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Perlmutt

von

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SILVESTER (V): »Ich habe keine Rechtfertigung verlangt, meine ich.«

Tatsächlich wirkte die Runde, in die wir hineinplatzten, auf den ersten Blick eher heiter. Auf dem Couchtisch stand Brecas gläserne Kaffeekanne, in der noch ein Rest brauner Flüssigkeit vor sich hindampfte. Breca selbst hatte sich in seinem Sessel ausgestreckt. Er unterbrach sich mitten in seinen Ausführungen, als ich wie ein Schneesturm hinter Mum in den Raum fegte, und schien nicht recht zu wissen, ob er darüber lächeln oder lieber gequält dreinschauen sollte. Adlard, der neben ihm stand, hieß uns mit einem Stirnrunzeln willkommen. Mittlerweile hatte er sich dazu überwunden, seine Jacke abzulegen. Seine Erscheinung war noch immer zerzaust, aber etwas an seiner Haltung hatte sich verändert. Er wirkte agil und seine Augen blitzten aufmerksam über die dunklen Tränensäcke hinweg.

Auf dem Sofa hatten zwei Männer Platz genommen. Beide trugen Dienstuniformen im dunklen Blau der Congregatio. Einer von ihnen, ein Mann mit Backenbart in Mums Alter, setzte sich auf und tauschte ein wohlwollendes Nicken mit ihr. Seine Hand ruhte an dem Waffengurt, an dem ein Steinschlossrevolver und ein Paar Schlagstöcke befestigt waren. Typische Waffen der Sekretärsgarde. Neben ihm saß der Kerl, der zuvor bei Adlard am Fenster gestanden hatte. In seiner offenen Handfläche ruhte etwas, das auf den ersten Blick einer Murmel glich. Bloß verströmte die Murmel ein regelmäßig pulsierendes Licht, das seine Hand mit einem irisierenden Schimmern übergoss.

Der junge Beamte folgte meinem Blick. Das Leuchten verebbte sanft. Behutsam legte er die Murmel zwischen mehreren gleichartigen Kugeln in einem mit weichem Schaumstoff gepolsterten, handtellergroßen Etui ab.

Ich stand da wie eingefroren und starrte auf das Etui. Erst eine Bewegung von rechts vor mir lenkte meine Aufmerksamkeit ab.

Lord Belzac, der Erste Sekretär, stand ebenfalls, und zwar mitten im Raum. Er überragte Adlard, der nicht klein war, um mehr als einen halben Kopf, obwohl er gut und gerne doppelt so alt sein mochte. Breca hätte neben ihm wie ein Wicht gewirkt, dachte ich säuerlich. Der blaue Frack war ihm auf den Leib geschneidert, nicht ein Fältchen saß am falschen Platz. Seine drahtige Gestalt bewegte sich flink auf Mum zu, wobei ihm die ausgedünnte graue Haarmähne um den Kopf flatterte. Seine Schritte waren raumgreifend – man hätte fast meinen können, unsere Wohnung gehöre ihm.

»Mrs Furlong«, stellte er erfreut fest und reichte Mum die Hand. »Das ging schneller, als ich dachte.«

»Sekretär«, erwiderte sie reserviert.

Seine hellen Augen blitzten neugierig auf, als er sich zu mir herunterbeugte. Kein Leuchten diesmal. Ich hoffte, dass ich keinen Anfall bekommen würde, solange ich hier war.

»Und du bist Yuriy.« Er kostete jedes Wort aus, ebenso wie meine Anstrengungen, seinen festen Händedruck angemessen zu erwidern.

Mein Gesichtsausdruck ließ den jüngeren Beamten auf dem Sofa in schallendes Gelächter ausbrechen.

»Junge, du siehst aus, als wolltest du in die Schlacht ziehen!«

»Vielleicht will er das«, spöttelte Lord Belzac nicht unfreundlich.

Ich spürte meine Ohren heiß werden. Über mein blaues Auge verlor keiner von ihnen ein Wort – wahrscheinlich nahmen sie an, ich hätte mich mit irgendwem geprügelt. Ich überlegte, ob das wohl eine abträgliche Entwicklung war. Besser als die Wahrheit ist es allemal, dachte ich.

Lord Belzac wies mit ausholender Geste auf seinen jungen Kollegen, der sich mittlerweile wieder gefangen hatte und nun aufstand, um uns ebenfalls zu begrüßen. »Dies ist Inquisitor Phillip Park. Er wird uns bei den Ermittlungen zur Hand gehen und Ihre Aussagen aufnehmen.«

Bei Mum sah das offenherzige Lächeln, mit dem sie den Handschlag des Inquisitors empfing, wie eine leichte Übung aus. Ich versuchte mich lieber gar nicht erst daran. Mein Blick wanderte von dem Jungspund zu dem Bärtigen, der noch immer auf dem Sofa saß. Belzac hielt sich nicht damit auf, ihn vorzustellen, und Mum kannte ihn offensichtlich. Ich war wieder einmal der Einzige, der wie der Ochs vorm Zaun stand.

Ich bemerkte, dass Adlard mir einen Seitenblick zuwarf, und starrte finster zurück.

»Mr Adlard meint, die Inquisition zieht den Leuten ihren Geist zur Nase heraus«, sagte Park mit einem Augenzwinkern zu mir.

Ich schluckte und – getreu meinem Versprechen – schwieg.

»Mr Park, ich meine auch, dass dies nicht der richtige Zeitpunkt ist, um böses Blut zu schüren«, ließ Adlard ruhig vernehmen.

»Böses Blut.« Park schüttelte lächelnd den Kopf.

Ich trat einen Schritt zurück. Wenn die beiden sich zerfleischen wollten, hatte ich keine Lust, dazwischen zu stehen. Mum schien das ähnlich zu sehen; ich spürte ihre Hände auf meinen Schultern.

»Mr Park, Sie sehen, dass Ihr Humor nicht erwidert wird,« sagte der Gardist leise vom Sofa her. »Lassen Sie dem Jungen Luft zum Atmen.« Er goss sich den letzten Kaffee ein und heftete den Blick auf den jüngeren Beamten. Der Respekt, der darin lag, entging mir nicht.

Mum nutzte den Moment. Bevor Park oder Adlard oder irgendwer sonst etwas sagen konnten, bugsierte sie mich an Brecas Beinen und dem Couchtisch vorbei und drückte mich zwischen sich und dem namenlosen Gardisten in die Sofakissen.

