Zum Inhalt der Seite

Familienbande

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Offenbarungen

VI. Offenbarungen
 

Joan Kinney blickte die von hohen alten Bäumen gesäumte Straße hinab. Der Wind hatte sie hier, wo kaum Häuser ihn bremsten, schon fast vollständig entblättert. Sie war mit dem Bus gekommen, hatte den Blick wandern lassen über die prunkvollen Häuser und riesigen Gärten, die Green Tree zur Heimat derer machten, die ihren Reichtum in Reichweite der Stadt aber jenseits des Fußvolkes genießen wollten. Es hatte schon früher Kinneys in diese Gegend verschlagen. Als Gehilfen des Gärtners, als stummer Geist, der unsichtbar die Räume vom Staub befreite. Green Tree war jenseits ihrer Welt gewesen, jenseits ihrer Vorstellungskraft. Und Brian hatte sich, wie auch um alles andere, nicht geschert. Neben der grußeisernen Gartenpforte hing ein provisorisches Schild am Briefkasten. Taylor-Kinney. Sie atmete tief durch. Kein Peterson. Aber ein Name wie der eines Ehepaares. Hieß er jetzt so? Taylor-Kinney? Brian Aidan Taylor-Kinney? Jack hatte Glück, das nicht mehr miterleben zu müssen. Die Tür war unverschlossen. Sie trat in den Garten, ohne zu klingeln. Das Grundstück war weitläufig, aber verwildert. Hier hatte schon lange niemand mehr Hand angelegt. Brian lebte erst seit kurzem hier, er war wohl noch nicht dazu gekommen, sich um den Garten zu kümmern. Ihr Sohn hasste Unordnung. Sie hatte ihm nie sagen müssen, dass er sein Zimmer aufräumen solle wie andere Mütter. Efeu rankte sich über die Front des riesigen Gebäudes am Ende der Auffahrt. Ihr Haus würde fünfmal in diesen Kasten passen, mindestens. Direkt vor der Eingangstür aus schwerem Eichenholz, die nur angelehnt zu sein schien, war ein kleines Stückchen Rasen bereits gemäht worden. Ein Kind tollte darauf herum, ein kleiner Junge, der einen Fußball versunken hin und her trat. Ein Kind? Hatte sie sich in der Hausnummer geirrt? Aber die Namen hatten an der Pforte gestanden. Hatte Brian Besuch? Aber wer würde denn sein Kind Leuten wie… ihnen überlassen? Es stand auch kein Auto auf dem Vorplatz, obwohl Reifenspuren davon zeugten, dass vor kurzem hier ein Wagen entlang gefahren war. Ein Nachbarsjunge, den sie hierher gelockt hatten? Joan trat näher. Der kleine Junge war so versunken in sein Spiel, dass er sie erst bemerkte, als sie schon fast direkt neben ihm stand. Erschrocken fuhr er auf, der Ball kullerte davon. Joan erstarrte. Das Kind starrte zurück.
 

„B… Brian?“ flüsterte sie. Das war unmöglich. Hatte sie den Verstand verloren? Aber es stimmte nicht ganz. Dieselbe Nase, derselbe Mund, aber die Brauen waren schmaler, geschwungener, die Haut heller, die Augen etwas dunkler.
 

Der Kleine blickte sie noch immer verängstigt an. Dann sagte er mit quietschiger Stimme: „Ich bin nicht Brian, ich bin Gus. Brian ist mein Papa.“
 

„Das… kann nicht sein…“, entfuhr ihr.
 

„Doch“, erwiderte der Kleine aufgeregt, während er zwei Schritte in Richtung Eingangstür machte, „Brian ist mein Papa. Und Justin.“
 

Sie bemühte sich um ein freundliches Lächeln. „Wie heißt du, mein Kleiner?“
 

„Gus! Hab ich doch schon gesagt! Und wie heißt du?“ ein leicht trotziger Unterton hatte sich in sein Stimmchen geschlichen.
 

„Ich…“, antwortete sie, „ich heiße Joan. Joan Kinney.“
 

„Oh“, erwiderte der Junge, „ich heiße auch Kinney. Taylor-Kinney. Früher hieß ich Peterson. Aber dann sind meine Mamas gestorben. Sie sind jetzt an einem anderen Ort, von dem sie nicht zurück kommen können. Papa und Justin sind jetzt meine Eltern. Bist du Papas Mama?“
 

Joan drehte sich der Kopf. Brian hatte ein Kind. Ein leibliches Kind. Das er mit seinem Liebhaber aufzog. Und das er ihr gegenüber nie auch nur mit einer Silbe erwähnt hatte.
 

