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Einsteins Goldfisch oder: Vom Kamel, das durch ein Nadelöhr ging

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Vielen Dank fürs bisherige Lesen und natürlich auch für die Favoriten! :D Komplett anzeigen

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Das Dreikörperproblem oder: Vielleicht habe ich ja eine Ananas-Vergiftung


 

"Kann ich heute früher gehen?" Max musste schreien, um die lärmende Spülstraße hinter sich zu übertönen, auf deren Band das saubere und noch dampfend heiße Geschirr zur Abnahmestelle fuhr.

Der Mann in der Kochkleidung, der gerade einen Stapel schmutziger Servierplatten brachte, zuckte mit den Schultern. "Ist dein Lohn, nicht meiner."

"Nächstes Mal bleibe ich länger", versprach Max. Er streifte sich die Schürze über den Kopf und verließ die Spülküche.

"Bist du nicht gerade erst gekommen?"

"Ist was Dringendes", erklärte Max dem jungen Mann, den er beim Verlassen der Spülküche beinahe über den Haufen gerannt hätte.

"Deinen Job hätte ich gerne", seufzte der Kellner und sah Max nach.

"Willst du ihn?", rief Max über seine Schulter dem jungen Mann zu, ohne dabei seine Schritte zu verlangsamen.

"Bist du irre, dann kann ich ja gleich mein Bett hier in der Küche aufschlagen." Das entsetzte Gesicht des Kellners blieb Max erspart. Er war bereits auf dem Weg zur Umkleide.
 

Warum sollte Julius zurückkommen? Weil Max ihn geküsst hatte? Weil sie so tolle Kumpel waren, statt Kein Kind aber trotzdem noch nicht so erwachsen, dass er Kreuze auf Wahlzettel malen durfte und dessen Aufsichtsperson, deren neutrale Konstellation zueinander er einfach mal so nebenbei mit diesem Kuss neu gewürfelt hatte? Warum sollte Julius ihn jetzt noch ernst nehmen, wenn er das selbst nicht einmal mehr noch konnte?

Max' Bauch rumorte. Er hatte seit dem Abendessen am Freitag kaum etwas heruntergebracht. Und jetzt war Samstagabend und nach der verkürzten dreieinhalb Stunden Schicht in der Hotelküche war er kurz vorm Verhungern. Zumindest war sein Magen dieser Meinung.

Reine Zeitverschwendung! Er hatte was Besseres zu tun.

Seine Augen brannten wegen des kalten Windes, der ihm um die Ohren pfiff, und von dem ständigen Starren auf das hell erleuchtete Viereck im dritten Obergeschoss, das er nun schon seit Mittag nicht aus dem Blick ließ.

Die brennende Lampe an der Decke war das einzige, was er von der Wohnung hinter dem Viereck erkennen konnte. Manchmal tauchte ein Schemen hinter dem Fenster auf und jedes Mal erschrak Max und trat einen Schritt zurück, so dass ihn der Windfang eines geschlossenen Cafés, in dessen Eingang er Schutz gesucht hatte, verdeckte.

Warum nur musste ausgerechnet heute der erste richtig kalte Tag sein?

Na, um zu deiner düsteren Stimmung, deinen kreiselnden Gedanken und den ganzen nagenden Ängsten zu passen, beantwortete sich Max die Frage selbst und schob die kalten Hände in seine Jackentaschen.

Das Licht brannte noch immer unverändert.

Gott, wenn er es wirklich tut? Wenn er nicht mehr zurückkommt – was dann?

Wenn -

Wenn er nicht -

Wenn er nicht mehr zurück kommt.

Nicht -

Nicht zu dir.

Moment -

Zu dir?

Träum' weiter...

Sein eigenes selbstbemitleidendes Mantra verfolgte Max den ganzen Weg nach Hause. Es folgte ihm auf Schritt und Tritt. Als er den Bus zurück zum Wohnheim betrat, war es ganz nah bei ihm und atmete ihm seinen kalten Hauch ins Ohr, der seinen ganzen Körper in eine Eisskulptur verwandeln wollte. Den Weg zum Bauernhof hinauf schmiss es ihm zu seiner Selbstbelustigung ein paar Stolpersteine in den Weg. Und dann, als er sich mit noch immer leerem Magen ins Bett gelegt hatte und todmüde auf den Schlaf wartete, ließ es sich neben ihn auf die Matratze fallen und quatschte ihm die ganze Nacht die Ohren voll.
 

