Kreise
“Verzeihung!” Und erneut konnte ihm ein Kollege nur knapp ausweichen. Zwei hatte er auf seiner Jagd durch die Division bereits umgerissen. Aber sich später mit wütenden Offizieren herum schlagen zu müssen war sicher immer noch angenehmer, als erneut zu spät zu kommen. Dass Warten den Taichou verstimmte, war allgemein bekannt. Und noch bekannter war, dass verstimmte Taichou extrem unangenehme Zeitgenossen waren. Dies traf auf so ziemlich jeden Taichou zu… außer vielleicht auf den der Dreizehnten. Aber um den zu verstimmen, musste man schon all seine Kräfte aufbieten.
Nun raste er gerade um eine Ecke, verlor sein Gleichgewicht, verteilte dabei fast die Papierrollen, die er mit sich führte, am Boden, fing sich wieder und setzte seinen Weg fort. Noch knapp drei Minuten blieben ihm, als er endlich vor der Bürotür zum Halten kam. Drei Minuten, auf alle Fälle genug, um noch rechtzeitig da zu sein… aber definitiv zu wenig, um sich auch mental darauf vorzubereiten. Ein, zweimal atmete er tief durch, strich sich mit dem Handrücken über die Stirn, über seine etwas “modifizierte” Augenbraue. Der Taichou hatte leicht abschätzig geguckt, als er das erste Mal mit diesem Muster im Gesicht bei der Arbeit aufgetaucht war… Allerdings war dieser Blick auch der erste gewesen, den er von seinem Vorgesetzten überhaupt richtig wahrgenommen hatte. Erst einige Zeit später war ihm klar geworden, dass das keineswegs der erste Seitenblick gewesen war…
Noch zwei Minuten und er wurde immer nervöser. Der Grund dafür war, dass er einfach nicht in dieses Büro wollte. Nicht, seit dieser Sache. Und genauer gesagt, wollte er auch über diese Sache nicht weiter nachdenken. Dass das Ganze ein Missverständnis gewesen war, hatte er lange genug versucht, sich einzureden. Erfolglos.
Leicht raschelnd verschoben sich die Papierrollen in seinen Armen, als er unruhig sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagerte. Es waren die Berichte, welche täglich pünktlich abgeliefert werden sollten. Und heute war er damit dran. Dass etwas so Banales so nervenaufreibend werden konnte! Er sollte einfach reinmarschieren, die Rollen auf die Tischplatte legen und wieder verschwinden. Ach, das Verneigen nicht vergessen… nicht, dass er zu vertraulich mit Kuchiki umging, das würde alles nur noch weiter verkomplizieren.
Eine Minute noch. Vielleicht sollte er seinen Spielraum nicht bis auf die letzte Sekunde ausreizen.
Behutsam klopfte er an die Tür.
“Herein.”
Noch ein winziger Moment des Zögerns, dann öffnete er die schwere Bürotür.
“Ich bringe die Berichte, Kuchiki-taichou…”
Nach einem knappen, jedoch leicht ungeduldigem Hereinwinken des anderen betrat der Jüngere das Büro.
“Dir sollte eines klar sein… Ich beiße nicht.”
“Bitte?”
Er brauchte einen Moment, um das einzuordnen. Dann wurde ihm klar, dass Kuchiki gespürt haben musste, wie er geschlagene zwei Minuten nervös vor der Tür herumgelungert hatte. Augenblicklich stieg ihm die Schamesröte ins Gesicht.
“Das… also … weiß ich doch…”, murmelte er, ohne den anderen anzusehen. Hätte er ihn angesehen, wäre da auch nicht mehr gewesen, als das übliche ausdruckslose Gesicht. Aber innerlich amüsierte sich sein Taichou gerade prächtig, da war er sich sicher. Auch, wenn Kuchiki stets so gefasst und ernst wirkte, so zweifelte er nicht daran, dass auch er Schadenfreude empfinden konnte wie jeder andere. Oder noch besser als andere. Stille Wasser sind tief, das hatte er schon oft gehört. Bis vor kurzem hatte er damit nicht allzu viel anfangen können, aber nun wusste er, was das bedeutete. Kuchiki hatte definitiv mehr Facetten, als man auf den ersten Blick denken mochte… und er hatte die falschen kennen gelernt.
