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Perlmutt

von

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SILVESTER (I): »Das geht für dich immer vor!«

Als ich Mum zur Rede stellen wollte, wies sie mich ab, indem sie die freie Hand auf ihr Ohr legte und sich über die Arbeitsplatte beugte. Ein rigoroser Versuch, mein Drängen auszublenden. Mit der anderen Hand wählte sie nun schon zum fünften Mal dieselbe Telefonnummer an, während mein Kopf vor Fragen zu platzen drohte. Es war mir unmöglich, sie auszublenden. So bodenlos ich mich fühlte, so spürbar war die Gefahr. Es war schlimmer, nur zu wissen, dass da etwas war, als zu wissen was.

»Mum, es ist wichtig, dass wir das jetzt klären.«

Sie stellte sich taub. Ich schaute herausfordernd von ihr zu meinem Großvater. »Breca!«

»Gleich«, winkte er ab, den Lautsprecher seines eigenen Handys am Ohr. In seiner Hand rotierte hektisch die Drehscheibe des Tastenfelds, während er die Ziffern eingab.

Aber ich war nicht willens, mich abwimmeln zu lassen.

»Gleich!«, äffte ich ihn nach. »Sind fünfzehn Jahre nicht lang genug?«

»Yuriy!« Der warnende Unterton in Brecas Stimme war unverkennbar.

Ich setzte zum Widerspruch an, doch Mum schnitt mir das Wort ab: »Gib mir noch fünf Minuten!«

»Das hast du schon vor einer Viertelstunde gesagt. Und der Typ, den du erreichen willst, geht nicht ran!«

»Das hier« – sie gestikulierte mit dem Mobiltelefon – »geht vor, und zwar mindestens, bis er abhebt.«

Zum sechsten Versuch kam sie allerdings nicht, denn ich griff um ihre Schulter herum und riss ihr das Telefon aus der Hand, um wild damit vor ihrem Gesicht herumzufuchteln.

»Das hier«, fauchte ich, »geht für dich immer vor!«

Da sah sie mich zum ersten Mal an. Ihre Augen waren glasig, und kurz war ich erschrocken über ihren gehetzten Ausdruck.

Kurz. Dann siegte meine Ungeduld. Ich hatte ein Recht auf die Wahrheit, ein verdammtes Recht!

»Dass du die Stirn hast«, zischte sie tonlos.

»Natürlich!« Meine Stimme überschlug sich fast. »Wer seid ihr, dass ihr mich so belügt?«

»Gib mir mein Telefon«, sagte sie ruhig.

»Erst, wenn ich weiß, was hier gespielt wird«, erwiderte ich laut.

Mums Blick bohrte sich in meinen. »Hör auf zu diskutieren.«

»Ich diskutiere nicht«, diskutierte ich und umklammerte das Tastenfeld fester. Ich wollte Antworten. Sofort. »Du wusstest, dass Lestard kommen würde!«

»Nein.«

»Und warum er kommen würde! Ausgerechnet hierher.«

Sie hob die Hand, doch ich ließ mir nicht über den Mund fahren.

»Streite nicht ab, dass du ihn kennst! Erzähl mir, was damals passiert ist. Die Zeit ist gegen dich gelaufen, Mum. Sag mir, was ich nicht weiß, und zwar jetzt!«

»Das verstehst du nicht.«

»Wie sollte ich? Du lässt mich kein Stück an dich ran. Du redest nicht mit mir, du speist mich nicht mal ab, Mum. Du ignorierst mich!«

»Treib es nicht auf die Spitze, Yuriy«, sagte Breca hart.

Mein Blick flog zwischen den beiden hin und her.

»Ich bin nicht derjenige, der euch Vertrauen schuldet! Mum, ich will helfen«, beteuerte ich und wies von Breca, der mich mit strengem Blick strafte, auf sie und mich. »Sieh uns doch an! Ist es das hier, was du wolltest?«

Mum erbleichte.

Ich hatte sie verletzt, aber das war mir egal. Ich legte meine ganze Verachtung in den Blick, den ich ihr zuteilwerden ließ.

»Geh mir aus den Augen«, stieß sie hervor. Ihre Stimme war kaum mehr als ein heiseres Flüstern hinter zusammengebissenen Zähnen.

»Geh. Oder ich vergesse mich.«

»Das hast du schon«, blaffte ich zurück.

