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Eine Percy Jackson-Fanfic
von

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Game Over

Für einen grausamen Moment hörte er nur das Bersten von Metall. Ein einziges schrilles Klirren und Brechen, das laut in seinen Ohren klang.

Von einem tonlosen Knall, der bis in seine Knochen dröhnte, begleitet, löste sich die Zeit aus ihrer Starre.

Ohne das er sich abfangen zu konnte, warf ihn die Wucht des fehlgeschlagenen Angriffs nach hinten, ließ ihn fallen und auf den Boden aufschlagen. Geruch von Feuer, Blut und Gras stieg ihm in die Nase, brannte sich überdeutlich in seine Sinne. Schweiß rann über seine Lippen, vermischt mit anderen Dingen – Dingen, die er nicht schmecken wollte. Seine Hand bewegte sich von selbst zu seinem Bauch, dort wo ein Splitter seines Schwertes durch seine Rüstung gedrungen war. Entsetzt sah er auf. Sein Blick fand Jackson, der sich nicht rührte.

Mit einem Schlag setzte der Schmerz ein.

Dies war nicht seine erste Verletzung. Er kannte Schmerz und dieser hier war nicht schlimmer, als der vieler anderer Verwundungen, die er erlitten hatte. Nicht viel zumindest. Das wusste er, als sich die Glut von dort, wo das Metall sich in seinen Leib gebohrt hatte, durch seine Adern fraß und nur das Adrenalin, das durch ihn pumpte, ihn davon abhielt das Bewusstsein zu verlieren.

Sie würde seine letzte sein. Das wusste er auch.

„Verräter.“

Es gab keine Hoffnung.

Nicht für ihn.

Als sich Kronos' Schatten über ihn legte, sickerte diese Erkenntnis langsam in sein Bewusstsein. Sie drang durch seine Gedanken, breitete sich aus und ließ für anderes keinen Platz. Statt zu weinen – und er wollte weinen, weinen über das Schicksal der Welt, weinen über das Schicksal seiner Mutter, weinen über sein eigenes Schicksal – starrte er weiter zu Percy Jackson. Der Junge hatte ihm einmal das Leben gerettet.

Er würde es nicht wieder tun.

Aber für Percy Jackson gab es Hoffnung. Und das war vielleicht die einzige Chance, die blieb.

„Verdienen besseres...“, brachte er mühsam hervor, ohne seinen Blick abzuwenden. Er wollte Kronos nicht sehen. Nicht jetzt. Nie mehr. „Wenn sie nur … Throne hätten–“

In seinem Augenwinkel sah er eine Bewegung. Er hörte, wie ein Fuß auf den Boden trat, gedämpft von Gras. Kronos.

Die Marmorplatten brachen unter ihm, öffneten sich zu einer gaffenden Leere.

Er schloss sein Auge, als er fiel.
 

Als er wieder zu sich kam, war es still. Er ertappte sich dabei, wie er auf sein Handgelenk starrte, als befände sich dort eine Armbanduhr. Hastig ließ er den Arm sinken. Für einen Moment fragte er sich, warum er nicht tot war.

Irritiert hob er den Blick. Ohne Zweifel befand er sich in einer Lobby. Und ganz sicher handelte es sich nicht um den Olymp. Es war nicht einmal das Empire State Buildung. Menschen standen um ihn herum. Vermutlich waren es Sterbliche, zumindest die meisten von ihnen. Ein Geschäftsmann neben ihm starrte auf sein Handy. Anscheinend las er eine Nachricht, die ihm nicht gefiel. Daneben umarmte sich altes Ehepaar, so als sei ein langer Streit endlich vergessen. Zwei Jungen in griechischen Rüstung, wie er ebenfalls eine trug, saßen nebeneinander auf einer mit schwarzem Leder bezogenen Bank und schwiegen. Weiter rechts stand ein dunkelhaariges Mädchen, das ihm vage bekannt vorkam, doch es sah ihn nicht an.

Wenn er über die Köpfe sah, konnte er Glastüren ausmachen, welche die Lobby nach außen hin abgrenzten. Spiegelverkehrt zog sich ein Band aus goldener Schrift über die Scheiben, doch seine Legasthenie verhinderte, dass er die Wörter entziffern konnte. Irgendetwas mit AOD, nein, DAO …

Die Buchstaben verschwammen vor seinem Auge und er wandte sich ab.

Auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes befanden sich keine Glastüren, nur ein großer Lift, dessen Türen geschlossen waren. Nicht weit entfernt stand der Sicherheitsschalter. Ein Mann saß dahinter. Er hatte blonde, kurze Haare, trug einen förmlichen schwarzen Anzug und eine Sonnenbrille. Dieser Mann sah ihn an.

Der Blick gefiel ihm nicht, dennoch verstand er die Aufforderung. Zögerlich trat er näher, hielt dann aber inne. Der Gedanke an eine Verletzung, die er haben sollte, die schmerzen sollte, streifte ihn. Sie veranlasste ihn dazu, an sich hinab zu blicken. Er trug noch immer die Rüstung, die er auf dem Olymp getragen hatte. Dessen war er sich bereits undeutlich bewusst gewesen, doch erst jetzt rückte diese Erkenntnis in seinen Fokus. Dellen hatten sich in das Metall eingedrückt, dort wo ihn Stöße getroffen hatten. Tiefe Kratzer zogen sich über die Oberfläche. Der Stoff darunter war zerfetzt und dreckig, schimmerte an manchen Stellen braun, rot oder schwarz. Dort, wo ihn sein eigenes Schwert verwundet hatte, klaffte ein Loch im Brustpanzer, doch von dem gesplitterten Metall war nichts mehr zu sehen. Durch den Riss konnte er die Wunde sehen.

Doch er spürte keinen Schmerz.

Die Erkenntnis ließ ihn heftig schlucken. Ihm wurde schwindelig. Rasch schloss er sein Auge und schluckte erneut. Er spürte, wie der Blick des Wächters noch immer auf ihm ruhte, doch er brauchte einen Moment, um sich zu beruhigen. Um die Erkenntnis sacken zu lassen.

Schließlich öffnete er sein Auge wieder und schritt zum Tresen.