Der Kleine war immer noch vorsichtig, aber in seinen Augen blitzte jetzt Neugierde „Bist du auch meine Oma?“ fragte er.
 

Auch? Wie viele Omas hatte der Junge denn? Bei den chaotischen Verhältnissen, wer wusste schon, wen er alles für seine Oma hielt. Aber sie war es. Das da war ihr Enkelsohn. Etwas in ihr war sich dessen völlig sicher. Er hatte nichts von der Kinneyschen Grobschlächtigkeit abbekommen, die ihre anderen missratenen Enkel bereits im Kleinkinderalter aufgewiesen hatten. Er ähnelte Brian erschreckend, aber etwas Feineres war darunter gemischt – das Erbe seiner Mutter? Wer war diese Frau? Sie war tot? Wie hatte Brian ein Kind zeugen können, wenn er sich doch zu einem Leben in Widernatürlichkeit und Todsünde entschlossen hatte? Oder bestand doch noch Hoffnung, war Brian nur verwirrt, weil die Mutter seines Kindes gestorben war? Der Junge hatte gesagt, dass seine Mütter tot waren? Zwei? Hatte Brian in seiner Fehlgeleitetheit zwei ebenso verirrten Frauen zu Nachwuchs verholfen? Aber wie war das geschehen? Und wann? Und warum wusste sie nichts davon?
 

„Bist du meine Oma?“ bohrte der Kleine nach.
 

„Äh“, sagte sie, „ja, ich bin deine Oma.“
 

Ein Lächeln erschien auf dem Kindergesicht. Brians Lächeln. Sein echtes Lächeln, nicht das, mit dem er allen vorgegaukelt hatte, jemand zu sein, der er war. Das er ihr geschenkt hatte, ohne dass sie es hätte erwidern können. Und das irgendwann erloschen war. Ihr war, als sei sie durch die Zeit zurück gefallen. Aber das war nicht Brian. Das war Gus. Etwas griff nach ihrem Herzen. Ihr erster Reflex war es, danach zu schlagen, es zu verscheuchen, so wie sie es über so viele Jahrzehnte getan hatte. Sie schluckte. Ihr… Enkelsohn. Wie auch immer er auf diese Welt gekommen war. Sie atmete tief durch. Dann versuchte sie es. Jack war tot. Alle waren fort gegangen. Aber dieses Kind lächelte sie an. Es tat weh. Aber es tat auch gut. Sie lächelte Gus an. Zugleich loderte es in ihr. Es war alles so… sinnlos gewesen. Ich hoffe, du brätst in der Hölle, Jack Kinney.
 

In diesem Moment wurde die Eingangstür vollständig aufgezogen. Sie zuckte zusammen. Gus löste seinen Blick von ihr und hopste aufgeregt auf die Gestalt zu, die im Begriff war hinaus zu treten.
 

„Gus, wer…?“ hob die Person an, dann erkannte er sie, das konnte sie aus seinen Augen lesen. Sein blondes Haar war zu lang, nicht mädchenhaft, aber zu weich und zu golden, um erwachsen zu wirken. Die Gesichtszüge waren fein, die Haut wie Porzellan. Er entsprach nicht dem Ideal des herben, harten, draufgängerischen Mannes, mit dem sie aufgewachsen war. Er war zu zierlich, zu stupsnasig, zu… Dennoch war er auf eine irritierende Weise ausgesprochen schön. Er trug ein weites Hemd und eine Jeans, als sei er damit beschäftigt gewesen, im Haus herum zu werkeln. Wenn er doch bloß ein Mädchen gewesen wäre. Der Blick seiner blauen Augen hingegen sprach eine andere Sprache. Er war klar und hart. Nichts Kindliches oder Niedliches lag in ihm.
 

Gus rannte auf ihn zu. Der junge Mann fing ihn geübt auf und hielt ihn auf dem Arm. „Justin“, erklärte Gus aufgeregt, „die Frau ist meine Oma!“
 

Justin lächelte das Kind an, dann heftete er seinen Blick wieder auf Joan. „Mrs. Kinney“, sagte er verhalten, „Brian ist nicht zu Hause.“
 

„Ist das…?“ fragte sie, obgleich sie die Antwort schon kannte.
 