»Wir sind hier, Lord Belzac«, verkündete sie. »Wie geht es jetzt weiter?«

Der Erste Sekretär hatte die Szene reglos beobachtet, die Fingerspitzen an die Wange gelegt. Als Mum ihn ansprach, begann er zu lächeln. »Während Ihrer Abwesenheit war Ihr Vater so nett, uns die Begebenheiten schon einmal grob zu schildern.«

Ich hatte keine Zeit, mir darüber klarzuwerden, ob Lord Belzac uns mit seiner Bemerkung kritisieren wollte, denn er richtete bereits das Wort an Breca: »Ich weiß, wir waren noch nicht ganz fertig, aber ich würde das Gespräch mit Ihnen gern ein wenig nach hinten verschieben.«

Er wartete gar nicht auf die Reaktion meines Großvaters. Ich bemerkte das angedeutete Stirnrunzeln, mit dem Breca dieses Verhalten quittierte, und wusste, dass der Sekretär soeben gehörig in seiner Achtung gesunken war.

Lord Belzacs Augen wanderten zwischen Mum und mir hin und her. Sie hatten eine Kraft in sich, die es mir nicht erlaubte, noch einmal wegzusehen. »Da unser jüngster Zeuge eine wichtige Verabredung zu haben scheint, schlage ich vor, wir stehlen ihm nicht allzu viel Zeit und machen mit ihm weiter.«

»Ich muss für ein Referat recherchieren«, erklärte ich und spürte Mums Blick auf mir.

Über Lord Belzacs Gesicht huschte der Schatten eines Grinsens. »Ich habe keine Rechtfertigung verlangt, meine ich.«

Hitze stieg mir in die Wangen. Ich schaute zu Boden und zuckte die Achseln. Sein glatter Tonfall erinnerte mich ein wenig an den von Lestard beim Versuch, Mum dazu zu überreden, ihn hereinzulassen. Ich rutschte auf dem Sofa zurück, bis ich eines der Kissen im Rücken spürte.

»Mrs Furlong, ich würde gern mit Ihnen, Yuriy und Mr Park in ein abgeschiedenes Zimmer überwechseln. Welches, meinen Sie, eignet sich besonders?«

Mum blinzelte. »Die Küche, denke ich«, sagte sie. »Aber ich werde Yuriy nicht der Inquisition übergeben.«

»Bin ich so unsympathisch?« Park lachte.

»Ich erlaube nicht, dass Sie bei meinem Sohn magische Hilfsmittel einsetzen«, erwiderte Mum kühl.

»Das ist in der Tat Ihre Entscheidung«, warf der Gardist neben mir ein, halblaut, aber bestimmt.

Park wurde schlagartig ernst.

»Sekretär.« Adlard wippte sachte vorwärts, die Hände hinter dem Rücken gefaltet. »Ich habe vielleicht eine bessere Idee.«

Lord Belzacs Augenbrauen hoben sich. Die von Park zogen sich zu einem dunklen Strich zusammen. Mums Hände zitterten. Es fiel mir schwer, mich von ihr loszureißen, und auch Brecas Blick ruhte auf ihr. Seine Hände breiteten sich über seine Knie, als er sich zurücklehnte. Ich war ihm dankbar für die Geste.

»Ich bin ganz Ohr, Mr Adlard«, sagte Lord Belzac. Sollte er Parks Abneigung teilen, ließ er sich das jedenfalls nicht anmerken.

»Mr Park und ich ziehen uns zurück. Sie vier und Mr Pilgrim bleiben hier.« Adlard warf mir einen Blick zu und lächelte schief. »Ich lasse mir auch nicht gern die Zeit stehlen.«

Ich stockte. Pilgrim also. Das war der Name des Gardisten.

Breca nickte, den Blick in eine unbestimmte Ferne gerichtet. Mum vergrub das Gesicht in den Händen. Ihre Schultern sackten herab. Ich konnte hören, wie sie den Atem ausstieß. Der Sekretär wechselte einen Blick mit Park, der merklich angespannt war, und dem Gardisten.

Lord Belzacs Fingerspitzen tippten gegen seine Wange. »Wie ich sehe, findet Ihr Vorschlag allgemeine Zustimmung.«

Adlard neigte den Kopf.

Kriecherischer Spurschleicher, dachte ich.

»Sagen Sie nicht, Sie wollen Sich freiwillig den Geist zur Nase herausziehen lassen«, schnaubte Park. »Keine Tricks, Adlard!«

»Ist es ein Trick, Mr Adlard?« Lord Belzac stellte die Frage wachsam, aber nicht ablehnend.

»Natürlich, Sir.« Adlard sagte das vollkommen ernst.

Park musterte ihn aus schmalen Augen. Ich tat es ihm nach, doch Adlard ließ sich von uns nicht aus der Ruhe bringen.

Der Sekretär räusperte sich. »Ich denke, im Allgemeinen kann man sich darauf einlassen.«

Wir alle starrten ihn an. Selbst Adlard schien für einen Moment verblüfft.

»Sir«, setzte Park an, aber der Erste Sekretär brachte ihn mit der Andeutung eines Kopfschüttelns zum Schweigen. Dann wandte er sich Mum zu, der die Überraschung offen ins Gesicht geschrieben stand.

»Mrs Furlong, denken Sie, es ist in Ordnung, wenn ich mich mit Ihnen, Mr Pilgrim und Mr Adlard unter acht Augen unterhalte?« Das war keine Bitte mehr, sondern eine Anordnung. Die Kräfteverteilung, die Adlard vorgesehen hatte, gefiel Lord Belzac aus irgendeinem Grund nicht. Es schien von Bedeutung zu sein, dass ausgerechnet Park meine Aussage hörte, denn davon wollte der Sekretär offensichtlich nicht abweichen.

Mum runzelte die Stirn. »Darf ich fragen, weshalb wir dieses Hin und Her veranstalten?« An Missfallen verfehlte ihre Stimme ihre Wortwahl um Längen.

Lord Belzac stützte die Wange schwer auf seine Fingerspitzen. Unter seinen Augen und um seinen Mundwinkel zerknitterte die Haut wie rissiges Leder. »Mich beschleicht soeben das Gefühl, Sie und Ihr Sohn könnten freier sprechen, wenn Sie einander nicht in die Quere kämen.«

Mum funkelte ihn an. Sie saß nur noch auf der Polsterkante, bereit, aufzuspringen. »Sie meinen, ich zwinge ihn zu Halbwahrheiten?«

»Ich meine, er könnte auf den Gedanken kommen, dass Sie Halbwahrheiten von ihm erwarten.« Lord Belzac legte den Kopf auf die andere Seite. »Das Risiko möchte ich nicht eingehen. Ich ziehe Sie und Mr Adlard vor der Vernehmung ab.«

Mum beobachtete ihn aus dem Augenwinkel. »Bitte erklären Sie mir, inwiefern das nützlich sein sollte.«

»Sofern Mr Adlard mich korrekt informiert hat, und sofern ich Sie richtig verstanden habe, wollen Sie die ganze Angelegenheit für Ihren Sohn so unkompliziert wie möglich abwickeln.« Lord Belzac schlug einen Ton an, als wäre »unkompliziert« schlichtweg das falsche Wort. »Demnach müssten Sie mir zustimmen, dass es sinnvoll ist, Störfaktoren aus seinem Umfeld zu entfernen.«

»Störfaktoren!«, fauchte Mum.