Das nächste, was ich wahrnahm, war ein brennender Schmerz mitten im Gesicht. Vor meinen Augen explodierte ein gleißendes Leuchten und löste sich in bunten Funken auf. Dann verlor ich das Gleichgewicht und stürzte rücklings auf die Fliesen.

Brecas entsetzten Schrei hörte ich dumpf wie durch eine Wand. Meine Nasenwurzel pulsierte schmerzhaft. In meiner rechten Gesichtshälfte breitete sich ein Kribbeln aus, das in ein Taubheitsgefühl umschlug. Ich konnte nicht durch die Nase atmen und auf der Zunge hatte ich einen metallischen Geschmack. Ich blinzelte die Benommenheit fort und stellte fest, dass ich auf dem rechten Auge trotzdem kaum etwas sah. Jemand drehte mein Gesicht zur Seite. Ich sah auf und fand mich Auge in Auge mit Mum, die sich kalkweiß und auf den Knien sitzend über mich beugte. Breca stand mit fassungslosem Gesicht hinter ihr, die Hände um ihre Schultern gekrallt. Ich wälzte mich herum. Als ich mich aufrichten wollte, tropfte mir Blut aus der Nase auf die Hand. Erst jetzt begriff ich ganz, was geschehen war.

Zu verstört, um mich allein aufzurappeln, zog ich mich mit der sauberen Hand an der Arbeitsplatte hoch. Mum fasste nach meinem Arm, um mich zu stützen, doch mit einem Blick auf ihre aufgesprungenen Fingerknöchel stieß ich sie weg und stemmte mich aus eigener Kraft in den Stand.

Erschrocken flüsterte sie meinen Namen. Sie streckte die Fingerspitzen nach mir aus – langsam, als hätte sie Angst, mich zu zerbrechen – und wagte es nicht, mich zu berühren. Einen Atemzug lang standen wir reglos wie Statuen, den ungläubigen Blick in den des anderen gebohrt. Ihre Hand war mir so nahe.

Zu nahe.

Ich zuckte zurück. Plötzlich war sie mir zuwider. Allesamt waren sie mir zuwider: sie und Breca, Lestard und der blonde Schönling. Unfähig, den geknickten Anblick meiner Familie länger zu ertragen, warf ich mich herum, zerrte im Vorüberstampfen meine Jacke von der Flurgarderobe und pfefferte die Wohnungstür krachend hinter mir ins Schloss.

Während ich die Haustür aufstieß, hörte ich, wie Mum mir ins Treppenhaus folgte.

»Was?«, fauchte ich sie gurgelnd an. Zum Antworten ließ ich sie nicht kommen. »Da habt ihr Zeit! Ihr könnt mich alle kreuzweise!«

Ich eilte auf die Straße und schlug ein zügiges Tempo an, damit sie nicht auf die Idee kam, mir nachzulaufen. Die ersten Blocks ließ ich rennend hinter mir. Um mich herum stob der frische Pulverschnee in die Höhe und ich strauchelte mehrmals, weil meine Füße keinen richtigen Halt fanden. Erst als Mums Rufe hinter mir verklungen waren, erlaubte ich es mir, langsamer zu werden. Sie hätte mich mühelos einholen müssen. Vielleicht hatte Breca sie aufgehalten. Die eisige Luft brannte in meiner Lunge. Ich spuckte das Blut aus, das ich beim Laufen in den Mund bekommen hatte, zog den Kopf ein und vergrub die Hände in den Jackentaschen.

Meine Fingerspitzen stießen an mein Handy, das im dicken Taschenfutter vibrierte. Entschieden drückte ich Mums Nummer weg und wollte das Telefon gerade ausschalten, als ich sah, dass ich eine Nachricht von Solweig erhalten hatte. Mechanisch wählte ich die Nummer meiner Mailbox an.

»Hey, du Held! Ich habe versucht, dich anzurufen, aber eure Nummer gibt es anscheinend nicht mehr. Ich habe mit Matt gesprochen. Er ist morgen Abend dabei, wenn wir rausgehen. Mach dir deshalb keinen Kopf mehr, ja? Ich versuch’ morgen noch mal, dich zu erreichen. Schlaf gut!«

Die Abfrage schaltete sich mit einem Klicken aus. Im selben Moment verrauchte meine Wut.