Der Türöffner summte leise und von oben hörte Julius, wie kurze Zeit später unten die Eingangstür wieder schwer ins Schloss fiel. Quietschende Schuhsohlen, die die Treppe hinauf eilten, hallten im ansonsten stillen Flur wider. Julius ließ seine Wohnungstür ein Stück offen stehen und das Licht im Flur brennen.

"Herein", rief er aus dem Nebenzimmer, als es zögerlich an der Tür klopfte. "Das ging ja schnell."

Mit seinem Geldbeutel in der Hand kam Julius zurück in den Flur und hätte eben jenen beinahe fallen lassen, als er das Gesicht erkannte, das ihm schuldbewusst aus der Öffnung der über den Kopf gezogenen Kapuze entgegen blickte.

"Max?" Julius starrte sein Gegenüber in dem einen Spalt breit offenstehenden Türrahmen an, als hätte er einen Geist vor sich. Und wie ein Geist sah er auch aus, oder eher wie jemand, der ziemlich lange in der Kälte gestanden hatte. Seine Wangen und Nasenspitze waren gerötet und er klapperte mit den Zähnen, was er erfolglos zu unterdrücken versuchte.

Die Hände tief in den Hosentaschen vergraben, stand Max mit hochgezogenen Schultern vor Julius und war sich offensichtlich nicht sicher, was nun passieren mochte. Er zitterte als Folge der Unterkühlung. Oder er zitterte, weil er Angst hatte. Oder er hatte Angst und wartete darauf, dass Julius ihm die Tür vor der Nase zuschlug. Oder er hatte Angst und wartete darauf, dass Julius ihn zuerst zur Schnecke machte, ehe er ihm die Tür vor der Nase zuschlug.

Als nichts geschah, ließ Max seine Schultern sinken und stammelte ein verlegenes "Hallo".

Julius, der nicht zu wissen schien, was er tun sollte, tat das Naheliegendste. Er zog die Tür auf und bedeute Max mit einem schnellen Nicken, hereinzukommen. Dann schloss er die Tür hinter dem Jungen, der nach drei Schritten betreten schweigend mitten im Flur stehen blieb.
 

Julius musterte sein Gegenüber, das unbeweglich dastand und mit ungläubigen Blicken seine neue Umgebung bestaunte.

Max machte den Anschein, als wäre er geradewegs mit seinem Raumschiff vom Himmel gefallen und zufällig hier im Flur gelandet. Und, was in den Nachrichten wohl für Hysterie sorgen würde, wenn ein Gefährt, so groß wie ein Fußballstadion und in seinem Innern grüne Männchen beherbergend, landete, war für Julius, auch wenn das Unbekannte Flugobjekt hier nur Max-Format hatte, nicht unbedingt weniger problematisch.

Es war ein U. P. O. - ein Unbekanntes Problematisches Objekt sozusagen, auch wenn unbekannt in diesem Falle relativ war, nämlich relativ egal. Problem blieb Problem.

"Warum bist du hier?"

Die Frage ließ Max großzügigerweise unbeantwortet. Vor allem, weil er fand, dass sie sich selbst beantwortete, und auch Julius schien nach kurzem Sammeln seiner Gedanken der gleichen Meinung zu sein.

Was für eine dämliche Frage. Natürlich wusste er, warum Max hier war. Nervös sah Julius zwischen Max und der geschlossenen Wohnungstür hin und her. Und jetzt? Himmel, wenn ihn jemand gesehen hatte, wie er das Haus betreten hatte, in dem Julius wohnte. Was hatte er sich nur dabei gedacht?

"Komm", Julius deutete auf eine Tür in der Mitte des Flurs. Er ließ Max vorgehen und folgte ihm in die Küche. "Trägst du bei den Temperaturen echt nur ein Kapuzenshirt?!"