Der Blonde nickte nur stumm. Dann gab er sich einen Ruck. Sein Kinn straffte sich. „Möchten sie reinkommen?“ fragte er.
 

Sie zögerte. Was wollte sie hier? Sie hatte mit Brian sprechen wollen. Aber diese Situation war etwas völlig anderes. Justin war einen Schritt zur Seite gegangen, um ihr Einlass gewähren zu können. Sie wollte da nicht hinein. Aber sie konnte jetzt nicht einfach gehen. Sie musste… wissen.
 

Wie von selbst trugen sie ihre Füße nach drinnen. Justin hatte Gus wieder abgesetzt und nahm ihr den Mantel ab.
 

„ich habe gerade Kaffee gemacht. Möchten Sie einen?“ Sie nickte, während sie sich umschaute. Man sah es der Einrichtung an, dass dieses Haus gerade erst bezogen worden war. Es wirkte noch leer, überall klafften Lücken. Die Möbel hatten klare Linien, hier gab es nichts Verspieltes. Dennoch strahlte es etwas Warmes aus. War es das, was sich Brian gewünscht hatte…? Sie folgte dem jungen Mann ins Wohnzimmer. Im Kamin verglimmte ein Feuer. Es roch angenehm nach Holz.
 

Justin reichte ihr eine Tasse und setzte sich neben sie auf die Couch. Gus war auf sein Zimmer im Obergeschoss verschwunden, nachdem der junge Mann ihm geduldig erklärt hatte, dass er sich mit Oma unterhalten müsse. Beklommen musterte sie ihn. Er strahle gar nichts… Perverses aus. Das Kind vertraute ihm, nein, es liebte ihn, das hatte sie in seinem Blick gesehen. Aber liebten Kinder nicht auch die, die es nicht verdient hatten? Andererseits, hätte er irgendwann vor ihrer Tür gestanden und sich als Babysitter angeboten, sie hätte ihm vertraut. Man sah den Menschen ihre Verworfenheit nicht an.
 

„Wie…?“ fragte sie.
 

„Gus wurde im Reagenzglas gezeugt. Seine Mutter, Lindsay Peterson, und ihre Lebensgefährtin, Melanie Marcus, hatten sich ein Kind gewünscht. Brian war seit dem College mit Lindsay befreundet. Als sie ihn fragte, ob er der Vater sein wolle, hat er ja gesagt. Gus ist bei seinen Müttern aufgewachsen. Erst hier, dann in Toronto, nachdem seine Mütter es wegen der wachsenden Feindseligkeit gegen Homosexuelle in diesem Staat das Land verlassen hatten. Sie hatten es satt, wie Menschen zweiter Klasse vor dem Gesetz und vor ihren Mitmenschen da zu stehen. In Kanada ist das anders. Zumindest hofften sie das. Vor ein paar Wochen sind sie bei einem Flugzeugunglück ums Leben gekommen. In ihrem letzten Willen wurde das Sorgerecht für Gus an Brian und mich weiter gegeben.“
 

„Und Sie…?“
 

„Ich bin Brians Freund, seit vielen Jahren schon. Wir haben inzwischen in Kanada zivilrechtlich geheiratet, obwohl das hier nicht anerkannt wird. Ich kenne Gus seit der Stunde seiner Geburt. Nicht nur vor dem Gesetz sondern auch… in mir… ist Gus mein kleiner Junge, mein Kind. Ich liebe ihn.“
 

Joan schluckte hart. Es gab so vieles, was dagegen stand. Aber sie musste mehr wissen.
 

„Brian hat ihn mir gegenüber nie erwähnt“, sagte sie bitter.
 

„Das müssen Sie mit Brian klären. Nicht mit mir.“
 

„Sie sind doch selber fast noch ein Kind!“
 

Er lachte heiser auf, dann bohrte sich sein Blick in ihren. „Wirklich?“ fragte er. Nein. Er war kein Kind. Sie hatte kurz das Gefühl, als sei sein Äußeres nur Illusion und würde etwas anderes verschleiern… Etwas lauerte dahinter und entzog sich ihr geschmeidig.
 

