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Isabell

Du suchtest tapfer nach dem Glück
von

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Isabell,Isabell

Isabell
 

Du stehst vor dem Spiegel, den du so sehr liebst. Der goldene, reich verzierte Rahmen mit Stuck hat dir schon auf den ersten Blick damals bei dem Flohmarktbummel gefallen, ein verstaubter Dachbodenschatz. Es stört nicht, dass der Spiegel aufgrund seines Alters schon halb blind ist.

Viel eher lässt es dich das Möbelstück noch mehr lieben, erzählt es doch von längst vergangen Tagen und fast vergessenen Geschichten, die niemand mehr konkret zu erzählen weiß.

Du mochtest Geschichten schon immer, wahrscheinlich weil deine eigene so komplex und unwirklich wirkt, eigentlich eher mehr Schein als Sein ist. Jedoch weißt du zu gut, dass jede Sekunde deines Lebens wahr ist, wahrer als du sie selbst haben willst.
 

Dein blutrotes Kleid umhüllt dich sanft, betont deine perfekte Taille und dein Dekolleté.

Sie hatte immer gesagt, dass du darin wie eine der wunderschönen Prinzessin aus dem Märchen aussiehst, schon beim ersten Anprobieren in einer kleinen Umkleide. Natürlich kaufte sie dir das Kleid, obwohl du kaum Gelegenheit hattest es auszuführen. Sie ist Vergangenheit, wie vieles in deiner ganz eigenen Geschichte.
 

Deine Mutter sagte immer, dass das Leben nur aus Schicksal besteht, dass alles zielgerichtet ist. Der Wunschtraum sind ein Mann, ein oder zwei Kinder, eine handvoll gute Freunde und der eigene Raum zum Leben, in den bürgerlichen Vorstellungen.

Damals mochtest du die Idee, bist lachend durch die Straßen deines Viertels gelaufen, hast an den Geschäften mit den Brautmoden gestoppt und die Träume aus weißem Satin und Tüll gelebt.

Deine Puppen hast du gehegt und gepflegt, wolltest später selber ein Leben schenken, am allerliebsten natürlich auch ein Mädchen. Auch für die Jungen aus deiner Klasse hast du dich kurzzeitig interessiert, gemeinsam mit deinen Freundinnen darüber gekichert, pubertär und hysterisch.

Du warst absolut normal, mehr als nur Durchschnitt, hattest Freunde, eine glückliche Familie, Ideale. Eigentlich warst du glücklich, eine Optimistin zudem, wobei es nicht einmal etwas gab, wofür du diesen Optimismus hättest gebrauchen können.

Doch das Wort 'eigentlich' störte die Harmonie schon immer und der Tag kam, an dem du feststellen musstest, dass du nicht so werden wolltest wie du fast schon bist. Niemals wolltest du Durchschnitt sein, du wolltest etwas Besonderes sein, fernab von Normen und Wertvorstellungen.
 

Sie half dir dabei, dich von diesen Normen der Gesellschaft zu lösen, sie war aufregend anders.

Jeder Kuss fühlte sich verboten an, verboten real und gut. Zwischen diesem Prickeln war so etwas wie Liebe, auf eine speziellere Art als die der Allgemeinheit.

Du warst zum ersten Mal in deinem Leben anders, besonders und fühltest dich dabei lebendiger als je zu vor. Es war egal, dass sich deine Familie abwandte, dass all deine Freunde ihre eigenen Wege gingen. Du gingst deinen Weg ebenso, zielgerichteter als jeder andere in deiner Welt.

Vielleicht war aber auch in dieser Zeit das Schicksal anwesend, war alles schon fremdbestimmt und eh unwiderruflich. Es hat sich auf deine Fersen geheftet und dunkle, unsichtbare Schatten geworfen.

Du hast nicht geahnt, dass dein Schicksal solch eine dunkle Seite barg, außerdem wusstest du nicht, wie es in ihr aussah, was alles in ihr zerbrochen war.

Erst an dem Tag, als du nur noch rot gesehen hast, überall dieses blutrot, im Kontrast zu den schneeweißen Fliesen, da wusstest du, dass das Leben immer noch kein Märchen mit Happy-End ist.

Als du die papierene, blasse Haut berührt hast, die so eiskalt war, starb etwas in dir, still und leise. Teilnahmslos registriertest du den ersten Anflug von Wärme aufgrund des beständigen Blutstroms, der über deine Fingerkuppen floss.

Im schummrigen Licht des Bades hast du auf deine blutgetränkten Fingerkuppen gestarrt, hilflos wie ein kleines Kind. Es fühlte sich an, als wäre es nicht ihr Blut, sondern dein eigenes, mit jeder Sekunde schien das Leben sich mehr aus dir zurück zu ziehen.
 

Doch auch den ersten richtigen Schicksalsschlag hast du überstanden, dein Optimismus war doch keine sinnlose Eigenschaft. Jedoch hattest du genug davon, gegen den Durchschnitt zu kämpfen, gegen die Gesellschaft. Viel lieber wolltest du dich in der Normalität ertränken, in einem Ozean der Allgemeinheit schwimmen und irgendwann untergehen. Mit Erfolg.