Der Lichtkegel der Straßenlaterne hüllte mich ein wie eine Blase. Meine Augen ruhten auf den frischen Spuren, die meine Füße im Schnee hinterlassen hatten, und die im Licht der Neonröhre viel tiefer aussahen als sie tatsächlich waren. Wie in Trance drückte ich die Wiederholungstaste; einmal, und noch einmal. Als Solweigs Stimme mir zum dritten Mal eine gute Nacht gewünscht hatte, begann es wieder zu schneien. Plötzlich wurde ich mir der schneidenden Kälte um mich herum bewusst, und mir wurden drei Dinge klar: Erstens hatte ich den Streit mit Matt im Laufe des Abends ganz vergessen. Zweitens war ich, als ich beim Wechsel der Straßenseite Solweigs Nachricht abgerufen hatte, wie ein Depp mitten auf der Fahrbahn der Margravin Gardens stehengeblieben. Drittens hatte mein zielloser Gewaltmarsch mittlerweile eine knappe Dreiviertelstunde gedauert, die ich vor allem dazu genutzt hatte, im Kreis zu laufen.

Ich war erst seit Minuten wieder in Bewegung, als ich einen U-Bahnschacht passierte, den das Informationsschild als »Barons Court Station« auswies, und stockte mitten im Schritt. Hier kam ich sonst unter Tage vorbei, wenn ich auf dem Weg zu Solweig war. Ich beschleunigte meine Schritte von neuem; nicht nur, um mich aufzuwärmen.

Als ich den Nachtfahrplan studierte, machte ich mir längst keinen Kopf mehr um die Strecke, die ich zurückgelegt hatte. Für mich stand außer Frage, dass ich sie heute nicht noch einmal laufen würde. Ich nahm die Treppe zum Gleis im Laufschritt, rutschte fast auf einer glatten Stufe aus und legte die letzten Meter unter beherztem Fluchen zurück.

Es stellte sich heraus, dass ich in dieser Nacht allgemein mehr Glück als Verstand haben sollte. Dazu gehörte auch, dass ich auf den nächsten Zug nach Richmond weniger als eine Viertelstunde zu warten hatte. Mit frischem Elan wählte ich Solweigs Handynummer und zählte ungeduldig die Anzahl der Freizeichen, bis sie endlich abhob.

»Boah, Yuriy, weißt du, wie spät es ist?«, nuschelte sie in den Hörer.

Das war ihre ganze Begrüßung. Ich fackelte nicht lange.

»Solweig«, sagte ich heiser, »kann ich rüberkommen?«

»Was?« Bei dem einen Wort rutschte ihre verschlafene Stimme um eine ganze Oktave nach oben.

»Du hast richtig gehört.« Ich leckte mir über die Lippen und schüttelte mich, als ich geronnenes Blut schmeckte. Der Bahnsteig war furchtbar zugig. Zumindest redete ich mir ein, dass mein Zittern darauf gründete.

»Oh Gott«, murmelte sie. Einen Moment lang herrschte Schweigen auf ihrer Seite und in meiner Kopflosigkeit befürchtete ich fast, sie würde auflegen. Als sie endlich weitersprach, klang sie jedoch plötzlich hellwach.

»Klar. Wann bist du da?«
 

Breca sagte immer augenzwinkernd, ich hätte das gute Aussehen von meiner Mutter geerbt und das freche Schandmaul von meinem Vater. Diverse Freunde meiner Mutter waren der gegenläufigen Meinung. Wir können getrost festhalten, dass beide Seiten auf ihre Art parteiisch waren, und dass das in Bezug auf meine Eltern vor allem Eines bedeutete: Mein Vater hatte meiner Mutter in nichts nachgestanden. Ich kannte ihn nur von Fotos, die Breca mir gezeigt hatte. Estelan Cole hatte er geheißen. Wenn ich als Kind für meinen Unsinn einen Denkzettel erhalten hatte und mich weinend an Mum hängte, lachte sie mich aus und sagte, ich wäre genau wie er: Ich schrie nicht vor Schmerz, sondern weil ich um ihr Mitleid buhlte. »Aber dir konnte ich das noch austreiben, ihm nicht mehr«, scherzte sie später. Während ich nun auf meinen Zug wartete, fragte ich mich, ob meine Eltern sich jemals so gestritten haben mochten wie ich mich mit Mum an diesem Abend.

