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Schattenfresser

von

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Tigertrauma-Inderschwede

VI. Tigertrauma-Inderschwede?
 

"Wiesenblum?" meldete sich Kai etwas verschlafen. Er hatte sich gerade ein anregendes Nickerchen auf der Couch gegönnt. Sonderlich gut geschlafen hatte er allerdings nicht, da Floffi das als eine Einladung zum Dauerkuscheln interpretiert hatte. Drei Mal hatte er den nach seinen Luxushäppchen in Aspik dünstenden Hund wieder von sich herunter befördert, aber es hatte jeweils nur ein paar Herzschläge gedauert, bis Floffi erneut voll klebriger Liebe auf seinem Brustkorb gesessen und fortgefahren hatte, ihm zärtlich das Kinn abzulecken. Das hatte ihm leichte Atembeschwerden und ziemlich merkwürdige Träume von Schülern, die sich in M&Ms verwandelten und mit ihm auf Klassenfahrt nach Nordkorea wollten, beschert, aber wahrscheinlich sollte er sich besser nicht beschweren. Floffi war nun einmal das einzige Lebewesen auf Erden, dass sich vorbehaltlos an ihn heran schmiss und voll Innigkeit abschlabberte - war wahrscheinlich besser als gar nichts.
 

"Paulsen. Ich hoffe, ich störe Sie nicht?" kam die sonore Stimme seines Direktors. Kai straffte sich. Wenn der Boss höchstpersönlich bei ihm anrief, würde er sein Hirn brauchen, aus Jux und Dollerei tat der andere das garantiert nicht. Wenn der sich amüsieren wollte, ging er Golfspielen - und das ganz gewiss nicht mit den Chaoten aus dem ihm anvertrauten Kollegium. Die Hälfte hielt Golfspieler sowieso entweder für Umweltzerstörer oder debile Snobs ohne Kontakt zur wahren Bildung. Und bei der anderen Hälfte bestand die Gefahr, dass sie einem entweder unabsichtlich oder absichtlich mit dem Schläger eins überbriet. Das tat sich keiner freiwillig an, der schlichtweg mal seine Ruhe haben wollte.
 

"Nein, überhaupt nicht!" erwiderte Kai. Stimmte ja auch. Außer rumzuhängen und den Unterricht für Morgen vorzubereiten hatte er beileibe nichts zu tun. "Was kann ich für Sie tun?" Toll, jetzt klang er schon wie ein Mitarbeiter von Tui... er war doch keine Servicekraft, auch wenn irgendwelche durchgedrehten Eltern das gerne mal glaubten und ihn mit überzogenen Forderungen nervten. Wenn ihr Blag bessere Noten haben soll, dann sollten sie es vielleicht dazu bringen zu lernen oder vielleicht sogar zu denken - und nicht versuchen, ihm weiß zu machen, dass er das pädagogisch falsch anpackte und in Wirklichkeit ein unterfordertes Genie vor ihm säße...
 

"Ein neuer Schüler für den 12. Jahrgang hat sich bei uns angemeldet. Ich setze hier auf Ihre Fähigkeiten. Er wird Morgen Ihnen anvertraut", erklärte Paulsen. Es war gerade mal halb drei, aber Schulleiter hatten lange Tage. Nachmittags durften sie sich mit dem nach diversen Schulreformen überbordenden Verwaltungskram herum schlagen - und mit besonders unangenehmen Elterngesprächen sowie Neuanmeldungen. Ein neuer Schüler... Ein Fünkchen Hoffnung keimte in Kai auf. Vielleicht hatte der ja etwas in der Birne, das keine Grütze war? War kein Zugang für die Hitler-war-ein-ganz-dolle-böser-Mann-Fraktion? Oh bitte... Nicht noch eine Mary Sue. Irgendwann würde er von dem ganzen Parfüm und Haarspray noch einmal benebelt in Ohnmacht fallen. Wahrscheinlich starben seine Hirnzellen in dem, was Mary und ihre rausgeputzten Kollegen so unsichtbar in den Klassenraum schmuggelten, langsam und unbemerkt eines einsamen Todes.
 

"In Ordnung", sagte Kai. "Ich hole ihn Morgen zur Ersten bei Ihnen ab, führe ihn rum, Bücher braucht er auch. Kann ich für die ersten zwei Stunden ausgeplant werden, um das zu erledigen? In der Dritten habe ich meine Klasse in Kunst, da kann ich ihn gut einführen."
 

