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Die Legende von Shikon No Yosei

Das Schicksal einer Elementarmagierin
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Unglaublich, aber war: die letzte Story über meinen letzten GW1-Chara!

Diese Geschichte basiert auf dem Online-Rollenspiel Guild Wars – Factions sowie – Eye of the North, die von ArenaNet entwickelt wurde. Die Handlung jedoch ist der Fantasie von Ami Diana Saphira Mercury entsprungen.
Traditionen sind wichtig … Allerdings ändern sich die Zeiten. Was sagt es über einen aus, ob man als Mann oder Frau geboren wurde? Seit jeher saßen die männlichen Erben auf dem Drachenthron von Cantha … Doch dem fünfundvierzigsten Kaiser wird eine Tochter geboren – Amaterasu Aiko.
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Erzählung 3: Das Schicksal einer Kaiserin

Lang lebe die Kaiserin!

In Cantha herrschte Frieden … Nachdem es jahrelang unter den Befallenen, grausamen Straßengilden sowie dem Zwist zwischen den Kurzick und Luxon gelitten hatte. Die grauenhaften Wesen, welche durch die Pest verwandelt wurden, waren von den ersten Generation der Verteidiger des Reichs vernichtet worden. Auch die Am Fah wurden von ihnen zerschlagen – ohne diesen Feind konnten die kaiserlichen Truppen die Jadebruderschaft ebenfalls ausheben. Und durch ihre zunächst nur kurzfristige Verbindung im Kampf gegen den Verräter Shiro Tagachi – und einem kleinen Führungswechsel – beendeten selbst die verfeindeten Fraktionen ihre sinnlose Auseinandersetzung dauerhaft. Nichtsdestotrotz blieb es ein harter Job, Kaiser zu sein … Koteiro Ryukichi, Sohn von Koichi und Ryukii, Enkel von Shikon No Yosei und Ohtah Ryutaiyo, saß als dreiunddreißigster Herrscher auf dem Thron des Reichs des Drachens, an der Seite seine Frau Chiyo Yumecho, Tochter von Yoso No Koshi und Toki No Kibo, Enkelin von Shikon No Yosei, Ohtah Ryutaiyo und Seiketsu No Akari. Eine solche Familie voller Helden konnte eine Bürde sein … jedoch genauso ein Ziel. So gab es für die junge Prinzessin Amaterasu Aiko nur einen einzigen Ort auf ganz Tyria, an dem sie sich würde ausbilden lassen – im Kloster von Shing Jea. Schon als kleines Mädchen hatte Amaterasu Aiko den Wachen des Palastes beziehungsweise den Anwärtern bei ihrem Training zugeschaut, besonders wenn sie ihrer Mutter wieder einmal entfliehen wollte. Später dann hatte sie es sogar gewagt – voranging wenn ihre Eltern in irgendwelchen Staatsangelegenheiten unterwegs waren –, sich hinunterzuschleichen und die Waffen selbst einmal die Hand zu nehmen. Obwohl ihre Eltern und der Großteil ihrer Familie zu den Zauberwirkern gehörte, spürte Amaterasu Aiko in sich nicht das Gefühl der lebendigen Magie … Stattdessen faszinierte sie die unglaubliche Vegetation der Natur, wie etwa auf Shing Jea. Und als ihre Großmutter Toki No Kibo ihr einmal erzählte, dass es auch unzählige Pflanzen mit Heilwirkungen gab, las Amaterasu Aiko in der kaiserlichen Bibliothek etliche Bücher über die verschiedenen Wirkungsweisen. Und da sie gleichzeitig ein gutes Geschick im Zielen zeigte, fiel ihr die Wahl ihres Weges sichtlich leicht. Im ersten Moment sah sich das Kaiserpaar verwundert an, bevor sie lächelten, als sie ihre Tochter mit Pfeil und Bogen erblickten. Wie alle Eltern standen sie im Innenhof und verfolgten, die Neulinge bei ihrem Eintrittsritual – von ein paar Ausnahmen ahnte niemand, dass sich die Herrscher unter ihnen befanden … dies war Amaterasu Aiko´s ausdrücklicher Wunsch gewesen. Ihr ganzes Leben hatte bislang nur aus dem Beobachten anderer und Bücher lesen bestanden … Wie sollte sie regieren und Entscheidungen zum Wohl von Cantha treffen, wenn sie gar nicht wusste, wie es in der Welt außerhalb des Palastes zuging? Ein Problem, welches ihr Großvater Koteiro Koichi nur zu gut gekannt hatte – bei ihrem Treffen war Ryukii No Mai die erste Person, die ich zum Hofstaat gehörte, mit der er sprach, und von der er sich wünschte, mehr über die Welt außerhalb des Raisu-Palastes zu erfahren.

„Deine Großmutter war eine hervorragende Spurenleserin … das hatte sie von ihrem Vater. Wir sind stolz auf dich, hörst du?“, schwelgte Koteiro Ryukichi später stolz.

Amaterasu Aiko´s Griff um ihre Waffe verstärkte sich, ehe sie erzählte: „Hier im Kloster kann ich ein ganz normales Mädchen sein. Ich … bin noch nicht bereit, Kaiserin zu sein.“

Chiyo Yumecho wollte etwas erwidern, doch ihr Mann kam ihr zu vor: „Meine Mutter und mein Vater sind sich eigentlich nur ganz zufällig begegnet … oder auch nicht, wer weiß das schon. Für ihn war der Palast beinahe ein … Gefängnis, eine solche Erfahrung wollten wir dir ersparen. Aber vielleicht hättest du noch mehr Freiraum gebraucht – Chiyo und ich sind schließlich auf Shing Jea aufgewachsen. Das Blut der hiesigen Helden fließt durch deine Adern! Ich bin sicher, es wird dich leiten … Vertrau´ deinem Gespür, kleine Kirschblüte.“

„Danke, Papa.“, antwortete Amaterasu Aiko gerührt, „Mama … verstehst du mich denn auch?“

Die Ritualistin unterdrückte ein Lachen: „Ryukichi hat schon recht – ich wollte aus dir eine perfekte Prinzessin … basteln. Dabei war das vollkommen unnötig. Aus dir wird einmal eine großartige Kaiserin werden, da bin ich ganz sicher … nicht wegen irgendeinem Protokoll, sondern wegen dem, was in dir steckt. Du bist unsere Tochter und wir lieben dich, genauso wie du bist!“

Die angehende Waldläuferin fiel ihren Eltern in die Arme und sie umarmten einander ganz fest.
 

Die Großmeister und Toki No Kibo´s Nachfolger, der Leiter des Klosters von Shing Jea wussten natürlich, wen sie da unterrichteten – vor den Schülern jedoch wurde ihre Identität auch in den Jahren ihrer Ausbildung geheimgehalten. Doch einen Aspekt hatte Amaterasu Aiko bei der Äußerung ihres Wunsches nicht bedacht – zwar konnte sie ihnen gegenüber über schon sie selbst sein, allerdings ja wiederum trotzdem nicht vollkommen ehrlich … daher konnte sie genauso wenig jemanden wirklich an sich heranlassen. Eine Freundschaft, die auf einer Lüge aufgebaut wurde, konnte nicht bestand haben … Was sie dagegen sehr genoss, war die Zeit mit ihrer Familie – ihren Urgroßeltern Shikon No Yosei, Ohtah Ryutaiyo und Seiketsu No Akari, ihren Großeltern Yoso No Koshi, Toki No Kibo, Ryukii No Mai und Koteiro Koichi. Letzterer war ja bekanntlich vor ihrem Vater der Kaiser von Cantha gewesen …

Bei ihm suchte sie Rat: „Opa … warum durfte es bislang in unserem Reich keine Kaiserin geben? Ich meine, was ist so falsch daran, kein Mann zu sein?“

Koteiro Koichi schwieg einige Zeit, bevor er antwortete: „Warum wurden Generationen von Thronfolgern vor ihrer Krönung vor der Welt versteckt? Es tut mir leid, kleine Kirschblüte – ich weiß nicht aus welchen Gründen diese für uns so sinnlos erscheinenden Traditionen ins Leben gerufen worden sind. Andererseits hätte Shiro Tagachi geahnt, dass es mich gibt … hätte er es vielleicht ebenso sehr auf mein Leben abgesehen. Oder hätte Shiko´s Vater verschont … Irgendwann hielt irgendjemand diese Dinge richtig, für unser Land.“

Diese Antwort konnte Amaterasu Aiko sogar in gewissem Maße sogar nachvollziehen … Aber die Zeiten veränderten sich doch, oder nicht? Koteiro Ryukichi hatte sie nicht irgendwo eingesperrt … natürlich, es war ihr ebenfalls nicht gestattet gewesen, allein durch Kaineng zu wandern.

