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Einsteins Goldfisch oder: Vom Kamel, das durch ein Nadelöhr ging

von

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Ich-Du-Wir oder: Wie ist es so, wenn einem jemand aus der Hand frisst?


 

"Julius ist nicht hier", wurde Max am oberen Treppenabsatz von einem gutgelaunten Simon begrüßt. "Du hast ihn knapp verpasst."

"Ach, Mist." Max gab sich Mühe, nicht allzu gekünstelt zu klingen – und vor allem nicht so, dass sofort klar war, dass er wusste, dass Julius weg war. Er tat, als denke er kurz nach, was er nun weiter tun sollte. Auf die Lippe beißen kam immer gut. Das wirkte so herrlich betreten.

"Kann ich auf ihn warten", kurze Kunstpause, "oder dauert es zu lange, bis er wieder zurück ist? Hast du noch was vor?" Er sah Simon direkt in die Augen. Da widersprach kaum jemand.

"Nö, komm rein."

Treffer!

Max ließ sich nicht lange bitten und folgte Simon in die Wohnung.
 

Simon, der zum Wohnzimmer marschierte, warf Max einen kurzen Blick über die Schulter zu. "Wenn es dich nicht stört, dass ich alle zehn Sekunden fluche, soll's mir recht sein, wenn du mir Gesellschaft leistest."

"Was gibt es denn zu fluchen?"

Simon seufzte theatralisch. "Das da", sagte er und deutete auf einen Haufen Bretter, der mitten im Wohnzimmer auf dem Boden lag. "Julius meinte, er komme erst wieder zurück, wenn das da aussieht, wie ein Schreibtisch..."

"Dann wird er wohl länger wegbleiben", kommentierte Max trocken das Chaos aus Brettern, Schrauben und nicht identifizierbaren anderen Dingen.

"Ja, sieht so aus", grummelte Simon und schob den Haufen auseinander, um darunter einen zerknitterten Zettel hervorzuholen. Er richtete sich auf und hielt Max den Zettel hin, auf dem in schlechtem Deutsch und mit ausreichenden, aber verschwommenen Bildern eine Bauanleitung für einen Schreihbtishc beschrieben stand. "Kannst du Heimwerker-Latein?"
 

Heimwerker-Latein kannte Max zwar nicht, aber nachdem sie das Ausschlussverfahren angewandt hatten, kamen sie schließlich zu einem Ergebnis, das tatsächlich wie ein Schreibtisch aussah.

"Über den Schreibtisch wird sich Julius aber freuen", sagte Max nicht ohne Stolz, das Biest bezwungen zu haben.

Simon nickte zustimmend. "Es sind sogar noch ein paar Schrauben übrig, damit könnten wir glatt noch einen bauen."

"Schmeiß' die besser weg", murmelte Max beschwörend. "Julius lässt uns sonst das Teil auseinander- und dann wieder neu zusammenbauen und zwar so lange, bis alle Schrauben dort sind, wo sie hingehören..."

"Ich glaube, du hast recht, Julius kann ganz schön pingelig sein." Simon versteckte die übrigen Schrauben in dem zerknüllten Plastikhaufen und raffte alles sorgfältig zusammen, so dass keine einzige der Schrauben eine Chance hatte, zu entkommen und Gefahr lief, entdeckt zu werden. "Bin gleich wieder zurück. Wenn ich das hier liegen lasse, lässt er mich wieder die ganze kommende Woche das Bad putzen..."

"Soll ich helfen?", bot Max höflich an.

"Ich werde mir schon keinen Bruch an dem Zeug hier heben." Simon verschwand mit dem Plastikmüll zur Wohnungstür hinaus. "Du kannst dir ruhig was zu trinken nehmen. Von mir aus auch was zu essen."

"Danke", rief Max, obwohl er wusste, dass er das nicht tun würde. Er hatte noch etwas zu tun, bevor Simon wieder zurück war. Oder schlimmer: bis Julius wieder da war, dem würde es nämlich garantiert nicht gefallen, wenn er sehen konnte, dass Max sich in seinem Zimmer umsah. Einfach so. Ohne richtigen Grund.

Mit bis zum Hals klopfendem Herzen stand Max vor Julius' Zimmertür. Sie war nur angelehnt, was fast schon eine Einladung war. Wenn er zufällig daran stieße und die Tür zufällig ein Stück weit aufginge, war das doch kein Grund, sauer zu werden, oder? Er würde die Tür nur schließen müssen und dabei zufällig einen oder zwei Schritte ins Zimmer machen müssen. Wie sollte er sonst an die Türklinke kommen?

