ihm Hanji zu, wieder mit Leben in ihren Augen, auch wenn nicht so leuchtend.
 

Levi überraschten ihre Avancen nicht und er wollte eigentlich nicht darauf reagieren, als er plötzlich ein Bild vor seinem inneren Auge hatte und begann leise darüber zu lachen.
 

„Was zum...?“, Hanji starrte ihn mit großen Augen erstaunt an, „Ich mache mich hier eineinhalb Jahre zum Affen und was dich zum Lachen bringt ist meine Unfruchtbar- und Altjungfräulichkeit?“
 

Ein Blick in Hanjis Gesicht verriet ihm, dass er sie nicht gekränkt hatte.

Er schnaubte belustigt, ehe er sich erklärte.

„Ich musste mir gerade vorstellen, wie so ein armes Kind mit unseren Genen wäre“, schmunzelte Levi, „So ein kleines verrücktes Ding, das alle verprügelt und mit dicker Hornbrille in seiner Wildheit alles zerstört, was es anfasst.“
 

Der Funke schien auf Hanji überzuspringen, sie grinste breit.

„Heeey! Und wo bleiben dabei deine Gene? Da fehlt das Miesepetrige! Es wäre bestimmt ein hochintelligentes, schwarzhaariges Emo-Kind mit fetter Brille.“
 

Sie begann zu lachen und sie amüsierten sich gemeinsam über diese Vorstellung.
 

„Das könnten wir keinem Geschöpf antun“, meinte Levi, als sie wieder in Schweigen verfielen.
 

„Aber wir könnten verhüten, wenn dir 5,32 % zu unsicher sind“, grinste sie vielversprechend und in ihre Augen trat ein lüsterner Glanz, für den Levi sie innerlich beglückwünschte.
 

„Ich werde niemals mit dir schlafen und wenn du mir je etwas untermischt, um mich gefügig zu machen, zerr' ich dich wegen Vergewaltigung vors Gericht. Das verspreche ich dir“, erklärte Levi ihr mit strengem Blick und ebener Stimme.
 

Hanji brach in hysterisches Gelächter aus, hielt ihren Bauch und krümmte sich.

„Diese Vorstellung!“, japste sie nach Luft, „Du vorm Richter! ... Mich anklagend! Wegen Vergewaltigung! Ha!“
 

Ihre Stimme versagte und sie sank lachend auf die Knie, Tränen in den Augenwinkeln.
 

Levi starrte sie verständnislos an, völlig unbewegt.

„Du bist heillos verdreht, Vierauge. Und ich meine es ernst.“
 

Meinte er wirklich. Er traute ihr solch einen Unsinn durchaus zu und da er sie nur begrenzt verprügeln würde, müsste er eben vor Gericht ziehen. Er hatte davor weniger Scheu als Hanji körperliche Gewalt anzutun. Die war wie ein Quietscheball. Egal wie oft man drauf trat, er würde jedes Mal dieses markerschütternde Geräusch von sich geben. Sinnlos.
 

Als Mike mit verstörtem Gesichtsausdruck in die Küche trat, nutzte Levi die Gelegenheit zu gehen.
 

Diesmal war es ihm gelungen sie aufzuheitern.
 

***
 

Als die Rekruten Sonntag Mittag im Vortragsraum saßen und ihn mit einer Mischung aus Verwunderung und unerfreulicher Vorahnung anblickten, seufzte er.

Die letzten drei Wochen war es ihm definitiv gelungen sich richtig unbeliebt zu machen. Selbst Eren sah ihn abwartend mit steinernem Gesichtsausdruck an...
 

„Ich möchte euch hiermit mitteilen, dass ihr alle bestanden habt und nun die erste Europäische Sondereinheit zur Terrorbekämpfung darstellt. Glückwunsch.“ Er sagte es in einem dermaßen gelangweilten Ton und so passiver Mimik, dass es einige Sekunden dauerte, ehe die Rekruten begriffen, dass er etwas positives gesagt hatte. Und nochmal ein paar Sekunden, bis die Information ins Gehirn sickerte und ihre Nervenbahnen zu einer Reaktion verlockten.
 