„Niemand kann die Erwartungen von allen erfüllen … Was ist mit dir? Wünschst du dir nicht auch etwas – vom Volk respektiert zu werden zum Beispiel?“, meldete sich auf einmal Shikon No Yosei zu Wort, die gerade eintrat, „Es geht nicht darum, was andere in dir sehen … du selbst musst entscheiden, wer du sein willst.“

Die angehende Waldläuferin umarmte die Älteste Shing Jea´s. Zu ihr hatte sie besondere Verbindung … Während bei ihren Eltern beispielsweise nur das braune Haar von Ohtah Ryutaiyo und Seiketsu No Akari durch gekommen war, hatte Amaterasu Aiko wieder ihr Rot geerbt, was beide sehr stolz machte.

„Man hat immer die Wahl … und Respekt erwächst nur aus Taten. Habe ich dir schon mal vom Volk der Norn in den Fernen Zittergipfeln erzählt?“, fuhr die ehemalige Elementarmagierin fort.

Amaterasu Aiko liebte die Geschichten ihrer Familie, die Erzählungen ihrer Heldentaten … Drachen, Götter, fremde Wesen und einzigartige Orte, gefährliche und fantastische Abenteuer – sie schienen alles erlebt zu haben. Die Norn kannte sie bereits, weil sie schon vom Großen Zerstörer gehört hatte. Dennoch wollte die Rothaarige wissen, warum ihre Urgroßmutter gerade jetzt von ihnen sprach.

„Die Norn sind … Krieger. Und damit meine ich nicht die Klasse – für sie liegt Ehre im Kampf. Ihr Stolz geht ihnen über alles – egal ob Mann oder Frau. Sie glauben, sich den Geistern der Wildnis und ihren Ahnen als würdig erweisen zu müssen. Stärke bedeutet weit mehr, als nur körperliche Kraft oder magische Energie.“, berichtete sie in Gedanken bei ihrer Freundin Jora.

Wie lange hatte sich die Norn allein gequält, ehe sie Hilfe angenommen hatte? Und dann auch nur auf Geheiß der Großen Bärin … Die Schmach ihres Bruder hatte auf ihr gelastet – nur das Blut ihrer Feinde wusch ihr eigenes wieder rein, stellte den Namen ihrer Sippe wieder her. Die Norn mussten ihre Charakterstärke unter Beweis stellen … Dasselbe stand Amaterasu Aiko bevor, wenn sie als Kaiserin akzeptiert werden wollte – vielleicht, wahrscheinlich noch mehr als ein Sohn. Doch der Grundgedanke stimmte schon … Eigentlich war es vollkommen egal, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte – einzig die Taten zählten. Mit diesem Elan setzte Aiko ihre Ausbildung fort und verdiente sich das Ansehen des Klosters.
 

Als vollwertige Waldläuferin, die ihre Klassenbefähigung samt Auszeichnung in Händen hielt, hatte sich eines jedoch immer noch nicht geändert – Amaterasu Aiko fürchtete sich davor, den Thron zu besteigen … aus Angst die an sie gerichteten Erwartungen nicht erfüllen zu können. Daher suchte sie erneut die Weisheit ihrer Urgroßmutter Shikon No Yosei.

„Mit dem Ende deiner Ausbildung hast du erst den ersten Schritt gemacht.“, meinte sie sanft, „Und glaube mir, ich hätte mir danach auch mehr Zeit gewünscht, um … mich auf meine Rolle vorzubereiten.“

Amaterasu Aiko nickte, hakte jedoch nach: „Trotzdem hast du dich deiner Aufgabe gestellt … Wie hast du das geschafft?“

„Mit gerade einmal fünfzehn Jahren dem Kloster entwachsen gewesen und schon war meine ganze Welt in Gefahr – tatsächlich gibt es auf deine Frage eine simple Antwort … Ich war niemals allein. Mein Meister … mein Vater war bei mir und kurz darauf bin ich ja deinem Urgroßvater begegnet. Er hat mir die notwendige Kraft gegeben und mich wieder aufgerichtet, wenn ich gezweifelt habe.“, antwortete Shikon No Yosei und schloss träumerisch die Augen beim Gedanken daran.

Gerührt, dennoch frustriert entgegnete ihre Urenkelin: „Aber ich werde allein auf dem Thron sitzen!“

„Physisch, ja. Das bedeutet allerdings nicht, dass du alleine sein wirst – Aiko, du brauchst Leute um dich, denen du vollkommen vertraust … die ehrlich zu dir sind, obwohl du der nächste Regent bist. Nichts auf der Welt ist wichtiger, als Menschen um sich zu haben, die einen um seiner selbst willen achten.“, erklärte die ehemalige Elementarmagierin, während sie einen kleinen, silbernen Gegenstand aus der Tasche zog, „Wie gesagt, du befindest dich noch ganz am Anfang und musst deinen Weg erst noch finden … Dieses tragbare Portal kann dir vielleicht dabei helfen – es bringt dich an jeden Ort, dessen Namen du aussprichst … Mein Rat wäre, geh´ in die Bjora-Sümpfe zu Svanja Eystinsdottir. Sie ist die Tochter meiner Gefährtin Jora und ich bin sicher, du kannst einiges von ihrem Volk lernen.“

Zunächst konnte die Waldläuferin ihre Urgroßmutter nur wortlos anstarren, dann fiel sie ihr um den Hals. Insgeheim hatte sich Amaterasu Aiko gewünscht, die Norn kennenzulernen, seit sie ihr zu Beginn ihrer Ausbildung von ihnen erzählt hatte. Nur wie hätte sie zu ihnen gelangen sollen? Eine Schiffsreise nach Löwenstein wäre ja noch gut vonstatten gegangen, vielleicht sogar noch bis zur Grenze der Nördlichen Zittergipfel. Doch ohne Führer hätte sich die junge Thronanwärterin niemals durch die eisige Tundra schlagen können und wäre darüber hinaus noch vor allem an ihrem Zielort angekommen. Dieses Geschenk dagegen änderte alles – man hätte diesen Stab zwar für ein einfaches Stück Metall halten können … nichts außergewöhnliches, vielleicht ein nicht verwendeter Dolchgriff oder etwas vergleichbares; jedoch weit gefehlt … In ganz Tyria gab es kaum etwas vergleichbareres – ein tragbares Portal, entwickelt von von einem grandiosen Asura namens Vekk, einem weiteren Verbündeten ihrer Urgroßeltern und seine Anerkennung an Shikon No Yosei für ihre außergewöhnliche Freundschaft. Jahrelang wurde es sicher von ihr verwahrt – nun hatte sie es an Amaterasu Aiko weitergegeben.

Bevor sie sich bedanken konnte, fügte die Älteste noch hinzu: „Mach´ dir wegen Ryukichi und Chiyo keine Gedanken – Ryukii hat bereits mit ihnen gesprochen. Jeder muss sich irgendwann aufmachen in die große, weite Welt … Eltern müssen nur lernen, dass das auch für ihre Kind gilt.“

Und es zeigte tatsächlich Wirkung, dass die Assassine ihrem Sohn ins Gedächtnis rief, dass sie sich nur als Schattendiener in den künftigen Kaiser hatte verlieben können … weil sie Shing Jea verlassen hatte, um eigene Erfahrungen zu sammeln. Ebenso wie die Eltern seiner Frau. Außerdem wurde Amaterasu Aiko ja auch nicht zu irgendwelchen Fremden geschickt oder gar in die Wildnis – die Fernen Zittergipfel mochten zwar kein entspannter Urlaubsort sein, aber ohne Zerstörer würde sie sich mit ihren klassengegebenen Fähigkeiten schon zu helfen wissen.
 

Schnee – wohin sie auch sah lag über allem eine weiße Decke. Ein Anblick, der ihr als gebürtige Canthanerin noch nicht untergekommen war. Falls es im Reich des Drachens überhaupt schneite, waren es nur wenige Flocken. Amaterasu Aiko richtete ihren Umhang, ehe sie an der Holzhütte klopfte, vor der sie gelandet war. Noch immer konnte ein Teil von ihr es nicht fassen, wirklich hier zu sein … Ihre Mutter hatte sich bemüht, dennoch waren einige Tränen über ihre Augenränder getreten. Etwas beherrschter war ihr Vater gewesen – er hatte sie angelächelt und ihr versichert, dass aus ihr einmal eine wundervolle Kaiserin werden würde. Die Tür wurde geöffnet, was sie zurück in die Gegenwart riss – vor ihr stand eine Frau mit langem, blonden Haar, die fast doppelt so groß war, wie Amaterasu Aiko selbst.

„Seid gegrüßt, Svenja Eystinsdottir. Ich bin Amaterasu Aiko. Habt vielen Dank, dass ich bei Euch unterkommen und von euch lernen darf.“, sagte die Rothaarige mit einer leichten Verbeugung.

Als kleines Mädchen hatte man ihr beibringen sollen, dass eine Hoheit oder Majestät sich nicht vor anderen zu verneigen hätte … daran gehalten hatte sie sich jedoch nie – wenn jemand ihren Respekt verdiente, wollte sie diesen auch bekunden!