Der Mann hob die Mundwinkel, als er zum Stehen kam, doch das Lächeln war nicht echt. Ein Namensschild war an seine Brust gepinnt, das er nicht lesen konnte. Allerdings brauchte er es auch nicht lesen zu können, um zu wissen, wen er vor sich hatte.

„Sie sind Charon“, stellte er fest. Es verwunderte ihn nicht, dass seine Stimme ruhig klang, frei von Schmerz, Angst und Zweifel. Für einen Lebenden war sie sicher nicht lauter als ein Wispern, doch in seinen Ohren klang sie zufriedenstellend fest und er wusste, dass der Mann ihn sehr wohl verstand.

Der Mann nickte.

„Mr. Charon für dich, aber du hast Recht. Ich bin Charon.“

Charon musterte ihn knapp. Er spürte, wie der Blick seine Augenklappe streifte und wie er schließlich für einen Moment an dem Loch in seinem Brustpanzer hängen blieb.

„Das tat sicher weh“, stellte er fest, doch es klang kein Mitgefühl in seiner Stimme mit. „Das Schwert deines Feindes, Knabe?“

„Mein eigenes, Sir.“

„Das ist bitter.“

Er nickte und schwieg. Den Sturz vom Olymp würde er nicht erwähnen. Vermutlich war er lange tot gewesen, bevor sein Körper auf dem Boden aufgeschlagen war. Wenn er den Boden überhaupt erreicht hatte und nicht noch immer fiel.

„Und, was kann ich jetzt von dir erwarten, Knabe? Geschrei? Gezeter? Viele schreien, wenn sie hier landen. Oder willst du betteln? Betteln tun sie danach.“

Er schüttelte den Kopf. „Ich werde weder schreien noch betteln, Sir“, antwortete er leise.

„Und wenn sie dann betteln, dann sage ich immer 'Keine Sonderbehandlung, auch nicht wenn-'“

Der Wächter verstummte für einen Moment, den er dazu nutzte, ihn erneut zu mustern. „Du willst nicht betteln? Und auch nicht schreien? Nicht zurück ins Leben? Nicht kostenlos übersetzen?“

Seine Stimme klang hoffnungsvoll.

Vermutlich war er das Gejammer der Toten, die seine Dienste in Anspruch nahmen, leid. Er wusste nicht viel über Charon – aber er konnte sich vorstellen, dass es auf Dauer an den Nerven zerrte, wenn man tagein tagaus nichts anderes tat, als die Toten über den Styx zu schiffen. Und Charon schiffte bereits seit ein paar tausend Jahren.

„Ich bin vom Olymp gefallen“, sagte er nun doch. „Keine große Chancen, das zu überleben. Ohnehin nicht mit dieser Wunde.“

Charon nickte. Er konnte nicht durch die Sonnenbrille sehen und die Gesichtszüge des Mannes veränderten sich nicht, doch er hatte das Gefühl, dass sich die Einstellung seines Gegenübers gerade geändert hatte.

„Vom Olymp, hm?“, fragte er mit Anerkennung in der Stimme, die vielleicht nicht echt war. Sorgsam zog er eine grüne Karte aus einer der Schubladen in seinem Schreibtisch. Routiniert platzierte er sie vor sich und griff nach einem Kugelschreiber, den er daneben legte. „Hast du Geld für die Überfahrt, Knabe?“

Für einen Moment zögerte er. Natürlich hatte er kein Geld. Immerhin war er tot und das hier war nicht sein richtiger Körper.

Als er jedoch in seiner Tasche griff, fand er die zwei goldenen Drachmen, die er bei sich getragen hatte, als er in die Schlacht gezogen war. Für den Notfall. Für Iris-Nachrichten. Iris-Nachrichten, die er nun nicht mehr senden würde. Erleichterung spülte über ihn, als er die Münzen mit der Hand umschloss um sie aus seiner Tasche zu ziehen und auf den Tisch zu legen.

Im Licht der Lobby schimmerten die goldenen Scheiben halb durchsichtig und schienen nicht echt. Dennoch war er sich sicher, dass die Münzen aus der Tasche seiner Leiche verschwinden würden, wenn Charon diese hier an sich nahm.

„Das ist alles“, sagte er schließlich.

Charon nickte, als er nach den Drachmen griff. „Das ist genug."

Die Münzen verschwanden in einem Portemonnaie an seinem Gürtel, dann griff er nach dem Kugelschreiber. Rasch füllte er einen Teil der Felder auf der grünen Karte vor sich aus.

Überkopf konnte er die Worte, die Charon schrieb, nicht entziffern, doch er hatte das Gefühl, dass es sich um Angaben wie Todeszeitpunkt, Todesart, Körpergröße und Farbe der Socken handelte.

Nur wenige Felder blieben frei. Die Spitze des Kugelschreibers schwebte über dem Obersten davon, als Charon aufsah. Es war schwierig, die vier Buchstaben zu entziffern, doch schließlich hatte er es – Name.

Charon hatte den Mund bereits für seine Frage geöffnet, doch er antwortete, bevor er sie stellen konnte.

„Nakamura Ethan. Sohn der Nemesis.“

Rasch fügte der Wächter diese Angabe hinzu. Es folgten weitere, für die er nicht nachfragen musste. Scheinbar wusste er, was er zu schreiben hatte, nun, da er seinen Namen kannte.

Schließlich drehte Charon die Mine des Kugelschreibers zurück und legte ihn beiseite. Sorgsam strich er über die grüne Karte, dann reichte er sie ihm.

„Hier, Ethan Nakamura. Zeig diese Karte am Schalter vor, wenn man dich danach fragt. Geh jetzt zum Fahrstuhl, er wird sich für dich öffnen. Und sieh zu, dass du keine Trittbrettfahrer durchlässt. Diese Schmarotzer verderben mir das Geschäft.“

Zögernd nahm er die Karte in die Hand. Auch richtig herum ergaben die Worte für ihn nur wenig Sinn, doch er hatte das Gefühl, dass es auch nicht weiter wichtig war. Er nickte Charon dankbar zu, dann tat er, was ihm aufgetragen worden war.
 