Leise räusperte der Schwarzhaarige sich. Was denn nun? Ach ja, die Rollen… Langsam trat er auf den Schreibtisch zu, um das Papier abzulegen.
“Ich… ich gehe dann mal wieder.” Seine Stimme klang beinahe schon piepsig. Unwillkürlich musste er an diesen Jungen aus der Vierten denken, der klang auch immer so. Er sollte sich besser zusammenreißen.
“So eilig hast du es?”
Ein kurzes Aufblitzen der dunklen Augen. Der Taichou wusste genau, weshalb sein Gegenüber nicht länger als nötig bleiben wollte.
“Ja, ich habe noch viel zu erledigen…”, murmelte er entschuldigend. Zur Antwort erhielt er lediglich ein kurzes Nicken.
“Natürlich. Dann lasse deine Pflichten nicht warten, Rikichi.”
Doch seinen Namen hörte der Shinigami schon gar nicht mehr, so schnell war er aus dem Büro entschwunden.
Nachdenklich wiegte Byakuya eine der Rollen in seiner Hand hin und her. Rikichi hatte das Büro nicht verlassen, er war geflüchtet. So verstört war er also von seiner Gegenwart? Schade, wirklich schade. Dennoch schlich sich ein feines, kaum wahrnehmbares Lächeln auf das Gesicht des Adligen. Ein Lächeln, welches kaum jemand kannte oder kennen lernen wollte. Byakuya mochte diesen Jungen. Er mochte ihn sogar recht gerne. Pech für Rikichi, denn der schien seinem Vorgesetzten so gar nichts abgewinnen zu können. Dafür schien er jemand ganz anderen fast schon zu verehren. Das kleine Grinsen stahl sich wieder davon und machte einer leicht gefurchten Stirn Platz. Dass Rikichi so an Abarai hing, gefiel ihm gar nicht. Was genau das war, ob bloße Verehrung oder vielleicht sogar ein wenig Schwärmerei, das war ihm egal. Aber alleine schon dass Rikichi den Stil des Fukutaichou nachahmte, sorgte dafür, dass Byakuya am liebsten seinen Kopf gegen die Wand geschlagen hätte. Was er natürlich niemals wirklich in Erwägung ziehen würde, das war einfach zu kindlich und nicht gerade gut für die Haut.
“Haut” war allerdings das richtige Stichwort, denn genau die störte ihn bei Renji am meisten. Diese lächerlichen Tattoos, beinahe so vulgär wie die von Tousens Fukutaichou. Und seit geraumer Zeit nun hatte auch Rikichis Gesicht, welches vorher fast perfekt gewesen war, so einen dämlichen… Strich. Was auch immer der überhaupt zu bedeuten hatte.
Byakuya hoffte inständig, dass Rikichi sein Gesicht nicht noch weiter verunstalten würde. Er war sich nicht einmal sicher, ob er ihn im Falle eines Falles dann überhaupt noch anziehend finden würde. Der Adlige liebte den Jungen nicht, so viel war für ihn klar. Dieses Mitglied seiner Division hatte sein Interesse geweckt, das war alles. Er mochte Rikichi, vor allem begehrte er ihn. Aber das konnte auch bloß eine Laune sein. Dass er sich nach dem Tod seiner Frau nämlich ernsthaft neu verlieben könnte, schien ihm mehr als unwahrscheinlich. Doch das spielte auch keine Rolle. Er wollte Rikichi für sich und er wollte ihn nicht teilen, nur das zählte. Er lehnte sich zurück und ließ seinen Fukutaichou zu sich rufen. Das feine Lächeln stand ihm kurz wieder ins Gesicht geschrieben.