Die Norn musterte sie eindringlich und wartete, bis die Waldläuferin sie wieder ansah, ehe sie deren rechten Unterarm zum Kriegergruß ergriff und sagte: „Unsere Vorfahren waren Freunde – wir werden diese Tradition weiterführen. Sei willkommen in meiner Heimstatt!“

Glücklich trat Amaterasu Aiko ein und schaute sich um. Ein großer Wohnbereich mit einem prasselnden Feuer, das gleichsam als Kochstelle diente, fiel ihr zuerst auf – es wirkte gemütlich mit den vielen Fellen. An den Wänden hingen Kohlezeichnungen.

Ihrem Blick folgend erklärte Svanja: „Die hat alle mein Sohn Joras gezeichnet. Er ist gerade noch unterwegs.“

Die beiden setzten sich an das Feuer und unterhielten sich; Svanja plante sie zusammen mit ihrem Sohn nach Nornweise zu trainieren – um ihr Selbstbewusstsein weiter zu stärken. Irgendwann ging die Tür erneut auf – ein junger Mann, ebenfalls blond, mit leichten Bartstoppeln trat ein. Im ersten Moment verwunderte ihn Amaterasu Aiko´s Anwesenheit, dann fiel ihm ein, was die Unbekannte hier zu suchen hatte …

„Willst du unseren Gast nicht begrüßen?“, brummte Svanja verärgert.

Joras zog die Schultern und entgegnete: „Das hast du sicher schon zu Genüge getan. Sie weiß sicher auch bereits meinen Namen. Also, was sollte ich da noch hinzufügen?“

Der Norn wartete eine mögliche Antwort seiner Mutter nicht ab, sondern begab sich durch den Flur in sein Zimmer. Sie seufzte resigniert – seit sein Vater sie verlassen hatte, hörte er einfach noch weniger auf ihre Worte …

„Er ist ein Hitzkopf …“, meinte die Blonde entschuldigend, „Er glaubt, er müsse sich gegen alles und jeden beweisen. Das ist ein Teil jedes Norn, aber … er leidet, weil er sich zu sehr mit anderen vergleicht – statt zu akzeptieren, was ihm gegeben ist, zermürbt ihn der Wunsch, anders sein zu wollen.“

Amaterasu Aiko schloss für einen Moment die Augen, ehe sie erwiderte: „Das verstehe ich wirklich sehr gut … Ich werde die erste weibliche Kaiserin in der Geschichte Cantha´s sein – als männlicher Nachkomme wäre vieles wohl leichter gewesen … Meine Urgroßmutter hat mich immer bestärkt, stolz darauf zu sein, was und besonders wer ich bin.“

„Meine Mutter hat oft von ihr gesprochen … als einzige menschliche Norn, die ihr je begegnet wäre. Andererseits verstand sie ebenso die Denkweise der Asura, Zwerge und selbst Charr.“, erzählte Svanja voller Bewunderung.

Keine von beiden hatte bemerkt, dass Joras sie bis zu diesem Zeitpunkt belauschte. Er ballte seine Hände zu Fäusten. Ja, manches wäre sicher leichter, wenn man so sein könnte, wie man es sich wünschte … Zu oft war er dem Spott seiner Gleichaltrigen ausgesetzt, weil seine Körpergröße etwas unterdurchschnittlich war. Machte ihn das automatisch zu seinem schlechten Jäger, einem schwächlichen Norn? Es hatte ihm absolut nicht gepasst, einen Menschen bei sich aufzunehmen – nicht weil er selbst etwas gegen ihre Rasse oder gar gegen Amaterasu Aiko persönlich etwas hatte, sondern weil er den anderen nicht noch mehr Anlass geben wollte über ihn zu lachen … Nun saß in seinem Heim allerdings ein Mädchen, das denselben Schmerz kannte …
 

„Im Schießen muss ich dich jedenfalls nicht mehr trainieren … Du bist sehr gut ausgebildet. Aber was ist mit dem Überleben in der Wildnis? Wenn es nicht nur um dein eigenes Leben geht – wenn die Jäger nicht mit Beute zurückkehren, muss ihre Heimstatt Hunger leiden … Eine falsche oder fahrlässige Entscheidung kann weite Kreise ziehen.“, meinte Svanja ernst.

Selbiges galt für die Entscheidung eines Herrschers … bei einem Fehler musste das Volk leiden – daher wollte Amaterasu Aiko wissen: „Wie vermeidet ihr das?“

„Wir jagen im Rudel. Erfahrenere Jäger geben ihr Wissen an die nächste Generation weiter.“, antwortete die Norn und schoss ebenfalls einen Pfeil punktgenau ins Ziel, „Natürlich stellen wir uns besonderen Gegnern allein – wenn es um die Ehre geht. Aber keiner von uns käme jemals auf die Idee, das Überleben seiner Sippe leichtfertig zu riskieren.“

Auf ihre Situation bezogen bedeutete dies also – genau, wie Shikon No Yosei ihr geraten hatte – sie brauchte Berater mit speziellen Fachgebieten an ihrer Seite, denen sie vertraute … keine pathetischen Minister, die ihr eigenes Süppchen kochten und zuallererst an ihren eigenen Profit dachten. Ihr Großvater und ihr Vater hatten schon einiges im Himmelsministerium umgekrempelt – sie würde noch weiter gehen.

Entsprechend dieses Gesprächs war es Joras´ und Amaterasu Aiko´s nächste Aufgabe, auf Beutezug zu gehen – nichts großes und trotz Svanja´s Worte jeder für sich, um zu testen, wie beide auf sich allein gestellt klar kamen. In den letzten Wochen hatte keiner der anderen Jäger von irgendwelchen Wurmsichtungen oder sonst einer wirklichen Gefahr gesprochen, da konnte sie diese Entscheidung guten Gewissens verantworten. Joras und Amaterasu Aiko wandten sich in unterschiedliche Richtungen. Da es sie gleichzeitig verstärkt nach Spuren Ausschau halten musste, hatte sie sich für einen kürzeren Bogen mit kleinerer Reichweite entschieden und trug ein Jagdmesser am Gürtel. In dieser Gegend trugen die meisten Tiere ein weißes Fell für optimale Tarnung. Svanja hatte ihr geraten, besonders unter Bäumen oder Büschen nach kahl gefressen Stellen zu suchen. Amaterasu Aiko wurde recht schnell fündig, im feinen Schnee entdeckte sie sogar die passenden Pfotenabdrücke. Eine Gruppe von Wildkaninchen musste hier gewesen sein … Eilig folgte sie ihnen und gelangte direkt zu einem Hügel mit ihrem Bau. Auf diesen kletterte die Waldläuferin und stampfte mehrfach fest auf, was die Langohren herausscheuchte. Auf diese Art erlegte Amaterasu Aiko insgesamt sechs Kaninchen, anschließend schoss sie noch zwei große Wühlmäuse. Zufrieden machte sich die Rothaarige auf den Rückweg. Ein eigenartiger Laut ließ sie innehalten – er war nicht direkt bedrohlich gewesen … sondern eher schmerzerfüllt und eindeutig von einem Tier. Sie machte sich auf die Suche nach dem Ursprung. Vor einer Höhle blieb sie stehen. Noch einmal erklang das gequälte Knurren. Mit dem Bogen über der Schulter und dem Messer in der Hand ging Amaterasu Aiko hinein. Dort entdeckte sie einen verletzten, schwarzen Wolf. Für gewöhnlich lag sein Jagdgebiet weiter östlich, wo die Tundra einer grünen Landschaft wich – wahrscheinlich war er von seinem Rudel verstoßen oder getrennt worden und bei seinen hiesigen, weißen Verwandten nicht gut angekommen.

Amaterasu Aiko ging in die Hocke und flüsterte: „Es wird alles wieder gut, hörst du? Ich will dir helfen …“

Der Wolf hob die Lider und blickte sie aus rubinroten Augen an. Sie holte hörbar Luft. In ihnen lag unheimliche Intelligenz und Wärme … Vorsichtig kam sie näher, während sie eine Salbe und Verbandsmaterial aus der Tasche nahm. Um ihn von den Schmerzen abzulenken, legte sie ihm die Wühlmäuse und zwei Kaninchen zum Fressen hin, über die er sich sofort hermachte. Und Amaterasu Aiko machte sich ans Werk. Die Bisse waren nicht bis zu den Knochen durchgedrungen, doch ihre Vielzahl hatte ihn so geschwächt, dass er nicht mehr jagen konnte …

„Jetzt wird es dir bald besser gehen. Ich komme morgen wieder und bringe dir etwas zu fressen – ruh´ dich bis dahin aus.“, erklärte Amaterasu Aiko in dem festen Glauben, er würde jedes Wort verstehen.

So kehrte sie zu Jora´s Heimstatt zurück. Svanja und wenig überraschend Joras erwarteten sie bereits.