Ohne auf weitere Instruktionen zu warten oder sich weiter mit den Umstehenden zu beschäftigen, schritt Ethan zum Lift. Tatsächlich öffneten sich die Türen für ihn, als er sie erreichte. Schnell schritt er durch den sich aufschiebenden Spalt, um dafür Sorge zu tragen, dass niemand ihm folgte. Kaum hatte er die Schwelle passiert, schlossen sich die Türen hinter ihm.

Der Fahrstuhl war voll. Dutzende Menschen – Tote – befanden sich bereits im Lift, dennoch war es still. Keiner sprach. Keiner bewegte sich. Alle hielten eine grüne Karte in den Händen. Als er sich durch die Gruppe schob, um einen freien Platz zu finden, raschelte kein Stoff. Er hörte nicht einmal Schritte, außer den eigenen. Schließlich blieb er stehen, irgendwo weiter hinten, wo er niemandem im Weg stand.

Dann wartete er.

Das heißt – eigentlich stand er nur da. Natürlich hätte Ethan nachdenken können. Er hatte viel, über das er nachdenken konnte. Sein Leben zum Beispiel. Oder seinen Tod. Und natürlich war da noch der Kampf um den Olymp, der vermutlich immer noch tobte. Er könnte sicherlich darüber nachdenken, ob Percy Jackson es schaffte, Kronos zu besiegen.

Fakt war aber – er tat es nicht. Jetzt, wo er im Fahrstuhl stand, erschien es ihm nichtig. Er war tot. Sein Weg führte ihn in den Asphodeliengrund. Wenn er Glück hatte. Doch in der Unterwelt gab es kein Glück – und er hatte Kronos gedient. Vielleicht schickte man ihn in die Ewige Verdammnis. Das waren keine angenehmen Aussichten – und keine schönen Gedanken. Darum dachte er sie nicht.

Vielleicht hätte es ihn fasziniert, dass es ihm so spielend gelang, doch er zog es vor, auch daran besser keinen Gedanken zu verschwenden.

Also stand Ethan in diesem Lift und wartete. Zuweilen öffneten sich die Türen und ein Toter trat hindurch. Einmal war es eine ganze Familie, Vater, Mutter, zwei Töchter, aber die meisten kamen allein. Er wusste nicht, wie lange es dauerte, bis Charon in Begleitung eines letzten Toten selbst den Lift betrat. Ein unangenehmes Gefühl breitete sich in seinem Bauch aus, das nichts mit der Verwundung zu tun hatte. Er hatte eine gewisse Ahnung, um wen es sich bei diesem letzten Toten handeln mochte – und er mochte diese Ahnung nicht.

Charon indes setzte den Lift in Bewegung. Wie er dies tat, konnte Ethan nicht sagen – zu viele Tote versperrten ihm den Blick. Vermutlich drückte er irgendwelche Knöpfe, zog Karten durch Schlitze oder ähnliches.

Ein sanfter Ruck bewegte den Boden, als sie sich in Bewegung setzten, erst senkrecht nach unten, dann vorwärts. Ethan spürte, wie seine Kleidung sich wandelte. Das Gewicht seiner Rüstung verschwand und mit diesem auch die Kleidung, die er darunter getragen hatte. Zurück blieb nur eine graue Kutte. Ein Blick zu den anderen Toten sagte ihm, dass auch diese ihre Kleidung zurückgelassen hatten. Er wandte den Blick ab, schaute stattdessen dorthin, wo kurz zuvor noch die Wände des Fahrstuhls gewesen waren. Es überraschte ihn nicht, dass diese nicht mehr zu sehen waren. An ihrer statt erstreckte sich hinter den hölzernen Rumpf eines Bootes eine trostlose Landschaft um sie herum. In der Ferne erkannte er ein Tor, an das sich zu beiden Seiten eine endlose Mauer anschloss. Der Strand vor dieser Mauer war karg und leer. Nur scharfkantige, schwarze Felsen stießen hier und dort durch den Sand und ließen die Küste damit noch elender wirken. Unter ihnen glitt der Fluss der Unterwelt durch sein Tal. Ein dunkler Strom, verdreckt vom Müll der Jahrhunderte. Knochen und tote Fische begleiteten ihren Weg. Ein Stofftier tauchte aus den Fluten auf, nur um kurz darauf wieder von den Wellen, der Kahn verursachte, unterzugehen. Tausend andere Dinge erschienen und sanken wieder ab, vielleicht bis zum Grund. Urkunden, Kleider, Schmuck und sogar ein altes keltisches Schwert.

Er wusste, dass es sich um verlorenen Wünsche handelte. Träume, die nie erfüllt worden waren. Es war kein schöner Gedanke. Vielleicht bewegte dieser Ethan dazu, seine Augenklappe abzunehmen. Vorsichtig bewegte er die Hände zu seinem Kopf, ohne die Karte dabei loszulassen, und öffnete den Knoten. Das Stück Stoff legte sich ohne sein Zutun in seine linke Hand, als er die Augenklappe abnahm. Behutsam schmiegte es sich gegen seine Hand, so als wollte es nicht losgelassen werden.

Für einen Moment starrte er den schwarzen Stoff einfach nur an. Es hing viel daran. Ein Großteil davon waren Erinnerungen. Erinnerungen an seine Kindheit und an seine Zeit im Camp Half-Blood und daran, wie ungerecht es gewesen war, mit so vielen anderen Kindern in die Hermeskabine gezwängt worden zu sein, weil sich kein anderer Gott ihrer annahm. Erinnerungen auch an die Zeit, nachdem er das Camp verlassen hatte, um seinen eigenen Weg zu gehen – und den Einengungen des Camps zu entfliehen. Er hatte seine Mutter schließlich gefunden und er hatte alles für sie gegeben, weit mehr als nur ein Auge. Doch was diese Erinnerungen zusammenhielt, war weit mehr als ein Stück Stoff – es war ein Wunsch. Es war bitter, einzusehen, dass er es nicht geschafft hatte, ihn zu erfüllen. Sich auf die Unterlippe beißend, hielt er die linke Hand über die Reling des Kahns, bereit, loszulassen.

Schließlich hielt Ethan nur das Gefühl, dass jemand ihn beobachtete, davon ab, dem Bedürfnis zu folgen und die Augenklappe und alles, was er damit verband, fallen zu lassen. Als er sich umdrehte, sah Charon in eine andere Richtung und auch sonst konnte er niemanden erkennen, der ihm Beachtung schenkte.
 