"Ja, selbstverständlich", erwidere Paulsen. "Aber..."
 

Kai beschlich ein ungutes Gefühl. Floffi hatte begonnen, seine nackten Zehen abzulecken, Gegenwehr zwecklos. Aber? Was für ein Original hatte er sich denn jetzt schon wieder eingefangen? "Ja?" fragte er alarmiert.
 

Paulsen räusperte sich wie immer, wenn er das Unvermeidliche herauszuzögern suchte. "Ihr neuer Schüler wird Hilfe dabei brauchen, sich zu integrieren."
 

"Migrationshintergrund?" fragte Kai ergeben. Na gut, das musste gar nichts heißen. Manchmal waren grade diese Kinder, wenn sie es denn bis hierhin geschafft hatten, hoch motiviert, weil sie ahnten, dass ihnen ein gesellschaftlicher Aufstieg winkte - oder weil ihre hemmungslos ehrgeizigen Eltern ihnen fürchterlich im Nacken saßen.
 

"Äh... ja. Er kommt aus Indien", informierte ihn Paulen. Indien? Na, das war ja mal etwas Neues. Zumindest drohte sich hier nicht die übliche Schose an. "Und er ist ein Sikh."
 

"Sikh? Die mit den Turbanen?" hakte Kai interessiert nach.
 

"Äh... nun ja... einen Turban hat er nicht. Er ist ein halber Schwede, da verzichtet er wohl drauf...", machte Paulsen weiter.
 

"Aber lange Haare hat er?" fragte Kai, stolz um sein Fernsehdokumentationen-Wissen. Das Leben als Couch-Potatoe hatte auch so seine Vorlieben.
 

"Das kann man wohl sagen!" entfuhr Paulsen in einem Schwung, der ziemlich untypisch für ihn war.
 

"Okay... ein Schweden-Inder-Sikh mit langen Haaren", resümierte Kai sachlich. "Wird das Probleme mit dem Sportunterricht geben?" Das gab es aufgrund religiöser Überzeugungen zuweilen... da musste dann eine Lösung her, die Schüler waren dazu verpflichtet in diesem Land, daran teilzunehmen. Staat und Religion waren getrennt, da gab es in der Theorie keine Extrawürste. Aber so mancher war da anderer Auffassung...
 

"Von der Religion her wohl nicht. Aber wie das praktisch gehen soll, ohne dass er irgendwo hängen bleibt, weiß ich nicht so recht", gestand Paulsen.
 

"Seine Zotteln hängen überall herum?" folgerte Kai richtig.
 

"Er trägt Zöpfe...", erklärte Paulsen.
 

"Na ja, von den Mädchen doch auch viele. Das geht doch auch...?" entgegnete Kai, der das Problem nicht ganz sah. Zopf oder nicht Zopf, der würde brav antreten. Floffi hatte sich getrollt und malträtierte jetzt seine Quietsche-Maus mit Inbrunst.
 

"Aber nicht solche... die gehen bis zum Boden... und der Junge ist groß", gab Paulsen zu bedenken und klang dabei ein wenig mitgenommen.
 

"Dann macht er sich eben einen Dutt!" beschloss Kai augenrollend. Wenn das alles war... Er wollte ja nicht, dass sein Neuzugang sich am Stufenbarren am eigenen Schopfe erhängte. Oder mit der Frisur in die Ballwurfmaschine geriet, das wäre unschön.
 

"Mmm...", machte Paulsen wenig überzeugt. "Und", hob er erneut an, "der Junge lebt bei seiner Tante, nachdem seine Eltern in Indien verstorben sind. Sie... sie wurden von Tigern gefressen..."
 

"Von Tigern gefressen?!" wiederholte Kai ungläubig. War das ein Witz?! Wer wurde denn heutzutage noch von Tigern gefressen wie in einem Abenteuerfilm aus den Fünfzigern?
 

"Äh ja... Das war bestimmt schwer für den Jungen...", bestätigte Paulsen diese kranke Geschichte. Aber wer wusste das schon, manchmal passierten schon irre Dinge - siehe Gudrun. In letzter Zeit ein wenig viele für seinen Geschmack. Vielleicht tischten die ihnen auch einen ziemlich fetten Bären... oder Tiger... auf, da hieß es wachsam bleiben.
 