Letzterer zeigte triumphierend auf seine eigene Beute – einen Bison –, kaum dass er die vier verbliebenen Wildkaninchen sah und rief: „Ich wusste, ich würde gewinnen!“

Da traf ihn die Hand seiner Mutter im Gesicht, dass er taumelte, und sie blaffte: „Du bist vor allem ein Narr! Dein ganzes Leben lang bist du hier im Gelände unterwegs und findest dich daher natürlich besser zurecht – Aiko dagegen ist erst wenige Wochen bei uns und war dennoch erfolgreich … Die wichtigste Lektion hast du noch immer nicht gelernt. Es stimmt, ein Norn ist stark und stolz, wir kämpfen allein – aber nie nur für sich allein. Wir helfen einander, sonst würden selbst wir in dieser Gegend nicht überleben! Fang' endlich an Verantwortung zu tragen!“

Er starrte sie an, konnte ihr jedoch nicht widersprechen. Das Leben in den Fernen Zittergipfeln war kein Spiel … Bislang hatte er alles seiner Mutter überlassen – natürlich hatte er bereits mehrfach gejagt, allerdings nur zum Zeitvertreib. Sein Blick fiel auf Amaterasu Aiko, die ihn unverwandt ansah – es lag kein Mitleid darin … das hätte ihn fertiggemacht, auch kein Ärger … nur Verständnis. Klar, Svanja hatte ihr ja alles erzählt. Ohne eine Antwort verließ er die Hütte.
 

Beinahe zwei ganze Wochen vergingen, ehe sich Joras wieder blicken ließ. Tage, die Amaterasu Aiko damit verbrachte, den verwundeten Wolf zu versorgen. Täglich brachte sie ihm frisches Fleisch und täglich ging es ihm besser. An dem Tag, an dem Joras zurückkehren sollte, nahm die Waldläuferin die Verbände endgültig ab – der Rest würde ohne sie verheilen.

„Von nun an kommst du wieder ohne mich zurecht.“, erklärte sie ihm mit einer Spur Traurigkeit in der Stimme, „Pass´ gut auf dich auf und geh´ den Norn aus dem Weg!“

Amaterasu Aiko hatte den Höhleneingang noch nicht erreicht, da stupste der Wolf ihre Hand mit seiner Schnauze an. Als sich ihre Blicke daraufhin treffen, scheinen sich ihre Seele miteinander zu verbinden …

Gerührt davon, dass er sie als Alphatier gewählt hatte, streichelte Amaterasu Aiko ihn zwischen den Ohren und sagte: „Es freut mich, dich kennenzulernen, Susanoo.“

Zur Bestätigung heulte Susanoo auf, was sie zum Lachen brachte. Ebenfalls zum Lachen zumute war Svanja, als die beiden bei der Heimstatt ankamen.

„Der Wolfsgeist erfüllt dich, Aiko – sein Segen hat euch zusammen geführt.“, sprach sie und kniete vor Susanoo nieder.

Ein weiterer Neuankömmling trat zu ihnen und meinte mit hochgezogenen Augenbrauen: „Kaum drei Monde in den Fernen Zittergipfeln und schon fast eine echte Norn!“

„Joras!“, riefen die beiden Frauen wie aus einem Mund.

Joras ging zu seiner Mutter, reichte ihr die Hand und sie erhob sich. Stumm tauschten sie sich aus, schließlich schüttelte Svanja den Kopf und umarmte ihren Sohn. Anschließend zog sie sich in die Hütte zurück.

Vorsichtig fragte Amaterasu Aiko: „Wo … warst du die ganze Zeit?“

„Bei meinem Onkel in Gunnar´s Feste. Unter anderem deswegen …“, antwortete der Blonde und überreichte ihr ein verschnürtes Päckchen.

Darin befand sich eine Waldläufer-Rüstung aus weißem Wildleder und schwarzem Fellbesatz, verziert mit Ornamenten und Runen der Norn.

„Der Sommer ist vorbei. Von nun an wird es kälter – Segen hin oder her, dein Körper würde zu Grunde gehen.“, brummte er, um seine Verlegenheit zu überspielen, „Trage sie mit Stolz – die verwendeten Materialien stammen alle von Tieren, die ich selbst erlegt habe.“

Vollkommen überwältigt blinzelte sie einige Mal, bevor die Rothaarige euphorisch entgegnete: „Oh, ich danke dir, Joras, diese Rüstung ist fantastisch! Es ist mir eine sehr große Ehre!“

Seine Wangen brannten, jedoch nicht vor Kälte …
 

Ein Jahr verging, indem der Mond zwölf Zyklen absolvierte … eigentlich ein langer Zeitraum – allerdings nicht, wenn man diesen in einem fremden Land verbrachte, um neues zu lernen und zu sich selbst zu finden. So kam der Tag von Amaterasu Aiko´s Abschied von den Fernen Zittergipfeln, Svanja und Joras … Etwas, das ihr sehr schwer fiel. Genauso wie den beiden Norn.

Vor der Hütte hatte sie sich alle versammelt – Amaterasu Aiko berührte den Jadestein auf ihrer Stirn, das Symbol ihrer hohen Geburt und sagte: „Ich danke euch von Herzen – ich habe es endlich verstanden. Es geht nicht darum, mich zu beweisen, weil ich als Mädchen geboren wurde … ich muss mich um meiner selbst beweisen. Vielen, vielen Dank!“

„Du bist in unserer Heimstatt jederzeit willkommen, meine Schwester.“, entgegnete Svanja und statt einer typischen Verabschiedung umarmte sie die Waldläuferin, die daraufhin eine Träne verdrückte, „Und du passt gut auf sie auf, ja, Susanoo?“

Ein zustimmendes Heulen kam von ihn. Inzwischen ahnte Amaterasu Aiko, dass ihre Urgroßmutter eben auf einen solchen Ausgang gehofft hatte. Svanja sah die Welt auf eigene Weise – einerseits so wie alle Norn und andererseits wie es eben nur »Svanja Eystinsdottir« konnte … einzig von ihr hatte sie diese Lektion lernen können – egal ob Kaiser oder Kaiserin … es ging nur um den Menschen. Hinzu kam ihre beinahe schicksalhafte Begegnung mit Susanoo – Tier oder nicht, nie mehr würde sie sich einsam fühlen müssen. Ein Gefühl, vor dem sie sich bislang immer am meisten gefürchtet hatte … Apropos Gefühle – Joras sah betreten zu Boden. Wie nach seiner Rückkehr ließ Svanja die beiden allein, nachdem sie Amaterasu Aiko noch einmal angelächelt und den Wolf gekrault hatte.

„Ich werde unsere Wettstreite vermissen.“, meinte sie scherzend.

Er gluckste und bestätigte: „Du konntest es mit einem Norn aufnehmen – da schaffst du alles!“

Da beugte er sich plötzlich zu ihr herunter und küsste sie … und sie erwiderte seinen Kuss.

„Das musste ich tun … einmal wenigstens.“, hauchte er nahe ihren Lippen, ehe er diese erneut mit seinen berührte.

Kurz wünschte sich Amaterasu Aiko alles könnte anders sein – sie würde nicht Kaiserin werden, er wäre nicht als Norn geboren worden … aber dann hätte sie wohl nicht so für ihn empfunden. Und dennoch gab es für sie keine Zukunft, das wussten beide … Sie verharrte noch einen Moment länger in seinen Armen, dann trat die Rothaarige von ihm zurück. Selbst dass sie ihn jetzt verlassen musste, würde eines nicht mehr ändern, sich nie mehr ändern – Joras hatte sie einen Mensch als gleichwertig anerkannt! Ohne ein bewusstes Kommando rannte Susanoo an die Seite seiner Herrin und sie legte eine Hand auf seinen Rücken.

„Danke … Leb´ wohl!“, flüsterte Amaterasu Aiko gerührt, während sie den silbernen Stab aus der Tasche zog, der sie zu ihm gebracht hatte, „Stadt Kaineng.“

Ein Sog erfasste beide, ihnen wurde schwarz vor Augen. Nur Sekunden später drang bereits der lebhafte Trubel an ihre Ohren und sie standen am Springbrunnen inmitten des Handelsviertels der Hauptstadt. Es war merkwürdig in diese vollkommen andere Welt zurückzukehren – früher war ihr Kaineng sicher nicht zu eng vorgekommen. Klar, die Stadt war stets recht besiedelt und die Gebäudekomplexe ragten teilweise übereinander, aber das war der Charme der Hauptstadt. Nun dagegen sehnte sich Amaterasu Aiko sofort wieder nach der weiten, schneebedeckten Landschaft … unwillkürlich musste sie lächeln. Joras würde garantiert die Augenbrauen hochziehen und die Stirn kräuseln, würde sie ihm davon erzählen können. Dabei konnte sie ihm nicht einmal wirklich einen Brief schicken … Eine Welle von Melancholie überrollte die Waldläuferin. Da schubste sie Susanoo mit der Schnauze an und sie kraulte seine Ohren.

„Ja, das hier ist mein wahres Zuhause. Ich bin die Tochter des Kaisers … seine Nachfolgerin. Und ich bin glücklich, dass du mir zur Seite stehst!“, meinte sie ernst.

Seine rubinroten Augen funkelten, als ahnte er, was an anderer Stelle der Stadt vor sich ging … denn Koteiro Ryukichi saß mit seinen Ministern zusammen, die wild auf ihn einredeten. Sein Vater hatte bereits begonnen, Ordnung in die korrupten Ministerien zu bringen – er selbst hatte die vier Ministerien vollständig aufgelöst und neue Positionen geschaffen.