Alle schauten zu dem Strand, der sich vor ihnen erstreckte. Das Tor war näher gekommen. Es war schwarz und riesig und bot drei Eingänge. Über diesen stand in riesigen Lettern, so groß, dass auch er mit seiner Legasthenie sie lesen konnte HIERMIT BETRETEN SIE EREBOS. Er hatte das Gefühl, dass die Buchstaben flackerten und gleichzeitig andere Worte zeigten, die unter der Oberfläche lagen. Wenn er nur im Augenwinkel zu den Wörtern sah, erkannte er eine Sprache, die Französisch sein mochte, Kanji und schließlich alte, griechische Symbole. Vermutlich hätte er noch mehr gesehen, wenn er mehr Zeit gehabt hätte, doch der Kahn legte an. Donner grollte in der Ferne.

Zusammen mit den anderen Toten verließ Ethan das Boot und folgte dem Strom der Menge zum Tor. Zu Charon, der vermutlich zurück zur seiner Lobby kehrte um die nächsten Toten zu holen, blickte er nicht zurück. Stattdessen sah er nur geradeaus. Grüner Nebel schimmerte überall. Weiter vorne teilte sich der Strom in drei lange Reihen, eine für jeden Eingang. Über zwei der Zugänge erkannte er die Aufschrift SCHALTER BESETZT. Auch diese Schrift flackerte und ließ ihn andere Zeichen sehen, wenn er im richtigen Winkel dorthin blickte. Der andere Zugang war mit DIREKTER TOD beschriftet. Es war der Zugang, den er nehmen würde. Wenn man über ihn zu Gericht sitzen wollte, dann würde man ihn aus seiner Reihe zerren müssen.

Es grollte erneut, tief und laut, irgendwo vor ihm. Auch wenn er ihn noch nicht sehen konnte, wusste er, dass es sich bei dem Urheber um Kerberos handeln musste, dem dreiköpfigen Ungeheuer, welches das Tor zur Unterwelt bewachte. Und obwohl er ihn hörte und wusste, dass er da sein musste, sah Ethan ihn erst, als er beinahe den Punkt, an dem sich der Menschenstrom in drei Reihen teilte, erreicht hatte. Zunächst war es nur ein Flackern im Nebel, doch dann zeichneten sich die Konturen eines riesigen Rottweilers mit drei Köpfen ab. Er biss die Zähne aufeinander, doch die Leute vor ihm schienen sich nicht am Anblick des Ungetüms zu stören. Vielleicht sahen sie ihn auch einfach gar nicht, denn Menschen konnten stur sein, wenn es darum ging, was sie sahen. Und wer glaubte heute schon noch an griechische Mythologie?

Doch Kerberos stand still. Zuweilen reckte er einen seiner Köpfe in die Luft, um nach Lebenden zu wittern oder schnüffelte mit einem anderen an einer der drei Warteschlangen. Er hätte ohne Mühe die DIREKTER TOD-Linie zerquetschen können, wenn er sich nur gesetzt hätte, doch er tat es nicht.

Schließlich war Ethan an der Reihe seinen Weg zu wählen. Wie die Toten vor ihm hielt er kurz inne, so als wäre er sich nicht ganz sicher, ob er den richtigen Weg gehen würde, obwohl er seinen Beschluss eigentlich bereits gefasst hatte.

„Dorthin geht es nicht ins Elysium, Ethan“, sagte eine Stimme hinter ihm, gerade als er weiter gehen wollte. Erneut hielt er inne, drehte sich jedoch nicht um. Er wusste, wer hinter ihm stand – und dieser jemand würde nicht verschwinden, auch wenn er es sich wünschte.

„Ich komme ohnehin nicht ins Elysium“, antwortete er knapp. „Und ich wähle lieber den Asphodeliengrund als die Ewige Verdammnis.“

„Du kannst nicht wissen, wie die Richter entscheiden.“

„Ich bin kein Held.“

Der Tote hinter ihm lachte heiser. „Aber du bist gestorben wie einer, Ethan. Und du hattest das richtige Ziel, nicht wie ich.“

„Das richtige Ziel vielleicht, mein Weg war dennoch der falsche.“

Hinter ihnen stauten sich die Toten.

„Nicht so falsch wie der meine. Wir haben beide nach Rache gesucht – und damit enden unsere Gemeinsamkeiten vielleicht schon. Ich hatte das richtige Maß längst aus den Augen verloren, du hingegen-“

„Ich etwa nicht?“

„Du hast nach der rechten Balance gesucht. Die rechte Balance in deinem Handeln. Die rechte Balance zwischen den Olympischen und Gerechtigkeit für deine Mutter und all die anderen niederen Götter. Die rechte Balance zwischen Göttern und Titanen.“

„Eine Balance, die es nicht geben kann.“

Die Toten hinter ihnen murmelten mittlerweile unverhohlen – und sie klangen nicht erfreut.

„Und das hast du rechtzeitig erkannt.“

„Habe ich nicht, verdammt!“

„Nein? Warum hast du Kronos dann nicht verraten, wo Percys Achillesferse war, obwohl du es längst wusstest? Und warum hast du Kronos angegriffen, als er am wenigsten damit rechnete? Du hättest den Krieg für die Titanen entscheiden können, wenn du nur gewollt hättest, Ethan. Aber du hast es nicht gewollt.“

„Es hätte den Krieg niemals geben dürfen.“

„Dann hätte sich nichts geändert. Die Balance, nach der du gesucht hast, ist nicht die Herrschaft der Titanen. Auch wenn du sie für einen gewissen Zeitraum vielleicht dafür gehalten hast.“

Er schluckte hart und schloss erneut sein Auge. Das Gemurmel in der Warteschlange war zu einer ausgewachsen Schimpftirade angeschwollen. Besonders ungeduldige Tote drängten sich an ihnen vorbei.