"Aber er spricht Deutsch?" wollte Kai pragmatisch wissen und verfolgte dabei aus dem Augenwinkel, wie Floffi seine putzig-Show abzog.
 

"Ja, fließend", landete Paulsen wieder auf sicherem Grund. "Wahrscheinlich von seiner Tante...?"
 

"Mmm, okay... Wie heißt er überhaupt?" fragte Kai, der die ganze Geschichte immer noch ziemlich krud fand.
 

Paulsen atmete tief durch. "Skia Holgerson", informierte er Kai.
 

"Holgerson? Wie der mit den Gänsen? Na gut... Ich hole ihn dann Morgen mal ab, dann sehen wir weiter", beschloss Kai. Was auch immer es mit Skia Holgerson auf sich haben mochte - er würde ihn schon einnorden, darauf durfte der Gift nehmen. Hoffentlich war der kein Fan von Haarspray...
 

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"Ach, ehe ich es vergesse. Hier! Die ist für dich", sagte Morgana und kramte irgendetwas Großes unter dem Tisch hervor, an dem sie frühstückten. Etwa Großes, Pinkes, auf dem kleine lachende Hexen mit spitzen Hüten abgebildet waren, die auf Besen flogen. Wieso dachten das die Menschen eigentlich derart vehement? Hatten die schon mal ernsthaft versucht, länger auf einem Besen zu sitzen? Breitbeinig? Das war überhaupt nicht zu empfehlen. Oder dachten die, alle Hexen hätten Hornhaut am Arsch und sonst wo? Also Tante Morgana würde er da wohl besser nicht fragen, sonst rupfte die ihm noch die Nasenhaare einzeln aus... das war ja schon unangenehm, wenn man keine Nerven in den Haaren hatte... Aber sie flog ja auch nicht auf irgendwelchen Putzgeräten durch die Botanik...
 

Interessiert musterte er das Ding, dass sie ihm in die Arme gedrückt hatte. "Eine... eine Schultüte?" folgerte er richtig.
 

"Genau!" grinste sie ihn an und nahm einen weiteren Schluck von dem Gebräu, das sie Kaffee nannte und das wahrscheinlich auch Tote wieder lebendig machen konnte. Vielleicht entsprach das auch der Wahrheit. "Du gehst ab heute zur Schule wie ein Menschenkind, also bekommst du auch so eine Tüte zur Einschulung wie ein Menschenkind. Die Schreibacken in meinem Kindergarten tanzen an ihrem ersten Tag auch immer mit so einer Mini-Tüte an, wenn sie größer sind und zur Schule kommen, kriegen sie eine größere. Und da du so ein riesiger, hungriger Lulatsch bist, sollst du natürlich auch nicht in die Röhre schauen."
 

"Dankeschön! Wow, was ist denn da alles drin...?" freute er sich und wollte sich dem Inhalt widmen. Er war völlig hibbelig. Heute ging es los... heute ging es los... sie hatten es hin bekommen. Er war informiert, motiviert und gut frisiert. Vielleicht würde er sogar länger als drei Herzschläge durchhalten, bevor er sich in die Nesseln setzte.
 

„Hey, Finger weg!“ stoppte sie ihn und gab ihm einen leichten Klatscher auf die Knöchel. „Erst Einschulung – und dann wird ausgepackt!“
 

„Okay, okay!“ lenkte er ein und schüttelte sich die Hand. War wahrscheinlich wie Weihnachten oder so. Erst musste man allen möglichen Kram machen, dann erst durfte man auspacken. Aber immerhin hatte er jetzt etwas vor Augen, um den Tag zu überstehen.
 

Tante Morgana hatte ihr Willkommen-in-der-Menschenwelt-Programm eisenhart durchgezogen. Zwei lange Wochen lagen hinter ihm, in denen er nicht eine Minute zum Fernsehen gekommen war. Oder zu irgendetwas anderem, das sonst so seinen Alltag ausgemacht hatte. Kein Schwertkampf mit Papa, kein rumdümpeln in Mamas Tümpel, kein „Vampire Diaries“… Von all den neuen Eindrücken rauschte ihm etwas der Kopf. Sie waren einkaufen gewesen… und die Menschen hatten ihn ganz schön angeglotzt, während er sich gewunden und Tante Morgana ihn immer wieder im übertragenen wie wörtlichen Sinn getreten hatte, nicht in Deckung in die Schatten zu flutschen. Beinahe war es trotzdem passiert, als irgend so ein Menschenkind in der Schlange vorm Verkauftresen von McDonalds versucht hatte, seine Zöpfe als Schaukel zu missbrauchen. Er hatte gekreischt wie ein Mädchen in der Loopingbahn, während seine Tante das miese kleine Blag aus seiner Frisur gepult hatte. Das hatte sie ziemlich routiniert hin bekommen, Kinder schienen sie zu lieben und konnten gar nicht genug von ihr bekommen. Andersrum allerdings auch nicht…
 

