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Die Traumverkäufer

von

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Verschwunden

Tjard gähnte und streckte sich, während er die Treppen hinablief. Es roch nach getoastetem Weißbrot und Kaffee und er hörte aus der Küche das allmorgendliche rumoren seines Vaters.

»Guten Morgen«, grüßte er, als er die Küche betrat. Er erhielt ein Grunzen zur Antwort. Einen Augenblick lang blieb er unschlüssig unter der Tür stehen, dann trat er komplett ein und holte sich einen Teller und eine Tasse aus dem Schrank.

»Hast du meinen Zettel gesehen? Der für die Schule«, versuchte er ein Gespräch in Gang zu bringen, erhielt jedoch abermals nur ein undefiniertes Grunzen.

»Weißt du, ich fände es toll wenn du zum Elternsprechtag gehen würdest, der ist auch bald«, sprach er einfach unbeirrt weiter, während er sich einen Becher Milch eingoss und sein Toastbrot zu beschmieren begann. Da schaute sein Vater von dem Bericht auf, den er gerade las.

»Tjard, hör auf zu nerven. Du weißt genau, dass ich keine Zeit für so etwas habe. Sei jetzt ruhig«, erklärte der Mann ungeduldig und las weiter.

Tjard schaute ihn noch einen Moment lang an, dann schluckte er schwer. Er stelle seinen Teller auf die Arbeitsfläche und den Becher Milch in den Kühlschrank. Der Appetit war ihm vergangen.

»Ich geh wieder hoch«, murmelte er leise, war sich aber sicher, dass sein Vater ihm gar nicht zuhörte. Er verließ die Küche und versuchte sich einzureden, das der Bericht wirklich wichtig war, das es um etwas sehr dringendes ging, doch er wusste, das er sich selbst belog.

Er lief die Treppe wieder hinauf, betrat sein Zimmer, schloss die Tür und lehnte sich dann dagegen. Er verdrängte den Gedanken an seinen Vater, verbannte alle negativen Gedanken, die ihm durch den Kopf jagten, überlegte dann, was er tun sollte. Es war Samstag, er musste nicht in die Schule. Er hatte keine Hausaufgaben zu machen, keine Hausarbeiten zu erledigen und um nach draußen zu gehen, war es ihm noch zu früh.

Er setzte sich an seinen Computer und machte den Fernseher an. Er schaltete einige Augenblicke herum, bis sein Computer hochgefahren war, dann ließ er die Nachrichten an. Der Nachrichtensprecher berichtete von einigen rätselhaften Morden, die noch immer nicht aufgeklärt waren.

Tjard wusste auch, dass das noch eine Weile so bleiben würde, lief der Täter der Polizei nicht direkt in die Arme. An den Tatorten gab es nicht den geringsten Hinweis, weder, wie der Täter hereinkam und erst recht nicht, wer er war. Keine Fingerabdrücke, keine DNA-Spuren. Er brach keine Türen oder Fenster auf. Es war, als gäbe es ihn eigentlich gar nicht. Nur die Toten waren und blieben tot.

Es war nicht einmal klar, wie er mordete. Keines der Opfer hatte Spuren einer Vergiftung oder dergleichen gehabt, es gab auch keine äußerlichen Gewalteinwirkungen und sie waren alle scheinbar schlafend in ihren Betten aufgefunden worden. Ohne Muster, keines der Opfer hatte irgendeine Verbindung zu einem anderen. Es war, als hätte ihr Herz in der Nacht einfach aufgehört, zu schlagen.

Es waren Kinder, Säuglinge sogar, gleichermaßen betroffen, wie Menschen mittleren Alters und jene, die sowieso nicht mehr viel Zeit hatten.

Diese kleinen Details hatte man der Öffentlichkeit natürlich verschwiegen. Man wollte keine Panik heraufbeschwören. Tjard wusste es nur, weil sein Vater Polizist war und er eher zufällig dabei gewesen war, als sein Vater und ein Kollege sich darüber unterhalten hatten.

Während er dem Nachrichtensprecher jetzt so zuhörte, wünschte er sich, das sein Vater nur wegen diesen Fall so wenig Zeit und Interesse für ihn zeigte, doch auch dieses mal wusste er es besser. Es wusste, dass sein Vater gar nicht an diesem Fall arbeitete.

Er verdrängte auch diesen Gedanken und loggte sich im Chat ein, nur um festzustellen, das keiner seiner Chatfreunde online war. Natürlich nicht, die meisten waren erst vor ein paar Stunden schlafen gegangen.