»Er war immer beschäftigt. Immer bei der Arbeit«, hatte sie einmal gesagt, und es war das einzige Mal, dass sie mit einem säuerlichen Unterton von ihm sprach.

Mein Vater war gegangen, wenn ihn die Pflicht rief, denn sie konnte lauter rufen als Mum. Auch an dem Morgen, als Mum abgeholt wurde, um seine Leiche zu identifizieren. Die Demonstration, an der er teilgenommen hatte, war aus dem Ruder gelaufen. Er war einer von denen gewesen, die es das Leben gekostet hatte.

»Er hat für seine Ideale gelebt«, hatte Breca schroff hinzugefügt. »Und das hat ihn um Kopf und Kragen gebracht. Hätte er sich entscheiden müssen, dann immer gegen euch. Sei froh, dass sie ihm die Entscheidung abgenommen haben.«

Mum hatte ihn mit einem vernichtenden Blick bedacht, aber kein Wort war über ihre Lippen gekommen, und am Ende hatte sie sich verschämt abgewandt. In diesem Moment hatte ich nicht gewusst, wer meinen Zorn mehr verdiente: Mein Vater, weil er Mum an diesem einen Tag im Stich gelassen hatte, oder Breca, weil er glaubte, sie daran erinnern zu müssen.

»Sei froh, dass sie ihm die Entscheidung abgenommen haben.«

Sie.

Natürlich!

Mum arbeitete für die Congregatio. Wenn ich Jean Lavals Äußerungen über sie richtig deutete, musste es die Zeit nach dem Tod meines Vaters gewesen sein, da sie ihre Arbeit für den Senat aufgegeben hatte, denn ich hatte niemals mitbekommen, dass sie abgestiegen wäre. Seit ich denken konnte, arbeitete sie aber in ständigem Bereitschaftsdienst: tagsüber vom Büro oder dem Streifenwagen aus, nachts mit dem Telefon neben dem Bett.

»Deine Mutter war auch nicht immer so verbohrt«, sagte Jeans Stimme in meinem Kopf.

Mum hatte dem Senat selbst gedient. Zumindest hatte sie es nicht abgestritten. Und sie kannte Atlantiner. Plötzlich überkam mich ein wahnwitziger Gedanke: Vielleicht hatte mein Vater auch …!

Ja, was?

Für die Congregatio gearbeitet? Atlantis ausspioniert? Überlebt und war übergelaufen? Hatte man ihn deshalb umbringen lassen? Oder war er dann vielleicht gar nicht tot? Hatte er von Anfang an zu Atlantis gehört? Oder hatte er mit Atlantis überhaupt nichts zu tun und es ging allein um Mum und Breca?

Stopp!

Ich nahm eine Lunge voll kalter Luft, genoss das Brennen in Hals und Brustkorb, und schüttelte den Kopf. Das führte doch zu nichts. Ich wusste nicht, was ich denken sollte.

Das marode Schnaufen der Nachtbahn rüttelte mich aus meiner Grübelei auf. Vorsichtshalber zog ich mir die Kapuze über den Kopf, bevor ich einstieg. Immerhin hatte ich keine Ahnung, wie ich aussah – bis auf die Tatsache, dass ich blutbeschmiert war.

Die Nachtzüge wirkten um diese Zeit wie ausgestorben; der Großteil der Gaststätten und Kneipen hatte schon geschlossen und die meisten Leute waren nach Hause oder in die Clubs und Diskotheken abgewandert. Ich durchquerte zwei Waggons, die jeweils von zwei oder drei Personen besetzt waren. Sie würdigten mich keines Blickes, doch ich suchte trotzdem weiter, bis ich ein Abteil ganz für mich allein fand. Draußen flog die gekachelte Tunnelwand vorüber und blitzte nach jeder Fensterstrebe von neuem auf. Der Zug war nur unzureichend beheizt, aber nach der beißenden Kälte auf dem Bahnsteig reichte auch die spärliche Wärme fürs Erste aus, um mich zufrieden zu stellen.