Die Tür schwang leise quietschend auf und Max hielt automatisch die Luft an. Hoffentlich war das nicht bis auf den Flur zu hören gewesen. Er schluckte den riesigen Kloß in seinem Hals hinunter und warf einen ersten neugierigen Blick in Julius' Zimmer.
 

"Was hat dich eigentlich schon so früh hierher verschlagen?" Simon schloss die Tür schwungvoll.

Zu früh war gut... Viel zu früh, dachte Max enttäuscht. Simon war viel zu früh zurückgekommen. Er hatte es gerade einmal geschafft, einen einzigen Blick in Julius' Zimmer zu werfen. Und dann hatte er bereits Simons Schritte im Treppenhaus gehört und hatte gerade noch so viel Zeit gehabt, die Tür wieder zu schließen und in die Küche zu gehen.

"Ich wollte Freunde für Einstein zu besorgen."

"Einstein?" Simon nahm sich einen Apfel aus der Obstschale und bot Max auch einen an. "Braucht der noch Freunde?"

Max biss in den roten Apfel, den er von Simon bekommen hatte und nickte, während er kaute. "Einstein ist mein Goldfisch. Er ist im Moment alleine."

"Und ich dachte schon..." Simon tippte sich bedeutsam an die Stirn und grinste.

"Habt ihr Haustiere?" Max biss noch ein Stück vom Apfel ab.

Simon, der damit beschäftigt war, seinen eigenen Apfel auf Hochglanz zu polieren, ehe er ihn zu essen gedachte, überlegte kurz. "Wenn man Julius glauben kann, dann haben wir hier ein Ferkel, ein Wildschwein und einen Ochsen, aber da ich weder das eine noch das andere davon gesehen habe, gehe ich davon aus, dass Julius mich damit gemeint hat."

Beinahe hätte er sich an dem Apfelstück verschluckt, so sehr hatte ihn Simons Satz in Kombination mit seinem Gesichtsausdruck zum Lachen gebracht.

"Wo dreht Julius denn seine Runden? An Land?"

"Nein, heute mal zu Wasser." Simon entschloss sich, den polierten Apfel doch lieber zu schälen. Er zog ein kleines Messer aus dem Messerblock und schälte eine lange Apfelschalen-Girlande von der rotwangigen Frucht ab.

"Und wann ist er damit fertig?" Max sah auf die Uhr. Er war schon seit zweieinhalb Stunden hier. Leider war Simon viel zu nett, sonst wäre er schon längst wieder gegangen. Er wünschte sich, dass Julius noch etwas länger bliebe, oder dass er zumindest nicht sauer war, Max hier anzutreffen. Egal wie, am liebsten würde er noch viel länger bleiben, hier bei Julius, der zwar gerade physisch nicht anwesend war, aber athmosphärisch. Selbst ihre Unterhaltungen drehten sich irgendwann um Julius, ohne dass er das eigentliche Anfangsthema gewesen wäre. Und dennoch lief es immer auf ihn hinaus.

"Kann nicht mehr lange dauern", beantwortete Simon Max' vorangegangene Frage. Die Apfelschalen-Girlande war zu einem kleinen Häufchen angewachsen, das vor Simon auf der Tischplatte thronte. Er viertelte den Apfel und schnitt sorgfältig die Kerngehäuse heraus. "Geht es dir wieder besser?"

"Wieso?" Max war verwirrt.

"Julius meinte was von einer Ananas-Vergiftung."

Julius... Was hatte er Simon noch erzählt? Max merkte, wie ihm das Blut zu Kopfe stieg. "Hatte nichts mit der Ananas zu tun..."

"Dann ist ja gut, ich lag die ganze Nacht wach, weil ich dachte, ich hätte mir auch 'ne Vergiftung eingefangen." Simon biss ein Stück seines Apfels ab und kaute, als ihm etwas siedendheiß einfiel. "Scheiße, ich bin mit kochen an der Reihe."

"Ich glaube, ich gehe dann mal lieber. Auf einen hungrigen Julius kann ich verzichten", lachte Max.

"Bitte nicht", flehte Simon. "Ich brauche dich als Alibi, sonst denkt er, ich hätte einen Handwerker engagiert, um den Tisch aufzubauen, und hätte mir dann einen schönen Tag gemacht."

"Hast du das nicht auch?" Ein breites Grinsen erschien auf Max' Gesicht.