"Es sind zwei", murmelte Max entschuldigend, als würde das seine Situation besser machen, und zog sich die Kapuze vom Kopf.
 

"Setz dich." Julius nickte zum Küchentisch hin.

Max führte die Aufforderung einfach aus, ohne großartig darüber nachzudenken. Denken war noch nicht möglich. Er war noch immer überrascht, dass er einfach getan hatte, was er dem quatschenden Mantra, das sich bei ihm hatte einnisten wollen, dafür geboten hatte, dass es endlich still war. Auch daran, dass er Julius und sich selbst in Schwierigkeiten bringen konnte, hatte er nicht gedacht. Er war einfach nur froh gewesen, endlich schlafen zu können, ohne ständig das Er kommt nicht wieder zurück im Hinterkopf haben zu müssen.

Julius setzte sich gegenüber von Max an den Tisch und betrachtete ihn eine Weile stumm, während Max seinen Blicken auswich.

Hatte Julius gerade den Kopf geschüttelt? Und wenn ja, was hatte das zu bedeuten? Was hing da an der Wand? Ein Kalender? Ob Julius da etwas eingetragen hatte? Vielleicht j-

"Möchtest du was trinken?"

Max' umherwandernde Blicke kehrten zu Julius zurück. Er nickte.

So langsam fühlte er sich wohl. Nur Julius schien noch nicht so ganz kapiert zu haben, was sich da gerade abspielte, dabei war es doch das Normalste auf der Welt. Eine typische Abendbrot-Szene eben, wie sie sich vielleicht jeden Abend abspielen könnte.
 

In den Hauptrollen: Max als MAX und Julius als JULIUS.
 

Erster Akt, erste Szene
 

AUFBLENDE:
 

JULIUS' WOHNUNG – KÜCHE – FRÜHER ABEND
 

Max und Julius beim Abendbrot.
 

JULIUS:

Möchtest du was trinken?
 

MAX:

Klar, danke. Willst du lieber Toast oder Roggenbrot?
 

JULIUS:

Toast ist mir lieber.
 

Schnitt auf den Toaster, der zwei goldbraun geröstete Scheiben Toast in die Höhe schleudert.

Die Kamera zoomt auf die beiden glücklich lächelnden Hauptakteure.
 

ABBLENDE.
 

Verwirrt über Max' unerklärliches Grinsen stand Julius auf und ging zum Kühlschrank.

Die Flaschen in der Kühlschranktür klirrten leise und der kalte Hauch, der aus dem Kühlschrank zog, ließ Max wieder zu Sinnen kommen. Der Streifen in seinem persönlichen Kopfkino hatte einen abrupten Filmriss und alles, was auf der Leinwand noch zu sehen war, waren wirr wandernde Balken und flirrende Rauten, die sich wie Irislose Alienaugen öffneten und schlossen.

Jetzt war er hier bei Julius, schön, aber genau genommen, war das auch kein Fortschritt. Sie saßen hier nicht privat. Das hier war keine Abendbrot-Szene. Wenn sie beide wieder zurück in der Wohngruppe waren, dann, ja dann konnte er sicher sein, dass Julius sein Versprechen hielt. Oder – seine Sachen packte.

Max schnappte nach Luft, als ihm bewusst wurde, dass er den Atem angehalten hatte. Ihm wurde schwindelig und er musste sich mit einer Hand an der Tischkante festhalten.

Irgendwo ganz tief in ihm lachte ihn jemand lauthals aus und es war nicht der Kurzschluss-Max, der ausnahmsweise mal kleinlaut in der anderen Ecke kauerte.
 

"Was ist los?" Der plötzliche Wandel von Max' Gesichtsfarbe von gesund zu ernsthafte Kreislaufprobleme, hatte Julius in seinem Tun, den Verschluss der Flasche aufzudrehen, inne halten lassen. Er stellte die Flasche ab und machte sich bereit, Max, der aussah, als kippte er gleich vom Stuhl, festzuhalten.

"Was ist los?", fragte Julius noch einmal besorgt.