»Ich glaube, Yuriy hat eine Menge zu erzählen. Da sollte er sich nicht durch irgendeinen Umstand gebremst fühlen – und sei es nun die Loyalität Ihnen gegenüber. Oder hat Mr Adlard mich nicht korrekt informiert und ich erliege einer Fehleinschätzung?«

Mum schnappte hörbar nach Luft.

»Es ist nicht so, dass Yuriy alleingelassen wäre. Ihr Vater ist immer noch da«, erinnerte Park sie ruhig, bevor sie auf Lord Belzacs Worte eingehen konnte.

Ich bemerkte, dass mir der Mund offen stand, und verbannte den dümmlichen Ausdruck schnell aus meinem Gesicht. Lord Belzac las unser Verhalten wie einen Stadtplan.

Mum erwiderte nichts. Sie tauschte einen Blick mit Breca und erntete beruhigendes Nicken. Ich wurde schamlos übergangen. Adlard bekam die volle Breitseite ihrer Missbilligung ab, aber er hielt unbekümmert stand. Wie gerne wäre ich ihm an die Gurgel gesprungen!

Ergeben stand Mum auf. Mit ihr erhob sich der Gardist. Zu beiden Seiten von mir bauschten sich die Polster unter dem plötzlichen Verschwinden des Gewichtes auf, als ich allein auf dem Sofa zurückblieb. Den kalten Luftzug, der mich in dem Moment streifte, bildete ich mir sicherlich ein, aber diese Gewissheit machte mir das Frösteln nicht angenehmer.

Breca zog die Beine an, um Mum vorbeizulassen, und beobachtete aus halbgeschlossenen Augen, wie Lord Belzac seine drei Gesprächspartner durch die Doppelflügeltür aus dem Raum dirigierte. Ich ertappte mich dabei, wie ich die Hände zwischen die Knie schob.

»Mr Park«, sagte Lord Belzac auf der Türschwelle, »sobald Sie hier fertig sind, möchte ich, dass Sie und Mr Furlong wieder zu uns stoßen.«

Sobald Sie hier fertig sind, wiederholte ich in Gedanken. Sollte dieser aufgeblasene Zottel doch warten, bis ihm Hörner wuchsen!

Nachdem der Sekretär die Tür hinter sich geschlossen hatte, wandte Park sich zu uns um. Er wirkte aufmerksam und konzentriert.

Breca erhob sich aus seinem Sessel, um sich stattdessen an meiner Seite niederzulassen. Mit ausholender Geste wies er auf den freigewordenen Platz. »Bitte setzen Sie sich, Inquisitor.«

»Klären wir die Fronten?«, erwiderte Park gelassen. Er nahm das Angebot meines Großvaters mit einem gewinnenden Lächeln an. In Adlards Abwesenheit blühte sein Charme auf. Jede Feindseligkeit war von ihm abgefallen. Ich fragte lieber nicht nach, was die beiden so aneinander anecken ließ.

Neben mir beugte sich Breca vor, die Ellenbogen auf die Knie gestützt, und wartete ab.

Park fasste mich ins Auge. Ich war gespannt, ob ihm zur Eröffnung meines Verhörs noch einmal eine so galante Äußerung gelingen würde.

Der Inquisitor beugte sich zum Couchtisch vor und entnahm dem Etui eine neue Murmel. »Deine Mutter hat mir jedwede magische Unternehmung in Bezug auf dich untersagt. Also werden wir die Sache traditionell angehen.«

»›Traditionell‹ bedeutet in meinem Falle ›Konversation‹?«, mutmaßte ich laut.

Park lächelte; seine Finger spielten mit der Murmel. Mir ging auf, dass ich einen völlig unbedarften Eindruck auf ihn machen musste, und im Stillen dankte ich Mum und Breca.

Plötzlich glomm die Murmel auf – wie eine Glühbirne vorm Durchbrennen – um anschließend wie ihre Vorgängerin gleichmäßige Lichtwellen auszusenden. Neben mir runzelte Breca kurz die Stirn, nur um sich augenblicklich wieder zu entspannen.

»Ich dokumentiere bloß, was ich aus deinem Mund höre«, erklärte mir Park freundlich.

»Also ist das da … Magie?« Meine Stimme klang dünn. Zu dünn. Ich riss mich zusammen.

»Ein Magofakt. Eine Gedankenstütze«, präzisierte er. »Sie hat keine Auswirkungen auf dich. Sieh es als Protokoll dessen, was du mir erzählst.«

Damit schien sich die Sache für ihn erledigt zu haben. Ich starrte weiter auf die leuchtende Kugel. Das magische Etwas in Gedanken als »Murmel« abzutun, beruhigte mich irrwitziger weise.

»Und was möchten Sie hören?«, fragte ich, betont sachlich.

»Alles. Von dem Moment an, als Lestard Calhoun geklingelt hat. Alles, was dir im Gedächtnis geblieben ist.«

Geklingelt hat. Obwohl es der Wahrheit entsprach, gab das Bild in meiner Erinnerung eine lächerliche Komposition ab. Ich schob den Gedanken daran beiseite.

»Wir haben uns vorher gestritten, Mum und ich«, begann ich. »Über das Referat, Sie wissen schon. Ich hatte mich mit einem Lehrer angelegt, völlig unnötig.«

Parks Miene war nicht zu entnehmen, ob er mir glaubte. Mit einem Wink bedeutete er mir, fortzufahren.

»Die Stimmung war ziemlich geladen, als es läutete, und eigentlich dachten wir zuerst, unser Nachbar aus der Wohnung über uns hätte sich von unserem Streit gestört gefühlt. Das passiert manchmal, wissen Sie.«

Park nickte geduldig.

Ich ließ die Murmel nicht aus den Augen und legte mir die nächsten Worte genau zurecht. »Als Mum Lestard im Bullauge gesehen hat, ist ihre Wut mit einem Mal verpufft. Sie war wachsam, verwirrt. Sie wollte ihn nicht hereinlassen. An der Art, wie sie mit ihm umgegangen ist, habe ich abgelesen, dass sie ihn kannte.«

Park setzte beide Füße auf dem Boden ab. »Also habt ihr nie vorher darüber gesprochen?«

Offensichtlich hatte mir da schon jemand vorgegriffen. Zur Antwort schüttelte ich den Kopf und hoffte, dieser Punkt möge damit abgehakt sein.

Ich sollte Glück haben.