"Selbst wenn nicht, würde es Julius schaffen, es so hinzubiegen, dass es genau so aussieht..." Schnell aß Simon den Rest seines Apfels und klaubte dann die Schalen vom Tisch.

"Was kann dir schon passieren?"

Simon, der gerade im Begriff gewesen war, die Apfelschalen in den geöffneten Mülleimer fallen zu lassen, stockte und warf Max einen Blick zu, als hätte der den Verstand verloren. "Du hast ja keine Ahnung. Du hast ja keine Ahnung, du armes Schaf..."

Max, dem eine Erwiderung auf der Zunge lag, hielt inne, als ein Schlüssel im Türschloss herumgedreht wurde. Die Tür schloss sich leise und dann erklang ein dumpfes Geräusch, als fiele etwas Schweres zu Boden. Julius' Tasche.

"Und los geht’s." Simon verschränkte die Hände hinter seinem Kopf und sah gebannt zur Küchentür.
 

Ehe Max nachhaken konnte, was denn nun losgehen sollte, stand Julius auch schon in der Küche. Das Hallo, zu dem er gerade angesetzt hatte, blieb ihm im Halse stecken, als er Max sah, der den Blick auf seine in seinem Schoß gefalteten Hände senkte.

"Was soll das?"

"Ja, schon gut, ich hab's vergessen", entschuldigte sich Simon lautstark und mit flehend erhobenen Armen. "Kannst du mir dieses eine Mal noch verzeihen?"

"Was?" Julius sah entgeistert zu Simon hinüber, der tat, als raufe er sich die Haare. "Dich meinte ich nicht, du Spinner."

Verblüfft ließ Simon seine Hände sinken. "Oh, Okay – Glück gehabt, was?" Er sah grinsend zu Max hinüber, der geknickt dasaß und weiterhin Julius' Blicken auswich.

"Was machst du hier?"

Julius' Stimme klang eigentlich nicht ganz so wütend, wie er befürchtet hatte. Er wirkte eher, als stünde er einem Waldbrand gegenüber, den er mit einem einzigen Glas Wasser löschen sollte.

"Freunde für Einstein kaufen", antwortete Simon anstelle des beharrlich schweigenden Max.

"Wer ist Einstein?"

Simon verdrehte die Augen. "Ein Goldfisch", belehrte er Julius. Dass Julius aber auch so begriffsstutzig sein musste.

"Welcher Goldfisch?" Julius wandte seine Blicke, die er beharrlich auf Max' geheftet hatte, von diesem ab und hin zu Simon. "Jetzt erzähl mir nicht, du hast dir schon wieder irgend so ein Vieh gekauft? Wir wissen ja noch nicht einmal, was aus dem Hamster wurde..."

"Einstein gehört mir", meldete sich Max das erste Mal seit Julius' Erscheinen zu Wort.

Auf Julius' Stirn bildete sich eine nachdenkliche Falte. "Du hast einen Goldfisch? Das wusste ich ja gar nicht."

"Woher auch? Du warst ja noch nie in meinem Zimmer", konterte Max und freute sich, wie einfach das plötzlich wieder ging. Allmählich schwand der erste Schreck über Julius' Reaktion darauf, Max in seiner Küche vorgefunden zu haben.

"Das war bisher auch noch nicht nötig", murmelte Julius zerknirscht.

"Liegt die Betonung auf bisher und noch?" Langsam fand Max wieder zu seiner alten Form zurück. Er schaffte es sogar, den sichtlich schockierten Julius anzusehen und ihn herausfordernd anzugrinsen.

"Bitte, Max, du kannst Julius doch nicht so erschrecken", tadelte Simon Max. "Gib ihm noch ein halbes Jahr, dann schafft er es sicher bis vor deine Zimmertür."

"Simon!" Julius Wangen überzog ein leichter Rotschimmer. "Und wo sind Einsteins Freunde nun?"

"In der Tierhandlung", erwiderte Simon ungefragt, weil Max wieder nachdenklich schwieg.

"Ja, und dort werde ich sie jetzt wohl besser abholen." Max stand auf. Er nahm seine Jacke, die er über die Stuhllehne gehängt hatte, und hob verabschiedend eine Hand. "Bis dann", murmelte er und verließ die Küche.

Julius sah ihm aus zusammengekniffenen Augen nach. Wenig später hörten sie die sich öffnende und gleich darauf wieder schließende Wohnungstür.
 

"Bist du bescheuert?", fuhr Julius Simon an, als er sicher war, dass Max bereits zur Tür hinaus war.

Simon ließ sich davon nicht beeindrucken. "Warum? Weil ich deine Freunde besser kenne, als du selbst?"