Wer war dieser Mann, von dem ihr Sohn nicht lassen konnte? Nutzte er Brian, seinen Reichtum, nur aus? Nein, das war niemand, den man mit materiellen Reizen ködern konnte, das spürte sie instinktiv. Was auch immer er von Brian wollte, es war nicht das Geld.
 

„Ich muss jetzt gehen“, sagte sie.
 

Justin stand auf. „Sie können hier auf Brian warten, wenn sie möchten.“
 

Sie schüttelte den Kopf. Sie konnte das jetzt nicht.
 

„Könnte ich… Gus…?“ fragte sie.
 

Brians merkwürdiger Gefährte lief kurz nach oben und kam mit dem kleinen Jungen zurück zu ihr.
 

Sie kniete vorsichtig nieder. „Auf Wiedersehen, Gus“, sagte sie leise und streckte vorsichtig die Hand nach ihm aus, strich durch das weiche Kinderhaar.
 

Er schaute sie an, dann lächelte er wieder, dass sich alles in ihr zusammen krampfte. „Auf Wiedersehen, Oma“, sagte er treuherzig.
 

Joan erhob sich und nickte Justin zu. Er erwiderte die wortlose Verabschiedung.
 

Sie hätte später nicht sagen können, wie sie nach Hause gekommen war.
 

……………………………………………………………………………………………………………………………………………………..
 

Brian parkte die Corvette vor dem Haus. Er öffnete den Kofferraum und schnappte sich eine Ladung seiner Einkäufe. Justin hatte ihm eine detaillierte Liste mit gegeben, die er dem Angestellten im Baumarkt nur vor die Nase hatte halten müssen. Eine Spezialbohrmaschine, Schrauben, Nägel, Werkzeuge, deren Namen nur zu denken sein Hirn sich weigerte, Pinsel, Lacke. Vielleicht sollte er Justin sagen, dass es nicht nötig war, das Haus abzureißen und eigenhändig komplett neu zu bauen. Aber Justin werkelte gerne, da kam man ihm besser nicht in die Quere. Es war wie mit seiner Kocherei. Justin war auf erschreckende Weise handwerklich geschickt. Jack hätte ihn geliebt. Wenn Brian eine Frau gewesen wäre, hätten sie Sonnenschein garantiert als perfekten Schwiegersohn angebetet. Aber so hätte sich die Liebe trotz aller Begabung doch arg in Grenzen gehalten. Er war etwas besorgt, dass Justin seine Hand überanstrengte. Die motorischen Verknüpfungen in seinem Hirn hatten langwierige Schäden davon getragen. Justin hatte dagegen gekämpft wie gegen einen Drachen. Aber es war immer noch da, das Zittern und Krampfen, wenn er sich überforderte. Was er jedoch selten tat, es sei denn, sein Tatendrang ging mit ihm durch. Brian hasste es, wenn dieser frustrierte Ausdruck in Justins Augen stand, während er verzweifelt seine revoltierende Hand knetete. In diesen Momenten war er jedes Mal versucht loszuziehen und Chris Hobbs Dinge anzutun, die diesem weniger gefallen hätten. Dieser bigotte Dreckskerl. Erst scharf auf Justin sein und dann feige auf ihn einzuknüppeln, um bloß nicht in einen Topf geworfen zu werden. Dieser erbärmliche Wurm. Aber es half nichts. Die Gesellschaft in Gestalt dieses grenzdebilen Tattergreises von Richter hatte Hobbs ja sogar noch recht gegeben. Es war völlig okay, auf Schwuchteln einzudreschen, wenn sie nicht artig in ihrem finsteren Eckchen blieben. Wenn sie es wagten, die Nase rauszustrecken und zu behaupten, so normal wie jeder andere auch zu sein. Dann war es völlig gerechtfertigt, ihnen den Schädel einzuhauen. Er schluckte seine Wut runter und konzentrierte sich darauf, mit dem Ellenbogen die Klingel zu erwischen. Er war beladen wie ein Kuli während einer Himalaya-Erkundung, da konnte keiner von ihm erwarten, auch noch mit dem Schlüssel rum zu jonglieren. Justin öffnete rasch und nahm ihm von seiner Fracht ab. Er bekam einen feuchten Kuss auf die Wange geschmatzt und musste grinsen.
 