Nachdem ich es mir in einem aufgeribbelten Sitz neben der Heizung einigermaßen gemütlich gemacht hatte und wieder aufgetaut war, meldeten sich auch die Schmerzen in Nase und Wange zurück. Seufzend zog ich mir die Kapuze vom Kopf und nahm mein Spiegelbild in der Fensterscheibe in Augenschein. Mein eines Augenlid war anschwollen, die Wange begann blau anzulaufen. Das Blut war mir über Mund und Kinn geflossen und inzwischen getrocknet, also gestattete ich es mir, meine Nase zu untersuchen. Sie pochte bei jeder Berührung schmerzhaft, saß aber gerade. Immerhin war sie nicht gebrochen.

An der Gordon Stout hatte ich von den Lehrern schon die eine oder andere Tracht Prügel für meine Aufsässigkeit bezogen. Es kam auch vor, dass meine Mutter mir einen Klaps gab, um mich einzunorden, wenn ich zu respektlos geworden war. Aber noch nie hatte sie mich mit der Faust zu Boden gestreckt.

Und noch nie hatte ich sie derart angegriffen.

Ächzend sank ich gegen die zerschlissene Rückenlehne. Bestimmt hatte sie ihre Gründe gehabt, es – was auch immer es war – vor mir zu verheimlichen. So wie ich ihr nichts von dem Leuchten erzählt hatte. Um sie nicht zu belasten. Vielleicht hatte sie aus dem gleichen Grund gehandelt. Vielleicht war es so einfach.

Und dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen, dass sie schlichtweg Angst haben musste. Genau wie meine Welt, war vorhin auch ihre zusammengebrochen.

Mir war hundselend.

Mum hatte nicht mehr versucht, mich zu erreichen, seit ich ihren Anruf weggedrückt hatte – das fiel mir plötzlich auf. Aber ich kannte sie. Sie wartete auf eine Nachricht von mir, wenn es sein musste, bis zu meiner leibhaftigen Rückkehr. Eine durchwachte Nacht konnte sie jetzt nicht gebrauchen. Mechanisch griff ich zum Handy und begann eine SMS zu tippen:

»Bin bei Solweig untergekommen. Mach dir meinetwegen keine Sorgen. Morgen reden wir.«

Ich wollte die Nachricht schon abschicken, zögerte dann aber einen Moment.

Was für ein Mist, dachte ich und drückte die Kurzwahl durch.

Mum hob noch beim ersten Klingeln ab.

»Wo bist du?«

Sie klang fast ängstlich.

Ich hatte einen Kloß im Hals, als ich genau das sagte, was ich in die SMS hatte schreiben wollen. »Mach dir keine Sorgen. Ich bin bei Solweig untergekommen.«

»Nein, ich meine, ob du schon da bist.«

Das verschlug mir den Atem. »Hat sie dich …?«

»Nein, ich sie.«

In der Fensterscheibe sah ich, dass ich unwillkürlich angefangen hatte zu lächeln. Natürlich hatte sie geahnt, wohin ich mich wenden würde. Wie hätte ich das bloß in Zweifel ziehen können?

»Wo ist Breca?«, fragte ich.

»Vor mir auf dem Stuhl eingedöst«, flüsterte sie. »Wir reden morgen, ja?«

Ich erwiderte nichts.

»Versuch zu schlafen«, sagte sie. Ich wusste, dass sie auflegen wollte.

»Mum«, sagte ich schnell, aber als sie tatsächlich wartete, brauchte ich noch einen Moment. »Du kannst mich nicht kreuzweise.«

Einen endlosen Moment herrschte Stille.

Dann sagte sie: »Ich weiß.«
 

Die Nachtzüge fuhren schaffnerlos und gaben die Haltestellen über verschrammte Displays neben den Abteiltüren durch. Wenn man nicht aufpasste und rechtzeitig den Bremsknopf betätigte, konnte man die zusätzlichen Blocks im Laufschritt zurücklegen, wollte man keine halbe Stunde auf die nächste Bahn warten.

In Gedanken versunken, war ich der passende Kandidat für so eine Dummheit, und es wäre nicht das erste Mal für mich gewesen. Aber was Richmond anbelangte, hatte ich das unverschämte Glück, gerade die Endstation anzusteuern. Meine Haltestelle flammte in roten Lettern auf, und noch bevor die Türen ganz geöffnet waren, sprang ich auf den Bahnsteig hinaus.

Als ich auf den Quadrant hinaustrat, hüllte mich augenblicklich die Kälte ein. Meine Zähne schlugen klappernd aufeinander. Die letzten paar hundert Meter bis zu Solweigs Haus legte ich strammen Schrittes zurück. Im Prinzip lag es gleich hinter dem Bahnhof; da aber der Ausgang am Quadrant der einzige war, musste ich wohl oder übel einen Bogen laufen.