"Er ist kein Freund von mir!" Julius hielt kurz inne.

Simon sah ihn gespannt an. Dass er die Sache nicht ernst nahm und fand, dass Julius übertreibe, war ihm förmlich an den Augen abzulesen, die Julius von unten herauf im Blick hatten.

"Max ist aus der Wohngruppe, in der ich arbeite."

Simons belustigter Gesichtsausdruck machte bei dieser unerwarteten Offenbarung einem bestürzten Platz, als er zu verstehen begann. "Heilige-"

"Danke für dein Verständnis", unterbrach Julius Simon und verließ die Küche.
 

Mit einem scheinbar mitleidigen Seufzen glitt die Haupttür hinter Max ins Schloss, der mit einem ähnlichen Seufzen an der Fassade des Hauses hinauf sah.

Experiment Lerne Julius besser kennen fehlgeschlagen, dachte er geknickt. Ebenso das eigentliche Vorhaben, herauszubekommen, ob das mit der WG stimmte. Er wusste immer noch nicht, wie Julius' normaler Alltag aussah. Julius ohne Abendbrotszene mit Max und ohne Pizza-Szene mit Simon. Einfach nur Julius. Alleine. Was tat er, wenn er Freizeit hatte? Nicht das Herumrennen oder Schwimmen. Was tat er als erstes, wenn er heimkam, egal wie nebensächlich es auch war? Schlief er auf dem Bauch oder lieber auf der Seite? Schlief er überhaupt alleine?

Auf keine einzige dieser Fragen hatte Max eine Antwort bekommen.

Er hatte sich viel zu sehr von Simon ablenken lassen, statt dem ersten Impuls zu folgen und sofort nach seinem halb gescheiterten Versuch, sich in Julius' Zimmer umzusehen, zu gehen, bevor Julius wieder zurückkam.

Einen Moment lang dachte Max daran, sich auf die Stufen des Cafés zu setzen, entschied sich dann aber dagegen und machte sich stattdessen auf den Weg in die Altstadt.

Auch wenn das mit den Fischen keine Ausrede war, hätte Julius, sollte er die Fische nicht besorgen, nach seiner Rückkehr Grund zur Annahme, dass Max ein leichtes Problem mit ihm hatte, auch wenn er wohl nicht wirklich eine Ahnung davon haben konnte, wie groß das Problem mittlerweile tatsächlich für Max geworden war – und damit hätte er sein Ziel um ungefähr die gleiche Wegstrecke, die der Abstand zwischen Erde und Jupiter betrug, verfehlt.

Möglich, dass er sich mit dieser kopflosen Aktion ohnehin schon von ganz alleine aus dem Julius-Sonnensystem befördert hatte, wie ein aus seiner Bahn geratener Asteroid. Julius' Reaktion hatte nämlich so gewirkt; er hatte ihn regelrecht rausgeworfen. In diesem Fall, war es sowieso zu spät und Max konnte sich weitere Bemühungen sparen, herauszufinden, was Julius eigentlich dachte; über ihn hauptsächlich. Vermutlich würde er das gar nicht mehr wissen wollen...

Eine hektisch läutende Klingel über der Ladentür begleitete Max, als er die Tierhandlung betrat.
 

"Kannst du meine Sachen mitwaschen?"

"Schmeiß sie zu meinen Klamotten." Simon platzierte die Ordner, die ihr bisheriges Dasein auf dem Fußboden des Wohnzimmers gefristet hatten, auf dem neuen Schreibtisch. Er wartete, ob etwas wackelte, doch der Tisch schien trotz einiger fehlender Schrauben fest zu stehen.

"Danke."

"Bügeln kannst du deinen Kram aber selbst", rief Simon Julius zu, der in seinem Zimmer dabei war, seine leere Tasche mit frischer Kleidung zu befüllen. Wagemutig stellte Simon noch drei der gut gefüllten Ordner zu den anderen drei. "Warum wäschst du dein Zeug eigentlich nicht selbst? Keine Zeit?"

"Genau das." Mit einem Ruck zog Julius den Reißverschluss seiner gepackten Reisetasche zu. "Kann ich das Auto haben?"

"Kommt drauf an." Simon betrachtete sich den Schreibtisch aus zwei Schritten Abstand.

"Auf was kommt's an?"

"Brauchst du es als Fluchtauto?"

"Was? Warum sollte ich? Du kommst auf Ideen..." Julius, der seine Tasche im Flur abgestellt hatte, stand nun neben Simon und beäugte sich ebenfalls den Schreibtisch. "Ist der schief?"