„Und was wäre gewesen, wenn ich rungetrödelt hätte? Hättest du mir dann eins mit dem Nudelholz verpasst?“
 

„Ich verpass dir sowieso was, egal ob du pünktlich bist oder nicht“ grinste Justin frech.
 

„Oha, na dann kann ich mich ja auch rumtreiben, wenn ich gleichgültig, was ich mache, was abbekomme.“
 

„Überleg dir das gut. Wenn du artig bist, bekommst du ja auch was verpasst, das dir gefällt. Wenn nicht…“
 

Brian zog die Augenbrauen hoch und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.
 

„Mmm“, schnurrte Justin bei diesem Anblick und küsste ihn ein weiteres Mal auf den Mund. „Später“, flüsterte er.
 

„Später“, hauchte Brian zurück.
 

Gus saß vor dem neu installierten Fernseher und kicherte über eine Folge Spongebob, die gerade auf dem Kinderkanal lief. Sie trugen gemeinsam die Sachen aus dem Auto.
 

„Wir brauchen noch nen Wagen“, bemerkte Brian, „sonst sitzt du hier fest, wenn ich bei Kinnetic bin.“
 

„Du könntest mit dem Bus fahren“, schlug Justin vor.
 

Brian bedachte ihn mit einem vernichtenden Blick.
 

„Das Geld aus den Galerieverkäufen ist allmählich auf meinem Konto. Ich geh nächste Woche mit Emmet los und such mir was.“
 

„Um Gottes Willen!“ entfuhr Brian.
 

„Keine Panik – ich ersteh schon keinen pinken Cadillac… Emmet ist nur zur seelischen Unterstützung da.“
 

„Ihr beide in diesem Hetenzirkus… Sag Bescheid, damit ich mich auch garantiert am anderen Ende der Stadt befinde!“
 

„Jeder fährt Auto. Wieso Hetenzirkus?“
 

„Sonnenschein, manchmal schätze ich deine gottgegebene Naivität. Höre meine Worte und gedenke ihrer: Autohäuser sind so schwul wie Football-Meisterschaften oder das Grillen von Würstchen.“
 

„Football ist auch schwul – denk an Drew Boyd! Und mit dem heiß machen von Würstchen kennst sich unsereins doch bestens aus… Woher willst du das überhaupt wissen?“
 

„Ich bin Mal mit dem Probewagen durch die Fassade des Autohauses gebrettert, weil die behauptet haben, dass die Karre, die ich wollte, viel zu schwul für so einen braven Familien-Papi wie mich aussähe.“
 

Justin prustete los: „Du bist… was?“
 

Brian lächelte unschuldig: „War ein teurer Spaß. Aber das war’s mir wert.“
 

„Du bist echt irre. Aber ich liebe deinen Wahnsinn.“
 

Brian legte die Arme um seine Taille und zog ihn an sich: „Ich weiß. Ich liebe deine Beknacktheit auch.“
 

Justin lachte, dann wurde er wieder ernst.
 

„Aber bekomm keinen Schlag. Ich will kein schwules Auto. Sondern ein Gebrauchtes, Praktisches, mit dem ich Gus und meine Malsachen transportieren kann.“
 

„Mir wird jetzt schon schlecht. Das Wort „praktisch“ oder auch „gebraucht“ verursachen bei mir schwere allergische Reaktionen.“
 

„Sorry, ein Tuntenmobil ist echt das Letzte, was ich brauche.“
 

„Tuntenmobil? Diskriminierst du hier gerade meinen Jeep?“
 

„Ich frage mich, warum die damals da extra „Schwuchtel“ drauf geschmiert haben. Ich meine, die Karre hat das doch auch so prima zum Ausdruck gebracht.“
 

Brian schaute ihn beleidigt an: „Und wer ist da schneller rein gehopst als der Blitz, um seine Jungfräulichkeit an den erstbesten loszuwerden?“
 

„Du warst der Erste. Und bleibst der Beste.“
 

„Das nenne ich mal elegant aus der Affäre gerettet… du Schleimer!“
 

Justin lachte ihn an, und ihm wurde warm ums Herz. Er mochte Justins Schlagfertigkeit. Das hatte ihn bereits als Teenager von all den anderen Kerlen unterschieden. Seine geistige Wendigkeit, seine durch alle verliebte Verklärtheit durchblitzende Intelligenz. Und sein Mut, danach zu handeln, ohne Rücksicht auf Verluste.
 