Solweigs Zuhause glich einem Gebilde aus Stein und Glas, dessen Stockwerke sich verschachtelt ineinander schoben und innen in weitläufigen, hohen Räumen zusammenschmolzen. Es war noch aus der Zeit, als Flachdächer der letzte Schrei waren. Nach dem Bürgerkrieg hatten die Leute jedoch angefangen, auf Haltbarkeit zu setzen und darauf, dass einmal geworfene, mitunter brennende oder explosive Gegenstände wieder vom Dach herunterrollen konnten. Solweigs Familie hatte, seit sie das Haus vor dreizehn Jahren gekauft hatten, das Dach inzwischen zweimal wieder flicken lassen, weil die jährlichen Frühlingsstürme es mürbe gemacht hatten. Mittlerweile wies es ebenfalls eine leichte Rundung auf. Noch bevor ich die Einfahrt erreicht hatte, sah ich, wie sich etwas hinter dem satinierten Glas der Haustür bewegte und Solweig sie geräuschlos öffnete.

Als sie mein Gesicht sah, fiel ihr die Kinnlade herunter. »Was, zur Hölle, haben sie denn mir dir gemacht?!«, fragten ihre Lippen tonlos.

Ich zuckte nur mürrisch mit den Schultern und erntete einen resignierten Seufzer. Sie winkte mich in den Flur und ließ die Haustür sanft ins Schloss gleiten. Ich streifte Jacke und Schuhe ab und atmete auf. Wärme und der vertraute Geruch nach Obst, Küchenkräutern und Hund empfingen mich und lullten mich augenblicklich ein.

»Geh schon mal hoch. Ich komm gleich nach«, flüsterte Solweig mir zu, schlich den Flur entlang und verschwand nach links in die Küche, die nur durch einen Türsturz abgetrennt war. Das Haus, in dem Solweig wohnte, bestand schier aus Durchgangszimmern. Von der Küche aus, kam man ins Wohnzimmer und von dort in die Bibliothek. Den Wohnräumen gegenüber lag das Arbeitszimmer von Solweigs Mutter, das als einziger Raum durch eine verschlossene Glastür abgetrennt war. Mum verdiente allein fast genau so viel wie Solweigs Eltern zusammen, und ich wusste, wie viel Wert Solweigs Familie darauf legte, in ihrem Stand anerkannt zu werden. Solweig und ihr älterer Bruder Garreth – der sein vorletztes Jahr an der Gordon Stout bestritt und insgeheim begeisterter Mitverfechter der Cobbald-Verschwörung war – taten ihnen den Gefallen, sie nicht zu enttäuschen. Als Kinder einer Tierärztin, die gelegentlich als Dozentin an der medizinischen Fakultät arbeitete, hatten Solweig und Garreth ganz bestimmte Erwartungen zu erfüllen, vor allem von außerhalb der Familie. Wenn ich mich unter meinen Mitschülern umschaute, kam ich immer wieder zu dem Schluss, dass es Lehrerkindern im Allgemeinen so zu gehen schien. Andererseits saßen sie direkt an der Quelle, und das war auch mir schon mehr als einmal zugutegekommen.

Als ich auf dem Weg zur Treppe am Wohnzimmer vorbeitappte, hörte ich das tiefe Schnarchen des betagten Airedale Terriers. Der breite Flur folgte der Anordnung der Räume und gewährte einen Blick in jeden von ihnen, bevor er in einem verglasten Erker endete, der eine ausschweifende Garderobe und die Wendeltreppe ins Obergeschoss beherbergte. Der Haken an der Wendeltreppe war, dass die Stufen zwar breit und tief waren, es aber kein Geländer gab. Nachdem ich sie über Jahre immer wieder erklommen hatte, nahm ich sie mittlerweile trittsicher im Krebsgang, damit ich besseren Halt hatte. Wie jedes Mal zählte ich die Stufen, weil Nummer Acht und Elf verräterisch zu knarren pflegten, und stahl mich an Garreths verschlossener Zimmertür vorüber in Solweigs Zimmer.