Eine Liebe aus Gewohnheit, eine Heirat aus Prinzip und ein Alltag aus Alltäglichem. Noch mehr Durchschnitt als in deiner Kindheit, viel mehr noch.

Er liebt dich nicht, das weißt du, seine Worte sind nur billige Phrasen. Es stört dich nicht im Geringsten, ein Gefühl für all das hattest du eh nicht, aber du wolltest es haben, wolltest es regelrecht erzwingen. Deine Einbildung wurde zur Bildung und reichte dir fürs Erste, du sahst all das nur als weiteren Abschnitt in deinem Leben, der sicherlich ein genauso abruptes Ende finden würde, wie der vorherige.

Fand er aber nicht.

Dir wurde klar, dass du die Karten neu mischen musstest, bevor das Schicksal sich wieder einmal andere Dinge überlegte, bevor es zu spät war.
 

Ein letztes Mal drehst du dich im Kreis, bewunderst den wallenden, samtenen Stoff, genau wie dein dunkles Make-Up. Alles entspricht genau dem Anlass, du wirkst wie eine Prinzessin, anmutig und schön. Als du dies denkst, glaubst du fast, das Ebenbild deiner verflossenen Liebe im Spiegel zu sehen und es hört sich an, als wenn sie diesen Gedanken ausspricht.

Plötzlich ein Poltern im Flur, lächelnd greifst du zu dem blitzenden Messer auf der Kommode. Der Stahl ist angenehm kühl, beruhigt deine aufgewühlte Welt, gibt dir Sicherheit.
 

Der Schlüssel im Schloss dreht sich, er poltert durch den Türrahmen, ungestüm und betrunken wie eh und je. Im dunklen Flur sieht er dich nicht, will dich wahrscheinlich nicht einmal wahrnehmen. Heute hat er aber keine Chance, dich nicht zu beachten. Ein dynamischer Schritt, ein kraftvoller Stoß nach vorne. Du musst nicht sehen, wo hin du stichst, deine Intuition sagt dir alles, was du wissen musst. Wieder einmal rinnt warmes Blut über deine Hände, doch dieses Mal fühlt es sich belebend an. Jeder Tropfen gibt dir ein Stück deiner Träume und deines Glückes wieder, du spürst es intensiv.
 

Achtlos lässt du ihn liegen, lässt das Messer ebenso achtlos klirrend fallen, greifst den Haustürschlüssel und schreitest bedächtig durch die Tür. Sorgsam schließt du ab, denn jetzt ist ein weiteres Kapitel deiner Geschichte beendet, du willst ein Zeichen setzen.

Lautlos schleichst du durch das Treppenhaus, hinaus auf die Straße und hinein in das Leben.

Du frierst nicht aufgrund der kühlen Nachtluft, viel eher belebt sie deinen Geist und deine Sinne noch mehr. Mit schnellen Schritten entfernst du dich aus deinem Viertel, lässt den Alltag zurück, läufst an der Reeperbahn vorbei. Bunt, laut und schrill schreit dir das Nachtleben entgegen und am liebsten würdest du es mit offenen Armen begrüßen, doch du hast wichtigere und größere Dinge vor.
 

Deine Mutter hat dir nicht nur ihre Vorstellung von Schicksal vermittelt, sondern auch Höflichkeitsformen und ihre Aufassung von Schuld. Entschuldigen war und ist elementar, genauso wie das Tragen der Schuld, wenn du verantwortlich für etwas bist. Du hast deine Mutter oft enttäuscht, aber in dieser Nacht willst du ihr symbolisch zeigen, dass sie doch etwas erreicht hat in deiner Erziehung.
 

Langsam und anmutig gehst du durch die Türe der Polizeiwache, sofort ziehst du alle Blicke auf dich. Du magst es, im Mittelpunkt zu stehen und ungeteilte Aufmerksamkeit zu bekommen, genießt es in vollen Zügen. Kein Wort kommt über deine Lippen, stattdessen lächelst du nur und zeigst deine blutverschmierten Handinnenflächen.

"Entschuldigung."
 

*
 

Das Wasser glitzert und spiegelt die Sonne millionenfach wieder, ein warmer Windhauch zieht über die Stadt und den Fluss. Du sitzt an diesem wunderschönen Sommertag direkt am Wasser, trägst aufgrund der Hitze nur einen Rock und ein Top, nicht einmal Schuhe hieltst du für nötig, deine Füße werden vom Gras unter dir gekitzelt.

Verträumt streichst du über den Stoff deines Rocks, er ist blutrot und geschneidert aus deinem geliebten Kleid.
 

Du hattest genug Zeit, dir diese Fähigkeit anzueignen, das perfekte Kleidungsstück zu schaffen für den heutigen Tag.