Aber die fünf Cheeseburger hinterher waren trotzdem ziemlich lecker gewesen, auch wenn sie mit etwas rohem Fisch statt der Gurkenscheibe verfeinert gewiss noch besser gewesen wären.
 

Seine Premiere an seiner neuen Wirkungsstätte lag bereits hinter ihm. Das Vorstellungsgespräch beim Direktor des Alsterfleetgymnasiums. Erst durch die ganze Stadt… all die Menschen… und Ampeln… und Verkehrsschilder… entlang des Wassers joggten Unmassen, auf der Außenalster trieben so viele Segelboote, dass man fast gar kein Wasser mehr hatte sehen können… Das wäre was für Mama in ihren jungen Jahren gewesen, bevor die Regeln gekommen waren…
 

Das Alsterfleetgymnasium lag seinem Namen entsprechend an einem ruhig vor sich hin dümpelnden Nebenarm des Flusses, ein altertümlicher Rotklinkerbau mit ein paar neueren Anbauten. Auf dem Schulgelände standen hohe Bäume, Eichen in voller Pracht, in denen die Eichhörnchen nur so wuselten... Vor seinem inneren Auge war ihm Papas Leibgericht erschienen, zumindest das, das allem folgte, das einen Bauern beinhaltete. Gegrillte Eichhörnchen am Spieß in Honig… mmm… war zwar eine ziemliche Fummelei, aber es lohnte sich, superknusprig mit einer cremigen Füllung aus frischen Innereien – und aus dem Fell konnte man etwas Hübsches basteln… wirklich sehr vielseitige kleine Biester.
 

Es war Nachmittag gewesen, der asphaltierte Schulhof vor der Eingangsfront hatte verlassen da gelegen. Unter den Arkaden hindurch war er mit wie irre klopfendem Herzen seiner Tante gefolgt, die ausgetretenen Steintreppen hinauf zum Büro von Schuldirektor Paulsen. Auch der hatte sie bei ihrem Eintreten erstmal ziemlich dumm angesehen, dann aber hatte er nur kurz geseufzt und sie eingeladen, sich auf die Besucherstühle vor seinem breiten Schreibtisch zu setzen. Er war in einem Schulleiterbüro! Einem richtigen Schulleiterbüro in einer richtigen Schule! Und es gab hier wirklich einen großen, schweren Holztisch und Aktenschränke und Fotos von irgendwelchen Schulveranstaltungen an den Wänden! In der Ecke hatte ein Golfschläger gelehnt. Oh weh… schlug man mit so etwas nicht auch Leuten das Hirn zu Brei? Aber es gab keine Prügelstrafe mehr, das hatte er nachgeschlagen. Seine Eltern wären entsetzt gewesen.
 

Sie hatten dem andächtig lauschenden Direktor ihre Geschichte aufgetischt. Skia Holgerson in Begleitung seiner liebe Tante Marion Müller-Mayer – so nannte sich Morgana zur Zeit den Menschen gegenüber – bat um Aufnahme in diese hehren Hallen. Er hatte eine Weile mit der Schule aussetzen müssen, um die psychischen Wunden verheilen zu lassen, die der Tiger-Tod seiner Altvorderen in ihm geschlagen hatte. Dementsprechend war er bereits neunzehn, dieses Alter würde man ihm abkaufen, hatte Morgana ihm versichert. Außerdem könne er dann offiziell Auto fahren, und sie müsse ihn nicht ständig durch die Gegend karren – Autofahren, oh weh... Aber sie schien Recht zu haben, Paulsen schluckte seine Altersangabe ohne mit der Wimper zu zucken. Wenn der wüsste, dass sein hundertster Geburtstag gar nicht mal so weit weg war… Seine Mutter war Sängerin gewesen, hatte er plangemäß berichtet, bekannt für ihre herzzerreißenden Arien, sein Vater hatte Rationalisierungsmaßnahmen in der Landwirtschaft durchgeführt. Das war ja auch ziemlich dicht an der Wahrheit… kein Grund sich irgendetwas auszudenken, bei dem er sich noch total verhaspelte. Paulsen hatte verständnisvoll genickt, ihnen von der ehrenvollen Geschichte dieser Institution erzählt, von seiner Hoffnung, dass Skia hier einen Weg zurück ins Leben finden möge, aber auch von den Anforderungen, die der Unterrichtsstoff und der Klassenalltag an ihn stellen würden. Zunächst solle er sich doch erst einmal eingewöhnen, man werde ihm helfen, wo man es vermöge, er könne da ruhig offen sein, wenn es Probleme gäbe, dazu seien sie schließlich da.
 