Sie brachen in ausgelassenen Jubel aus, plötzlich keine Scheu mehr vor seiner Präsenz habend. Sie umarmten sich, lachten, riefen und schrieen.
 

Er ließ sie sich ein paar Minuten freuen, ehe er sich räusperte und sie mit einem kühlen Blick bedachte, der sie gekonnt zur Ordnung rief.
 

„Nächste Woche wird die offizielle „Übergabe“ und Ernennung stattfinden, danach werdet ihr bis Ende des Jahres mit der SEK und GSG9 mitlaufen, um euch im Ernstfall einzuspielen, ehe ihr eigene Aufgaben wahrnehmt.“ Nun sahen ihn die Rekruten mit leuchtenden und vorfreudigen Augen an. Der reinste Kindergarten.
 

„Kommende Woche werden wir noch einmal alle technischen Hilfsmittel durchprobieren und das eine oder andere einüben, sofern Bedarf besteht.“
 

Und der bestand. Als Polizisten waren sie sehr gut ausgebildet worden, sodass sie fast alles konnten, außer mit den Seagull-Suits fliegen und tauchen. Das war rein militärische Ausrüstung, aber Levi wollte sie darin unterweisen. Es war anspruchsvoll und extrem praktisch.
 

Erwin hatte ihm zwar einen Vogel gezeigt - nun, auf seine Weise; er hatte ihn angesehen, als verlange er von ihm den Körper seiner toten Mutter herauszugeben - aber Levi war davon überzeugt, dass er die schweineteuren Dinger schon noch beschaffen würde.
 

„Und nun zu etwas ganz anderem, was sich in erster Linie an die Damen richtet“, sagte er nun und bedachte jede Einzelne mit einem Blick, dem nur Hannah mit einem Lächeln begegnete und Franz neben ihr kratzte sich verlegen am Nacken, „Wir leben im Jahr 2122, benutzt die verfickten Depotspritzen, wenn ihr keine Kinder kriegen wollt!“
 

Die Frauen sahen ihn überrascht oder verschämt an, während die Männer teils verständnislos, teils erstaunt drein guckten.
 

„Und falls hier jemand unbedingt jetzt eine Familie gründen möchte und dafür in Mutterschafts- oder Vaterschaftsurlaub treten will, dann sagt bitte möglichst rechtzeitig Bescheid. Ihr seid die ersten ESE-Rekruten, ihr seid nicht viele und wir haben nur euch. Seid fair zu euren Vorgesetzten und warnt sie vor eurem Ausfall.“
 

Alle Augen lagen auf ihm. Dann schnippte Ymir mit den Fingern und wandte sich zu der hinter ihr sitzenden Hannah um, die ihr einen irritierten Blick zuwarf.

„Du bist schwanger“, schloss die trocken, woraufhin sich alle an Hannah wandten, die mit ihrem scheuen Blick nach unten für Unruhe sorgte.
 

„Ist das wahr?“, hakte Reiner mit großen Augen nach.
 

„Stimmt das?“, wollte auch Marco wissen.
 

„Nicht euer ernst?“ Connie starrte das Paar an, wie die Büchse von Pandora, völlig befremdet von dem Gedanken, dass die zwei ein Kind gemacht hatten.
 

„Das erklärt euer seltsames Verhalten gestern. Ich dachte schon, ihr fliegt“, seufzte Mina erleichtert.
 

„Wie wundervoll! Glückwunsch!“, fiepte Historia, die daraufhin von Ymir mit einem hingerissenen „Awww“ durchgeknuddelt wurde. Na, wenn die zwei nichts am Laufen hatten, schrieb sich Levi bei den Ordensschwestern als Novizin ein. Aber wenigstens konnten sie dann nicht so einfach schwanger werden.
 

Immer mehr Rekruten bohrten nach, bis Franz schließlich seinen Arm um Hannah legte und bestätigte. Dies wiederum löste eine Glückwunschwelle aus und Levi fragte sich ernsthaft, was er hier überhaupt noch machte.
 