Anders als die restlichen Räume des Hauses, beherbergte es ein bunt zusammengewürfeltes Sammelsurium von Materialien. Ich liebte es. Wie immer, wenn ich Solweig unangemeldet besuchte, war es – nun, sie nannte es »unordentlich«. Die Kleidung vom Vortag war über den Rattansessel und den Schreibtischstuhl geworfen und ihre Schulbücher türmten sich auf dem Couchtisch. Solweig hatte die Zeit genutzt, die meine Fahrt gebraucht hatte, um mir Bettwäsche zu überziehen und Unmengen von Decken und Kissen auf ihrem Schlafsofa zu drapieren. Sie besaß kein Bett, nur dieses Sofa. Aber wenn ich es so ausgebreitet vor mir sah, staunte ich jedes Mal aufs Neue, denn darauf hatten vier Leute bequem Platz. Über der Tür hingen Solweigs perfekt gebügelte Schuluniformen. Ein massiver Eichenschrank türmte sich vor der einen Wand auf und erdrückte mit seiner Anwesenheit fast das weiß getünchte Regal, das vor Schallplatten und CDs nur so überquoll. Ich wusste, dass viele davon signiert worden waren, bevor Solweig sie überhaupt zum ersten Mal in den Plattenspieler eingelegt hatte. Solweig sparte das Geld ihres Aushilfsjobs, um auf die Konzerte ihrer Lieblingsbands fahren zu können. Zuerst hatten ihr Bruder und seine Freunde sie mitgenommen, doch mittlerweile hatte sie eine über ganz England verteile Clique zusammengebracht, mit der sie in regelmäßigen Abständen die Festivals abgraste. Missmutig stellte ich fest, dass diese Clique, die ich nur von kurzen, Sympathie erweckenden Gesprächen auf ihrer letzten Geburtstagsfeier kannte, auf ihrer Fotowand bald genauso viel Platz einnehmen würde wie Matt und ich.

Ich hatte mich gerade in die weichen Polster des Sofas sinken lassen, als Solweig auch schon behände hinter mir die letzten Treppenstufen hinauflief, lautlos und freihändig, eine Tasse heiße Milch mit Honig in jeder Hand. Mit dem Ellenbogen drückte sie die Türklinke herunter und schob die Tür ins Schloss, ohne dass diese ihr jämmerliches Quietschen ertönen ließ, wie sie es bei mir zu tun pflegte.

»Erzähl«, verlangte Solweig und drückte mir im Gegenzug eine Tasse in die Hand.

Ich starrte auf die marmorierten Streifen, die der Honig in der Milch gezogen hatte. »Ich habe Mist gebaut«, sagte ich. »Mum auch.«

»Schwer zu übersehen«, bemerkte sie.

Meine Miene musste einer Gewitterwolke gleichkommen, denn prompt lächelte sie mich entschuldigend an.

Ich seufzte. Einmal, zweimal, und noch ein paar Male, weil ich den richtigen Ansatz nicht fand. Und dann erzählte ich ihr alles: Von meinem Termin bei Doktor Graham, der Überweisung, Mums Überarbeitung, meinem Schweigen über das Leuchten, Jean und Lestard, dem Schlüssel, unserem Streit, meiner Flucht.

Die Sätze blubberten ungelenk und wirr aus mir heraus, aber irgendwie schaffte Solweig es, mitzuhalten. Ich liebte ihre Art, zuzuhören. Sie hockte vornübergebeugt im Schneidersitz und zuckte kaum mit der Wimper, die Augen stets auf meine gerichtet. In ihrer Aufmerksamkeit ging ich auf.

Sie ließ meine Erzählung unkommentiert, denn sie wusste, dass ich einen Plan verfolgte und nur eine Gelegenheit gebraucht hatte, um die Ereignisse auf die Reihe zu bekommen. Eine ganze Weile saßen wir einfach da und verarbeiteten meine Worte.

»Charlotte hat mich angerufen«, sagte sie schließlich. »Gleich nach dir.«

»Ich weiß.«

Solweig nickte. »Warum bist du nicht sofort zurückgegangen?«

Meine Finger spielten fahrig mit dem Tassenrand. »Ich will nicht, dass alles über Nacht in weite Ferne rückt und ich morgen denke, ich hätte alles nur geträumt.«

Solweig betrachtete mit ernstem Gesicht ihre Füße. Plötzlich begann sie zu grinsen und wuschelte mir durchs Haar. »Und du denkst, dein Gesicht könnte dich anlügen?«, feixte sie und erntete einen nicht zu sanften Knuff.