"Nichts", antwortete Max heiser. Bis jetzt war noch nicht viel los, doch Julius' Hand auf seinem Arm war gerade dabei, das zu ändern. Max rückte ein Stück weg, bis Julius' Fingerspitzen keinen Kontakt mehr zu seinem Arm hatten.

Julius ließ die Hand sinken und sah ihn noch einige Augenblicke lang an, bis er Max endlich glaubte. Er nahm die Flasche und öffnete sie. Das Wasser ergoss sich gluckernd in das Glas, das Julius vor Max auf die Tischplatte gestellt hatte. Dann fuhr er damit fort, Max prüfend zu mustern.

"Ich glaube, es ist nichts", beteuerte Max noch einmal, während sich sein Magen gerade schmerzhaft verkrampfte. Sofort hielt er den Atem an, um keinen gequälten Laut von sich zu geben, und wartete, bis das Gefühl, durch den Fleischwolf gedreht zu werden, wieder nachließ. "Ich bin mir aber nicht ganz sicher..."

Ein unmissverständliches Knurren aus Max' Magengegend erklang und zeitgleich öffnete jemand die Wohnungstür und rief: "Rate mal, wen ich unten vor der Haustür getroffen habe! Und dann rate, was in den beiden Kartons ist, die er mir erst geben wollte, nachdem ich ihm sechzehn Euro dafür gezahlt hatte!"

Julius schwankte zwischen Lachen und Entsetzen über die beiden Ereignisse. Das Lachen gewann.

"Magst du Pizza?", fragte Julius Max, der mit vor Verblüffung offenem Mund den Mann ansah, der hinter Julius in der Küchentür erschien und zwei flache Kartons in den Händen trug.
 

Da hatte er die Abendbrot-Szene. Genau vor seinen Augen. Nur dass einer der beiden Hauptakteure nicht MAX hieß, sondern SIMON. Doch bis auf die Frage nach dem Toast, war alles gleich. Statt Toast oder Roggenbrot war die Frage eben Hawaii oder Diavolo?
 

Zwischensequenz
 

AUFBLENDE:
 

Die Kamera zoomt auf das betretene Gesicht des neuen, zukünftigen Kabelträgers Max.
 

ABBLENDE.
 

Fasziniert von dem privaten Julius, den er an diesem Tag kennenlernte, konnte Max später auf dem Nachhauseweg im ersten Moment nicht einmal mehr sagen, welchen Belag die Pizzen gehabt hatten, die sie kurzerhand durch Drei geteilt hatten.

Er meinte, sich an etwas Süßes zu erinnern, war sich da aber gar nicht mehr so sicher. Er war zu abgelenkt gewesen, nicht nur von Julius oder von Simon. Seine eigenen Gedanken hatten begonnen, alles, was bisher geschehen war, in scheinbaren Einklang miteinander zu bringen, bis nur noch eine Frage zu klären blieb, deren Beantwortung ihm Julius noch schuldig war.

Und da Julius es offensichtlich weiterhin nicht nötig fand, nahm Max nun eben selbst die Klappe in die Hand, um den Beginn des Drehs der letzten Szene seiner Dokumentation zu starten.
 

Julius entdecken: Wo er wohnt und wie er lebt
 

Zweiter Akt, Szene Eins
 

AUFBLENDE:
 

STADTAUTOBAHN – SIMONS AUTO – ABEND
 

Julius, der sich von Simon das Auto geliehen hat, um Max nach Hause zu bringen, fädelt sich in den abendlichen Verkehr ein.

Neben ihm auf dem Beifahrersitz: der zum Kabelträger degradierte und heimlich in Julius verliebte Idiot Max, der kurz zuvor den Korb seines Lebens bekommen hatte.

Julius schweigt, auch wenn ihm nicht entgangen sein kann, dass er seinem Nebenmann, der wie auf glühenden Kohlen dasitzt, eine Antwort schuldig ist.

Ein Auto hupt.

Die Ampel schaltet auf Rot.
 

ABBLENDE.
 

"Was ziehst du denn für ein Gesicht?" Julius bremste das Auto an der roten Ampel ab und sah sich Max von oben bis unten an, als wäre irgendetwas nicht so, wie es sein sollte. "Du machst das schon den ganzen Abend."

