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Kalt wie der Winter

von

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Stimmungskiller

Ob es nur stark regnete oder man das Ganze schon als Hagelschauer bezeichnen konnte, war Tek nicht ganz klar, aber seiner Meinung nach machte es auch keinen besonders großen Unterschied.

Es stand nämlich fest, dass er fror, auf übelste Art und Weise, seine Schuhe langsam aber sicher immer stärker durchweichten und seine Laune alle fünf Minuten noch ein wenig mehr in Richtung Nullpunkt sank.

Er hätte es ahnen müssen, schon im ersten Augenblick, als er JC den Vorschlag unterbreitet hatte, gemeinsam den Weihnachtsmarkt zu besuchen, und sein Freund ihn mit einem Blick angesehen hatte, als zweifelte er nun endgültig an Teks geistigen Fähigkeiten.

Das anschließende „Wie gay ist das denn? Find mal jemand anderen, der auf so eine Scheiße steht“ hätte ihm eigentlich verraten müssen, dass er es wirklich vergessen und sich jemand anderes, kooperativeres hätte suchen müssen. Jemand, der nicht schon bei der Vorstellung, mit ihm auf einem Weihnachtsmarkt nur einen harmlosen Glühwein trinken zu gehen, schon einen Grund für andere Personen witterte, sich über sie beide lustig zu machen.

JC legte manchmal zu viel Wert auf seinen Ruf als kompletter Vollidiot.

Stattdessen hätte Tek ein weibliches Wesen um diesen Gefallen bitten sollen, die rissen sich gerne darum, von Stand zu Stand zu schlendern, ausgiebig die Auslagen zu betrachten und alles schön und toll zu finden.

Bei JC war das leider nicht der Fall, wie Tek es auf ein Neues festgestellt hatte; aber wenigstens absagen hätte er können, wozu hatte sich sein Kumpel erst vor drei Wochen ein Handy der neusten Generation zugelegt, mit dem man schon fast Kaffee kochen und Kinder zeugen konnte? Bestimmt nicht nur zum Angeben, obwohl Tek vermutete, dass das auch ein Faktor gewesen war, weswegen JC sein halbes Taschengeld für dieses Stück elektronischen Alptraum hingeblättert hatte.

Frustriert holte er sein eigenes, deutlich älteres Gerät aus der Hosentasche, wählte die ihm inzwischen so bekannte Handynummer und brummte missmutig, als ihm die monotone Stimme der Mailboxfrau verkündete, dass er soeben umsonst zehn Cent verschwendet hatte.

Warum zum Henker stellte JC auch sein Handy aus? Noch ein Zeichen seiner null Bock Stimmung?

Tek fühlte sich absolut idiotisch, da er seit einer knappen Stunde auf ein und demselben Fleck direkt vor dem Markt stand und auf den Kerl wartete, der es nicht einmal für nötig hielt, sich bei ihm zu melden. Zwar war er es gewohnt, dass JC sich nicht unbedingt vorbildlich in zwischenmenschlichen Dingen verhielt und auch öfter Termine ganz zufällig vergaß, wenn sie für ihn nicht relevant schienen, aber das ärgerte ihn momentan extrem.

Zum Affen machte er sich nicht für ihn, egal wie lange sie sich kannten und wie viel sie miteinander erlebt hatten, da konnte JC sich wirklich einen anderen Volltrottel suchen, der diese Rolle mit Freuden übernahm.

Wütend verstaute Tek sein Handy wieder dort, wo er es hergezaubert hatte, vergrub die halbtoten Finger tief in seinen Jackentaschen und begann endlich, den Markt abzulaufen, weswegen er überhaupt hergekommen war. Zurück nach Hause ging er nicht, das wäre noch dümmer als das ewige Warten gewesen.

In ein paar Wochen fand Weihnachten statt, vielleicht fand er hier eine Kleinigkeit, die er seinen Eltern oder seiner Schwester schenken konnte, da er nie so genau wusste, mit was er sie überraschen sollte. Zum dritten Mal hintereinander Dunja ein Armband aus Silber zu kaufen wäre fast genauso unverschämt wie seinen Großeltern in einer Karte zu erklären, dass ihm nichts eingefallen war und er sie deshalb dieses Jahr ausgelassen hatte.