"Blödsinn!" Simon machte eine Abwehrende Handbewegung. "Das liegt am Licht – zu viele harte Schatten oder so..." Er sah zu Julius hin, ob der ihm seine Begründung abkaufte.

"Du hast auch einen Schatten, Simon." Eine skeptische Falte bildete sich zwischen Julius' Augenbrauen. Er öffnete den Mund, um Simon darüber aufzuklären, dass der Schreibtisch sehr wohl schief war und zwar genau an der Stelle, an der die ganzen Ordner standen, doch ehe er auch nur ein weiteres Wort hervorbrachte, hatte ihn Simon, der Julius' skeptischen Blicken gefolgt war, bereits unterbrochen.

"Du kannst das Auto haben, so lange du willst." Flink schob Simon eine Hälfte der Ordner zur anderen Seite hinüber, um das Gleichgewicht auf dem Möbelstück wieder herzustellen. Dann kramte er in seiner Hosentasche und zog die Autoschlüssel daraus hervor. "Du musst aber noch tanken."

"Ja, war klar." Julius fing die Schlüssel auf, die ihm Simon zuwarf. "Man könnte meinen, du wartest mit dem Tanken immer so lange, bis ich das Auto mal brauche. Was ist, wenn ich es wirklich mal als Fluchtauto bräuchte? Tut mir leid, Julius, aber vor dem Bankraub müsstest du noch schnell tanken..."

Simon schnaubte empört. "Da irrst du dich aber, mein Lieber."

Julius wollte dem noch etwas hinzufügen, ließ es allerdings sein. Er ließ Simon mit seinem Schreibtisch alleine und sammelte auf dem Weg zu Wohnungstür seine Tasche ein. "Ruf mich an, wenn du das Auto früher brauchst."

"So verrückt müsste ich sein", murmelte Simon vor sich hin. Prüfend wackelte er an einer Ecke des Schreibtischs. Alles stabil. Was Julius nur immer hatte...
 

"Das sind Goldfische?"

Max sah auf, direkt in ein Gesicht, das auf den ersten Blick nur aus verschwommenen Konturen bestand, und erschrak, als er die Person erkannte, die ihm gegenüber auf der anderen Seite des Aquariums stand: Julius.

"Die sehen gar nicht aus wie Goldfische." Sachte tippte Julius mit einer Fingerspitze gegen das Glas des Aquariums, in dem sich etwa ein Dutzend Fische tummelten, die vor der Bewegung an der Scheibe zurückwichen. "Sollten die nicht goldener sein, statt Weiß und Schwarz?"

"Es gibt verschiedene Varianten", meinte Max vorsichtig. Er musterte Julius misstrauisch, der tat, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt, hier mit Max Fische auszusuchen – nach allem, was heute schon vorgefallen war. "Warum bist du hier?"

Julius zuckte leicht mit den Schultern. "Ich wollte nicht dabei sein, wenn Simons schiefer Tisch in sich zusammenfällt. Das ist alles."

"Da war meine Ausrede aber besser."

"Ach, es war also doch eine Ausrede, dass du zufällig bei uns in der Nähe warst? Zum zweiten Mal..." Julius lenkte seine Aufmerksamkeit von den Fischen hin zu Max. "Du hast es echt geschafft, mir das mieseste Gewissen seit Menschengedenken einzureden, obwohl ich mir hundertprozentig keiner Schuld bewusst bin."

Mit einem verlegenen Ich sag mal schnell Bescheid wandte sich Max von Julius ab und machte sich eilig auf die Suche nach dem Verkäufer. Seine Wangen brannten und als er einen Blick über seine Schulter warf, sah er, dass Julius ihn nicht aus den Augen ließ, bis er aus seinem Sichtfeld verschwunden war.

Die ganze Zeit über, während der Verkäufer die ausgesuchten Fische eingefangen und transportfähig hergerichtet hatte, bis hin zu der Minute, als sie endlich in Simons Auto saßen, war Max Julius ausgewichen. Nicht, dass er sich nicht gefreut hätte, Julius so unverhofft gegenüber zu stehen, doch so plötzlich hatte er auch wieder nicht damit gerechnet und auf einmal saßen sie mit nur noch vierzig Zentimetern Abstand zwischen ihren Schultern da.
 

Beim Einsteigen fiel Max' erster Blick auf die Rückbank, auf der Julius' gepackte Reisetasche lag, die ungefähr die gleiche Größe wie eine gewöhnliche Sporttasche hatte.