Endlich wieder im trauten Heim. Der Taichou hatte ihn tatsächlich kurz vor Schichtende noch zu sich gerufen, um ihn durch halb Seireitei zu irgendwelchen Botengängen zu jagen. Als ob die anderen Shinigami seines Ranges so etwas machen mussten!
Seine Laune war also nicht gerade auf dem Höhepunkt, als Renji sich erschöpft an die Innenseite der Tür zur Wohnung lehnte.
“Bin zurück…”
Keine Antwort? Auch gut. Er entledigte sich seiner Schuhe und schlurfte in sein Zimmer. Das hier vorhandene Chaos ignorierend ließ er sich müde auf sein Bett nieder. Jedoch nur kurz, denn zum ersten Mal in seinem Leben hörte er die Matratze so protestierend aufquietschen. Erschrocken sprang er wieder auf. Doch die Verwunderung wurde schnell zu leichter Genervtheit. Warum zur Hölle war sein Bett besetzt? Der unerwünschte Gast schlief einfach unbekümmert weiter und der Rothaarige wollte gerade an dessen Schulter rütteln, als eine Stimme ihn davon abhielt.
“Lass ihn in Ruhe, er ist stockbesoffen.”
Renjis Blick glitt zu Shuuhei, welcher im Türrahmen lehnte.
“Und warum schläft er seinen Rausch in meinem Bett aus?”
“Weil ich ihn darein gelegt habe.”
“So weit war ich auch schon.”
“Weil sein Bett gerade den Rest aus der umgekippten Sakeflasche aufsaugt.”
“Aha. Und ich soll wo schlafen?”
“Kannst ja sein Bett neu beziehen.”
Inzwischen nicht mehr genervt, sondern fast schon gereizt, verdrehte Renji die Augen.
“Izuru mutiert noch zum Alkoholiker, wenn er sich schon alleine so die Kante gibt.”
“Allein war er nicht. Matsumoto war hier…”
Renji hob eine Augenbraue.
“Das wundert mich jetzt umso mehr. Warum bist du dann noch nüchtern?”
“Bin eben erst gekommen…”
Das klang es echt schon fast eine Spur zu bedauernd. Wenig verwunderlich, Shuuhei war auch ziemlich verknallt in diese Frau. Hoffnungslos verknallt. Wobei… “hoffnungslos” verknallt war man eher, wenn man den eigenen Taichou liebte. Renji selbst war hoffnungslos verknallt. Izuru auch. Aber bei dem war eh das ganze Leben hoffnungslos, das fing schon bei der Frisur an.
Renji verließ sein Zimmer wieder, Shuuhei folgte ihm. Irgendwann waren die drei Freunde, ohne ein großes Trara darum zu machen, dazu übergegangen, sich mit den Vornamen anzureden. Sie kannten sich schließlich schon bevor sie Shinigami wurden und waren stets miteinander ausgekommen.
“Was machst du eigentlich hier? Vergreifst du dich wieder an unserem Kühlschrank?”
“Ja.”
Na, immerhin war er ehrlich. Er grinste entschuldigend.
“Seit Izuru hier lebt, ist der Inhalt einfach viel verlockender. Er kauft regelmäßig ein und schmeißt Gemüse nicht erst dann weg, wenn darauf Pilze in der Größe Hitsugaya-taichous wachsen.
Aber nicht nur der Kühlschrank ist verlockender… Die Wohnung ist endlich mal sauber. Und es riecht besser.”
“Ja, ich hab´s verstanden… Klingt fast, als wolltest du ihn mir streitig machen.”
“Na ja…”
“Ich weiß, du stehst auf ne andere Blondine.”
“Eben. Aber ich würde es mir noch mal überlegen, wenn Izuru obenrum mehr zu bieten hätte.”
“He! Willst du dass ich Albträume kriege?”