Ob er sein Geld an JC verschwendete oder ihn mit einer Packung Taschentücher aus der Schreibtischschublade beglückte, hing ganz vom Verhalten seines Freundes ab, denn wenn er weiterhin so unmöglich mit ihm umsprang und sein Hirn ausschaltete, reichte es nicht einmal mehr für ein zusammengeknäultes Stück Papier, das er ihm unter den Tannenbaum warf.

JC konnte so unglaublich froh sein, dass Tek nicht so nachtragend war, wie er es so gerne wäre, sonst hätte er ihm schon längst einmal die Meinung über seine spontanen Dummheiten mitgeteilt.

Langsam taute Tek auf und er konnte den Gang über den belebten Platz genießen; er mochte Weihnachtsmärkte wirklich gern, durch sie kam er meistens erst überhaupt in Stimmung für Weihnachten. Ansonsten hatte er selbst mit einem geschmückten Baum und Fetzen von zerrissenem Papier vor seinem Gesicht keinerlei weihnachtlichen Gefühle, während um ihn herum Dunja ein Lied nach dem anderen trällerte – bevorzugt Leise rieselt der Schnee in jeglicher Tonart – und seine Mutter ihm fast mit Gewalt Spekulatius aufzwingen musste.

Nein, ohne dieses saisonale Ritual, den Weihnachtsmarkt unsicher zu machen, hätte Tek auch die letzte Woche des Jahres komplett verschlafen können, die Wirkung wäre ungefähr dieselbe gewesen.

Aus irgendeiner Ecke eines Standes lockte ihn der Geruch von Glühwein und Schokoplätzchen, die ihm praktisch zuschrien, sie sofort in Massen zu kaufen und zu essen, was er auch getan hätte, wenn JC und sein dämliches Benehmen ihm nicht den Appetit verdorben hätte. Das nächste Mal fragte er lieber seine Oma, auf die war mehr Verlass.

„Tek, bist du das?“, hörte er eine Stimme hinter sich rufen; zu hoch und hell für einen Jungen, also hatten sich gewissen Personen nicht spontan zum Kommen bekehren lassen. Wäre auch zu schön gewesen.

Als er sich umdrehte, stand hinter ihm Cassia, eine seiner unzähligen Mitschülerinnen, die kaum unterdrücken konnte, wie sehr sie sich freute, dass sie mit ihrer Vermutung Recht gehabt hatte.

„Sieht so aus.“ Er musterte sie genau; sie war deutlich schlauer als er gewesen und hatte Handschuhe, einen Schal und ihre anscheinend neuen, blauen Stiefel im Kampf gegen das Wetter angelegt. Ihre Haare trug sie offen, wie üblich. Wie eigentlich alle aus seiner Klasse, wie ihm zum tausendsten Mal auffiel.

Und sie strahlte wie ein radioaktives Glühwürmchen, wie immer, wenn sie vor ihm stand und sich mit ihm unterhielt. Aber es war ein ehrliches Lächeln, nur etwas extrem übertrieben für seinen Geschmack.

„Bist du allein?“ Für sie erschien das kaum möglich, da sie Tek in der Schule sonst nur in der Gegenwart von JC antraf.

„Ja, schon. Muss auch mal sein.“ Er musste ihr nicht auf die Nase binden, dreist versetzt worden zu sein. Im Stillen hoffte er nämlich, dass diese Pappnase eines Freundes noch auftauchte. Er hatte nämlich eigentlich keine Lust, mit JC wegen geplatzten Treffen herumzuzanken, aber alles ließ er wirklich nicht mit sich machen, so weit kam es noch.

„Hast du was dagegen, wenn wir uns den Markt zusammen ansehen? Macht sicher mehr Spaß als allein.“ Entweder ein Wink mit dem Zaunpfahl oder er las darin schon wieder zu viel, aber sei es drum, Tek konnte auch später noch stundenlang alleine herumsitzen und sich langweilen, da nahm er das Angebot lieber an.
 

Nach mindestens zwei Stunden hatte er dann endgültig kein Geld mehr, was er ausgeben konnte, zu viel Lebkuchen und Zimtsternpackungen hatten den Weg in seine Taschen gefunden; etwas zu überstürzt verabschiedete er sich von Cassia und stapfte in Richtung zuhause. Erst jetzt wurde ihm schmerzhaft bewusst auf, dass er seine Fingerspitzen und Fußzehen nicht mehr spürte. Er ließ sich von diesem Meer an Süßigkeiten, Holzfigürchen und Glitzerschmuck jedes Jahr zu sehr in den Bann ziehen. Nachher würde es sehr unangenehm werden, wenn er ins Warme kam, aber da musste er durch.