„Also hat Percy Jackson gewonnen, bevor Kronos deinen Körper zerstören konnte.“

„Nicht ganz. Ich selbst habe gewonnen. Irgendwie.“

Ethan schloss sein Auge und drehte sich um. Als er wieder aufblickte, stand wie erwartet Luke vor ihm. Er trug die gleiche graue Kutte wie er. Sein blondes Haar klebte vor lauter Dreck an seinem Kopf und an seinem Hals haftet eine rote Masse, die an ihren Rändern bereits braun war. Seine Augen waren blau und die Narbe, die sich über sein Gesicht zog, verzerrte sich, als er lächelte.

„Also? Du bist der Sohn der Nemesis. Du weißt, wofür sie steht. Hast du davor Angst?“

Die Antwort war einfach – sie lautete ja.

Dennoch kam Ethan nicht umhin, ebenfalls die Mundwinkel zu heben. Vielleicht war es Lukes Lächeln, dass ihn dazu veranlasste. Es war schon damals ansteckend gewesen, als er einer der Halbgötter gewesen war, deren göttliches Elternteil nicht bekannt war, und Luke der Leiter der Hermeskabine. Damals hatte es gut getan, ihn zu kennen. Und eigentlich tat es das noch immer, auch wenn er das bis eben verneint hätte.

Vielleicht hatte Luke Recht.

Als er sich wieder zurück drehte, war er noch immer verunsichert. Dennoch reihte er sich in eine Warteschlange ein, die zu einem der SCHALTER BESETZT-Eingänge führte. Es überraschte ihn nicht, dass Luke ihm folgte.
 

Es dauerte eine Ewigkeit, bis sie den Schalter erreichten. Ihr Weg führte sie an Kerberos vorbei, der zwar mit einer nassen Schnauze über sie hinweg schnüffelte, jedoch darauf verzichtete, sie zu fressen. Dann ging es langsam weiter zum Eingang. Sehr langsam.

Immerhin konnten sie diesen Weg gemeinsam gehen. Der Pfad war breit genug für zwei Personen nebeneinander. Weiter vor ihnen sahen sie ein Pärchen, dass ebenfalls gemeinsam voranging. Beziehungsweise schlich, denn scheinbar wurden am Schalter – oder dahinter – Fragen gestellt, die eigentlich niemand beantwortet haben wollte, so langsam ging es voran.

Luke nutzte die Wartezeit, um Ethan auf den Stand der Dinge zu bringen, was den Kampf gegen Kronos anbelangte. Natürlich wusste er nicht, was nach seinem Tod geschehen war, doch der Rest war interessant genug. Er erzählte ihm alles. Ausführlich. Das und noch mehr, vermutlich nur um das Warten zu überbrücken. Als sie den Schalter erreichten, war das, was er erzählte, eigentlich unwichtig geworden. Belangloses Geplapper, das nicht relevant war. Er erwähnte sogar, dass er die Architektur grässlich fand – vor allem die Decke, die ihr eigenes Wetter zu bilden schien. Schließlich verstummte Luke, vielleicht, weil der Sicherheitsghoul beim Detektor ihn einen nicht sonderlich freundlichen Blick zuwarf.

Der Ghoul sah Ethan auffordernd an und grinste. Nicht, dass ihm etwas anderes übrig blieb. Die reale Welt lag so weit zurück, dass über seinen Schädel keine Haut mehr sichtbar war und nur der Totenkopf blieb. Sich von Hades Angestellten abwendend, schritt er durch den Metalldetektor. Alles blieb ruhig, nicht so wie bei der unglücklichen Seele, die weiter vorn in der Reihe gewesen war und die man hinter dem Detektor aus der Schlange gezogen hatte. Wohin sie sie brachten, hatte er nicht sehen können.

Am Schalter zeigte er, wie Charon ihm aufgetragen hatte, seine Karte vor. Der Ghoul auf der anderen Seite der Theke nahm sie entgegen und musterte sie eingehend.

„Ethan Nakamura?“

Er nickte.

Der Ghoul reichte ihm das grüne Stück Papier. „Die Richter werden dich erwarten. Geh weiter.“
 

Luke folgte ihm hastig. Kaum dass sie das Tor passiert hatten hörte Ethan ihn aufatmen. Er wusste zwar nicht, warum sein … Freund – ja, Freund erschien ihm als das richtige Wort – so erleichtert war, doch er hatte eine gewisse Ahnung. Menschen, die in ihrem Leben zu viel schlechtes getan hatten, erregten Hades Aufmerksamkeit. Der Gott der Unterwelt kümmerte sich persönlich um sie. Es war … nicht angenehm. Weitaus unangenehmer, als „nur“ von den Richtern mit ewiger Verdammnis bestraft zu werden. Und Luke war in seinem Leben nicht unbedingt der nette Junge von nebenan gewesen. Hades Abwesenheit war ein gutes Zeichen.
 

Leider hielt dieses Glück nicht an.

Sie erreichten den Pavillon nach einer weiteren gefühlten Ewigkeit, in der sie schwiegen. Der Anblick der Toten in der langen Schlange, die sich zum Asphodeliengrund zog, war kein erbaulicher Anblick.

Das Zelt, in dem das Gericht tagte, ragte schwarz über das schwarze Gras und die ebenso schwarzen Bäume. Die Linien der SCHALTER BESETZT-Tore endeten dort. Auf der linken und rechten Seite verließen die Toten es wieder – eine Linie führte in das Elysium, die andere in die Ewige Verdammnis.

Der Schriftzug, der auf der Front des Pavillons prangte, machte die Situation nicht angenehmer. Er wirkte nur zynisch.

URTEILE FÜR ELYSIUM UND EWIGE VERDAMMNIS

Willkommen, frisch Verstorbene!

Ethan war der erste, der von ihnen beiden an der Reihe war. Luke würde vor dem Pavillon auf ihn warten müssen. Bevor er jedoch eintrat, legte er die Hand auf Ethans Schulter.

„Wir sehen uns vielleicht nicht wieder“, sagte er leise, damit die Sicherheitsghouls, die auch diesen Eingang bewachten, ihn nicht hörten.

„Angst vor der ewigen Verdammnis?“, fragte er ebenso leise. Seine Stimme war so zittrig, wie er sich fühlte.

„Auch“, gestand Luke. „Aber wenn ich nicht dort ende, werde ich nicht ins Elysium gehen. Ich werde die Wiedergeburt wählen. Viel Glück.“

Mit diesen Worten ließ er seine Schulter wieder los.