Einer der Berater erhob sich, was die anderen verstummen ließ, und sagte ernst: „Bislang war Prinzessin Aiko der einzig mögliche Thronfolger … daher hätten wir uns irgendwie damit abgefunden. Doch nun habt Ihr, Eure Majestät, einen männlichen Nachkommen!“

Während Amaterasu Aiko nämlich ein Jahr unter Norn gelebt hatte, war ihre Mutter überraschenderweise erneut in freudiger Erwartung gewesen … und diesmal hatte sie einem kleinen Prinzen das Leben geschenkt. Ein männlicher Nachkomme, dessen Existenz nun Amaterasu Aiko´s kompletten Anspruch auf die Erbfolge in Frage stellte …

Der Ritualist allerdings wurde darüber äußerst ungehalten: „Meine Tochter wird Kaiserin werden … Mein Vater, Kaiser Koichi empfand, mich als würdig, ihm nachzufolgen. Und ich sehe Aiko als nächste Herrscherin.“

„Das entspricht einfach nicht den Traditionen!“, begehrte ein anderer auf, „Sie ist eine Frau und-“

Endgültig vom Zorn gepackt, schlug Koteiro Ryukichi die flachen Hände auf den Tisch und blaffte regelrecht: „Ich möchte die Herren Minister höflichst daran erinnern, dass alle Bewohner Cantha´s es explizit einer Frau zu verdanken haben, überhaupt noch am Leben zu sein – unter Shiro Tagachi wäre unser Reich vernichtet worden! Für gewöhnlich bin ich dankbar für Ihrer aller Rat … doch dies ist ein Kaisertum und hier herrscht einzig meine Befehlsgewalt! Ich habe bei meiner Krönung geschworen, stets zum Wohl von Cantha zu handeln – und damit werde ich heute sicherlich nicht aufhören!“
 

Im Palast erwarteten Amaterasu Aiko demnach zwei schockierende Nachrichten – wobei die vollkommene Freude über ihren kleinen Bruder Tsukuyomi Toya alles andere in den Schatten stellte. Vom ersten Augenblick an liebte sie ihn von ganzem Herzen.

„Du wirst stolz auf deine große Schwester sein, das verspreche ich dir … Ich werde nicht klein beigeben.“, flüsterte sie, während er in ihren Armen schlief, „Aber dafür muss ich erneut fort … Es gibt nur ein einziges Wesen, das mir meine Frage beantworten kann.“

Ihr Vater war lautlos eingetreten und sagte verständnisvoll: „Ich bin glücklich … zu was für einer selbstbewussten, jungen Frau du herangewachsen bist. Sorge dich nicht – wenn ich meine Krone übergebe, dann nur an dich, kleine Kirschblüte.“

Dankbar umarmte sie Koteiro Ryukichi, wobei sie ihm vorsichtig Tsukuyomi Toya übergab.

„Ich lasse Susanoo bei euch. Er wird Toya beschützen.“, erklärte Amaterasu Aiko und hauchten beiden jeweils einen Kuss auf die Wange.

Einst hatten sich ihre Großeltern auf den Weg an jenen Ort gemacht … sich dafür einmal komplett durch den ganzen Echowald geschlagen, bis zur südlichsten Spitze des Jademeeres … Die Waldläuferin dagegen brauchte natürlich nur wenige Sekunden, in denen sie das tragbare Portal an den Fuß des Erntetempels in den Verschlafenen Gewässern brachte. Dies war einst ein hochheiliger Ort gewesen … Jedes Jahr hatte der amtierende Kaiser mit seinem Gefolge zu den Geistern der Nebeln gebetet, um für eine erfolgreiche Ernte zu bitten. Vor knapp dreihundert Jahren fand diese Tradition ein Ende … am Tag des »Jadewindes«, der das Antlitz Cantha´s für immer verändert hatte. Ihr Atem ging schneller, während sie die Stufen erklomm.

Im Herzstück des Tempels angekommen, kniete Amaterasu Aiko nieder und sprach ehrfürchtig: „Oh, weise Drachin … ich ersuche Euch um Rat. Wie kann ich all jene von mir überzeugen, die gegen mich als Kaiserin sind?“

Kuunavang sah prüfend auf sie herab, bevor sie entgegnete: „Ich wusste, Ihr würdet eines Tages mit dieser Frage zu mir kommen … Um einen Weg in die Zukunft zu finden, muss man sich erst mit der Vergangenheit auseinander setzen – Euren Urgroßeltern gelang es, Shiro Tagachi aufzuhalten und Eure Großeltern vernichteten ihn endgültig. Doch noch immer bleibt die Frage offen, warum all dies geschehen musste … Niemand außer Shiro Tagachi selbst weiß, weshalb der kaiserliche Leibwächter – des Kaisers getreuester Diener – sich gegen seinen Herrn wandte … Wollte er die bislang ununterbrochene kaiserliche Thronfolge durchtrennen und sich selbst zum Kaiser krönen? Wollte er sich dafür rächen, nicht in die Hauptfamilie geboren worden zu sein? Wollte er womöglich eine Art der Macht an sich reißen, die Historiker nicht mehr nachvollziehen können? Oder hatte es gar einen völlig anderen Grund? Hört mir zu, Amaterasu Aiko, Tochter des Koteiro Ryukichi, Nachfahrin der lebenden Legende Shikon No Yosei … in Euch fließt dasselbe Blut, wie in seinen Adern – deshalb kann ich Euch in jene Zeit zurückzuschicken, damit Ihr die Geschehnisse mit eigenen Augen erblicken könnt. Und vielleicht findet Ihr so auch die Antwort, nach der Ihr sucht … Doch seid gewarnt – Shiro Tagachi selbst darf Euch unter keinen Umständen sehen!“

Cantha hatte sich diesem Versprechen nie ganz erholt … das Reich verdiente zumindest die Wahrheit – daher erhob sie sich entschlossen und antwortete: „Ich werde alles dafür tun, um mein Versprechen an Toya zu halten!“

„Nun denn … Shiro Tagachi wuchs ursprünglich in ärmlich in den Gassen Kaineng´s auf, weil seine Blutlinie jedoch bis zu einer der Konkubinen des ersten Kaisers Kaineng Tah zurückreichten, gestatte man ihm eine Ausbildung im Kloster von Shing Jea. Nachdem er seine Assassinen-Befähigung in Händen hielt, schloss er sich der kaiserlichen Garde an und machte sich unter ihnen einen Namen, woraufhin er zum Leibwächter des sechsundzwanzigsten Herrschers von Cantha, Kaiser Angsiyan befördert wurde. Bis zu jenem schicksalhaften Tag galt er als loyal dem Kaiserreich gegenüber … Wandelt nun auf seinen Spuren und lasst Euch nicht vom Zorn blenden.“, erklärte Kuunavang und schlug mit ihren Flügeln, woraufhin sich ein magischer Kreis um Amaterasu Aiko bildete.

Sie fiel, gar minutenlang. Schließlich prallte sie auf dem kalten Boden auf. Ihre Finger streiften über den Untergrund, der ihr seltsam vertraut vorkam – sie war in einer kleinen Gasse der Hauptstadt gelandet! Sofort schossen ihr die Worte von Kuunavang in den Kopf – sie sprang auf die Füße, drückte sich gegen die Hauswand und verbarg ihr Gesicht hinter einer Maske. Nur wenige Wimpernschläge später passierte eine hochgewachsene Gestalt die Stelle, an der sich die Waldläuferin verbarg – als Assassine wäre es ihr wahrscheinlich noch besser gelungen, doch zum Glück gehörte Tarnung auch zur Ausbildung ihrer Klasse. Und der junge Shiro Tagachi, dessen Gesicht noch nicht von Narben überzogen war, schien von irgendetwas abgelenkt zu sein … Er sah sich mehrfach um, beobachtete die Bewohner bei ihrer Arbeit. Es lag eine gewisse Melancholie in seinem Blick ... Er griff in seine Tasche, holte einige Goldmünzen heraus und warf sie den Kindern zu, die sich regelrecht darauf stürzten – alle, bis auf ein Mädchen.

„Wie lautet dein Name, Kleine?“, wollte der Assassine von ihr wissen.

Ihre Augen wirkten kalt für ein Kind, genauso wie ihre Stimme: „Vizu.“

Verblüfft horchte Amaterasu Aiko auf. Laut der Legende war sie es gewesen, die es dem Kurzick Viktor und dem Luxon Archemorus ermöglicht hatte, den Verräter zur Strecke zu bringen …

„Ich bin Shiro Tagachi. Sage mir, Vizu … möchtest du mit mir kommen und von mir das kämpfen lernen?“, gab er unverwandt zurück.

Vizu wunderte sich über dieses Angebot nicht weniger, als die versteckte Prinzessin.