»Kannst du mir ihr Verhalten beschreiben? Und das von Lestard.«

Ich holte tief Luft – zum Teil vor Erleichterung, zum Teil, um mich zu sammeln. »Er war … charmant. Auf den ersten Blick gab es keinen Grund, ihn abzuweisen.«

»Guten Abend, die Dame«. Behutsam. Glattgestrichen wie warme Butter. Mums überraschte Erwiderung, während sie im offenen Türrahmen erstarrte.

»Möchten Sie mich nicht hereinlassen?«

Ich war verblüfft, wie genau ich den Wortlaut ihrer Unterhaltung wiedergeben konnte. Auch Park schien sehr angetan zu sein. Während ich erzählte, beugte der Inquisitor sich immer weiter vor, zuckte mitunter vor Konzentration nicht einmal mit dem Augenlid und unterbrach mich nur selten, um Zwischenfragen zu stellen. So genau wie möglich schilderte ich, wie Lestard nach Breca gefragt, Mum ihn an der Tür aufgehalten und er sich gewaltsam Zutritt verschafft hatte. Ich sprach über das zerstörte Telefon, die Alarmanlage – nicht über mein Wissen, dass Adlard sie besorgt hatte – und über den Schlüssel, den mein Großvater schmieden sollte.

»Darüber weiß ich nicht viel«, sagte ich schnell. »Mum hat mir nur erzählt, man könnte mit ihm weite Entfernungen zurücklegen.« Ich berichtete, wie Lestard Breca ein Gespräch unter vier Augen aufgezwungen und wie Jean Laval uns durch das Bullauge hinweg beobachtet und später selbst eingegriffen hatte. Auch meine Verwirrung über seine Anspielungen tat ich offen kund.

Mein Bericht endete damit, dass Mum ebenso verzweifelt wie vergeblich versucht hatte, Adlard zu kontaktieren, und dass ich mehr oder weniger an der Vergeblichkeit schuld war. Unseren eskalierten Streit ließ ich bewusst unter den Tisch fallen.

»Weißt du, weshalb gerade Urian Adlard?«, fragte Park, als ich schwieg.

Da war er wieder, der kritische Augenblick.

Ich zuckte die Achseln. »Ich weiß nur, dass er Lestard auch kennt. Mum wollte wissen, ob er eine Idee hat, was vor sich geht«, sagte ich vorsichtig.

»Hat er?«

»Ich habe keinen Schimmer.«

»Du sagst, du bist am selben Tag mit ihm zusammengestoßen.«

»Zufällig, ja«, betonte ich noch einmal. »Ich habe mich dabei ziemlich hart aufs Pflaster gelegt und war nicht ganz bei mir. Ich wollte die U-Bahn kriegen und bin deshalb drauflos gerannt.« Ich hoffte, dass ich nicht zu viel wagte.

Parks Augen wurden schmal. »Da kanntet ihr euch beide noch nicht, ist das richtig?«

Augenscheinlich hörte Park nicht zum ersten Mal davon. Ich nickte mit, wie ich hoffte, angemessenem Ernst.

Park sah mich unverwandt an.

»Er hat nach meinem Namen gefragt«, erklärte ich nervös. »Mit mir gesprochen, damit ich wieder zu mir kam.«

Brecas Hand zuckte in dem Impuls, mir beruhigend über den Rücken zu fahren.

Ich erwiderte Parks Blick geradeheraus. »So groggy, wie ich war, hätte er nicht groß schauspielern müssen!«

»Traust du ihm das denn zu?«

Ich stockte.

Senkte den Blick.

Du Idiot!

»Ich – ich weiß nicht«, stotterte ich kleinlaut. Wie hatte ich mich so überrumpeln lassen können?

Park nickte versonnen. Er schien zu haben, was er wollte. Jedenfalls bohrte er nicht weiter nach. Sein Blick trübte sich, als sähe er durch mich hindurch.

»Du hast ein erstaunliches Gedächtnis«, stellte er plötzlich fest.

»Minimaler Aufwand für maximalen Erfolg«, erwiderte ich bitter. Breca rollte mit den Augen.

Park hob die Mundwinkel zu einem Schmunzeln. Ich meinte, einen Anflug von Spott darin zu lesen.

»Ich denke, dabei können wir es vorerst bewenden lassen«, sagte er. Das Licht aus der Murmel erlosch abermals.

Vor Verwirrung wusste ich nicht, worauf ich starren sollte – auf den Inquisitor oder auf das Magofakt.

Mist!

Magofakt. Letztendlich war es wohl vernünftiger, den Tatsachen ins Auge zu sehen. Es war eben keine Murmel.

»Wie funktioniert dieses Ding?«, fragte ich.

Der Inquisitor warf meinem Großvater einen fragenden Blick zu. Breca nickte schweigend.

»Über elektrische Leitfähigkeit«, erwiderte Park. »Man kanalisiert Energie.«

Ich fasste wieder das Magofakt ins Auge. »Und dabei leuchtet die … Gedankenstütze?«

Park lachte. »Das ist ein Kniff zugunsten der Dramatik.«

»Er wirkt«, gab ich zu.

»Man nennt es ›Memorium‹«, warf Breca ein. »Das ist es, was Lestard von mir haben will.«

Ich stutzte. »Ich denke, er will den Schlüssel?«

Der Inquisitor hob vielsagend die Brauen. »Das Memorium ist der wichtigste Baustein. Es definiert den Zielort.«

Meine Mimik musste die perfekte Mischung aus Verwirrung und Interesse ergeben.

Park winkte ab. »Offenbar führt das jetzt zu weit. Du müsstest sehen, wie man einen Transcensionsschlüssel benutzt.« Er klang nicht so, als würde er es mir demonstrieren wollen.

Ich konnte nicht anders – ich musste lachen.

Breca räusperte sich, doch Parks verwirrter Blick ließ mich tollkühn werden.

»Sie haben meinen Vorrat an Ausflüchten bereichert«, klärte ich ihn auf. »Ich sammle fleißig seit letzter Nacht, glauben Sie mir.«

Breca schnalzte mit der Zunge und sagte ruhig: »Du wirst noch eine ganze Weile weitersammeln.«

Ich entgegnete lieber nichts. Unsere Abmachung vom Morgen wollte ich nicht aufs Spiel setzen.

»Sie meinten, wir wären fertig«, sagte ich leiser zu Park.

Das Lächeln kehrte auf das Gesicht des Inquisitors zurück. »Fürs Erste. Vielleicht haben wir später noch ein paar Fragen an dich.«

Achselzuckend erwiderte ich seinen Blick. »So ist es dann wohl.«

Statt einer Erwiderung stand Park auf und bedeutete Breca, es ihm nachzutun. Weil ich nichts Besseres mit mir anzufangen wusste, beschloss ich, ihnen zu folgen. Beim Aufstehen spürte ich ein leichtes Ziehen in der Magengegend; schnell senkte ich den Blick in Richtung Couchtisch. Lestards Reaktion auf meine Beschwerden hatte mir am Vorabend gezeigt, dass sie auch nach außen hin erkennbar waren. Die deutlichste Bestätigung hatte mir allerdings der Schnösel am Morgen in der Hochbahn verschafft. Ich atmete einmal tief durch, dann folgte ich Breca und dem Inquisitor bis zur Küche.