Wiedergeburt. Daran hatte Ethan noch nicht einmal gedacht. Wenn man das Elysium erreichte, konnte man wiedergeboren werden. Schaffte man es drei Mal, wartete die Insel der Seeligen auf einen. Sicher ein verlockendes Ziel, für Luke allemal. Er hingegen hegte diesen Wunsch nicht. Es war schwer genug, einmal das Elysium zu erreichen. Aber drei mal? Die Chancen dafür standen schlecht. Zumal seine Chancen, das Elysium zu erreichen, schon nicht die besten waren. Er würde sich mit dem Urteil zufrieden geben, das er bekam.
 

Der Pavillon war im Innern ebenso schwarz, wie seine äußere Fassade. An den Seiten standen Fackeln die ein nicht sehr aufmunterndes grünes Licht verbreiteten. Weitere Ghouls wachten hier. An der Seite, die dem Eingang gegenüber lag, ragte ein erhöhtes Pult auf, an dem drei unterschiedliche wie seltsame Gestalten Platz genommen hatten. Einer von ihnen trug ein Gewand, das man im Europa des Mittelalters getragen haben mochte, der nächste eine weiße griechische Robe. Der letzte war moderner gekleidet – der Anzug war vielleicht aus dem achtzehnten oder neunzehnten Jahrhundert. Alles nicht unbedingt der Geist der Zeit.

Es kostete Ethan ausnahmsweise nicht viel Mühe, die Namensschilder zu lesen, die vor ihnen am Pult befestigt waren – sie waren auf altgriechisch verfasst. Eike von Repgow, Rhadamanthys und Thomas Jefferson stand dort, gold auf schwarzem Grund. König Minos war nicht zu sehen. Anscheinend hatte sein kleiner Ausflug in die Oberwelt im letzten Jahr ihm nicht gut getan. Vielleicht hatten die Richter aber auch nur einen Schichtwechsel durchgeführt.

Keiner der drei lächelte ihn an, als er zu ihnen aufblickte. Eigentlich wirkte keiner auch nur ansatzweise freundlich gesinnt. Doch es war etwas anderes, dass ihn sich auf den Boden kauern und vor Angst heulen wollen ließ. Die Zeltwand hinter den Richtern ging in eine Dunkelheit über, die beinahe greifbar war. Zwar wusste er nicht genau, was sich in dieser Dunkelheit verbarg, doch die Präsenz, die von dort strahlte, versetzte ihn in Panik.

„Nakamura, Ethan?“, fragte der mittlere Richter ihn. Nur das feste Dröhnen in seiner Stimme hielt ihn davon ab, sich auf der Stelle umzudrehen und schreiend das weite zu suchen. Statt zu flüchten blieb er wir erstarrt stehen. Er schluckte hart.

„Ja, Sir“, antwortete Ethan mühsam, während er versuchte, seinen Blick auf den Richter zu fixieren und der Dunkelheit hinter diesem keine Beachtung zu schenken. Leider machte das die ganze Sache noch schlimmer. Im Augenwinkel erkannte er schwache Konturen, die sich in der Finsternis abzeichneten. Das Wesen, zu dem diese Konturen gehörten, schien amüsiert zu grinsen.

„Du stellst dich dem Gericht der Unterwelt?“

Er blinzelte hastig, doch die Konturen blieben.

„Ja, Sir.“

„Gib uns die Karte.“

Für einen Augenblick zögerte er. Karte? Er wollte bereits fragen, als ihm die Karte wieder einfiel. Hastig schritt er nach vorn und reichte Rhadamanthys das grüne Stück Papier, das Charon ihm gegeben hatte. Die Konturen hinter den Richtern nahmen weiter Gestalt an. Er konnte nun eine Person ausmachen – die ihn nicht aus den Augen ließ.

Die Richter schwiegen, als sie einer nach dem anderen stumm die Karte lasen. Sie brauchten lange dafür – und er hatte nicht das Gefühl, dass es daran lag, dass ihr Gehirn auf altgriechisch eingestellt war. Vermutlich hatte die Sprache sich längst geändert und bereitete den Herren keinerlei Probleme. Vielmehr schien es, als würden sie mehr als nur das sehen, was der Fährmann der Unterwelt auf sie geschrieben hatte.

„So, so“, sagte Eike von Repgow, der mittelalterliche Richter, schließlich. Den Blick auf ihn gerichtet, strich er sich nachdenklich über seinen Bart. Ohnehin starrten alle drei ihn nun von oben herab an. „Du willst also ins Elysium, Junge?“

„Er zeigt zumindest Ansätze für eine positive Bewertung“, antwortete der dritte Richter an seiner statt.

Rhadamanthys schien diese Meinung nicht unbedingt zu teilen. „Er zeigt mindestens genauso viele Ansätze für eine negative Bewertung, Thomas Jefferson.“

Die Gestalt hinter den Männern war mittlerweile deutlich zu erkennen. Es war ein Mann. Er war groß, wirklich groß, trug ein schwarzes Gewand und hatte ebenso schwarze schulterlange Haare, auf denen eine goldene Krone ruhte. Doch dies war nicht das, was ihn ausmachte. Sein Aussehen war egal, vermutlich nach Belieben veränderbar, denn es war ein Gott.

Hades stand hinter seinen Richtern, die Arme vor der Brust verschränkt, und strahlte seine finstere Macht aus. Ein Lächeln zog sich über sein Gesicht und es wirkte nicht besonders freundlich.

Er schloss sein Auge und schluckte. Das hier lief nicht gut. Gar nicht gut.

„Soll er es uns sagen“, sprach nun Repgow. „Sag uns, Ethan Nakamura, was denkst du, warum du das Elysium verdienen solltest?“

Ethan öffnete sein Auge wieder, um den Richter anzusehen. Er öffnete den Mund, doch er antwortete nicht. Wenn er ehrlich war, fehlten ihm die Worte. Schließlich wusste er selbst nicht, warum er das Elysium verdienen sollte. Lukes Zuversicht hatte ihn auf dem Weg zum Pavillon aufgebaut, doch nun war sie wie weggeblasen. Er hätte die DIREKTER TOD-Schlange nehmen sollen.