Ich schaute sie lange an.

»Was?«, fragte sie grinsend. Mein Blick machte sie verlegen.

»Danke«, sagte ich leise.

Sie zuckte mit den Schultern und nippte zum ersten Mal an ihrer Tasse.

»Verdammt!«, zischte sie und schüttelte sich. »Die Milch ist kalt!«



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  SakuraxChazz
2011-06-24T13:57:04+00:00 24.06.2011 15:57
xD Kalte Milch mit Honig... Aber das zeigt, das Solweig wirklich nur zugehört hat und mit ihren Gedanken voll bei Yuriy war^^

Und das Verhalten von Charlotte.. nunja.. sie stand unter Druck. Ich hab mir auch schonmal derbest eine Gefangen. Nur hab ich das Pech, keine Türen knallen zu können. Da ist überall Glas drin -.- Und bei unserer Eingangstür sitzt das auch noch leicht locker.. Echt doof..
Aber ich finde gut, das er dann sofort zu seiner Freundin gefahren ist^^ Es war sicher klug etwas Abstand zwischen sich und der Familie zu bringen. Sie wollen ihn ja anscheinend nur schützen. Aber einfach aufs Zimmer schicken hätte es eigentlich auch getan.

Und ich hab mich schon die ganze Zeit gefragt, was wohl mit seinem Vater passiert ist. Jetzt hat man ja immerhin schonmal ein paar schwammige Informationen. Ob er nun doch noch lebt weiß ja keiner anscheinend. Zumindest Yuriy weiß es nicht. Und ich wäre insgeheim voll dafür, das er noch lebt und zu Atlantis übergelaufen ist.. Weiß auch nciht.. aber meine innere Stimme meint, das es so gut wäre. Bin mal gespannt, wann zu dem Thema noch mehr Fetzen kommen.

Ach und mir sind zwei Fehler aufgefallen. Aber den einen find ich gerade nicht wieder... Aber der andere ist unverkennbar^^
Wo Solweig die Türe aufgemacht hat und Yuriy direkt anspricht. Das mir müsste zu einem mit gemacht werden^^

Ansonsten wie immer tadelos. Zumindest ist mir vorher noch kein Fehler untergekommen. Was auch daran liegen kann, das man mich schonmal drauf schubbsen muss... Aber ich arbeite hart an mir.^^

Ich bin schon gespannt auf die anderen Kapitel^^ Ob wohl noch eine Erklärung nun folgt? Ich hatte ja fast schon gehofft, das er nochmal in Urian reinrennt. Wäre dann schon das zweite Mal xD

LG Saku^^
Von: abgemeldet
2010-11-15T01:59:26+00:00 15.11.2010 02:59
*kopf kratz*
Hier macht man ja alle möglichen Gefühsregungen durch.
Ich hab mich am Anfang übel über Breca und Charlotte aufgeregt, aber im Grunde... hatten sie ja allen Grund, um erstmal den Telefonaten nach zu gehen.
Trotzdem...
Ich bin auch jetzt am Ende noch immer auf dem Stand, dass sie mir ziemlich unsymapthisch geworden sind.
Wenn es ewig klingelt, dann kann man doch mal ne Minute opfern, um seinem Kind/Enkel kurz zu erklären, was seine Welt da zum Einsturz gebracht hat.
Da kann ich Yuriy voll verstehen.
Das ist sein gutes Recht.
Die beiden sind älter und erfahrener in der Bewältigung solcher Sachen, zumal sie ja früher ausgiebig damit zu tun gehabt haben.
Yuriy hat den Bonus nicht.
Der fängt ja wirklich bei Null an. Da wäre ich wohl auch ausgetickt, hätte ich keine Antworten bekommen.
Echt bescheiden...
*sfz*
Aber sie haben sich ja wieder ausgesprochen... letztlich. Ich finde Yuriys Konsequenz gut. Also dass er trotzdem zu Solweig geht. Eine mutter sollte ihre Kinder nicht schlagen. Absolutes No-go. *nick*
Nun ja...
Erkenntnisse...
Dass die aber auch immer kommen müssen, wenn man die Situationen schon verbockt hat? Das wird sich wohl nie ändern.
So... das war nun aber wirklich der letzte Kommi.
*wirr rumlauf*


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