Julius gab Max keine Chance, irgendetwas zu fragen. "Bevor du denkst, ich wandere aus: nein, tue ich nicht."

"Das sehe ich selbst", antwortete Max unverblümt. "Heißt das, du fährst heute schon mit nach Hause – mit zur Gruppe, meine ich..."

"Ja", bestätigte Julius knapp.

"Wo ist dein Koffer? Und der Rucksack?"

"Ich dachte, ich reise in Zukunft mit leichterem Gepäck, damit es nicht immer so dramatisch wirkt, wenn ich mich für meine freien Tage von euch verabschiede."

Eine Weile hing Max seinen eigenen Gedanken hinterher. Was war das jetzt für eine Masche? Julius' Benehmen wirkte wie sein eigenes. Irgendwie planlos. Oder gehörte es etwa zum Plan, es genau so aussehen zu lassen?

"Du bist ziemlich oft in der Stadt, kann das sein?"

Aus den Augenwinkeln warf Max einen Blick zu Julius hinüber. Er nickte, als Julius ihn ansah. "Ich habe dort einen Job, weil ich Geld für den Führerschein brauche."

Prompt hellte sich Julius' Gesicht auf. "Und wie weit bist du?"

"Ich habe gerade erst damit angefangen." Mit jeder Kurve, jedem Abbremsen und jeder Beschleunigung des Autos schwappte das Wasser in dem Transportbeutel sachte darin hin und her. Die Fische konnten es sicher kaum abwarten, endlich zu Hause zu sein – genau wie Max. Jetzt, wo Julius dabei war, war ja auch alles in Ordnung. Also hatte es sich letztendlich doch ausgezahlt, etwas zu riskieren.

Guter Anfang, dachte Max zufrieden und klopfte sich innerlich selbst gratulierend auf die Schulter.
 

Julius, der vollauf mit dem Samstagabend-Verkehr beschäftigt war, entging das triumphierende Lächeln auf dem Gesicht seines Beifahrers. "Durftest du schon fahren?"

"So ähnlich – fahren konnte man das nicht gerade nennen..."

"Ist das nicht bei jedem so?"

"Weiß nicht." Max bemühte sich, seiner Stimme einen möglichst nebensächlichen Unterton zu verleihen. "Wie war es denn bei dir? Vor – vor wie vielen Jahren war das gleich nochmal?"

Julius lachte. "Willst du wissen, wie alt ich bin? Wenn ja, war das ein ziemlich lahmer Versuch."

Natürlich wollte er endlich wissen, wie alt Julius war! Vom Aussehen her ließ er sich so schwer einschätzen. Er konnte nur wenig älter als Max sein – was sich allerdings durch sein abgeschlossenes Studium, so fern er kein hochbegabtes Genie war, schon selbst disqualifizierte –, genauso gut konnte er aber auch in Ninas Alter sein, das vor zwei Jahren in die, wie Nina es mit düsterer Stimme genannt hatte, empfindliche Zone übergegangen war. Also irgendetwas zwischen 18 und 800.

"Wie lange ist deine Führerscheinprüfung denn nun her?"

Julius lächelte nichtssagend. "Wenn ich sage, es war vor sieben Jahren, woher willst du wissen, wie alt ich damals war?"

Das stimmte, aber Max war trotzdem nicht bereit, so schnell klein beizugeben. "Du musst ja ganz schön alt sein, wenn du so ein Geheimnis daraus machst."

"Und das war Lahmer Versuch Nummer Zwei."

"Ich könnte Nina fragen."

"Nummer Drei."

Max setzte sein unschuldigstes Gesicht auf. "Ich sage ihr einfach, dass wir dich zum Geburtstag überraschen wollen und wissen müssten, wie viele Kerzen auf den Kuchen gehören."

"Der war gut." Julius konnte sich das erneute Grinsen nicht länger verkneifen. "Trotzdem nur Nummer Vier. Nina wird eher denken, dass das irgendein Streich werden soll. Gibst du auf?"

"Auf keinen Fall. Es gibt ja noch die Nina ist nicht da-Möglichkeit, um herauszufinden, was in deiner Personalakte steht."

Mit dem letzten Satz erreichte Max genau das, was er sich erhofft hatte. Julius schwieg perplex und ging, wenn man nach dem angestrengten Gesichtsausdruck schließen konnte, in Gedanken durch, ob und wie Max das wohl anstellen könnte. Beim Grillen im Garten hatte er diese Methode das erste Mal erwähnt, aber da ging es nur um ein Feuerzeug in einer abgesperrten Schreibtischschublade. Wie sah das bei Personalakten aus?