Er überlegte eine Weile, was er tun sollte, um die Langeweile zu bekämpfen. Er konnte in die Stadt fahren, ins Kino gehen, wieder neue Bücher kaufen. Er konnte auch einkaufen gehen, dann brauchte er das später nicht zu tun.

Er dachte noch nach, als er hörte, die draußen die Tür ins Schloss fiel. Sein Vater war zur Arbeit gegangen und hatte sich nicht einmal verabschiedet.

Tjard seufzte und schaltete den Fernseher aus. Er stand auf, trat ans Fenster und beobachtete, wie sein Vater wegfuhr. Er würde erst sehr spät abends nach Hause kommen, das wusste er. Das war schon immer so gewesen, solange Tjard zurückdenken konnte.

Er lehnte seine Stirn gegen die kalte Glasscheibe und schloss die Augen. Er versuchte sich vorzustellen, wie sein Leben wohl wäre, wenn er in einer normalen, in einer glücklichen Familie lebte, die man so oft in Filmen sah.

Aber seine Familie war anders. Seine Mutter kannte er nicht, er konnte sich kaum an sie erinnern. Sie war gegangen, als er noch ganz klein gewesen war. Früher hatte er geglaubt, dass sie nur jemanden besuchte und der Besuch wohl etwas länger dauerte, dann dachte er, sie wäre vielleicht eine Prinzessin oder so, die nicht bei ihm bleiben konnte, weil sie nicht wollte, das er zwischen den ganzen Politikern aufwachsen musste.

Heute glaubte er, dass sie einen anderen Mann gefunden hatte. Er dachte, dass sie wohl mit seinem Vater nicht glücklich war, dass sie nie einen Sohn haben wollte und sie beide deswegen verlassen hatte. Um bei einem anderen Mann und in einer anderen Familie ihr Glück zu finden.

Dazu passte auch, dass sein Vater nie über seine Mutter sprach. Es gab keine Fotos, keine Geschichten über sie. Wenn nicht die sachte Erinnerung an sie da gewesen wäre, so hätte Tjard glauben können, das es immer schon nur ihn und seinen Vater gegeben hatte.

Nein, das stimmte nicht. Er hätte glauben können, das es immer schon nur ihn alleine gab, den sein Vater war weniger sein Vater, als vielmehr ein fremder Mann, der zufällig mit ihm verwandt war und der zufällig mit ihm in einer Wohnung lebte.

Sie aßen nicht gemeinsam, sie wechselten nur das nötigste an Worten und Tjard hatte Zeit seines Lebens nicht erlebt, das sein Vater etwas von dem tat, was die Väter im Fernsehen, in den Büchern, oder auf der Straße mit ihren Kindern taten.

Es war seltsam, das er etwas vermisste, was er eigentlich gar nicht kannte.

Er seufzte und wandte sich vom Fenster ab. Er zögerte nicht länger. Er würde jetzt etwas machen und ein paar neue Bücher kaufen, fand er die passende Idee, um sich von seinen trüben Gedanken abzubringen. Bücher hatten ihn schließlich noch nie enttäuscht.

So zog er sich schnell an und verließ die Wohnung. Er lief zur Bushaltestelle und wartete. Er musste nicht einmal lange warten. Er stieg ein, zeigte seine Monatskarte vor und setzte sich das hinten in den Bus. Er beobachtete, wie die Welt draußen vorbei zog und hing seinen Gedanken nach. Er ging all die Buchreihen durch, die er las und überlegte, wo es vielleicht einen neuen Band geben konnte.

In der Innenstadt stieg er aus und genoss die Sonnenstrahlen. Es war zwar erst Frühling, aber die Sonne würde auch heute wieder wie im Hochsommer vom Himmel scheinen und die Welt mit Hitze erfüllen. Jetzt aber war es noch angenehm warm, ohne das man meinte, zerlaufen zu müssen.

Er ging weiter. Er war nicht allein unterwegs, eine Frau versuchte, ihr Kind zu beruhigen, an einer Ladenfassade lehnten ein paar Jugendliche. Zwei junge Frauen liefen schwatzend und lachend an ihm vorbei, ein älterer Mann saß auf einer Bank und beobachtete misstrauisch die Jugendlichen und ein junges Paar führte ihren Hund spazieren.

Tjard hätte auch gerne einen Hund gehabt, aber sein Vater wollte keinen. Er lief schnell weiter, richtung Buchhandlung.

Die war noch gar nicht lange offen und dementsprechend alles andere als voll. Bloß eine gelangweilte Jugendliche stand Kaugummi kauend in der Comic-Ecke und zog dann und wann einen Manga, einen japanischen Comic, heraus, nur um ihn nach kurzem anschauen wieder zurückzustellen.