Um dich ist nichts mehr, wie es einmal war. Niemand ist mehr da, den du kennst oder dem du gar vertraust, deine Mutter ist gestorben. Selbst diese Tatsache ist gleichgültig an dir vorbeigerauscht, genau wie alles andere. Du brauchst keine Allgemeinheit mehr, musst aber auch nichts besonderes mehr sein. Dir reicht deine eigene, kleine Welt vollkommen, hier lebst du nach deinen Regeln. Hier ist es auch egal, dass du für eine Mörderin mit verminderter Schuldfähigkeit aufgrund ihrer seelischen Verfassung gehalten wirst. Im Stillen denkst du allein für dich, dass du es nur getan hast, um erneut einen Lebensabschnitt zu beenden. Manchmal ließ das Schicksal halt einfach zu lange auf sich warten.
 

Der Sommerwind fährt dir unter den Rock, du lachst zum ersten Mal seit Jahren laut und ausgelassen, losgelöst von allem. Du hast selten Kleidung mit viel Haut getragen, einfach, weil du dich so zu verletzlich und angreifbar gefühlt hast. Jetzt fühlst du dich so stark, geradezu unbesiegbar, dass du gar nicht anders kannst, als den Wind auf deiner Haut zu genießen.

Nichts außer positiven Empfindungen gibt es in dir, du hast gelernt, Schmerzen zu übertünchen mit diesen. Genauso machst du es ja auch mit einer hässlichen Wand, du streichst sie einfach in einer warmen Farbe, vielleicht in einem Apricot Ton.

Du stellst du jeden Tag aufs Neue fest, wie angenehm es sich doch mit diesen im Geiste frischgestrichen Wänden leben lässt.
 

Ein Blick in den Fluss zeigt dir für Sekunden diese eine Person, lächelnd. Sie wäre glücklich, sehr sogar, wenn sie wüsste, wie du dich jetzt fühlst. Im Gegensatz zu den Meisten wollte sie immer, dass du glücklich bist, nun bist du sogar mehr als das.

Du bist frei, in doppelter Hinsicht, obwohl die Welt um dich herum zerfällt, in ihre allerkleinsten Einzelteile.

Zurück bleibt deine eigene Welt, wie eine uneinnehmbare Festung.



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  Sharanna
2010-05-12T11:27:13+00:00 12.05.2010 13:27
Hmm... wie soll ich sagen?
Ich bin sehr angenehm überrascht gewesen von dieser OS! Ich dacht zuerst, dass es mal wieder um einfache Liebe geht, die durch die Gesellschaft erdrückt wird - aber nein! Es ging hier um vieles mehr, eigendlich auch um das, worüber ich mich schon seid Jahren mit einigen Freunden streite:
Es ging hier tatsächlich um das Thema Gesellschaft und deren Einflüsse auf das Leben eines Menschen. Ein Thema, das du auf eine liebevolle Art und Weise in deiner OS aufbereitet hast. Eine Frau, die von einer Gesellschaftgeprägten Umgebung hineingezwängt wird, wo sie nicht hingehört, eine Frau, die ihre Liebe sucht, sie findet aber diese an etwas verliert, was sie nicht greifen kann, ihre Flucht in die Gesellschaft, in Normen, die ihr Halt geben sollen, die sie aber letztendlich nur gefangen halten und sie in ihrer Freiheit beeinträchtigen und letztendlich der Fluchtversuch, der jedem moralischen Auge sagt, dass es der falsche weg war, der dem philosophischen Auge jedoch zeigt, das diese Frau, die sich letztendlich in ihren Grundfesten nur nach Liebe sehnte durch das Wort Schicksal und durch die Normen und Werte der heutigen Gesellschaft so stark eingeengt wurde, dass sie nur diesen einen Ausweg sieht und dass sie, wenn sie geliebt worden wäre, sie anders gehandelt hätte.

Verzeih, dass ich gerade so viel vor mir herumschreibe, aber ich finde deine OS wirklich atemberaubend schön. Nicht nur vom Schreibstil her, sondern auch vom Thema und vom Inhalt her, da man durch die Du-Perspektive sich schlichtweg wie diese Frau fühlte und die Verzweiflung und den Tod der eigenen Seele und letztendlich deren Wiedergeburt nahe sein konnte.

Kurzum: Hab dank für diese wundervolle OS!

Lg,
Sha
Von: Swanlady
2010-02-23T16:14:42+00:00 23.02.2010 17:14
Dein Schreibstil ist wirklich gut, ich konnte meinen Blick nicht eine Sekunde lang vom Monitor abwenden. Ich finde außerdem, dass du die Erzählperspektive sehr gut gewählt hast, sie hat deiner Geschichte noch mehr Originalität gegeben, als sie ohnehin schon hat - zumindest habe ich noch nie eine Ähnliche gelesen.
Von: abgemeldet
2010-02-21T17:33:40+00:00 21.02.2010 18:33
Lesen wollte ich diese Geschichte unbedingt, weil sie einen angenehm normalen und noch dazu deutschen Titel hat. Weitergelesen hab ich dann, weil ich deinen Schreibstil sehr packend finde. Es ist meiner Meinung nach durchaus schwierig, eine Geschichte ohne markante Anfangs- und Endpunkte so zu schreiben, dass andere sie bis zum Ende lesen wollen.
Eine Sache hätte ich anzumerken: Als "er" nach Hause kommt. Es wäre vllt eine gute Idee, "er" großzuschreiben.


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