Die Stimmen von Mum, Adlard und den Congregatiobeamten drangen gedämpft in den Flur. Es war Adlard, der auf Parks förmliches Klopfen hin die Tür öffnete. Sein Gesicht war eingefallen und grau – er wirkte wie ein Schatten.

»Was für ein Timing, Mr Park«, sagte er. »Wir haben gerade von Ihnen gesprochen.«

»Das beruht auf Gegenseitigkeit«, erwiderte Park im Vorbeigehen und ließ ihn im Türrahmen stehen.

Adlard verdrehte die Augen, die Zähne zu einem Lächeln gefletscht. Nach seinem Dafürhalten entsprach wohl der Platz, den der Inquisitor ihm zuweisen wollte, nicht seiner Kragenweite.

Ich ignorierte die Bauchschmerzen und suchte die Küche mit den Augen ab. Ich fand Mum neben dem Gardisten bei der Küchenzeile stehend. Erleichtert stellte ich fest, dass sie um Einiges gefasster schien als zuvor im Wohnzimmer. Breca gesellte sich zu ihr und ich sah, wie seine Gelassenheit auf sie abfärbte. Ihr Blick streifte meinen und wir hielten uns gegenseitig an unserem Lächeln fest.

Park stellte sich besitzergreifend im Raum auf. »Sekretär, ich möchte Sie gern auf ein Wort sprechen, bevor wir weitermachen.«

Mum warf mir einen fragenden Blick zu, doch ich konnte nur die Achseln zucken. Ihre Lippen wurden schmal, als sie Park und den Sekretär ins Auge fasste.

Plötzlich zuckte mir ein stechender Schmerz durch den Magen. Ich verlagerte mein Gewicht, um nicht einzuknicken. Als ich einen Schritt zurückgehen wollte, versagte mein Gleichgewichtssinn und ich taumelte beinahe gegen den Türrahmen.

Adlards Blick streifte mich.

Leuchtend.

Ich schluckte, als mir wieder einfiel, dass er Bescheid wusste.

Hinter ihm hob Breca erstaunt die Augenbrauen. Beschämt wandte ich das Gesicht ab; ich war mir ziemlich sicher, dass er etwas gemerkt hatte. Bis hierher war es wirklich gut gelaufen.

Adlard stellte sich vor mich. »Sekretär«, sagte er, »dürfte ich mich für fünf Minuten abkömmlich machen?«

Um ihn herum flimmerte die Luft. Dampfende braune Schwaden lösten sich vom Holz des Türrahmens. Ich kniff die Augenlider zusammen. Die Nackenhaare stellten sich mir auf. Mein Herz hämmerte mir gegen die Rippen. Ich hätte nicht sagen können, was davon die Magie mit meinem Körper machte und was meine Angst.

»Gehen Sie, Adlard. Sie sind blass um die Nase.« Lord Belzac schenkte ihm nicht mehr als einen knappen Handwink.

Mit dem Kopf deutete Adlard eine Verbeugung an. Er schob mich beiseite, entschieden, aber nicht grob, und glitt an mir vorüber in den Flur, um seine Jacke zu holen. Ich stand von der Küche abgewandt und zwang mich, tief durchzuatmen. Diesmal hatte ich Glück – die Reaktion flaute ab.

»Aber lassen Sie sich nicht einfallen, zu verschwinden«, rief Park ihm hinterher.

Adlard lachte trocken.

»›Lassen Sie sich nicht einfallen‹ ist gut«, sagte er und trat ins Treppenhaus.

Parks Miene wandelte sich von Unglauben über Missbilligung zu respektvollem Ernst, als er sich wieder dem Ersten Sekretär zuwandte.

Breca durchquerte den Raum mit wenigen Schritten. Mum zog er am Arm mit sich. »Ich denke, wir lassen Sie besser allein«, sagte er bestimmt und winkte mich gänzlich aus Lord Belzacs Sichtfeld. Ich starrte auf den Türrahmen, der unverändert in seinem Futter ruhte. Nur eine Sinnestäuschung.

Ich staunte nicht schlecht, als uns in einigem Abstand Lord Belzacs Gardist ins Wohnzimmer folgte. Vielleicht hatte der Sekretär ihn hinter uns hergeschickt, um uns im Auge zu behalten. Auf Brecas Nicken hin schloss er die Tür. Sein bedauernder Blick ruhte auf Mum, die sich auf dem Sofa niedergelassen hatte und ihre Hände an den Fingerknöcheln gegeneinander rieb. Aus Pflichtgefühl, und um nicht wie ein Depp in der Gegend herumzustehen, setzte ich mich neben sie.

»Er wollte bloß wissen, was gestern Abend passiert ist«, sagte ich zu ihr. »Kein Nachbohren, nichts.« Als das Gespräch auf Adlard gekommen war, hatte ich mich eindeutig selbst ins Boxhorn gejagt; der Inquisitor hatte gar nicht viel dazugetan.

Breca enthielt sich eines Kommentars. Ich war mir sicher, dass er später mit Mum reden würde. Mein Blick begegnete seinem und er schenkte mir ein Zwinkern, das kaum mehr war als ein kurzes Zucken mit dem Augenlid.

Mr Pilgrim räusperte sich. »Genaugenommen, sollten Sie sich an Phillip Park halten. Er leistet gute Arbeit.«

Mum schnaubte.

»Unterschätzen Sie ihn nicht, nur weil er jung ist. Den gleichen Fehler haben die Leute damals bei Ihrem Freund gemacht.«

»Sie sind im selben Alter«, gab Mum zurück.

Mr Pilgrim lächelte. »Davon rede ich ja.«

Mum wollte etwas erwidern, entschied sich dann aber anders. Ich überlegte, ob sie sich mit der Zeit daran gewöhnt hatte, Adlard aus Prinzip in Schutz nehmen zu wollen.

Wir hatten noch einige Minuten vor uns hinzubrüten, bevor Lord Belzac und Park sich erneut zu uns gesellten und uns eröffneten, dass ich gehen dürfe.

»Teilen Sie uns das Ergebnis Ihrer Unterredung mit?«, erkundigte sich Mum.

»Das ist das Ergebnis.« Der Erste Sekretär strich sich übers Kinn. Er klang unzufrieden. Vielleicht hatte er sich von meiner Vernehmung mehr erhofft als Park ihm geliefert hatte.