Mehr als ein dümmliches Ach ja? brachte Max zuerst nicht raus.

Ach ja, Hawaii und Diavolo waren es gewesen. Komisches Paar.

"Vielleicht habe ich ja eine Ananas-Vergiftung."

"Ananas-Vergiftung?!" Vor Schreck würgte Julius fast den Motor ab. "Soll ich rechts ranfahren?"

"Das hilft auch nichts..." Mit verkniffenen Lippen blickte Max aus dem Seitenfenster. Regen rann Tränen gleich die reflektierende Seite des Außenspiegels hinab. Zumindest einer, der sich an das Drehbuch hielt.

Natürlich hatte er eine Ananas-Vergiftung, auch wenn die nicht unbedingt von dem süßen Belag selbst herrührte. Diese verdammte Pizza Hawaii. Verdammte Ananas. Verdammter Simon!

"Warum kommst du nicht doch schon heute Abend zurück, wie es abgemacht war?", presste Max schließlich atemlos hervor.

Julius zuckte nur kurz mit den Schultern. "Es kam noch was dazwischen."

Max verkniff sich das Und was? Simon?

Der elektrische Fensterheber summte leise, als Max sein Fenster ein Stück weit öffnete. Die klare Luft tat gut. Sie kühlte angenehm seine Haut, unter der ein Steppenbrand zu wüten schien, seit Hawaii-Simon im Türrahmen gestanden hatte.

Diavolo? Max grinste. Dabei hatte er Julius eher für den Hawaii-Typ gehalten. Da schlummerten wohl unbekannte Vorlieben in dem artigen Julius...

"Was ist jetzt schon wieder los?" Die ständigen Wechsel zwischen dem zu Tode betrübten Max und dem heiter fröhlichen Max machten Julius langsam zu schaffen.

"Nichts", entgegnete Max belustigt und versuchte, das Lachen zu unterdrücken. Da war doch noch was gewesen? Richtig: Verdammter Simon!

Augenblicklich verging Max das Lachen. Er wandte sich Julius zu, der auf das nächste unvorhergesehene Ereignis wartete.

"Was findest du an Pizza Hawaii eigentlich so toll?"

Julius' Augenbrauen zogen sich nachdenklich zusammen. "Ich hatte keine Pizza Hawaii."

"Wäre eine Pizza Hawaii ein Grund für dich, nicht mehr zu uns zurück zu kommen?"

Langsam dämmerte es Julius. Er seufzte leise und hatte plötzlich wieder diesen unergründlichen Gesichtsausdruck von damals drauf, als er, wie er später meinte, die Route neu am Berechnen gewesen war.

"Ich mag keine Pizza Hawaii", begann Julius, ohne den Blick vom Verkehr zu lassen. "Und wir wohnen auch nur temporär zusammen; jeder in seiner eigenen Schachtel- in seinem eigenen Zimmer, meine ich."
 

Max schämte sich einen winzig kleinen Augenblick dafür, dass sich Julius genötigt sah, sich zu erklären, und er schämte sich ein kleines bisschen mehr dafür, dass er selbst froh über diese Antwort war.

"Das war eben die beste Lösung, bis ich einen festen Job habe." Julius sah kurz zu Max hinüber, der auf dem Beifahrersitz saß und nicht mehr ganz so bleich aussah, wie zuvor, als er vor Julius' Tür gestanden hatte.

Vor ihnen tauchte die Straße auf, die sich zum Bauernhof hinauf schlängelte.

Julius' Fingerknöchel traten weiß unter seiner gespannten Haut hervor, als er das Lenkrad fester packte. Max würde ihn nach dem nächsten Satz hassen.

"Es wäre besser, wenn über alles, was seit Freitag passiert ist, kein Wort mehr fallen würde." Julius sah nach, wie Max reagierte. Der saß still da und betrachtete sich das im Armaturenbrett eingestanzte Airbag.

Max hasste ihn nicht. Konnte er nicht. Irgendetwas hatte sich nach Julius' Vorschlag in seinem Inneren geöffnet und alles, was dazu gedacht war, Empfindungen zu erkennen und an die richtigen Orte weiterzuleiten, war einfach aus ihm herausgeflossen. Ob das Resignation war oder Vernunft, war ihm nicht ganz klar. Vermutlich waren es zu 45% Vernunft, 30% Resignation – und 25% enthielten sich irgendeiner Meinung.
 

