Der Baum der Liebenden
Ein paar der Mädchen hielten sich bei den Händen und saßen so weit zusammen wie sie nur konnten. Celina sah jeden einzelnen an. Die Geschichte von Elisabeth hatte einigen wohl den ein oder anderen Schauer über den Rücken gejagt, und die Mädchen fanden es vermutlich sogar romantisch. Sie tuschelten noch immer über diese kleine Familie.
„Pfff.“
Xander blitzte sie an. „Was ist, Celina?“
„Glaubt ihr wirklich an diese ganzen Teufel- und Geistermärchen? Das ist doch nur Gewäsch, oder?", antwortete sie und grinste dabei.
„Ach ja? Was kennst du denn für Geschichten?“, fragte Xander weiter.
„Nur eine dieser Art.“ Celina nagte den Marshmallow vom Stock ab, der vom Feuer außen ganz braun und innen ganz cremig geworden war. Die Blicke der Gruppe ruhten auf ihr, doch sie ließ sich nicht beirren. Ein paar wenige tuschelten, beobachteten sie und der Rest wartete einfach nur ab.
„Dann erzähl sie doch“, mischte sich Elisabeth auch ein.
Wieder grinste Celina, schluckte den Marshmallow runter und legte den Stock beiseite. Sie schaute kurz ins Feuer, während sie sich etwas aufrichtete und ihre Hände übereinander auf ihre Schenkel legte.
„Seht ihr dort hinten, den höchsten Punkt des Berges? Dort kann man diesen Baum erkennen. Der, der seit Jahren tot zu sein scheint, der dennoch genau dort stehen bleibt, weil sich niemand getraut ihn zu fällen. In dem Dorf Hasenach, durch das wir auf dem Weg hierher gefahren sind, nennt man ihn den Baum der Liebenden.“ Celina schenkte dem Gipfel einen prüfenden Blick und fügte hinzu: „Man sagt, er hauche den Toten Leben ein, genommen von seinen eigenen Lebensgeistern und dass dies der Grund sei, warum keine Blätter oder Blüten mehr an seinen knochigen Ästen wachsen.“
Die Gruppe blickte in dieselbe Richtung, skeptisch, neugierig und forschend. Dann wandten sich alle Köpfe gleichzeitig zu Celina, als sie wieder begann zu sprechen:
„Alles begann vor zweihundertundfünfzig Jahren. Die Tochter des Dorfpfarrers aus Hasenach, dessen Frau im Kindbett gestorben war, hatte sich auf einen namenlosen Streuner eingelassen, heißt es. So ein Lebenskünstler, der von Stadt zu Stadt reiste. Heute würden wir sagen ein Penner. Aber das war er bei Weitem nicht. Er konnte schnitzen, die verschiedensten Instrumente erschaffen und allesamt spielen. Die seltsamsten Lieder vertonte er. Sie zogen die Aufmerksamkeit auf sich – besonders die der jungen Mädchen. Doch am liebsten spielte er wohl auf einer Flöte, denn das tat er jeden Abend. Der Pfarrerstochter hatten eben diese Lieder es ganz besonders angetan.
So saß sie immer zur Dämmerung, als schon die Laternen brannten, auf dem Marktplatz wenn er spielte und lauschte ihm andächtig. Ihr Vater bat sie immer und immer wieder mit ins Haus zu kommen. Doch an keinem Tag wollte es ihm gelingen. Erst spät in der Nacht hörte er die Scharniere der Tür, die das Ankommen des Mädchens ankündigten.
Eines Nachts, als es still im Dorf wurde, kam sie gar nicht nach Hause. Er fing an sich Sorgen zu machen und fragte bald die Nachbarn, ob sie seine Tochter gesehen hätten. Doch alle Türen schlossen sich mit der gleichen Antwort. Nein.
Mit einer Fackel begab er sich weiter auf die Suche, klopfte an jede Tür im Dorf und ließ schließlich die Häuser und Straßen hinter sich. Sein Weg führte ihn in den Wald.“
Celina hob den Kopf und ihr Blick glitt zum Wald, hoch oben auf dem Berg. Viele Gesichter wandten sich in die selbe Richtung. Celina sah einmal in die Runde und schon setzte das Getuschel wieder ein. Sie verdrehte genervt die Augen.
„Wie dem auch sei. Der Pfarrer ging höher und höher den Berg hinauf, rief immer wieder »Maria! Maria! Wo bist du nur?! Maria!«. Er bekam nicht ein einziges mal Antwort. Stunde um Stunde verging, in der der Mann sich keine Pause gönnte, bis die Dämmerung anbrach. Letztlich kam er auf den höchsten Punkt und lehnte sich an einen alten Baum; groß und mächtig. Verzweifelt rief er den Namen seiner Tochter über die Schlucht hinaus. Doch vergebens. Er war so traurig und verzweifelt, dass er auf die Knie sank und bitterlich weinte.
»Meine Maria. Wo bist du nur? Ich würde alles tun, nur um dich endlich wieder in die Arme zu schließen«, jammerte der Pfarrer. Er betete zu Gott, bat um seinen Beistand. Denn er habe sein gesamtes Leben dem Dienste des Himmels ausgeschrieben, so müsse er ihm doch etwas zurückgeben.
Genau das tat er auch – zumindest predigte der Pfarrer dies -, denn seine Maria stand plötzlich hinter ihm und wisperte: »Vater?«
Überglücklich nahm der Mann seine Tochter in die Arme und brachte sie nach Hause, wo er sie dazu bewog, erst einmal im Bett zu bleiben.