Tjard musterte sie kurz und misstrauisch, denn sie sah jemanden ähnlich, den er nicht unbedingt treffen wollte, stellte aber fest, dass es jemand anderes war.

Er lief in die Abteilung der Fantasy-Romane und las begierig die Titel, doch es gab keinen neuen. Natürlich nicht, er war erst gestern das letzte mal hier gewesen und wenn es neue Bücher gab, dann kamen die frühstens in ein paar Stunden, denn er Lieferant war gewisse noch nicht da gewesen.

Enttäuscht wandte er sich ab und ging zu den Kindern- und Jugendbüchern und nahm hier das eine oder andere Buch in die Hand. Die meisten kannte er, viele interessierten ihn nicht, aber ab und an fand er dennoch ein paar ganz nette Titel.

Doch er kam zu dem Schluss, dass er hier und heute nicht fündig werden würde. Er verließ den Laden wieder, unschlüssig, was er jetzt tun sollte. Er setzte sich in der Fußgängerzone vor dem Laden auf eine Bank und beobachtete, wie die Stadt langsam erwachte.

Menschen gingen vorbei, manche schnell und gehetzt, manche langsam und verträumt. Er dachte manchmal darüber nach, wer sie wohl waren, warum sie sich beeilten oder sich zeitlassen könnten. Woher sie kamen, wohin sie gingen. Was war ihnen in ihrem Leben schon alles passiert und was würde noch geschehen?

Es war seltsam, er konnte sich nicht vorstellen, wie es war, in einer anderen Familie zu leben. Er kehrte in seinen Gedanken dann immer wieder zu seinem jetzigen Leben zurück.

Irgendwann schüttelte er heftig den Kopf und stand auf. Er wollte wieder nach Hause fahren, was sollte er hier schließlich herumsitzen?

Er lief wieder zur Bushaltestelle und stellte sich zum Warten an eine Straßenlaterne, an die er sich lehnte. Auch hier beobachtete er wieder die Menschen, studierte sie fast. Beobachtete ihre Mimik, horchte dem Klang ihrer Stimme, las in ihrer Körperhaltung, wie in einem offenen Buch.

Es war seltsam, er hatte sich nie darin geübt, die Menschen zu verstehen. Es war von selbst gekommen, es war ihm nicht einmal aufgefallen. Erst sein Lehrer, der voller Erstaunen seine Menschenkenntnis ansprach, hatte ihm bewusst werden lassen, dass er es tatsächlich konnte. Und er war nicht einmal schlecht darin.

Er sah dem jungen Mann an, das er gerade seine Freundin belog, er wusste, das die junge Frau, die scheinbar selbstbewusst den Kopf hob, eigentlich unsicher und verschreckt war, wohingehend das kleine dicke Mädchen mit der dicken Brille, das wohl viele als hässlich bezeichnet hätten, mehr selbstbewusstsein hatte, als die meisten anderen wartenden auf einmal. Er las es in ihren Augen, in ihrem Gesicht, in ihrer Körperhaltung.

Er schloss die Augen und lauschte den Stimmen und dem Straßenlärm. Er war der stille Beobachter, der stumme Zuschauer, der, der immer da war, den aber niemand jemals sah.

Er gefiel sich in dieser Rolle. Nur manchmal nicht. Da fühlte er sich einsam, allein. Nachts, wenn er in seinem Bett lag und so gerne jemanden davon erzählen wollte, was er gehört und gesehen hatte. Er war ein Schatten in seiner Welt, und meistens war das gut und richtig so. Nur manchmal wünschte er sich die Nacht, damit der Schatten nicht mehr einsam war.

Er verscheuchte den Gedanken, an einem so wunderschönen hellen Tag, sollte es keinen Platz für trübe, düstere Gedanken geben.

Er stieg als letzter in den Bus ein und setzte sich ganz hinten hin, dort, wo heute keiner saß. Er dachte schon jetzt darüber nach, was er tun sollte, wenn er zu Hause war. Heute schien einer der Tage, wo es nichts für ihn zu tun zu geben schien.

Zu Hause angekommen ging er Einkaufen und setzte sich dann an seinen Computer. Er verlor dabei jegliches Zeitgefühl und als er das nächste Mal auf die Uhr blickte, war es zwei Uhr morgens. Er hatte nicht einmal bemerkt, dass die Sonne untergegangen war.