„Mir hat einmal eine Wahrsagerin prophezeit, ich würde irgendwann einem Kind begegnen, das mein Schicksal bestimmen würde …“, erklärte er freundlicher und reichte ihr eine Hand, „Und dass ich dieses Kind erkennen würde, sobald es mir begegnen würde. Ich bin wohl endlich fündig geworden.“

Wenn irgendetwas so überhaupt nicht in das Profil von »Shiro Tagachi, dem Verräter« passte, war es genau diese Situation – er nahm ein Kind von der Straße bei sich auf … nur wegen der haltlosen Prophezeiung einer Wahrsagerin? Natürlich hatte er danach nach etwas gesucht … vielleicht war es ihr Blick gewesen. So oder so konnte die Rothaarige kaum fassen, was sie mitangesehen hatte – noch völlig unwissend, wie wahr jene Worte jedoch werden würden …
 

Kaum dass Vizu sich von ihm hatte aufhelfen lassen, änderte sich die Szenerie um sie herum. Zwar waren sie noch immer Kaineng, doch etwas hatte sich verändert – beziehungsweise jemand oder besser gesagt beide. Vizu musste nun ungefähr im selben Alter sein, wie Amaterasu Aiko und vollführte gerade einen perfekten Schattenschritt, durch den sie einen ganzen Trupp Am Fah in Sekunden mit ihren Dolchen tötete. Richtig, sie war ja ebenfalls unter die Assassinen gegangen …

„Du könntest mich wirklich noch übertreffen … Durch deine Wendigkeit teilst du nicht meine Schwäche. Ich bin sehr stolz auf dich, meine Schülerin – nun gibt es nichts mehr, das ich dir noch beibringen könnte.“, lobte Shiro Tagachi sie, der nun exakt den Beschreibungen ihrer Familie entsprach.

Vizu grinste breit, doch widersprach sie ihm: „Meine Fähigkeiten verdanke ich allein Euch, Meister! Vom Kaiser einmal abgesehen, seid Ihr der einzige Mann, den ich respektiere und … verehre.“

Währenddessen trat sie näher an ihn heran und fuhr mit den Händen über seine Arme, bis hoch zu seinem Nacken.

Shiro Tagachi wandte den Blick von ihr ab und meinte gequält: „Mein Gesicht … Stößt es dich nicht ab?“

„Fragt Ihr mich das wirklich? Ihr seid der begnadeteste Assassine ganz Cantha´s und Leibwächter seiner Majestät – jede Eurer Narben ist eine Auszeichnung, ein Beweis Eures Mutes.“, antwortete Vizu vollkommen überzeugt und überwand den letzten Abstand zwischen ihnen.

Erst zögerte Shiro Tagachi noch, dann erwiderte er den Druck ihrer Lippen und drückte sie fest an sich. Eigentlich wäre es nun angebracht gewesen, wegzusehen – aber Amaterasu Aiko hatte nur diese eine Chance, um das Geheimnis zu lüften, da durfte sie nicht zufällig etwas verpassen. Und tatsächlich entdeckte sie plötzlich jemanden, der die beiden ebenso verborgen beobachtete …

„Davon darf niemand erfahren …“, flüsterte der Assassine, ohne die Umarmung zu lösen, „Geh´ jetzt und erstatte Bericht. Ich komme später nach in den Palast.“

Sie nickte, sah ihm jedoch weiterhin fest in die Augen. Auch Shiro Tagachi machte trotz seiner Worte keine Anstalten, sie gehen zu lassen … stattdessen küssten sie einander noch einmal, diesmal leidenschaftlicher. Nun musste die Waldläuferin doch für einen Moment die Augen schließen und gestattete sich, kurz an Joras zu denken. Hastig schüttelte sie den Kopf, konzentrierte sich wieder auf das Geschehen – Vizu war bereits verschwunden. Da trat die Frau aus ihrem Versteck, die die Szene ebenfalls verfolgt hatte.

„Sieht so aus, als hättet Ihr das Kind Eures Schicksals gefunden …“, sprach sie mit mysteriöser Stimme, „Mehr noch … Ihr habt Euch sogar in dieses Mädchen verliebt.“

Der Schwarzhaarige ballte die Hände zu Fäusten – offensichtlich ärgerte er sich über seine Unaufmerksamkeit – und knurrte: „Was wollt Ihr von mir?“

„Ich will gar nichts von Euch – doch das Schicksal hat seine Pläne mit Euch, Shiro Tagachi … Ihr seid zu großem bestimmt! In Euren Adern fließt kaiserliches Blut …“, sinnierte sie.

Für ihn und Amaterasu Aiko war dies keine neue Information – doch irgendwie erschien diese Wahrsagerin ihr unheimlich.

Ihre Augen funkelten wild, als sie weitersprach: „Ihr seid ein treuer Diener, nicht wahr? Aber der Kaiser weiß Eure Dienste nicht zu schätzen. Im Gegenteil – Ihr seid ihm lästig … Er ist eifersüchtig, wie beliebt Ihr beim Volk seid. Er plant Euren Tod! Hört meine Worte … noch ehe das Jahr verstrichen ist, wird der Kaiser auf Eurem Grab tanzen!“

„Schweigt, einfältiges Weib!“, schrie Shiro Tagachi sie an und zog seine Schwerter, die er wie Dolche führte.

„Hört meine Worte … noch ehe das Jahr verstrichen ist …“, murmelte sie, während sie sich rückwärts von ihm entfernte.

Am liebsten wäre Amaterasu Aiko der Fremden gefolgt, als der Ort erneut wechselte.
 

Ein Schaudern überlief Amaterasu Aiko … Sie wusste, was ihr nun bevorstand – eine prächtige Schar kaiserlicher Soldaten, Kurzick und Luxon mit präsentierten Schwertern hatte sich vor dem Tor des Erntetempels versammelt; an der Spitze der Prozession wandelte der Kaiser, gefolgt von Shiro Tagachi. Hinter ihm kamen die Ritualistinnen, welche die Zeremonie begleiteten, sowie etliche Bannerträger, die am Eingang verharrten. Während ihrer Ausbildung hatte sie einmal eingesperrte Feldhasen befreien sollen, ehe diese von den Kappas des Sunqua-Tals verschlungen wurden … Ähnlich kam ihr nun der Assassine vor – einerseits wie ein im Käfig gefangenes Tier, andererseits wie eine zutiefst ausgehungerte Bestie … Was er zuletzt noch als dummes Gerede abgetan hatte, trieb ihn nun allmählich in den Wahnsinn. Ein Aspekt, der sein Verbrecher zwar bei weitem nicht schmälerte … allerdings trug die merkwürdige Wahrsagerin mindestens genauso viel Schuld daran. Der Kaiser, die Ritualistinnen und Shiro Tagachi knieten sich im Innern des Tempels vor den Altar. Es kostete die Rothaarige jedes Quäntchen ihrer Selbstbeherrschung, um nicht aufzubegehren – Kuunavang hatte sie gewarnt … und all dies war bereits vor langer Zeit geschehen, nichts würde daran etwas ändern können, auch nicht ihr Eingreifen. Kaiser Angsiyan versank im Gebet an die Geister der Nebel … und Shiro Tagachi zog seine Klingen. In einer einzigen Sekunde tötete er damit seinen Herren, dessen Seele er entgegen er seinen klassengegebenen Fähigkeiten absorbierte.

„Ich verfluche Euch! Für alles, was Ihr den Bewohnern von Kaineng angetan habt!“, schrie Shiro Tagachi plötzlich wieder vollkommen klar, „Ihr habt Euch von ihnen abgewendet und sie ausgebeutet, wegen Euch steht die Stadt kurz vor dem Zerfall … Doch Euer Blut fließt auch durch meine Adern – deshalb werde ich der neue Kaiser!“

Seine Worte riefen den Wahn zurück auf den Plan – in einem Wirbel aus Hieben tötete er die Ritualistinnen. Nur eine von ihnen konnte fliehen, wenn auch nur kurzzeitig … Sie läutete die gewaltige Glocke als Alarmzeichen, da stand Shiro Tagachi bereits hinter ihr und rammte ihr die Schneiden in das Rückgrat; ihr lebloser Körper stürzte in die Tiefe … Doch ihre letzte Tat war nicht vergebens gewesen – Viktor und Archemorus stürmten mit ihren Kriegern das Heiligtum; man mochte sich gar nicht vorstellen, dass ihre Fraktionen einander zwei Jahrhunderte lang gegenseitig abgeschlachtet hatten, nur weil sie die Ehre für ihre Seite hatten beanspruchen wollen, anstatt wie ihre Ahnen Seite an Seite zu kämpfen. Schockiert darüber, was sich hier ereignet hatte, forderten sie den Schwarzhaarigen heraus. Keiner ihrer Leute war Shiro Tagachi gewachsen, alle fielen sie unter ihm … bis nur noch eben jene Anführer der beiden Fraktionen übrig waren. Gerade da er sich ihnen zuwenden wollte, blitzten zwei Dolche auf, die ihn entwaffneten und eine schlanke Frau mit violettem Haar landete nach ihrem präzisen Salto hinter ihm. Die Krankheit seines Geistes schien vergessen … pure Qual beherrschte ihn bei ihrem Anblick. Amaterasu Aiko stiegen Tränen in die Augen. Es war Vizu – seine Schülerin … seine Geliebte … die einzige Person, die seinen Schwachpunkt kannte, hatte das Land über ihr Herz gestellt … Aber in ihrem Gesicht spiegelte sich derselbe Schmerz.