Paulsen hatte kurz gegrübelt, dann hatte er verkündet, dass Skia es im zwölften Jahrgang versuchen solle. Dort würde er vom Alter her einigermaßen rein passen, die anderen wären nur ein wenig jünger als er, aber das würde schon gehen. Notfalls könne er immer noch eine Jahrgangsstufe zurückgehen, wenn er sich überfordert fühle. Ihm wurde erklärt, dass es verschiedene Schwerpunktsklassen gäbe, zwischen denen er sich entscheiden müsse. Es gab eine naturwissenschaftliche Klasse – besser nicht, von Mathe hatte er wenig Ahnung, Physik kannte er nur aus „Galileo“, auch wenn sie ihn faszinierte. Aber nicht alles da machte für ihn Sinn, da es doch so leicht zu umgehen war. Da würde er so oder so büffeln müssen, was offiziell ging und was nicht. Die Sprachenklasse lehnte er auch lieber ab. Da könnte auffallen, dass er Latein nicht nur übersetzen konnte, sondern auch fließend sprach. In ihrer Welt herrschte ein ziemliches Sprachenchaos, man wechselte hin und her, je nachdem mit wem und worüber man redete und in welcher Stimmung man gerade war. Englisch kannte er allerdings eher von den Originalsprachspuren seiner DVDs. Sport? Oh weh, das würde sowieso ein Problem werden. Auch wenn er sich arg zusammen riss, war er viel schneller und stärker als ein Mensch. Kunst? Kunst war gut! Zeichnen konnte er ganz manierlich, ohne dabei zu völlig übertriebenen Ergebnisse zu gelangen. Außerdem war Kunst ein Fach, an dem Schüler immer Spaß hatten und der Lehrer locker und besonders verständnisvoll war. Kunstlehrer trugen häufig etwas komische Klamotten und waren ein wenig verpeilt. Perfekt!
 

„Gut“, hatte Direktor Paulsen gesagt, während er wehmütig seinen Golfschläger gemustert hatte. Hatte er etwas falsch gemacht? Wollte der Direktor ihm jetzt doch eine verpassen und ließ das nur, weil er nicht durfte? „Dann kommen Sie in die Klasse von Herrn Wiesenblum. Herr Wiesenblum ist einer unserer jungen, engagierten Kollegen, er wird sich gerne um Sie kümmern. Füllen Sie bitte das Anmeldeformular im Vorzimmer aus, bevor Sie gehen. Ich informiere Ihren künftigen Klassenlehrer, er wird sie Morgen vor der ersten Stunde hier abholen.“
 

Morgana hatte ihn noch ein wenig voll gezwitschert, wie froh sie sei, dass ihrem Neffen hier eine Chance gegeben werde. Er würde sein Allerallerbestes tun, dafür würde sie schon sorgen. Das glaubte Skiaphagos ihr auf Anhieb… Dann war er seiner mit monströsen Stöckelschuhen bewaffneten Tante hinaus gefolgt, hatte den Zettel ausgefüllt und sich von der ihn verstohlen musternden Sekretärin verabschiedet. Das war es gewesen. Er war drin, hochoffiziell. Jetzt musste er nur noch antreten und das durchziehen. Hoffentlich ging das gut. Er musste so vieles beachten… aber einem verwaisten, traumatisierten schwedisch-indischen Sikh sah man vielleicht das ein oder andere nach… hoffentlich musste er nicht in den Schachclub oder jemand versuchte, ihn in die Toilette zu duckern…
 

„Okay, Herr Holgerson“, zerrte ihn Morgana wieder in das Hier und Jetzt zurück. „Trink deinen Kaffee aus und iss gefälligst den Schatten des Nutellaglases auf – ich will keinen angenagten Kram hier rumstehen haben. Es ist zwanzig nach Sieben, wir müssen los – oder willst du etwa schon an deinem ersten Tag zu spät kommen?“
 

Nein, das wollte er nicht.
 