Also ging er kurzentschlossen einfach. Es gab sowieso nichts mehr zu sagen.
 

„Sir?“
 

Die angenehme Tenorstimme ließ ihn im Flur innehalten als sei er zu einer Statue gefroren.

„Was ist, Jäger?“
 

Seine Ohren waren bis aufs äußerste gespitzt und mit jedem achtsamen Schritt, den Eren auf ihn zutrat, spannte sich Levis Körper ein bisschen mehr an.
 

„Ich weiß nicht, was genau es war, aber ich wollte Sie nicht beleidigen oder verärgern“, begann Eren im ruhigen Tonfall und blieb hinter ihm stehen.
 

Levi warf ihm einen irritierten Blick über die Schulter zu. Was zur Hölle?
 

„Damals beim Schwimmen, als es um Hurenhäuser ging“, klärte ihn Eren auf und lächelte leicht. Er konnte seine Unsicherheit nicht gänzlich verbergen und diese ganze Situation an sich, verwirrte Levi auf entnervende Weise.
 

„Du hast gerade die Ausbildung bestanden, was du so sehr wolltest und deine einzige Sorge sind meine Befindlichkeiten?“, fragte Levi ihn mit desinteressierter Stimme, nichtsdestotrotz klang selbst in seinen Ohren der ungläubige Unterton darin hervor.
 

Diesmal trat das Lächeln auch in seine seegrünen Augen, die ihn, expressiv wie das Balg nun einmal war, voller Zufriedenheit und Dankbarkeit anstrahlten.
 

Scheiß auf Erens vermeintlich katastrophale Wirkung, die er als Kind gehabt haben musste, der Kerl war ein erwachsenes, kräftiges Mannsbild und versetzte selbst Levi mit seinen verfickt grünen Augen und seinem scheiß charmanten Lächeln in ein Stadium der Hilflosigkeit. Das war viel heimtückischer und gefährlicher, denn bei einem Kind erwartete man im Zweifel, dass es einen um den Finger wickeln konnte, aber bei einem Mann?
 

Levi starrte Eren über seine Schulter hinweg an und verfluchte sich für seine Tatenlosigkeit, als Eren ihn mit seiner Art einnahm.
 

„Jetzt wo ich das eine geschafft habe, bleibt nur noch das offen“, antwortete Eren und sein Lächeln wurde etwas verlegen, „Ich will nur, dass Sie wissen, dass ich Sie nicht für Ihre Worte verurteile oder sie irgendwie negativ aufgefasst habe.“
 

Levi drehte sich nun zu Eren um, um ihn innerlich bestürzt ansehen zu können. Das verdammte Balg hatte ihn gelesen wie ein verficktes Buch!
 

Die volle Aufmerksamkeit Levis ließ Eren zwar erröten, doch er hielt den Blickkontakt aufrecht. Pure Ehrlichkeit triefte aus den schönen Augen, als Eren ruhig weitersprach.
 

„Es ist nur so, dass ich mir jedesmal, wenn Sie etwas von sich erzählen, so fest auf die Zunge beißen muss, um nicht nachzubohren, dass keine vernünftigen Worte mehr aus meinem Mund herauskommen“, gab Eren zu und errötete noch mehr, es machte Levi sprachlos, „Ich bin sehr neugierig und finde Sie sehr interessant. Ich würde zu gern wissen, wie Sie aufgewachsen sind und was Sie alles erlebt haben...“
 

Nach diesem Geständnis stand Eren da, als erwarte er im nächsten Augenblick für seine Unprofessionalität gescholten zu werden, dabei war die einzige Emotion, zu der Levi fähig war, Erstaunen in seiner reinsten Form.
 

Obwohl es das nicht sollte. Er wusste, dass Eren ihn zum Vorbild auserkoren hatte und natürlich wollte er mehr über ihn erfahren - das war nur menschlich und kein Stück überraschend. Und es war ganz und gar nicht verwunderlich, dass Eren bemerkt hatte, dass er systematisch ignoriert wurde. Levi war diesbezüglich nicht sonderlich subtil und der Mann zu sensibel, um es nicht mitzukriegen.
 