Bildlich vorstellen wollte er sich das jetzt wirklich nicht. Renji betrat die Küche und inspizierte nun seinerseits den Kühlschrank. Shuuhei hatte Recht, das Zusammenleben konnte mehr als praktisch sein. Seit Izuru hier war, gab es fast täglich warmes Essen. Der Rothaarige nahm etwas vom heutigen Gericht, Reispfanne, aus dem Kühlschrank, um es aufzuwärmen. Ja, inzwischen war er recht froh über diese Wohngemeinschaft, auch, wenn sie recht überstürzt zustande gekommen war. Aber Feuer brach nun einmal überstürzt aus, da konnte man nichts machen. Und nachdem die halbe Wohnung seines Freundes niedergebrannt war, hatte Renji natürlich nicht zweimal überlegen müssen, bevor er ihm angeboten hatte, zu ihm zu ziehen.
Die Mikrowelle machte sich bemerkbar und er setzte sich mit der nun heißen Mahlzeit an den Tisch. Für Shuuhei hatte er auch gleich eine Portion mit aufgewärmt. Der hatte vermutlich schon gegessen nachdem er Izuru versorgt hatte, aber er war niemand, der eine zweite kostenlose Portion ausschlug.
“Du siehst ziemlich fertig aus.”
“Ich musste auch den ganzen Tag umher rennen… Kuchiki-taichou kann fast schon sadistisch sein, wenn er Aufgaben verteilt.”
“Ja, Ichimaru-taichou auch. Izuru musste schreiben, bis ihm die Hand fast abfiel.”
“He…”
“Hm?”
“Du hast die Regeln nicht verstanden.” Schmunzelt schüttelte Renji den Kopf.
“Man regt sich über den eigenen Taichou auf.”
“Okay… Tousen-taichou hat mir mal wieder die halbe Arbeit abgenommen, dieser Schuft.”
Genau das hatte Renji hören wollen. Die Welt konnte schon mies sein. Kuchiki-taichou konnte mies sein. Wobei es für ihn ohnehin kaum einen Unterschied gab zwischen seiner “Welt” und “Kuchiki-taichou”. Frustriert machte er sich über seinen Reis her.
Shuuhei beobachtete ihn kurz, schein noch etwas sagen zu wollen, entschied sich dann aber anders. In etwa konnte er sich vorstellen, was dem Jüngeren gerade durch den Kopf schoss, aber ganz verstehen konnte er das nicht. Sich in den Taichou der sechsten Division zu verlieben schien ihm einfach verrückt. Aber Renji ließ sich da ebenso wenig reinreden wie Izuru, dessen Phantasien nebenbei bemerkt noch abstruser waren. Schweigend leerten sie ihre Teller und stellten sie in die Spüle.
“Soll ich dir noch mit Izurus Bett helfen?”
“Lass mal, das kann er morgen selbst machen… Ich schlafe auf dem Sofa, das reicht mir.”
“Okay. Wir sehen uns…”
Damit verschwand Shuuhei auf den Flur und kurz darauf aus der Wohnung. Morgen würde er mit Sicherheit ohnehin wieder auf der Matte stehen, so viel war sicher. Eigentlich hätten sie ihn auch gleich mit in die WG einbinden können… Aber dazu reichte der Platz nun doch nicht ganz.
Renji schnappte sich die Decke vom Sofa und rollte sich auf ebendiesem ein, die Ereignisse des Tages Revue passieren lassend. So wie jeden Abend, ganz gleich, ob etwas besonderes passiert war oder nicht. Alleine schon, um das wohlgeformte Gesicht seines Vorgesetzten noch einmal vor Augen zu haben.
Und während er sich fragte, warum Kuchiki-taichou ihn in letzter Zeit mit Arbeit nur so überhäufte und kaum noch ein gutes Wort für ihn hatte, saß dieser bei einer letzten Tasse Tee auf seiner Terrasse und bekam Rikichi nicht mehr aus dem Kopf. Dieser wiederum hatte inzwischen bereits seinen Schlaf gefunden, doch erst, nachdem er Renji gedanklich eine schöne Nacht gewünscht hatte.