Herr Wiesenblum wartete auf ihn.
 

Sein Klassenlehrer, Herr Wiesenblum.
 

Herr Wiesenblum, der Kunstlehrer.
 

Wow. Das geschah wirklich. Er ging richtig zur Schule.
 

Er hatte einen coolen Rucksack mit Stiften darin und Heften und einem Block, ein angesagtes Handy für den Notfall, ein hippes dunkelblaues Shirt und eine echte Levis.
 

Und ein paar sehr edle Sneakers, die Morgana gnadenlos für ihn erstanden hatte. Aber das war ihm scheißegal. Er hasste sie inbrünstig. Mochte Cousin Huggar, der auf versifften menschlichen Abfall spezialisiert war, sie fressen! Seine armen Füße… Wie sollte man die Welt fühlen mit diesen Folterinstrumenten an den Hacken?!
 

Er stand auf, schnappte sich seine Tasche und warf einen letzten Blick auf die verheißungsvolle Tüte. Aber irgendwie war ihm schon klar, dass dieses Teil den Gesamteindruck etwas zerstören würde, wenn er damit anmarschiert kommen würde. Morgana langte nach den Schlüsseln des Käfers und schob ihn vor sich in Richtung Eingangstür. Ein letzter Blick in den Flurspiegel verriet ihm, dass seine Frisur saß und dass er satt war. Darauf musste er achten, ansonsten würden sich seine Augen verfärben. Notfalls würde er das als Allergie auf Beerenfrüchte deklarieren, aber besser das Schicksal nicht herausfordern. Musste er morgens eben richtig schön reinhauen, das hielt eine Weile. Und ein üppiges Frühstück sollte schließlich gesund sein. Und Froot Loops waren gesund, das stand auf der Packung. Hatten Schatten auch Vitamine? Puh… Schattamin? Lernte man so etwas in Bio?
 

Himmel, es ging los!
 

Auf in den Kampf.
 

Er war Skiaphagos, Schattenfresser, und er wollte nach Hause. Und das würde er auch hin bekommen, auch wenn er vielleicht dabei sitzen blieb!
 

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„Morgen…“, murmelte Kai der übertrieben geschäftig herum wurstelden Schulsekretärin Jette Werner entgegen. Als hätte die ernsthaft so viel zu tun, die wollte einem nur klar machen, dass man sie bloß nicht nerven solle. Ihre vornehmliche Funktion war sowieso die des Vorzimmerdrachens, der Paulsen in seinem Kabuff so weit Ruhe und Frieden garantierte, wie es ging. „Ich soll hier einen neuen Schüler in Empfang nehmen? Skia Holgerson, 12. Jahrgang?“ machte er ihr sein Anliegen klar.
 

„Oh!“ erwiderte sie und sah ihn überraschenderweise wirklich an. „Na dann…“, meinte sie mit einem Ausdruck in den Augen, in dem sich Mitleid und brennende Neugierde mischten. Oh weia… da war ihm wohl kein Einheitsbrei angedreht worden, „Er wartet nebenan im Elternsprechzimmer auf sie“, verkündete Werner und nickte hinüber zur entsprechenden Tür. Er konnte ihre Blicke im Nacken fühlen, während er hinüber lief.
 

Das Elternsprechzimmer war ein kahler, weiß gestrichener Raum mit einem öden Tisch und Stühlen in der Mitte. Die verzweifelt vor sich hin sterbenden Topfpflanzen, die wahrscheinlich eine anheimelnde Atmosphäre schaffen sollten, gaben dem Ganzen erst Recht die Aura verdörrter Bürokratie. Auf einem der Stühle saß eine hoch gewachsene Gestalt.
 