Mum und ich schauten einander an.

»Komm«, formten ihre Lippen.

Als wir schon fast aus dem Zimmer waren, rief Park mich noch einmal zurück. Ich schluckte.

»Wenn du draußen Mr Adlard antriffst, sagst du ihm dann bitte Bescheid, dass wir ihn erwarten?«, sagte er. Mum verbiss sich einen Kommentar. Ich zuckte nur die Achseln. Ich wollte so schnell wie möglich hier raus.

Die Unterhaltung zwischen Lord Belzac und Park nahm ohne uns ihren Lauf. Ich hörte entschlossen weg. Und ich vermied es auch, den Gardisten noch einmal anzusehen. Während ich im Flur meine Jacke anzog, ruhte Mums Blick unablässig auf mir, als hätte sie Angst, etwas zu verpassen.

»Geht ihr heute Abend aus?«, fragte sie plötzlich.

»Natürlich.«

»Sei vorsichtig.«

»Mum!« Ich hielt im Anziehen inne, um eine gebührend empörte Haltung einnehmen zu können.

Sie fingerte an ihrer Kette herum. Der Anhänger bestand aus nicht mehr als einem fragilen Geflecht von Metallfäden und war mittlerweile an einigen Stellen dunkel angelaufen, weil sie ihn ständig trug. Als ich sie einmal gefragt hatte, weshalb sie ihn nie abnahm, hatte sie nur gelächelt und gemeint, er sei so etwas wie ihr Talisman.

»Versprich es einfach, das beruhigt mich.«

Ich ließ ihr einen langen Blick zuteilwerden. »Du verlangst ziemlich viel von mir.«

Sie schob den Anhänger zwischen die Lippen. »Ich weiß«, nuschelte sie.

Ich starrte sie an. So kannte ich sie gar nicht.

»Hast du alles, Yuriy?«

Ich zuckte zusammen, als Breca plötzlich hinter mir auftauchte.

Mum hob skeptisch die Augenbrauen.

»Männersache, meine liebe Tochter«, erklärte mein Großvater mit unschuldigem Grinsen. Bevor sie antworten konnte, legte er den Arm um mich und bugsierte mich in Richtung Wohnungstür. Mum presste die Lippen aufeinander.

»Lass dir nichts Dummes einreden«, sagte sie ergeben zu mir. Sie drückte zärtlich meine Hand – eine Abschiedsgeste, die sie auf meinen Protest hin seit meinem achten Lebensjahr vermieden hatte – und drehte sich um, um ins Wohnzimmer zurückzukehren.

In Lord Belzacs Fänge. Ich fröstelte von innen heraus. Das Ziehen in meinem Bauch kehrte zurück. Mein Kopf fühlte sich an wie mit Watte ausgestopft.

Unterdessen hatte Breca sein Portmonee aus der Gesäßtasche gezogen und hielt mir eine Zwanzig-Pfund-Note hin. »Für heute Nacht.«

Ich wischte meine schwitzigen Hände an der Hose ab und griff, nicht ohne ein Wort des Dankes, nach dem Schein.

Doch Breca ließ nicht los.

»Wie lange schon?«, fragte er bedächtig.

Ich brauchte einen Moment, bis ich begriff, worauf er hinauswollte. Schlagartig wurde mir schwindlig – ich hoffte, vom Schreck.

Er tastete sich gar nicht erst umständlich vor. Mein Verhalten vorhin in der Küchentür musste für ihn eindeutig gewesen sein. Also war er sich darüber im Klaren, dass ich wusste, was mit mir passierte.

Was heißt ›ich weiß‹? Ich spürte einen Druck hinter den Augen und musste blinzeln.

»Nicht lange«, wich ich aus. »Ich war gestern beim Arzt.«

»Beim Augenarzt«, bemerkte Breca.

»Ich habe eine Überweisung von ihm bekommen«, log ich.

Brecas Stirn legte sich in Falten.

»Er meinte, dass ich zu Jeod Faraday gehen soll«, gab ich schließlich zu. Als ich zum Beweis nach dem Brief des Ophthalmologen langen wollte, wurde mir bewusst, dass wir beide, ohne es bemerkt zu haben, immer noch den Geldschein umklammert hielten. Ich ließ los und fischte den Umschlag aus meiner Jackentasche.

Für einige Sekunden lag Brecas forschender Blick auf mir. Ich ließ mir die Schmerzen nicht anmerken.

»Nach Neujahr kümmern wir uns darum«, meinte er schließlich.

Ich nickte bloß. Den Brief wollte ich wieder einstecken, aber Breca nahm ihn mir ab. Ich wollte schon protestieren, stoppte jedoch noch im Ansatz. Wollte ich den Wisch wirklich tagelang mit mir herumschleppen und riskieren, dass er kaputt oder verloren ging? Bei meinem Großvater war er nicht in den schlechtesten Händen.

Breca hielt mir erneut die zwanzig Pfund hin, diesmal mit einem schelmischen Zwinkern. »Vergnügen fängt mit den gleichen vier Buchstaben an wie Vergessen.«

Gegen meinen Willen musste ich schmunzeln. »Wie weise«, gab ich zurück.

»Das macht die Erfahrung.«

»Ja ja, die Umsetzung liegt an mir«, ergänzte ich.

Er passte auf, dass ich das Geld gut wegsteckte, und befand mit zufriedenem Nicken, dass ich jetzt dafür ausgerüstet war, die Wohnung zu verlassen. Dann eilte er wieder zurück an Mums Seite, nicht ohne mir viel Spaß gewünscht zu haben. Es war ein fast unwirkliches Bild.

»Ich musste der einen oder anderen großväterlichen Pflicht nachkommen«, hörte ich ihn sagen. Ich stellte mir vor, wie er in die Runde grinste, während er seine Brieftasche wieder einsteckte.

»Sehr gewissenhaft«, bemerkte Park amüsiert, bevor Breca die Wohnzimmertür schloss. Ich konnte nicht heraushören, ob der Inquisitor ihm den Spruch abkaufte, aber zumindest die Heiterkeit in seiner Stimme klang ehrlich.

In meiner Kehle bildete sich ein Kloß. Es war, als schlucke ich gegen einen Korken an. In einem Anflug von Übelkeit raste ich fluchtartig durchs Treppenhaus nach draußen. Mein Schädel fühlte sich an, als hätte ihn jemand in den Schraubstock geklemmt. Hinter den Augen spürte ich immer noch den Druck. Sobald ich aus dem Haus war, massierte ich mir die Schläfen und den Hals. Ich musste feststellen, dass es überhaupt nicht half.

Urian Adlard stand zusammengesunken an der Hauswand. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, dass er mir mit den Blicken folgte. Ich beschleunigte meine Schritte.