Der Pfarrer ging seinem gewohnten Tagesablauf nach, wurde hier und da angesprochen, ob Maria wieder zu Hause sei und alle waren erleichtert, sobald er die Frage bejahte.
Es schien alles wieder in Ordnung zu sein, Maria ging am Nachmittag spazieren und kehrte zum Abendessen zurück. Doch später, als der Pfarrer erschöpft etwas früher zu Bett ging, hörte er wieder diese Melodie des Streuners und als er nach seiner Tochter sehen wollte, war sie nicht mehr im Haus. Aufgeregt schlüpfte er in seine Schuhe und einen Mantel, um sofort zum Marktplatz zu eilen, wo dieser Kerl gewöhnlich saß. Auf seinem Weg sprach er wieder den ein oder anderen Nachbarn auf den Verbleib seiner Tochter an, wieder bekam er die gleiche Antwort wie am Abend zuvor. Keiner hatte sie gesehen.
Er erreichte den Marktplatz und sah seine Maria auf dem Boden sitzen, der Musik des Streuners lauschend. Und wieder wollte sie nicht mit ihm kommen und blieb wo sie war. Der Pfarrer wusste sich keinen Ausweg und bat darum einen Dorfbewohner um Hilfe.
»Bitte, meine Tochter Maria. Wenn sie heute Nacht wieder nicht nach Hause kommt...«
Und der junge Mann, vor dessen Tür er stand fragte, wo sie denn sei.
»Auf dem Marktplatz. Wieder bei diesem Streuner. Hören Sie doch... diese Musik.« Doch was der Pfarrer als nächstes hörte, ließ ihn blass werden.
»Das ist nicht möglich. Haben sie es denn nicht gehört? Man hat den Streuner im Wald gefunden. Tot.«
Aber er hat die beiden doch gesehen und die Musik spiele immer noch, hatte der Pfarrer geantwortet. Doch der junge Mann erklärte, nichts zu hören. Verwirrt und aufgebracht klopfte der Geistliche also an viele weitere Türen, doch jeder bestätigte die Aussage des ersten.
Als die Musik aufhörte, kehrte er zum Marktplatz zurück. Er war verlassen. Und bis zum Morgen konnte er seine Tochter nicht wiederfinden. Jeder den er traf hatte sie nicht einmal an diesem Tag oder in der Nacht gesehen. Und das, obwohl sie doch im Dorf spazieren war. Irgendjemand hätte sie doch sehen müssen.
Sein Weg führte ihn schließlich wieder in den Wald, wieder bis zum Baum. Und wieder tauchte sie plötzlich auf. Maria war zurück gekehrt.“
Celina legte eine Pause ein, in der sie die Gruppe musterte.
„Also war der Streuner ein Geist und Maria wusste es nicht?“, fragte Amelie.
„Ja. Der Streuner war wirklich im Wald gefunden worden. Doch jeden Abend spielte er auf dem Marktplatz. Und jeden Abend verschwand Maria. Niemand hörte die Musik oder sah seine Tochter oder den Streuner – nur der Pfarrer selbst“, erklärte Celina. Eine Stille trat ein, in der man nur das Knistern der Holzscheite und das Zirpen der Grillen hören konnte. Dann brach der Wind durch die Bäume und hauchte ihnen Leben ein. Der Gruppe schauderte es.
„Einige Tage später fand man eine weitere Leiche im Wald. Ein gutes Stück entfernt von der Stelle, wo der Streuner gefunden worden war und halb von Erde und Laub bedeckt, sodass man sie nur durch Zufall entdeckte. Es war Maria“, sagte Celina weiter. Sie senkte den Kopf und sprach mit leiserer Stimme weiter: „Sie beide waren an dem Abend des ersten Verschwindens umgekommen. Vermutlich ermordet. Doch jeden Morgen kehrte Maria zu ihrem Vater zurück. Und jeden Abend spielte der Streuner auf dem Marktplatz sein Lied. Danach verschwanden beide wieder. Der Pfarrer wurde bald wahnsinnig und erhängte sich. Er konnte es nicht mehr ertragen seine Maria jeden Abend zu verlieren.“ Celina seufzte.
„Heute steht dort, wo einst der Marktplatz gewesen war, eine Bank. Die Putzfrau kommt jeden Abend und sie traut sich nicht in die Kellerräume. Sie behauptet dort jeden Abend ein Lied zu hören, gespielt auf einer Flöte.“
„Also sind sie immer noch da?“, fragte Amelie wieder. Celina verdreht die Augen.
„Ja, sie sind immer noch da. Solange der Baum dort oben steht, solange er noch Kraft hat, werden sie weiterhin jeden Abend da sein.“
„Nett“, witzelte Xander. „Aber was genau hat der Baum damit zu tun?“
„Verstehst du denn nicht? Maria und der Streuner wurden getötet, gegen Gottes Willen. Dort im Wald. Und der Pfarrer fand Maria eben an diesem Baum, als er Gott um Hilfe anflehte. All die Jahre haben der Geschichte neue Ausmaße verliehen, doch im Kern ist sie gleich geblieben.“
„Hmm“, machte Xander und schwieg.
„Naja, ich geh´ jetzt schlafen. Gute Nacht.“ Celina stand auf, streckte sich und ging in Richtung Zelt davon.
„Gute Nacht“, antworteten einige, doch die meisten tuschelten und kauten die ganze Geschichte noch einmal durch. Celina konnte ein paar Fetzen aufschnappen. War ja klar, dass einige Mädels es für romantisch hielten. Celina grinste und freute sich auf den nächsten Abend. Geschichten waren eben doch nicht nur für kleine Kinder.