"Na, gibst du auf?"

Julius stieß die Luft durch die Nase aus. "Da musst du dir schon mehr Mühe geben."

"Werde ich, keine Sorge."

Dessen war sich Julius auch sicher, aber bisher schien seine Taktik, sich nicht mehr von Max – sichtbar! – aus der Ruhe bringen zu lassen, voll auf.
 

Es hielt bis zu Max' Zimmertür. Immerhin.

"Was ist los? Möchtest du unbedingt Simons These bestätigen?" Max genoss Julius' Unentschlossenheit, ob es wirklich gut war, ihm in das Zimmer zu folgen. "Denkst du, ich falle über dich her, sobald du drin bis?"

"Gott, nein", stieß Julius atemlos aus.

"Na also, dann komm rein." Max wartete, bis Julius an ihm vorüber gegangen war, ehe er ihm folgte. Die Zimmertür ließ er gnädigerweise offen. "Selbst wenn ich vorhätte, über dich herzufallen, wärst du der Erste, der das merkt, immerhin analysierst du ja jeden meiner Schritte und jedes Wort, das ich sage."

"Das tue ich nicht!", stritt Julius empört ab. Tat er doch, gestand er sich still ein.

"Kannst du das mal festhalten?" Ohne auf die Antwort zu warten, drückte Max Julius den Transportbeutel mit den Fischen in die Hand. Er ging zu einem Regal, das natürlich an der am weitesten von der Tür entfernten Wand stand, und öffnete den Deckel des dort stehenden Aquariums.
 

Ohne allzu deutliches Interesse durchblicken zu lassen, sah sich Julius in dem unbekannten Zimmer um. Es war das wohl am sorgfältigsten aufgeräumte Jugendzimmer, das er je gesehen hatte. Jetzt wusste er auch, warum Max nicht zu den Kandidaten gehörte, deren Zimmer zweimal am Tag kontrolliert werden mussten und warum er nichts von dem Goldfisch geahnt hatte.

"Julius?", rief Max ihm zu. "Könntest du bitte den Beutel vorsichtig öffnen und mir einen der Fische zuwerfen, damit ich ihn ins Wasser setzen kann."

"Zuwerfen?" Julius sah zwischen dem Beutel voller Fische in seinen Händen und Max hin und her. "Ob das gut für die Fische ist?"

"Das war ein Witz." Max schüttelte den Kopf und seufzte. "Aber wenn du nicht endlich herkommst, wirst du sie mir wirklich zuwerfen müssen."

Das flaue Gefühl in Julius' Bauch verstärkte sich, als er sich endlich in Bewegung setzte und zu Max ging, der eine Plastikschüssel aus dem Schrank nahm und sie auf den freien Platz neben das Aquarium stellte.

"Setz sie vorsichtig hier rein." Max zeigte auf die Schüssel.

Julius öffnete den Beutel und goss den Inhalt vorsichtig in die Plastikschüssel. "Und jetzt?"

"Jetzt müssen wir warten, alle paar Minuten Aquariumwasser dazuschütten und wieder warten."

Interessiert sah Julius zu, wie Max einen Messbecher mit Wasser aus dem Aquarium füllte und einen Teil davon zu den Fischen in die Schüssel goss. Ein orangefarbener Fleck im Aquarium neben ihm ließ Julius aufschauen.

"Ist das Einstein?" Er deutete auf den Fisch, der aus einer Höhle guckte, die wie ein moosbewachsener Totenschädel aussah.

"Ja, das ist er. Hier." Max gab Julius einen Futterstick in die Hand. "Wenn du ihm das ins Wasser hältst, kommt er zu dir."

"Okay." Julius lachte ungläubig. Dressierte Fische?

"Probier's aus."

Julius tauchte Daumen und Zeigefinger, die den Stick hielten, ins Wasser und wartete ab.

Nach etwa fünf Sekunden kam Einstein aus seiner Höhle geschossen und hielt geradewegs auf Julius' Finger zu.

"Der kommt ja wirklich", murmelte Julius verblüfft, während Einstein um das Futter schwamm und nach der besten Stelle suchte, um seine Mahlzeit zu beginnen.

Amüsiert sah Max Julius zu, dem es offensichtlich Spaß machte, Einstein mit dem Futter zu necken.

"Und wie ist es so, wenn einem jemand aus der Hand frisst?", witzelte Kurzschluss-Max.