„Ich werde unser Geheimnis mit ins Grab nehmen …“, hauchte Vizu kaum hörbar und eine Hand wanderte zu ihrem Bauch, der eine minimale Wölbung zeigte.

Es stimmte … ihre Nachfahrinnen leiteten noch heute eine der berühmtesten Assassinen-Gilden von Cantha – da erschien es nur naheliegend, dass Vizu ein Kind gehabt hatte … ein Kind von Shiro Tagachi! Viktor und Archemorus, die sie nicht gehört hatten, ergriffen seine Schwerter. Er selbst konnte den Blick einfach nicht von ihr abwenden … Die Angriffe des Kurzick und des Luxon trafen ihn. Wut entbrannt entfesselte er die Energie – das, was das Land eigentlich hätte erneuern sollen, verdarb nun das Reich …
 

Mit Shiro Tagachi´s Tod endete die Verbindung zu seinem Blut … damit auch Amaterasu Aiko´s Ausflug in die Vergangenheit. Heiße Tränen rannen über ihre Wangen. Ja, es war nicht alles richtig gewesen … aber im Grund hatte er nur das Beste für die Bürger gewollt – deshalb auch die Goldmünzen. Nur vor geistigem Wahnsinn konnte sich niemand wappnen … Und der »Jadewind« kam nicht allein von Machtgier, wie überliefert worden war oder weil er sich als Assassine an der Seele des Kaisers vergangenen hatte … hinzu kam Vizu´s Verrat – selbst wenn sie ehrenvoll hatte handeln wollen und ihr Land schützen wollte.

Kuunavang schwebte über ihr und sagte: „Es war Sunn, der damals die Erschütterung im Gefüge der Welten spürte … Shiro Tagachi´s Seele konnte, durfte nicht in die Nebel eingehen – als Strafe für sein Vergehen überstellte das Orakel der Nebel ihn dem Gesandtenrat, damit er Cantha auf ewig diene …“

„Ja. Bis er seiner Aufgabe eines Tages nicht mehr nachkam und in die Welt der Sterblichen zurückkehren wollte … um Kaiser zu werden. Er wollte seine Aufgabe beenden … nur statt sich auf seine eigentliche Motivation zu berufen, überließ er sich endgültig dem Wahnsinn … Ich bin mit dieser Geschichte aufgewachsen – immer und immer wieder wollte ich von dem Kampf gegen ihn hören.“, fuhr die Waldläuferin fort und wischte sich über das Gesicht, „Habt Dank, oh große Drachin. Die Wahrheit ändert nicht, was geschehen ist … Dafür weiß ich nun, was zu tun ist - ich gelobe die Fehler meiner Vorfahren wiedergutzumachen!“

Das mythische Geschöpf wirkte zufrieden. Nachdem sie sich zum Abschied verneigt hatte, ergriff Amaterasu Aiko erneut das kleine Portal – ihr Ziel war allerdings noch nicht der Raisu-Palast. In den Weiten der Unterstadt verbarg sich der sagenumwobene Tahnnakai-Tempel, die Gedenkstätte von Cantha´s größten Helden … Hier versammelten jene ruhmreichen Geister, die noch etwas in dieser Welt festhielt. Shikon No Yosei hatte ihr von diesem Ort erzählt, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war … Damals hatte sie sich wieder einmal gewünscht eine Geschichte von ihrer Urgroßmutter zu hören – ihr lauschte Amaterasu am liebsten, wenn sie von den unzähligen Abenteuern berichtete.
 

„Es gibt etwas, das du noch nicht über mich weißt, kleine Kirschblüte – einst lebte in meinem Körper noch der Geist einer anderen Elementarmagierin. Ihr Name war Teinai … Zu jener Zeit, da Shiro Tagachi die Nebel verlassen und wieder sterblich werden wollte, überfiel er den Tahnnakai-Tempel, die Ruhestätte vieler canthanischer Helden. Mein Vater, Bruder Mhenlo, Ohtah und ich hatten uns auf den Weg dorthin gemacht, um mit der Assassine Vizu zu sprechen – der Überlieferung nach war sie maßgeblich an Shiro´s Scheitern beteiligt gewesen. Als wir am unterirdischen Tempel ankamen, war Shiro bereits dort … und hatte von den meisten Geistern Besitz ergriffen. Mit ihnen wollte er seine Armee verstärken. Unter den in sogenannte Shiro´ken Verwandelte befand sie auch Teinai.“, schilderte die Älteste von Shing Jea und schwelgte in der Erinnerung, „Möchtest du hören, wodurch sie berühmt wurde?“

Die Augen von Amaterasu Aiko wurden groß und sie rief: „Oh ja! Bitte, erzähl´ weiter! Und wie sie in deinem Körper kam und was jetzt mit ihr ist und was aus eurer Mission wurde!“

Shikon No Yosei lächelte und fuhr fort: „Also gut … Teinai war ebenfalls Schülerin im Kloster von Shing Jea. Vor bald zweihundert Jahren suchte ein Dämon namens Mang die Insel heim … Jahrelang terrorisierte er das Land, trotz aller Anstrengungen der führenden Krieger und Magier Cantha´s. Eines Wintertages ging Teinai, damals eben noch eine junge Schülerin, zu ihrem Großmeister und legte ihm einen Plan vor. Bereits am nächsten Tag wurde Mang von Teinai selbst zum Ufer eines großen Sees gelockt, dessen Oberfläche fest gefroren war. Sie lief auf das Eis hinaus und Mang folgte ihr. Als sich der Dämon genau in der Mitte des Sees befand, hob Teinai ihre Hände gen Himmel – Feuer regnete auf ihn herab und brachte das Eis unter ihm zum Schmelzen. Er brach in den eiskalten See ein; sogleich ließ Teinai das Wasser wieder gefrieren und Mang war gefangen. Blitze und Felsblöcke beendeten daraufhin die Aufgabe, die einzig Teinai hatte bewältigen können. Nach einem langen und erfolgreichen Leben als Elementarmagierin wurde Teinai im Tahnnakai-Tempel beigesetzt … Doch die Angst um ihre geliebte Heimat fesselte ihren Geist an das Diesseits. So bin ich ihr begegnet … Es war mir eine Qual zu sehen, wie jemand, der mir derart ähnlich war, von dem Verräter Shiro Tagachi verdorben worden war. Damals wäre ich fast vor lauter Verzweiflung zusammengebrochen – dein Urgroßvater hat mich daran erinnert, warum ich überhaupt an jenen Ort gekommen war … um meine Heimat zu schützen, weil ich die >Verteidigerin von Shing Jea< war. Meine Magie konnte Teinai schließlich erlösen ... und sie vereinte sich mit meinem Körper. Zunächst bemerkte ich ihre Gegenwart gar nicht … Stattdessen befreiten wir die übrigen Geister und Vizu von seinem Einfluss. Eine lange Zeit half mir Teinai die schlummernden Kräfte in meinem Innern zu kontrollieren, bis … eine andere, eine dunkle Macht sie aus meinem Körper vertrieb. Aber wenigstens konnte sie endlich in die Nebel eingehen – Teinai war sich sicher, dass wir Cantha und besonders Shing Jea mit allen Mitteln beschützen würden.“

„Und das habt ihr!“, entgegnete die Prinzessin, die beinahe vor Stolz platze, „Du hast sogar deine magischen Kräfte geopfert! Und Oma Ryukii fast ihre Liebe zu Opa Koichi!“

Die lebende Legende nickte zustimmend: „Eines habe ich auf meinen Reisen gelernt, Aiko … Nichts geschieht ohne Grund – manchmal erkennen wir ihn nur nicht sofort.“
 

Da hatte Amaterasu Aiko also zum ersten Mal von Vizu gehört … Und in der letzten Kammer des Tahnnakai-Tempels kniete sie vor dem steinernen Abbild eben jener Assassine nieder … Dem Ruf folgend erschien vor ihr Vizu. Die künftige Kaiserin holte tief Luft und berichtete ihr von ihrem Einblick in Shiro Tagachi´s Erinnerungen.

Ein Schatten legte sich über das Antlitz von Vizu, als sie meinte: „Dann wisst Ihr um die ganze Tragweite meiner Sünde …“

„Ihr kennt meine Urgroßeltern … Während ihrer Mission in Elona wurde Shiko von einer dunklen Macht ergriffen und verwandelt – Ohtah wusste, es gäbe nur eine Möglichkeit … und wenn sie zu Tode kommen sollte, so nur durch seine eigene Hand. Letztendlich konnte sie befreit werden, unter anderem Dank Teinai, die ebenfalls früher hier ruhte. Ich mache Euch keinen Vorwurf, Vizu … es mag Sünde und Verrat an Eurer Liebe gewesen sein … trotzdem bedauere ich nur, dass Ihr überhaupt so etwas durchmachen musstet.“, entgegnete sie mitfühlend.