Der Gott ersparte es ihm, eine Antwort zu stottern, die halbherzig klingen musste.

„Den Jungen auch“, sagte Hades nur und winkte mit der rechten Hand, als sei der Fall damit erledigt.

Die Richter drehten sich zu ihm.

„Seit Ihr Euch sicher, Mylo-“, fragte Rhadamanthys, doch er kam nicht dazu, seine Frage zu vollenden. Zweifel an seiner Autorität gefielen Hades eindeutig nicht. Das Lächeln war aus seinem Gesicht verschwunden, als er mit der Faust gegen die Zeltwand in seinem Rücken schlug. Der Stoff folgte seiner Gewalt, doch das Geräusch, dass dabei erklang, ließ eher darauf schließen, dass Stein unter seiner Faust erzitterte und kein schwarzes Leinen.

„Natürlich bin ich mir sicher! Oder willst du mein Urteil in Frage stellen?“

„Nein, Mylord“, antwortete Rhadamanthys hastig. Er wirkte, als wolle er zurückweichen ohne sich dabei zu bewegen. „Ich dachte-“

Er unterbrach sich selbst, bevor eine neue Welle von Hades Wut über ihn hereinschwappen konnte und drehte sich mit den anderen beiden Richtern wieder zu Ethan um.

„Es scheint, das heute dein Glückstag ist, Ethan Nakamura“, sagte Eike von Repgow. Sein Blick huschte zu dem Griechen. Bei diesem Blick vermied er es jedoch, über seine Schulter zu Hades zu sehen. Vermutlich eine weise Entscheidung.

Rhadamanthys war derjenige, der weitersprach: „Lord Hades, der Herr der Unterwelt hat dir erlaubt, das Elysium zu erreichen. Wir, die Richter der Unterwelt, stimmen seinem Urteil zu. Nimmst du es an, Ethan Nakamura?“

Verschiedenste Emotionen stiegen in ihm auf. Unglaube. Erleichterung. Angst. Hoffnung.

Für einen Moment erschien es ihm als die beste Möglichkeit, einfach auf der Stelle in Ohnmacht zu fallen und sich nicht mehr zu rühren. Er tat es nicht. Vielleicht war es als Toter auch gar nicht möglich.

Irgendwie hatte er es geschafft, das Elysium zu erreicht. Obwohl er…

Nein. Er zwang sich, nicht nach einem Oder zu suchen.

Er hatte es erreicht. Punkt.

Mühsam schluckte er und ballte dabei die Fäuste, um die Kontrolle über sich wiederzuerlangen. Seine Linke umfasste Stoff. Die Erinnerung an seine längst vergessene Augenklappe kehrte zurück.

Eine Idee streifte ihn in all dem Chaos, das seine Gedanken waren. Es war eine dämliche Idee, eine von der besonders blöden Sorte, die nicht gut enden konnte und für die er sich unter anderen Umständen geohrfeigt hätte – doch jetzt, in diesem Augenblick, gefiel sie ihm.

Gerade, als die Richter und ihr Herr ungeduldig zu werden schienen, sah er wieder auf.

„Ich würde gerne wiedergeboren werden. Ich würde es gern erneut versuchen, Mylords“, sagte er so deutlich, wie es ihm möglich war. Seine Stimme klang anders, nun das er diesen Entschluss gefasst hatte, fester nicht unbedingt, aber auf eine verquere Art und Weise realer.

Hades zuckte beiläufig mit den Schultern.

„Bist du dir sicher, Ethan Nakamura?“, fragte Rhadamanthys, auch wenn dieser längst nach einem Papier gegriffen hatte, um es zu beschreiben.

„Ja, Sir.“

Einen Moment lang kratzte nur ein alter Stift über Papier. Kein anderer Laut war zu hören, während Rhadamanthys seinen Bericht beendete. Erst, als der Stift wieder in seinem Halter ruhte und der Bogen in einen Ordner gelegt worden war, erhob Hades erneut die Stimme.

„Dann geh.“
 

Und er ging.

Nicht in dem Sinne. Er setzte keinen Fuß mehr vor den anderen. Er löste sich einfach auf.

Es begann in seinen Zehen. Ein leichtes Kribbeln zog sich langsam seine Beine hinauf, ließ Knöchel, Unterschenkel und Knie verschwinden, fraß sich weiter zu seinen Hüften und immer höher hinauf. Für einen kurzen Moment war er sich des gesamten Raumes bewusst, nicht nur der Richter und Hades vor ihm, sondern auch des gesamten Ortes, den er mit seinem einen Auge eigentlich nicht auf einmal in voller Gänze erfassen konnte. Er spürte die Fackeln mit dem grünen Licht, den Boden aus schwarzem Gras unter sich, die schaurigen Wächtern und Luke, der vor der Tür stand und vielleicht wusste, was geschah. Thomas Jefferson winkte.

Es kümmerte Ethan nicht, ob er die Insel der Seeligen erreichte. Die Insel der Seeligen war ihm eigentlich ziemlich egal. Als er seinen Weg zur Wiedergeburt beschritt, begleitete ihn nur ein einziger Wunsch.

Er wollte sie sehen.

Die Welt, die durch sein Opfer vielleicht ein wenig besser geworden war.



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Kommentare zu diesem Kapitel (5)

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Von:  Kerstin-san
2017-02-24T14:30:55+00:00 24.02.2017 15:30
Hallo,
 
dass du dir ausgerechnet Ethan als Hauptcharakter der FF rausgepickt hast, hat mich etwas überrascht, aber nachdem ich die FF jetzt gelesen hab, muss ich sagen: Definitiv im positiven Sinne. Du hast ihm sehr viel mehr Charaktertiefe gegeben, als ich ihm im Original zugesprochen hätte und seine Beweggründe lassen einen wirklich über sein Verhalten in den Büchern nachdenken.
 
Außerdem hast du ein Händchen für Charon. Fand ihn mit seiner Meckertirade und dem Fragebogen echt sehr toll umgesetzt. Könnte mir sehr gut vorstellen, dass dort unter anderem die Sockenfarbe abgefragt wird xD
 
Selbst Luke war mir in seinem Tod sympathischer als in den Büchern, vielleicht weil ich seinen Aufmunterungs- und Überzeugungsversuch gegenüber Ethan als sehr ehrlich empfand und das in den Büchern wahrlich nichts war, mit dem er dort geglänzt hat.
 