Kai erwischte sich dabei, wie er begann, blöde zu glotzen. Zwei goldglänzende armdicke Seile lagen irgendwie im halben Zimmer herum. Scheiße… waren das Haare?! Nein… das konnte dem doch unmöglich alles aus der Birne quellen, geschweige denn halten, ohne ihm die Kopfhaut weg zu reißen… das war doch unecht…?! Oder hatte der von Floffis haarverschönerndem Luxusmampf genascht?! Der kippte doch rückwärts um, wenn er versuchte zu stehen?! Der würde doch überall hängen bleiben?! Wer rannte denn so bitteschön rum?! Das sollte ein Halbinder sein?! Sah eher aus wie ein Vollschwede mit Vollmacke. Oder eher wie Rapunzel in männlich nach einem harten Tag. Etwas in Kai wollte irre kichern. Erst Gudruns Geschichte mit dem Schattenfresser… und jetzt bekam er es mit Rapunzel Junior zu tun…
 

Er sah, wie sich die merkwürdig farblosen, hellgrauen Augen des anderen auf ihn richteten. Die blond bewimperten Lider schlugen ein wenig nervös. Die Haut war ziemlich bleich und hatte einen Stich ins Ungesunde, als würde er nie in die Sonne gehen, leichte Augenringe zeichneten sich ab. Wahrscheinlich so eine Kellerassel, die die ganze Nacht World of Warcraft spielte. Der junge Mann hatte ein ovales, eher zartes Gesicht, mit einer fein geschwungenen Nase und einem etwas breiten Mund. Ungewöhnlich, aber hübsch. „Ha… hallo?“ stammelte er. Eine sehr angenehme Stimme, nicht einer aus der Kreisch-Brüll-Rumproll-Fraktion. Zumindest nicht auf den ersten Blick. „Herr Klassenlehrer Wiesenblum?“
 

„Äh, ja“, fing sich Kai. Himmel, sein Neuer sah ganz schön schräg aus. Und einen kleinen Schaden hatte er mindestens garantiert auch. Entweder waren seine Eltern wirklich von Tigern gefressen worden, oder er erfand irre Geschichten. In keinem Falle so astrein. Plus merkwürdige religiöse Ansichten und einen Migrationshintergrund. Mann oh Mann… gut, dass er sonst im Leben nichts zu tun hatte. „Skia Holgerson?“
 

Der andere nickte und stand auf. Er war groß, musste einen irren Wachstumsschub hingelegt und sich dann in einem Männerkörper wieder gefunden haben. Und seine Monsterzöpfe reichten wirklich fast bis zum Boden. Nicht das geringste Anzeichen von Spliss. Mary Sue würde vor Neid erblassen. Wenn der seine Haare aufmachte würde er aussehen wie dieses Vieh aus der Addams Familiy - nur drei mal so groß. Kai selber war auch kein Zwerg, aber sein neuer Schüler überragte auch ihn.
 

„Äh… herzlich Willkommen!“ quetschte Kai heraus und nötigte sich ein pädagogisch wertvolles Lächeln ab.
 

In Skias Züge kam Bewegung, sein Mund zog sich in die Breite, er strahlte über das ganze Gesicht, als habe Kai ihm gerade alle seine größten Wünsche erfüllt. Mit zwei langen Schritten, die allerdings irgendwie so wirkten, als träte er in Hundescheiße, war er bei ihm, seine Haare folgten, dann streckte er die Hand aus und schüttelte Kais mit der Inbrunst eines Vertreters, der gerade einem Eskimo einen Kühlschrank angedreht hatte.
 

Kai hatte ihm verdattert die Hand gereicht – welcher Schüler tat denn so etwas freiwillig, ohne dass die Eltern in Sichtweite waren? – und jetzt wurde ihm schlecht. Irgendwie schwummerig. Als würden kleine fiese Ameisen unter seiner Haut entlang kriechen und ihn anpinkeln. Überrascht schnappte er nach Luft, da hatte Skia ihn schon wieder los gelassen, und es war fort. Was war das denn gewesen…?!
 

Bevor er sich recht besinnen konnte, fiel der andere wieder über ihn her, diesmal allerdings verbal.
 

„Vielen Dank, Herr Pädagoge, Klassenlehrer, Studienrat Wiesenblum, dass Sie sich um mich kümmern!“ textete ihn der haarige Pseudo-Inder mit einem Enthusiasmus voll, als sei er ein naher Verwandter von Floffi. „Ich freu mich so, dass ich Ihr Schüler sein darf! Und zur Schule gehen darf! In Ihre Klasse! Ich will auch ganz viel lernen und werde mir richtig Mühe geben, versprochen!“
 

Es stimmte. Der hatte eine Schraube locker. Mindestens.
 

Oder er war der dreistete Schleimer der Welt.
 

Na dann mal frisch ans Werk.



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