Einstein zuckte erschrocken zur Seite, als ihm der Futterstick auf den Kopf fiel. Seine Reaktionen kehrten allerdings schneller zurück, als bei Julius, der vorsichtig die nun leere Hand aus dem Wasser zog, sie langsam an seiner Hose abtrocknete und dabei Max keine Sekunde aus den Augen ließ.

Währenddessen hatte sich Einstein blitzschnell um seine eigene Achse gedreht und sich den Futterstick geschnappt.

Wie war das gleich nochmal mit Ruhe bewahren gewesen? Julius konnte sich plötzlich nicht mehr daran erinnern. Sein Hals war wie ausgetrocknet und er versuchte, sich möglichst vorsichtig zu räuspern.

Max lachte leise vor sich hin und goss weiter Wasser in die Schüssel.
 

"Möchtest du sie einsetzen?" Max hielt Julius einen Kescher hin.

"Mach du das mal schön selbst", wehrte Julius das Angebot ab.

Kurz darauf schwammen alle Fische im Aquarium.

"Bekommen die auch Namen?", wollte Julius wissen.

Max zuckte mit den Schultern. Er zeigte auf einen Fisch mit orangefarbenen, weißen und schwarzen Flecken, der in ihrer Nähe herumschwamm. "Der heißt Julius."

Julius schnappte unwillkürlich nach Luft. "Das finde ich nicht so... lustig."

"Schon gut", besänftigte ihn Max. Er nahm die Futterdose und ließ ein paar Flocken davon auf die Wasseroberfläche rieseln. "Dann heißt er eben Max."

Julius fand das noch immer nicht sonderlich beruhigend, dennoch ließ er die neuere Namenswahl unkommentiert.

Ein zweiter Fisch näherte sich dem frischgetauften Max-Fisch. Als der sich umdrehte, um sich den Neuankömmling zu betrachten, flüchtete sich der Namenlose zwischen die Wasserpflanzen, von wo aus er scheinbar ängstlich jeden der anderen Fische im Auge behielt.

"Das ist Julius", sagte Max trocken.

Eine Weile betrachtete sich Julius stumm seinen Namensvetter, der nur sehr langsam auftaute und sich zu den anderen Fischen gesellte, und dann hatte auch Julius den ersten Schock über die Wahl des Namens verwunden.
 

"Max?"

Mit zusammengepressten Lippen ignorierte Max Julius. Er kannte diesen Tonfall. Neutral. Verständnisvoll. Köpfchentätschelnd. Er wollte nicht das Köpfchen getätschelt bekommen, verdammt! Er wollte ernstgenommen werden und nicht so als leide er an einer schweren Form mangelnder Intelligenz.

Noch einmal startete Julius einen zögerlichen Versuch, dieses Mal mit festerer Stimme. "Max, wir sollten-"

"Wenn das eine Lüge wird, dann will ich sie nicht hören", unterbrach Max ungewohnt schroff Julius' begonnenen Satz.

Diese elf Worte saßen und Julius musste sich erst kurz sammeln. "Wie kommst du darauf, dass ich dich belügen wollte?"

"Ich meinte auch nicht mich." Max schraubte den Deckel der Futterdose zu und stellte sie zu dem restlichen Aquariumzubehör. Er sah Julius abwartend an, der betreten schwieg.

Wortlos nahm Max die Plastikschüssel, die den Fischen als Übergangsheim gedient hatte, und verließ damit das Zimmer.
 

Julius, der alleine vor dem Aquarium zurückblieb, betrachtete sich die Fische, die sich alle langsam miteinander anzufreunden begannen – zumindest sah es so aus, aber woher sollte er schon wissen, was Fische dachten und welche sozialen Gefüge sie bildeten?

Es war ja nicht wie bei Max, von dem er zwar wusste, was er dachte, aber dennoch keine Möglichkeit sah, das Thema endlich anzupacken, ohne dass es in einer Katastrophe endete. Einfach weil es sich dabei nicht um begrenzten Raum, wie den eines Aquariums handelte, sondern um eine Galaxie hinter der sich weitere, unzählige Galaxien anhäuften, die sich aber erst dann offenbarten, wenn man eine durchquert hatte. Vorher blieben sie nur schemenhafte Gebilde, die in weiter Ferne lagen und alles mögliche sein konnten.

Und was tat man, wenn der Blickwinkel nicht mehr stimmte? Man trat ein paar Schritte zurück, um das Ganze zu erfassen, bis man eine optimale Distanz dazu hatte.

Der erste, der damit begann, war überraschenderweise Max.



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