Dann sagte er plötzlich: „Deine Mutter war hier. Sie weiß von Gus.“
 

Brian verschluckte sich. Er starrte Justin fassungslos an: „Was? Was hast du da gerade gesagt?“
 

„Deine Mutter war hier. Sie hat Gus gesehen und eins und eins zusammen gezählt.“
 

Justin hätte schwören können, dass er sah, wie die Haare an Brians Körper, die er nicht hatte wegwachsen lassen, sich aufstellten.
 

„Was wollte sie hier?“ zischte Brian.
 

„Ich weiß es nicht. Sie wollte zu dir. Ich glaube, Gus hat sie ziemlich aus den Socken gepustet.“
 

„Hat sie’s überlebt?“
 

„Ich denke, ja.“
 

„Mist.“
 

„Brian, sie ist deine Mutter…“
 

„Sie ist ein hartherziger, bigotter, selbstgerechter Haufen Scheiße!“
 

Justin starrte ihn an. „Du hasst sie, oder?“
 

„Wie könnte ich nicht? Sie war eine beschissene Mutter. Oh, sie hat gekocht, mir saubere Unterwäsche angezogen, ist artig zu allen Schulfesten gedackelt, den selbstgemachten Kuchen in der Hand. Mein Vater war wenigstens so ehrlich, mir direkt eins in die Fresse zu hauen. Sie nicht. Hat immer dagesessen, kalt wie ein Fisch, und so getan, als wüsste sie, was das alles bedeutet!“
 

„Was… was bedeutet?“
 

„Zuhause. Familie. Liebe. Hat immer so getan, als ob. Aber da war nichts. Nur ihr verschissener Bibelkreis, der ihr gesagt hat, was man tun soll und was nicht. Und sie hat’s gemacht, ganz brav. Vorbildlich. Aber vielleicht hätte ihr Mal jemand sagen sollen, dass das alles nichts zählt, wenn man selber gar nichts… fühlt.“
 

Justin schaute ihn erschrocken an. „Du meinst… sie hat dich nicht geliebt?“
 

„Kein Stück. Mein Vater war ein totaler Versager. Hat gesoffen wie ein Loch. Ständig mit irgendwelchen Schlampen rumgemacht. Mir ständig erzählt, was für eine Nullnummer ich bin. Aber er war ehrlich. Er hat mich nicht gewollt. Als ich da war, hat er es probiert. Ich bin ihm zuweilen echt auf den Keks gegangen. Er hat mich auch gerne Mal als Punching-Ball für seinen Frust benutzt. Aber wie sollte man nicht frustriert sein, wenn man Joan an der Backe hat? Aber wenn er etwas gut fand – meist beim Fußball – dann hat er es auch gemeint. Wenn’s nach ihm gegangen wäre, wäre ich nie geboren worden. Aber trotzdem waren seine Gefühle mir gegenüber… ehrlich. Und auf seine Weise hat er mich geliebt, auch wenn es unmöglich war, es ihm recht zu machen. Joan nicht. Kein böses Wort. Kein gutes Wort. Nichts. Nur füttern, waschen, Bibelstunde.“
 

Justin fröstelte. „Aber etwas war da, als sie… Gus gesehen hat.“
 

Brian schüttelte sich: „Sie soll weg bleiben von Gus. Von uns.“
 

Justin musterte ihn aufmerksam. Erst nach und nach setzten sich die Puzzelsteinchen zusammen. Wie tief Brian verletzt war. Welcher Schmerz sich hinter seiner Coolness, seiner Stärke verbarg. Und warum es ihm so schwer fiel, sich auf andere Menschen einzulassen. Zu vertrauen. Die Kontrolle abzugeben. Aber Brian vertraute ihm. Aber es hatte Jahre gedauert, bis er dazu bereit gewesen war. War das alles Joan Kinneys Schuld? Brian ähnelte seiner Mutter sehr. Die Züge, die aufrechte Haltung, vielleicht auch der Fatalismus. Joan hatte graue Augen, aber dieselben langen Wimpern wie ihr Sohn. Und Gus.
 

Justin schluckte schwer. Er dachte an seine Mutter. Sie hatte ihn immer aufrichtig geliebt. Immer. Es hatte nie einen Zweifel daran gegeben, obwohl er es ihr weiß Gott nicht leicht gemacht hatte. Sein Vater hatte verbrannte Erde hinterlassen. Aber auch er hatte ihn geliebt, einst. Justin konnte sich kaum vorstellen, wie es war, aufzuwachsen in dem Bewusstsein, dass die eigene Mutter einen nicht liebte. Dass der eigene Vater ihn am liebsten abgetrieben hätte.
 