Also was war es? Warum stand Levi vor ihm und starrte ihn erstaunt an, als hätte man ihm eben die letzten Geheimnisse der Welt offenbart?
 

Ich hoffe, du stößt ihn nicht von dir.
 

Es wäre schade, wenn du das kaputt machen würdest...
 

Er wäre ein guter Freund.
 

Hanjis Worte hallten in seinem Kopf wider und ließen ihn den trockenen Kloß in seinem Hals herunterschlucken, der sich bleiern in seinem Magen festsetzte und ihn innerlich schaudern ließ als wirbelten tausende Federn in ihm herum.
 

„Vielleicht“, begann Levi mit tonloser Stimme, „fragst du das nächste Mal einfach.“
 

Levi machte kehrt, bevor Erens erleichtertes Lächeln und seine gottserbärmlich glücklich glänzenden Augen ihn noch mehr verwirrten.
 

Wie sollte er in der Lage sein so einen Menschen überhaupt von sich fern zu halten?
 

*~*
 

Woanders machten sich Männer an einem lebendigen Ort bereit.
 

+++


Nachwort zu diesem Kapitel:
Das war das fünfte Kapitel. Ich würde mich sehr für eure Meinungen dazu interessieren!
Ich bin extrem gespannt, was ihr zu den Charakteren sagen werdet:3

Die Ausbildung ist nun also beendet und langsam wird es ernst. Im nächsten Kapitel kommen unsere Grünschnäbel in eine andere Stadt und dürfen sich mit missgünstigen Polizeikollegen herumärgern.
Mehr oder weniger durch Zufall erfahren sie etwas mehr über Levis Vergangenheit, was ihnen - wenn möglich - noch mehr Respekt einflößt.

Das 6. Kapitel ist das Längste und deckt ein halbes Jahr ab. Ich werde es Anfang September hochladen.

Vielen Dank fürs Lesen und schönen Sommer!

Bye

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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  UltraEinhornFee
2015-07-14T23:18:25+00:00 15.07.2015 01:18
BITTE BITTE lass uns nicht zu lange warten! *o*

Du hast einen echt tollen Schreibstil, es macht echt Spaß deine Texte zu lesen. Sie lassen sich in flüssig in einem durch lesen. Du hast wirklich Talent und hoffe, dass du das weiter ausüben wirst! Es wäre echt eine Schande das unveröffentlicht zu lassen.

Mir sind auch keine Fehler in Grammatik oder Rechtschreibung aufgefallen (GARKEINE!!!).

Die Story an sich ist ja sowieso der HAMMER aber wie du sie umgesetzt hast ist einfach der Wahnsinn! Diese Spannung und Aufregung beim Lesen... Fantastisch!

Es gibt nichts, woran man rummäckeln könnte.

Ich bin unendlich froh diese Geschichte gefunden zu haben (Habe sie innerhalb von ein paar Stunden durchgelesen :3).


GAAAAAAAAAAAAAAAANZ LIEBE GRÜßE!

~UEF
Von:  UltraEinhornFee
2015-07-14T23:09:45+00:00 15.07.2015 01:09
Wirklich klasse :)
Kann kaum erwarten dass es weitergeht *-*
Von:  kleinYugi5000
2015-05-31T21:11:37+00:00 31.05.2015 23:11
WOAAAA...so ein tolles Kapitel^^ genial...ich weiß gar nicht was ich sagen soll...außer wann geht es weiter? **grins**
und ach ja...bist du mir sehr böse wenn ich Erwin dafür umlege das er ausgerechnet in diesem Moment in die Küche gekommen ist? Verdammt noch mal..diese Szene war so toll. Ich dachte nur ja endlich, jetzt passiert es...und dann kommt dieser Dödel rein. Echt mal! Ich war so sauer!!
Aber ansonsten..od auch gerade deswegen..wirklich gutes Kapitel....Wie soll ich das bis September aushalten :(
Bin wirklich gespannt wie es weiter geht.

LG Soph-chan



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