»Yuriy«, sagte er.

Ich überlegte, gar nicht stehen zu bleiben.

»Yuriy.«

»Mr Adlard!« Ich ließ die Hand sinken und wirbelte zu ihm herum. Gerne gestand ich es mir nicht ein, aber ich war neugierig, was er zu sagen hatte.

Er ignorierte meine Feindseligkeit und kam auf mich zu. Etwas weniger als zwei Meter von mir entfernt, blieb er stehen. Sein Gesicht hatte einen Teil seiner Farbe zurückgewonnen.

»Lord Belzac vermisst Sie«, teilte ich ihm mit. Die warme Atemluft ringelte in Rauchschwaden aus meinem Mund. Hinter meinen Schläfen pochte es. Ich hoffte, es würde nicht so aus mir herausbrechen wie am Vortag.

»Er hat noch nichts gemerkt«, erwiderte Adlard.

»Danke sehr«, stieß ich hervor. Gott, fiel mir das schwer!

»Charlotte weiß es auch nicht, oder?« Er ließ nicht locker. Der Mistkerl. Was wollte er denn hören?

Das Pochen hinter meinen Schläfen schwoll an. Ich blinzelte unfreiwillig.

»Das sage ich ihr schon selbst«, fauchte ich.

»Das denke ich mir.« Er warf einen prüfenden Blick zum Haus. Als er sah, dass Belzacs Gardist uns durch das Wohnzimmerfenster beobachtete, verdüsterte sich seine Miene. »Wenn die Congregatio vor ihr dahinterkommt, ist es zappenduster.«

»Wie nett, dass Sie mich darauf hinweisen.«

Es zog mir schmerzhaft den Nacken herunter. Als ich reflexartig den Kopf schieflegte, hatte ich das Gefühl, das Gehirn schwappe mir gegen das Stirnbein. Wie ärgerlich, dass ich ein Aufstöhnen nicht unterdrücken konnte!

Adlard schüttelte den Kopf über mich und griff in die Innentasche seiner Jacke.

Ich wandte mich ab.

»Warte.«

Er drehte dem Wohnzimmerfenster und dem Gardist den Rücken zu, streckte mir die Hand hin und offenbarte drei ockerfarbene Kapseln, nicht größer als Wassertropfen.

Ich verharrte reglos.

»Falls es wieder so schlimm wird wie gestern«, erklärte er. »Einfach schlucken. Aber immer nur eine.«

Ich schaute zwischen ihm und den Kapseln hin und her. Er wollte mir helfen – und diese Art von Hilfe hatte ich vielleicht bitter nötig. Dass sie ausgerechnet von Adlard kam, traf mich ins Mark. Ich musterte seine blasse Gestalt. Plötzlich keimte in mir die Befürchtung, dass meine körperlichen Beschwerden möglicherweise bleiben könnten.

Mach dich nicht verrückt!

Es gelang mir mit Mühe, gegen meine Übelkeit anzuschlucken. Ich wollte nur aus der Einfahrt verschwinden. Kurzentschlossen griff ich nach den Kapseln, wobei ich mir einredete, dass ich es nur tat, um meine Ruhe zu haben, und dass ich gar nicht vorhatte, sie im Ernstfall einzuwerfen.

»Danke«, murmelte ich und wandte mich zum Gehen.

»Yuriy«, sagte er noch einmal.

»Was!?« Ich bremste mich mitten im Wort aus. Stattdessen wechselte ich zu einem gut gebutterten: »Bitte?«

Seine Miene war fast weich.

»Charlotte ist hart im Nehmen«, sagte er. »Mach dir keine Sorgen um sie.«

Da konnte ich nicht länger an mich halten.

»Was wollen Sie mir sagen?«, fuhr ich ihn an. »Dass Sie sie beschützen werden, so wie mich heute Morgen?«

Ich maß ihn mit den Blicken. Er wollte antworten, doch ich fiel ihm ins Wort.

»Das können Sie doch gar nicht.«

Einen Moment lang starrte Adlard mich nur an – ein Bild, an dem ich mich weidete.

Dann schloss er die Augen und wandte das Gesicht ab. Seine Wangen blähten sich. Ich ließ ihn in seinem Ringen um Fassung stehen, und als er die Augen wieder aufschlug, hatte ich bereits den Bürgersteig erreicht. Ich hörte seine Hände resigniert auf die Oberschenkel klatschen, dann seine Schritte, die sich in Richtung Haus entfernten. In meinen Ohren klangen diese Geräusche wie Musik.



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Kommentare zu diesem Kapitel (6)

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Von:  Enisocs
2012-10-04T08:43:28+00:00 04.10.2012 10:43
Bohhh, Yuriy, du kleines...! Ich schwanke zwischen -mich an seiner Bissigkeit zu freuen- und -ihm eine klatschen zu wollen- :D Urian tut mir leid. Ne, absolut herrlich. Auch wie die Dialoge inszeniert sind, die ganzen versteckten Seitenhiebe und so. Ich mag Park *g* Und ich hab mich dabei ertappt mir kurz Ylan vorzustellen, weil sich Ylan und Seik ja auch nicht ausstehen können. Gibt von dem ein Artwork?

Ich bin echt beruhigt, dass Yuriy genau so dumm darsteht wie man selber. Wie das alles mit der Magie in deiner Story funktioniert, da blickt man erst nur so teilweise durch. Aber ich denke mal, dass ist beabsichtigt und gut so. Ich mag gut gespinnte Fantasy in der Neuzeit, so dass es trotzdem erdig bleibt.
Von:  SakuraxChazz
2011-06-25T14:58:50+00:00 25.06.2011 16:58
Na da wäre ja fast was schief gelaufen. Yuriy hat manchmal mehr Glück als Verstand. Und da geht es ja nicht gerade um wenig.
Ich finde er sollte Urian ein wenig mehr Vertrauen entgegen bringen. Immerhin hilft er ihm ja auch. Aber das es dagegen Tabletten gibt... Nicht schlecht. Bin mal gespannt wie super die dann am Ende wirken. Bei mir ist in der hinsicht ja meistens Hopfen und Malz verloren. Da hab ich sie dan unten und nichts bessert sich -.-
Aber seine Schmerzen sind ja schon heftig. So mit den Kopfschmerzen und der Übelkeit. Da hat er wirklich Glück gehabt, das Urian etwas abgelenkt hat und er sich so umdrehen konnte, damit das keiner sieht.
Aber langsam wäre es doch wirklich an der Zeit Charlotte einzuweihen... Vielleicht macht Breca das ja zu gegebener Zeit.
Und Belzac.. hmm.. ich find den Namen noch immer komisch. Aber ich bin froh, das er jetzt Ruhe gibt. Er scheint ja echt ungemütlich werden zu können. Das will ich nicht erleben, besonders nicht im Zusammenhang mit den Furlongs.
Und dieser Park... ich wollt immer Parker lesen -.- Peter Parker.. schlimm.. dabei hab ich doch gar kein Spiderman geglotzt.. Hmm... Egal. Ich mochte ihn irgendwie. Zumindest ein wenig. Sein Memorium ist toll^^ Ich hätte sowas auch gerne. Auf jedenfall scheint das besser zu sein, als ein Vergissmeinnicht von Neville. Wenn das auch als Protokoll dienen kann. Und man spart Papier und Handarbeit.
Na da lass ich mich dann ja mal überraschen, was noch weiter mit Yuriy passieren wird. Ich denke ja mal schon, das er diese komischen Wunderpillen mal nehmen muss. Was dann wohl passieren mag... Hm... Und er darf ja Solweig jetzt einiges erklären. Nur ob er das dann auch macht. Fraglich. Und dann kommt ja auch noch dieses Physikreferat auf ihn zu. Na da hat sich Lestard mit Jean ja das richtige Timing ausgesucht.