„Tek, wo warst du?“ Dunja öffnete ihm die Tür, bevor er auch nur klingeln konnte. Sie und ihr ewiger Tick, von ihrem Fenster den Nachbarn nachzuspionieren. „Du hättest auch mal was sagen können, wenn du weg gehst. Was hast du gekauft? Kann ich mal sehen?“ Sie merkte schon gar nicht mehr, dass sie mal wieder kurz davor stand, einen Dialog mit sich und der Luft zu führen, weil sie ihn gar nicht ausreden lassen wollte.

„Nein, später.“ Mit ihrer penetranten Neugier entdeckte sie ständig ihre Geschenke, bevor man sie in den Tiefen des Kleiderschranks verstecken konnte und dann beschwerte sie sich darüber, dass man sich gar keine Mühe gegeben hatte, es für sie geheim zu halten; Dunja war gerne anstrengender als jedes kleine Kind, das Tek je über den Weg gelaufen war. „Finger weg von meiner Tüte!“ Und vor allem hörte sie aus Prinzip nicht auf das, was er sagte.

Stattdessen hatte sie ihm schon seine Einkäufe aus der Hand gerissen und forschte kritisch in den Weiten der Weihnachtsgeschenke herum. Es fehlten nur noch die Lupe und der Notizblock zum Mitschreiben ihrer Erkenntnisse.

„Ist das für Mum und Dad?“, fragte sie gespannt und hielt einen kleinen Tonengel mit weißen Flügeln und dekorativen Goldsternen auf dem Kleid hoch.

„Ja, und jetzt lass mein Zeug in Ruhe.“ Woher hatte sie das Talent, ihre Geschenke immer als erste zu finden? Das nächste Mal klebte er gleich Schilder mit Namen drauf, das ersparte ihr die dumme Fragerei und ihm jede Menge Erklärungen.

Als er sich endlich in sein Zimmer gerettet und vorsichtshalber die Tür abgeschlossen hatte, seufzte er erleichtert auf. Manchmal zweifelte er, wer hier älter war, er oder Dunja. So wie sie sich aufführte, durfte sie sich nicht wundern, wenn alle ihn für den großen Bruder hielten. Wenn man dann auch noch einen Kopf größer war, wurde der Verdacht erneut bestätigt.

Nun hatte er die freie Wahl, ob er zuerst sein Dasein als lebender Eiszapfen beendete oder es ein letztes Mal bei JC probierte, um ihn mitzuteilen, dass er es sich mal wieder großartig mit ihm verscherzt hatte. Noch öfter rief er nicht bei ihm an, die Stimme der Mailboxtussi ging ihm dafür ein wenig zu sehr auf die Nerven.

Schließlich beschloss er, das Angenehme mit dem Notwendigen zu kombinieren, weswegen er sich in seine Decke einwickelte, an die Heizung setze und sein Handy in die Hand nahm.

Nein, er beließ es lieber bei einer SMS, die JC mitteilte, was für ein ignoranter Trottel er war, nur schöner umschrieben, und versuchte, sich nicht weiter darüber zu ärgern. JC war einfach manchmal dumm wie ein Schokoriegel, da konnte er nichts daran ändern. Er sollte seine Energie lieber daran verschwenden, sich einen Kakao zu machen, selbst wenn dann wieder die Gefahr bestand, von einer wahnsinnigen Schwester mit Detektivkomplex gelöchert zu werden. Es interessierte sie immer brennend, was er in seiner Freizeit so trieb, vor allem wenn sie der Verdachte beschlich, es könnte etwas höchst Skandalöses dahinter stecken.

Für ihren Geschmack benahm sich ihr Bruder zu zivilisiert, an JC hätte sie größeren Gefallen, aber der hasste sie regelrecht, deshalb bespitzelte sie lieber Tek auf Schritt und Tritt.

Gut, dass sie nie erfahren würde, dass er zufällig Cassia vorhin getroffen hatte, sonst hätte er den ganzen Abend keine Ruhe mehr vor ihr und ihren dämlichen Theorien.



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