Er trat um den Küchentresen herum und sah Brian ernsthaft an: „Was zwischen deiner Mutter und dir abläuft, ist eure Sache. Ich werde mich nicht einmischen. Aber da war etwas in ihrem Gesicht, als sie Gus gesehen hat… ich weiß auch nicht. Aber ich will, dass du dir klar machst, dass das die Vergangenheit ist. Ich liebe dich, mehr als alles andere in der Welt. Für mich bist du alles. Nichts, für das ich mich erwärmen muss, weil es nun mal da ist. Nichts, was ich ertrage, weil es nicht anders geht, oder weil ich zu feige bin, anderswo mein Glück zu suchen. Ich bin genau da, wo ich sein will. Bei dir. Zuhause. Mit Gus. Es gibt keinen Ort, keinen Zeitpunkt, der mich mehr verlockt als jetzt, hier.“
 

Brian schaute gebannt in Justins zu ihm aufgeschlagenen Augen. Es war… wahr. Er wurde geliebt. So sehr, dass er zurücklieben konnte, ohne wenn und aber. Justin hatte das möglich gemacht. Er wusste nicht, womit er das verdient hatte. Aber vielleicht war das nichts, was man sich verdienen konnte. Vielleicht war es eine Gnade, ein Geschenk. Vielleicht gab es doch einen Gott, aber nicht diesen erbsenzählenden, rachsüchtigen Kerl, den man ihm immer präsentiert hatte. Er war dabei, sich ein Zuhause zu schaffen. Ein Leben, ein wirkliches Leben.
 

Wortlos schlang er erneut seine Arme um Justin und versenkte seine Nase in dessen duftendem Haarschopf. Er hatte das Gefühl, als würde er zittern. Vielleicht tat es das auch. Es tat fast weh loszulassen. Und aufgefangen zu werden. Es war ungewohnt. Seine Hände streichelten wie von selbst über Justins Körper.
 

„Danke“, flüsterte er, „danke.“
 

…………………………………………………………………………………………………………………………………………………………….
 

„Brian hat einen Sohn“, sagte Joan unvermittelt.
 

Claire erstarrte abrupt, das Bügeleisen fiel ihr beinahe aus der Hand.
 

„Was?“ fragte sie perplex.
 

„Brian hat einen Sohn“, wiederholte Joan, als würde sie mit einer Schwerhörigen reden.
 

„Aber“, entfuhr es Claire, „er ist doch schw… homosexuell.“
 

„Seit wann wusstest du das eigentlich?“
 

„Er ist mein Bruder.“
 

„Ist das etwa eine Erklärung?“
 

Claire verdrehte entnervt die Augen.
 

„Lag doch ziemlich auf der Hand“, sagte sie, „er hat sich nie auch nur einen Hauch für die Mädchen interessiert. Meine Freudinnen fanden ihn immer so super-klasse und lagen mir ständig auf den Ohren wegen ihm. Aber bei ihm landen konnte nie eine. Wenn er also kein Heiliger gewesen sein sollte, dann war er wohl eher schwul.“
 

„Und das hat dich so sicher gemacht. Deine Freundinnen waren nichtsnutzig. Vielleicht konnte er auch einfach nichts in ihnen sehen.“
 

„Er ist ein Mann, Mama. Es wäre ihm egal gewesen, dass sie dumme Hühner sind, wenn er nicht schwul gewesen wäre.“
 

„Es gibt auch anständige Männer!“
 

„Ich bin begeistert. Sag mir, wenn du einen siehst, ich hatte bisher nicht das Vergnügen!“
 

„Nun, das kann ich bestätigen!“
 

„Als hättest du es besser gemacht!“
 

„Ich habe mich immerhin nicht scheiden lassen und anschließend rumgehurt!“
 

„Pah“, sagte Claire verächtlich, „als hätte das die Sache besser gemacht. Und nur zu deiner Information: Ich hure nicht herum. Ich habe einen Freund. Willkommen in einer Zeit jenseits des Mittelalters! Und was soll das heißen, dass Brian ein Kind haben soll? Dem fällt doch der Schwanz ab, wenn er nur an eine Frau denkt!“
 