Er hatte tierischen Hunger, er hatte den ganzen Tag über nichts gegessen, außer ein paar Chips. Er stand auf und schlich die Treppe herunter, er wollte seinen Vater nicht wecken. Als er jedoch unten angelangt war, stellte er fest, dass die Schuhe seines Vaters nicht da waren. Scheinbar war er noch gar nicht zu Hause.

Das wunderte Tjard und für einen Augenblick spielte er mit dem Gedanken, bei ihm anzurufen, doch er wusste, dass er es auch sein lassen konnte, im Prinzip war es sich gleich. Er holte sich etwas zu essen und lief dann wieder nach oben, um weiterzuspielen.

Irgendwann, als der Morgen schon dämmerte, da ging er ins Bett. Er konnte noch nicht lange geschlafen haben, denn der Himmel war noch dämmrig, als es an der Haustür klingelte.

Tjard kämpfte sich brummend aus dem Bett. Es kam nur sehr selten vor, dass hier jemand klingelte, umso ärgerlicher war es für ihn also, dass es gerade dann geschah, wo er noch so müde war. Dennoch lief er herunter und öffnete.

Er war sich nicht sicher, wen er erwartet hatte, doch Sven, den Kollegen seines Vaters, bestimmt nicht. Und schon gar nicht, das der so bedrückt und traurig wirkte.

»Morgen Sven«, grüßte Tjard mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend.

»Mein Vater ist nicht da.«, fügte er nach einem schnellen Blick auf die Schuhe hinzu.

»Ich weiß.« Sven schüttelte den Kopf. »Ich muss mit dir sprechen, Tjard.«

Das schlechte Gefühl verstärkte sich, aber er trat zur Seite, ließ Sven eintreten.

»Setz dich, willst du etwas trinken?«, fragte er, doch Sven verneinte.

»Tjard, ich…«, begann er, schien nicht zu wissen, was er sagen sollte. Da seufzte der Junge.

»Mach es dir nicht unnötig schwer, sag es einfach geradeheraus. Das ist einfacher für uns beide«, fand er und Sven nickte zögernd.

»Dein Vater ist verschwunden«, sagte er leise. »Wir haben zwei verdächtige Gestalten entdeckt, die abends aus einem Fenster geklettert sind. Wir haben sie abgefangen und wollten ihre Personalien aufnehmen, da sind sie davon gerannt. Wir haben sie verfolgt, als sie sich schließlich trennten, haben wir uns auch getrennt, schließlich waren es nur zwei Halbwüchsige, doch ich habe ihn nicht wieder einfangen können. Ich lief zu unserem Dienstwagen zurück, doch dein Vater tauchte nicht wieder auf. Wir suchten ihn, doch es gibt von ihm kein Lebenszeichen.«

»Glaubst du, das er tot ist?«

»Ich weiß es nicht. Wir suchen ihn und fahnden nach den beiden Jugendlichen, doch mehr können wir nicht tun.«

Tjard nickte. Seine Gedanken rasten. Sein Vater konnte doch nicht wirklich verschwunden sein. Man verschwand doch nicht einfach so.

»Was passiert jetzt?«, wollte er wissen.

»Hast du Verwandte, bei denen du bleiben kannst? Sonst kannst du bei mir bleiben oder das Jugendamt kümmert sich um dich.«

Tjard schüttelte schnell den Kopf.

»Ich habe eine Tante, die werde ich anrufen«, log er schnell. Er wollte weder ins Heim, noch zu Sven, zumal keiner wusste, wie lange er dort bleiben musste.

»Gut, dann tu das. Ich werde dich auf dem Laufenden halten, wenn du Hilfe brauchst, dann melde dich bei mir«, bot Sven an. Er war schon immer sehr viel führsorglicher gewesen, als sein eigener Vater. Tjard mochte ihn sehr, aber er wollte nicht bei ihm wohnen. Er hatte angst, dass er sonst nicht mehr in seinem alten Leben klarkommen würde.

»Ja, das mach ich«, nickte er und versuchte, zuversichtlich zu lächeln.

Sven nickte noch einmal, dann ging er. Tjard schloss die Tür hinter ihm und lehnte sich dagegen. Er überlegte, was er jetzt tun sollte. Er fühlte sich so unglaublich hilflos. Dabei würde sich vermutlich nicht einmal besonders viel ändern.

Schließlich beschloss er, dass er jetzt erst einmal schlafen gehen würde. Er wusste, das es der wohl seltsamste Beschluss war, den er fassen konnte, doch er fand, das es gerade genau das richtige war. So ging er wieder die Treppe hinauf, legte sich ins Bett und war bald schon eingeschlafen.



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