LG Saku^^
Von:  _Myori_
2011-06-16T13:32:59+00:00 16.06.2011 15:32
hey :)
ein gaaanz großes sorry, dass ich erst jetzt weiterlese, aber ich hatte in letzter zeit nicht die nötige ruhe und zeit zu lesen- was ich nach diesem kapitel noch mehr bereue...
wie zu erwarten, wieder ein tolles kapitel und hm... ich bin immer noch ratlos, was jetzt genau mit yuriy los ist- zumindest scheint sein großvater ja auch was zu wissen, da steht er wenigstens nicht ganz alleine mit seinem problem da ^^
aber seine symptome machen mir echt sorgen... der arme junge, magenkrämpfe sind echt nicht schön :( hoffentlich helfen die tabletten.
lg ^^
Von:  -Zoria-
2011-04-08T17:44:16+00:00 08.04.2011 19:44
Hallo :)
Meine Hausarbeit ist immer noch nicht fertig, aber ich hab das Lesen trotzdem schonmal angefangen.
Dein Stil liest sich wunderbar, aber ich muss zugeben, dass ich oft überfordert bin. Manchmal versteh ich die Andeutungen nicht, die die Figuren machen, oder die Zusammenhänge. Was dir klar ist, ist deinen Lesern eben nicht immer genauso klar *lach*
Allerdings hat das ganz ja mittlerweile schon ein paar Kapitel mehr, ich bin mir sicher, du bist mittlerweile auch auf einem ganz anderen qualitativen Stand als in diesem Kapitel.
Aber unterm Strich solltest du das wirklich einem Verlag anbieten, wenn du fertig bist - oder bist du schon? Hab nicht nachgeschaut. (Ich würde es auch kaufen :)
Ich les dann mal weiter!
Von: abgemeldet
2010-11-15T10:35:10+00:00 15.11.2010 11:35
Lässt sich doch tollig lesen.
Ich bin ja sowieso ein Fan von Dialogen, vor allem, wenn sie nicht so Zeile um Zeile hintereinander stehen, sondern auch noch beschrieben wird, wo die Leute stehen, was sie tun, sagen, wie sie sich bewegen, wen sie anschauen...
Yuriy ist sehr aufmerksam.
Muss er als Ich-Erzähler auch sein, auch wenn es ehrlich gesagt wirklich sehr unwahrscheinlich ist, das wirklich alles zu erfassen. Das kann nur der Autor, der den absoluten Überblick hat. Den hat Yuriy nicht... als er würde ihn nicht haben, wäre er ganz ganz allein... ohne dich.
Egal.
Sieben Leute.
Ich hätte jetzt auch nicht damit gerechnet, dass da noch mehr herumwuseln. Also Urian war ja sowieso da. Dann habe ich mit dem Sekretär gerechnet und eben mit Pilgrim.
Aber dieser Park... (ich mag ihn übrigens nicht... der ist doch voll die linke Ratte, aber das sind Inquisitoren wahrscheinlich von Natur aus, sonst könnten sie den Job nicht machen) aber wahrscheinlich irre ich mich.
Eustace Belzac war mir dann doch nicht ganz so unsympathisch wie erwartet. Man hat ja aber auch nicht viel von ihm gehört.
Merkt man, dass ich wieder etwas erschlagen bin?
Wahrscheinlich schon.
Das Kap hatte es in sich, das ist wahr. Aber es liegt nicht an dem Siebener-Dialog. XD
Der war noch das übersichtlichste. Eher wieder die ganzen Informationen, wer gegen wen hetzt und warum und... gegen wen. Obwohl... gegen wen ist ja schon klar. Jean und Lestard. Obwohl Park ja gegen Urian auch ein wenig hetzt.
Ach naja... die sollen sich mal alle lieb haben...
Würde alles viel einfacher machen.
Nun... jedenfalls... bin ich gespannt, was jetzt noch wegen dem Perlmuttleuchten rauskommt. Dass es Pillchen dagegen gibt, ist doch schon mal gut zu wissen. Die hätte der normale Arzt sicher auch verschreiben können, aber der ist ja auch zwielichtig, da bin ich ja der festen Überzeugung.

Yuriy tut mir jedenfalls leid.
Bei der Masse an Unwissen, das einem aber auch irgendwie nicht näher gebracht wird, würde wohl jeder irre werden. Kein Wunder, dass sich seine Symptome mit dem Leuchten da verstärken. Das wird sicher noch schlimmer.

So...
Und jezze...?
Schreib ma weiter. oO
Von:  SamAzo
2010-11-03T00:28:45+00:00 03.11.2010 01:28
Mah, so viele Leute...
Ab und an hab ich kurz den Überblick verloren. xD
Vielleicht lag es daran, das ich damit nicht gerechnet hatte... Was bringt denn auch jeder noch einen mit?

Die 'Murmel' ist toll. Wo bekomme ich eine her?
(Weißt du was für Massen ich mir _damit_ alles merken könnte? xD)

Adlard verteilt also Drogen, ja?
Die nächsten Tablettchen wird es nicht umsonst geben... ôÒ
Ne, Scherz.
Ziemlich nett von ihm trotz der offensichtlichen Abneigung so freundlich zu Yuriy zu sein. Macht nicht jeder.

Zur Anmerkung:
Ja, da hat etwas abgefärbt. Ich sehe das nicht so stark. Eigentlich so gut wie gar nicht, aber ich hatte auch keine LKs ^^
Wenn ich mir hingegen einen Film anschaue und dort eine Explosion ist *seufz* - ich sehe die Partikel, die benutzt wurden um den Effekt zu erzeugen, aber nicht die Action an sich. Das ist grausam - so kann man keinen Film mehr richtig genießen.
(Hot Fuzz ist trotzdem toll xD)


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