Es war wie ein Spaziergang über einen zugefrorenen See, über dem eine dünne Schicht Schnee lag. Man lief darüber und konnte sich nie ganz sicher sein, ob das Eis einen weiter tragen würde, oder ob man mit dem nächsten Schritt durch die gefrorene Schicht brechen und in dem kalten Wasser versinken würde. Doch sobald man am sicheren Ufer angekommen war, war diese Angst mit einem Mal weg und man drehte sich zu dem See um und betrachtete sich stolz die eigenen Fußspuren, die man in dem Schnee hinterlassen hatte.

Eine ganze Weile war Max so über diesen See spaziert, hatte inne gehalten, wenn das Knacken unter dem Eis zu laut wurde, etwa, weil er nicht hatte widerstehen können und an Julius' freien Tagen wieder heimlich zu dessen Wohnung gefahren war – allerdings hatte er bisher nie wieder geklingelt –, und er war weiter gegangen, sobald sich das Eis wieder beruhigt hatte.
 

Das lange Wochenende hatte begonnen und die halbe Stadt schien seit den frühen Morgenstunden auf den Beinen zu sein, um die letzten Einkäufe zu erledigen. Der Strom der Passanten riss kaum ab. Seit dem Morgen eilten sie an ihm vorüber und hatten – wenn überhaupt – kaum mehr als einen flüchtigen Blick für den Jungen übrig, der auf der Treppe eines im Winter geschlossenen Eiscafés saß.

Die längeren Blicke, die ihn streiften, waren meist skeptisch, so als ob er im nächsten Moment aus seiner sitzenden Position auf die Beine springen und sie um ein paar ihrer sauer verdienten Kröten anbetteln würde. Und genau diese Blicke kannte er zur Genüge; diese Blicke aus den Augenwinkeln, die ihn förmlich auf den Boden nageln sollten und die meistens von überheblich verzogenen Mundwinkeln begleitet wurden. Geh' doch arbeiten, du faules Schwein, sagten sie. Und: Steh bloß nicht auf, Schmarotzer, von mir kriegst du nämlich nichts, außer ein paar aufs Maul.

Als der nächste Passant vorüber ging, senkte Max den Kopf und betrachtete sich seine Schuhspitzen.

Auch Julius war auf den Beinen, wenn auch später wie sonst und nicht in seiner obligatorischen Laufkleidung. Gerade eben hatte er mit einer Sporttasche über der Schulter das Mehrfamilienhaus verlassen und war zur nahegelegenen Straßenbahnhaltestelle gegangen.

Er hätte ihn sicher nicht so angesehen, wie einige der Passanten das ganz unverhohlen taten, dachte Max und verspürte augenblicklich ein Gefühl von tausend tanzenden Ameisen in seinem Bauch.

Julius käme so etwas wahrscheinlich nicht einmal in den Sinn. Für ihn war nicht jeder ein Penner, der auf der Straße herumlungerte. Und auf einmal wusste es Max ganz genau, warum es Julius war. Weil er nicht wertete. Er verpasste keine Stempel. Nina und Kerstin auch nicht, aber Julius eben anders auch nicht. Julius war es wert, dass sich Max hier den Arsch auf der eiskalten Treppe abfror. Nichts konnte ihm gerade etwas anhaben, weil die Wärme, die mit jedem Gedanken an Julius, in seinem Magen entfacht wurde, jeden kalten Hauch augenblicklich dahin schmelzen ließ.

Auch, wenn er ihn nicht gerne wegfahren sah, wartete Max geduldig, bis die ankommende Straßenbahn mitsamt Julius weiterfuhr. Und nach weiteren zehn Minuten erhob er sich von seinem kalten Sitzplatz vor dem Café und streckte kurz seine schmerzenden Glieder.

So langsam kam er aus der Übung.

Seelenruhig schlenderte er auf das Haus zu, das Julius gerade eben verlassen hatte, und klingelte.



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