Hades' Auftritt war klasse. Er wirkt sehr bedrohlich und einschüchternd, mit dem würde sich niemand anlegen wollen und das er mal eben so entscheidet, dass Ethan das Elysium verdient hätte, fand ich sehr glaubwürdig. Man hat schließlich auch in den Büchern öfter gesehen, dass da willkürliche Einzelfallentscheidungen getroffen wurden, wie es eben der Laune des jeweiligen Gottes gerade entsprach. Man kann jetzt natürlich rätseln, was Hades dazu bewegt hat (eventuell Ethans Wunsch, dass auch die anderen Götter Throne verdient hätten?). Die Schlusspassage hat mich jedenfalls unheimlich berührt. Ich glaube nicht, dass ich den Mumm aufgebracht hätte, es mit einer Wiedergeburt zu versuchen, aber Ethans Wunsch zu sehen, was er bewirkt hat, ist einfach sehr menschlich.
 
Liebe Grüße
Kerstin
Antwort von: Arcturus
05.03.2017 22:11
Hey,

danke für deinen Kommentar. :)

Tatsächlich ist mir die Wahl auf Ethan damals ziemlich leicht gefallen. Ich mag Charaktere, die im Canon nur wenig Screentime kriegen. Daraus lässt sich, gerade in Fanfics viel machen, finde ich.
Und zugegeben, ich habe einen Hang für Charaktere mit fragwürdigen Motivationen. Ethan gehört da ja dazu und ich finde es nach wie vor ein wenig schade, dass er es nicht durchs Ende der Buchreihe geschafft hat.

Und ja, Hades entscheidet, wie er möchte. Typisch Gott eben. (Wobei Ethan vermutlich Glück hatte, dass Hades entscheidet und nicht, ich weiß nicht, Aphrodite. Die entscheidet am Ende noch, dass er dringend eine Pediküre benötigt...)

lG
NIX
Von:  LittleBookNymph
2014-11-22T13:24:57+00:00 22.11.2014 14:24
Oh Götter. Ohgötterohgötterohgötter.....
Ich habe die FF erst jetzt gesehen, ich weiß, dass es etwas her ist, dass du die FF hochgeladen hast, aber ich muss dir einfach sagen wie gut sie ist!

Also zuerst mal was passiert ist toll, vor allem weil alles realistisch bleibt und ich mir vorstellen kann, dass es auch so passiert.
Ich musste fast weinen >.<
Ich liebe es, dass es aus Ethans Perspektive beschrieben ist und du triffst seinen Charakter wirklich gut.
Es war so spannend zu lesen weil man auch an keinem Punkt zu hundert Prozent sagen konnte was passieren wird, ich hätte gerne noch viel mehr gelesen.
Was mich wirklich umgehauen hat ist dein Schreibstil. Wow, wirklich wow. Wie du schreibst ist beeindruckent. Wie du die Szenen und eine Atmosphäre aufbaust und die Details einfließen lässt, ich liebe es. Man konnte sich alles richtig gut vorstellen, dass konnte so wie es ist gedruckt werden.

Ich bin richtig beeindruckt.
Ich habe letztens The Blood of Olympus fertig gelesen und bin immer noch im Fandom drin~
Ich mochte Ethan schon immer gerne, er ist einer meiner Lieblingscharaktere und im Moment, ich weiß auch nicht warum xD, flashe ich ihn voll.
Deswegen habe ich nach guten FF's zu ihm gesucht, vor allem auf Englisch, aber ich habe nichts vernünftiges gefunden und gerade als ich aufgeben wollte, bin ich über deine FF gestolpert und das freut mich jetzt richtig~

:3

Von:  abranka
2011-02-07T20:19:04+00:00 07.02.2011 21:19
Eine Percy Jackson-FF! Da ich gerade die 5 Bände ausgelesen habe (der erste Band der Nachfolgereihe über die Halb-Götter ist auch schon bestellt ^.~ Ich bin bekennender Percy Jackson-Fan!), habe ich mich umso mehr über eine solche FF gefreut. Vor allem, weil sie wirklich gut ist. =^-^=

Ich muss zugeben, Ethan war mir in den Büchern nie besonders sympathisch. Er ist eher blass geblieben und ein bisschen der Side-Kick, der am Ende etwas mehr Leben bekommt. Du hast ihm deutlich mehr Profil gegeben und es geschafft, ihn mir nahezubringen. Ich mochte ihn sogar auf einmal und konnte seine Beweggründe etwas mehr verstehen.
Luke dagegen hätte auch für die paar Sätze, die er auftaucht, etwas mehr Tiefgang gebraucht. Insbesondere mit Blick auf seine Geschichte.

Ethans Entscheidung am Ende gefällt mir - besonders seine Beweggründe. Er ist ein Held und wie der klassische Held eben am Ende gestorben. Dass er diese Welt sehen will, die er geholfen hat, zu erschaffen, macht ihn menschlicher und mir sehr sympathisch.

Was bleibt mir noch zu sagen? Nicht viel außer: Good job. ^^
Von:  Nele
2010-12-29T13:46:14+00:00 29.12.2010 14:46
Huhu,

ich habe zwar keine Ahnung an welchen Manga\Anime\Film deine Geschichte anlehnt. Aber ich fand Sie echt toll. Zwar konnte ich manchmal nicht alles verstehen (zwcks fehlendes Hintergundwissens) aber Spaß gemacht Sie zu lesen hat es! Schreib weiterhin so aufregend, spannend und fantasivoll. Denn das kannst du sehr gut :)
Von:  _Delacroix_
2010-06-06T09:10:55+00:00 06.06.2010 11:10
Ha, Erster!

Ich find es ja toll, dass die Geschichte ganz ohne Percabeth und Mary Sue auskommt (Als ob ich so etwas erwartet hätte.) Und ich find sie noch toller, weil sie Ethan beleuchtet.
Ich hatte nach Band 5 ja bezweifelt, dass man da noch irgendeine FF dranhängen kann, jetzt weiß ich, es geht und kriege Lust auf eine Percy Jackson Fanfic.


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