„Claire! Habe ich dich so vulgär erzogen? Wohl kaum! Er hat ein Kind gezeugt mit einer… Lesbe. Er heißt Gus. Ist fünf oder sechs.“
 

Claire begann zu lachen: „Das ist doch wohl ein Witz, oder?“
 

„Nein“, sagte Joan böse, „das ist kein Witz. Ich habe ihn gesehen. Er sieht fast aus wie Brian in dem Alter. Brian hat das Sorgerecht zusammen mit seinem… Was-auch-immer. Die Mutter ist tot.“
 

Claire stellte das Bügeleisen ab: „Was? Brian hat einen Sohn? Und einen Freund? Wann ist das denn passiert?“
 

„Es ist dieser Blonde. Der hier war, als John, du weißt schon… Hier, sieh dir das an.“
 

Sie schob die Zeitungsseite, die sie sorgfältig aufbewahrt hatte, hinüber zu ihrer Tochter. Claire las. Ihr fiel der Unterkiefer runter.
 

„Ach du heilige Scheiße!“
 

„Claire!“
 

„Er hat ihn geheiratet! Er hat ihn allen Ernstes geheiratet! Wir werden niemals was von seiner Kohle zu Gesicht bekommen!“
 

„So siehst du deinen Bruder? Als Gelddruckmaschine? Streng dich besser selber an, wenn du Reichtum haben willst!“
 

Claire schnaubte verächtlich: „Ich bin alleinerziehend mit zwei Kindern. Ich habe keine Berufsausbildung! Wie bitte soll das gehen?“
 

„Setzt dich in Bewegung. Es ist nie zu spät!“
 

Claire knirschte mit den Zähnen: „Das musst du gerade sagen!“ Sie lachte verächtlich.
 

Joan schluckte. Es war immer zu spät gewesen. Zu spät für Liebe. Zu spät für Hass. Zu spät zum Leben. Sie dachte an Gus. Ein neues Leben, voller Möglichkeiten. Ihr Enkelsohn. Gus. Er hatte sie angelächelt… Er war nicht Brian. Sie konnte…
 

…………………………………………………………………………………………………………………………………………………….
 

Michael saß auf der Veranda, obwohl ein Herbststurm tobte. James hockte immer noch an seinen Hausaufgaben. Seitdem er sich berechtigte Hoffnungen machte, aufs College zu gehen, strengte er sich an wie ein Besessener. Ben hatte Jenny gefüttert und ins Bett gebracht. Er saß im Wohnzimmer auf der Couch und las. Michael fand es wundervoll zu sehen, wie tief sein Mann in seiner Lektüre versinken konnte.
 

Die kühle Luft rann angenehm über sein Gesicht. Er genoss die Stille. Aber zugleich auch die Nähe. Aus den Häusern ihrer Nachbarn drangen Wärme, Laute, Licht. Er mochte diese Gemeinsamkeit. Er musste an Brian, Justin und Gus denke. Drei Gestalten in einem riesigen Haus, fernab vom nächsten Nachbarn. So würde er nicht wohnen wollen. Er hatte ihnen beim Umzug geholfen, aber der Gedanke daran versetzte ihm einen Stich. Brian hatte das Haus schon zu jenem ersten Hochzeitstermin gekauft gehabt. Aber er, Michael, hatte nichts von seiner Existenz gewusst. Wie von vielen anderen Dingen auch. Ihre Beziehung… Justin in New York und Brian hier, einsam… aber dennoch. Warum hatte er ihm nichts gesagt? Und die Hochzeit… Er hatte ihn nicht als Trauzeugen gewollt, ihn nicht einmal eingeladen, als ginge es ihm nichts an. Brian, sein Anker, sein Fels, über so viele Jahre. War das nun vorüber. Ja. Zuviel hatte sich geändert. Und nein. Brian war doch immer auch… sein Brian.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (1)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  brandzess
2011-08-20T20:45:50+00:00 20.08.2011 22:45
die begebnung mit Joan war ja mal mehr als geil xD ihre reaktion auf Gus war zum scießen! und dann erst die von Claire xD wäre cool wenn es mal eine "familienzusammenführung" geben würde^^ so nach der art Claire und Joan besuchen ihren Neffen und enkelsohn^^


Zurück