Vizu nickte und Trauer hallte in ihrer Stimme: „Es hat mir das Herz zerrissen … Und vielleicht habe ich durch mein Eingreifen noch mehr Leid verursacht.“

„Deshalb konntet Ihr nicht in die Nebel eingehen …“, schlussfolgerte die Rothaarige, „Diese Möglichkeit lässt sich nicht von der Hand weisen, doch es gibt etwas, von dem Ihr keine Ahnung habt …“

Die Assassine horchte auf – mit Schrecken lauschte sie ihrem Bericht über die eigentümliche Wahrsagerin und schließlich sagte Amaterasu Aiko: „Nicht vor Liebe gequält, verfiel er dem Wahnsinn … sondern aus Zweifel und Furcht. Shiro hat mit sich gerungen – aber diese Aussicht und das Elend der Bevölkerung, gegen das der Kaiser nichts unternommen hatte … sind verantwortlich für seine Tat.“

Eine Welle der Erleichterung überflutete Vizu – jahrhundertelang hatte sie sich Vorwürfe gemacht, sich selbst die Schuld am »Jadewind« gegeben. Ein Leuchten erfüllte ihre Gestalt und plötzlich löste sich die Assassine auf.

Ein Lächeln erschien auf Amaterasu Aiko´s Lippen, weil sie sofort wusste, was mit ihr geschah: „Ihr habt es verdient in die Nebel zu gehen …“

Leider würde sie sogar an diesem Ort ihrem Geliebten niemals mehr begegnen können … Einmal war es ihr vergönnt gewesen, ihn wiederzusehen – als er den Tahnnakai-Tempel angegriffen und von ihr hatte Besitz ergreifen wollen … Damals waren sie sich für einen kurzen Moment wieder nah gewesen. Ein Moment für die Ewigkeit …
 

Amaterasu Aiko fühlte sich erleichtert – diesmal hatte sie das Portal nicht benutzt, sondern war zu Fuß ins Zentrum von Kaineng zurückgekehrt. Unterwegs hatte sie mit den Bürgern gesprochen und eine harte Erkenntnis traf sie … die meisten von ihnen verbrachten ihr ganzes Leben in der Hauptstadt, ohne dem Kaiser jemals begegnet zu sein geschweige denn, dass ihre Probleme ihm berichtet wurden. Daher wuchs in ihr die Idee einer festen Audienzzeit einmal im Monat, damit die Bewohner von Kaineng und Shing Jea ihr ihre Anliegen vortragen konnten. Der ursprüngliche Wunsch von Shiro Tagachi war es einfach nur gewesen, die Lebensumstände der kleinen Leute zu verbessern – und genau dies wollte sich Amaterasu Aiko zur Aufgabe machen; dem Volk mehr Stimme zu geben, war dabei ein wichtiger Punkt. Zu lange war ihr Herrscher von ihnen abgeschottet gewesen … Dennoch waren viele voll des Lobes für ihren Vater und ihren Großvater – ihr Kampf gegen die korrupten Minister war sogar bis zum Volk durchgedrungen. Es bestätigte sie in ihrem Vorhaben, ihren Beraterstab auch für Bürgerliche zu öffnen. Von all diesen Eindrücken und Planen erzählte Amaterasu Aiko nach ihrer Rückkehr ihrem Vater. Koteiro Ryukichi hörte ihr aufmerksam zu und als sie geendet hatte, klatschte er einmal in die Hände, worauf sofort sein Obersthofmeister erschien.

„Eure Majestät, was kann ich für Euch tun?“, fragte der Diener höflich.

Unter dem verwirrten Blick seiner Tochter verkündete der Ritualist: „Trefft alle notwendigen Vorbereitungen für die Krönung meiner Nachfolgerin.“

Lächelnd verbeugte sich der Mann und eilte davon. Die Prinzessin war sprachlos, kein Wort kam ihr über die Lippen.

„Du bist bereit, Aiko! Du sprühst vor Begeisterung für dieses Amt und wirst uns in die Zukunft führen.“, meinte er unsagbar stolz.

Sie nickte nur. Zum ersten Mal fühlte sie sich so … vollkommen willig ihren Platz als Kaiserin von Cantha einzunehmen – das hatte sie jenen zu verdanken, die sie zu diesem Punkt geführt hatten …
 

Die Dienerschaft leistete unglaubliche Arbeit – binnen eines Mondes konnte die Feierlichkeit stattfinden. Es blieben lediglich ein paar Punkte auf der Gästeliste zu klären … Nur wen sollte Amaterasu Aiko um Rat bitten, wen konnte sie um Rat bitten? Im Grunde sollte sie Svanja zu diesem besonderen Tag einladen … und Joras. Auf der einen Seite wünschte sie sich natürlich, ihn wiederzusehen … auf der anderen Seite wäre es nur für eine solch kurze Zeit … und das Ergebnis blieb dasselbe – ein Norn und ein Mensch konnten nicht zusammen sein. Sie hatten sich voneinander verabschiedet … Jede weitere Begegnung würde beide nur unnötig verletzen. Als Kaiserin musste sie harte Entscheidungen treffen ... dies war ihre Feuerprobe …

Zu den schließlich geladenen Gästen gehörten – neben ihrer Familie – das Orakel der Nebel Suun, die Oberhäupter der Kurzick und Luxon, der Leiter und die Großmeister des Klosters von Shing Jea, Königin Salma von Kryta sowie der Speermarschall der Sonnenspeere. Und selbstredend Kuunavang … der Inbegriff des Reichs des Drachens. In ihr Krönungsgewand gehüllt, betrachtete sich Amaterasu Aiko im Spiegel. Seit ihrer Kindheit war sie darauf vorbereitet worden …

„Du bist wunderschön, kleine Kirschblüte …“, sagte Chiyo Yumecho und legte eine Hand um ihre Schulter, „Es tut mir leid – ich hätte von Anfang an darin vertrauen müssen, dass du deinen eigenen Weg gehst.“

Glücklich lehnte sie sich gegen ihre Mutter. Es gäbe nichts, was sie ihr verzeihen müsste … sie verdankte ihr so vieles.

„Es ist Zeit … Deine Zeit ist gekommen.“, erinnerte sie ihre Tochter.

Amaterasu Aiko folgte ihr in den Thronsaal, in dem sich alle versammelt hatten. Die Wachen standen mit gezogen Schwertern Spalier – genau wie damals am Erntetempel. Anders als sonst saß ihr Vater nicht auf dem leuchtend roten Thron mit dem goldenen Drachenkopf – er stand daneben und hielt ihr die Hand mit der Indigene der Macht entgegen. Chiyo Yumecho trat an seine Seite, um den Weg für sie freizugeben … Sie kam seiner Aufforderung nach – nahm den Platz ein, den er bislang inne hatte.

„Amaterasu Aiko … schwört Ihr am heutigen Tag Cantha mit all Eurer Kraft und Weisheit zu beschützen?“, stellte Koteiro Ryukichi die alles entscheidende Frage.

Nach einem tiefen Atemzug antwortete sie: „So wahr ich die Tochter zahlreicher, unglaublicher Helden bin … schwöre ich stets nur zu Cantha´s Wohl zu handeln!“

Unter tosendem Applaus zog der Ritualist den Siegelring vom Finger und steckte ihn seiner Tochter an. Kuunavang ließ ein ohrenbetäubendes Brüllen erklingen und Suun schloss die Augen zum Gebet an die Geister der Nebel. Entgegen jedes Protokolls erhoben sich Shikon No Yosei, Seiketsu No Akari, Ohtah Ryutaiyo, Ryukii No Mai, Toki No Kibo und Yoso No Koshi von ihren Stühlen und eilten – mehr oder weniger aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters – zu Amaterasu Aiko, um die neue Kaiserin zu umarmen.

„Und, Eure Majestät, habt Ihr schon Pläne, wer in Zukunft an Eurer Seite sein soll?“, flüsterte ihr Koteiro Ryukichi lachend zu.

Ihr Blick wanderte zum Rand des Podestes, dort stand eine goldene Wiege, vor der ein schwarzer Wolf ruhte.

„Da muss sich erst einmal jemand finden, der es mit Susanoo aufnehmen will.“, scherzte Amaterasu Aiko erst, dann wurde sie ernst, „Außerdem … kann mir Toya auf den Thron folgen.“
 

Männer allein haben kein Monopol auf Stärke … und Stärke bedeutet nicht reine Körperkraft - Mut, Freundlichkeit, Vergebung, Opferbereitschaft und Weitsicht zeugen weit mehr davon. Der Mut, sich auf eine Reise zu begeben … die Freundlichkeit anderer zu gewinnen und ihnen zu Teil werden zu lassen … trotz aller Vorurteile und hässlicher Gefühle Vergebung zu üben … selbst ihre Gefühle hinter der Pflicht anzustellen, sich auf ihre Aufgabe zu konzentrieren … und dabei stets ihr Volk im Blick behalten zu wollen … all das hat Amaterasu Aiko unter Beweis gestellt – eine wahre Herrscherin, die Wort hält.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Und nach GW1 kommt natürlich GW2! Komplett anzeigen

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