Zum Inhalt der Seite

Duck-Typing for beginners

Chris/Andy
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Chris war ziemlich früh bewusst geworden, dass Menschen gerne für alles und jeden einen Namen, einen Fachbegriff oder eine Schublade hatten. Das schien die Welt ein bisschen weniger beängstigend und mehr übersichtlich zu machen.
 

In der Grundschule hatte ihn einmal ein Lehrer als ‚Autist’ bezeichnet.

Es wurde in einem ziemlichen Wutanfall gebrüllt, nachdem Chris eine halbe Stunde aus dem Fenster gestarrt und die Fragen des Lehrers einsilbig und ohne Augenkontakt (aber durchweg richtig) beantwortet hatte.

Mit acht Jahren hatte er diesen Begriff noch nie gehört, trotzdem war klar, dass das nicht als Kompliment gemeint war. Aus unerfindlichen Gründen schien der Lehrer danach beinah erleichtert zu sein, als würde ihm diese Kategorisierung irgendwie helfen, Chris besser in seinem Unterricht zu ertragen.
 

Auch später tauchte dieses Wort noch einige Mal in den Gesprächen auf, meistens dann wenn die Erwachsenen dachten, dass er nicht zuhörte. Oft begleitet von betretenem Schweigen. Aber auch jedes Mal mit ein bisschen Erleichterung, einem gewissen Unterton, der mitschwang und deutlicher als Worte sagt: ‚Ach sooo. Na, das erklärt doch einiges …danke, jetzt fühlen wir uns besser.

Irgendwann in der Mittelstufe versickerte es dann von alleine wieder, da Chris zu den unkomplizierten, stillen Kinder gehörte, die selten irgendwelchen Ärger verursachten und Erwachsenen wenig Kopfzerbrechen bereitete.
 

Inzwischen ist er ziemlich sicher, dass er kein Autist ist, und dass besagter Lehrer ein unsensibles Arschloch war. Oder einfach kein guter Pädagoge. Oder unterbezahlt. Oder alles zusammen.
 

Er kann einfach nicht gut mit anderen Menschen. Das ist die ganze Wahrheit.

Zumindest mit den meisten nicht.

Er kann mit Nick. Vielleicht weil sein kleiner Bruder so an ihn gewöhnt und auf ihn eingespielt ist, dass ihm überhaut nicht mehr auffällt, dass Chris irgendwie …anders ist. Oder weil Nick ein eingebautes „Chris – Deutsch / Deutsch – Chris“-Lexikon hat. Vermutlich genetisch bedingt.

Auf jeden Fall weiß Niklas eigentlich immer, was Chris versucht zum Ausdruck zu bringen, ganz egal in welche Worte er das verpackt. Und komischerweise weiß Chris auch immer, was Nick versucht ihm zu sagen, auch wenn er nie wirklich auf den Punkt kommt.
 

Bei anderen Leuten ist das nie so einfach. Nicht einmal bei seinen Eltern.
 

Es ist nicht so als ob er es nicht versuchen würde.

Aber es gibt Augenblicke, wo das, was andere tun oder sagen einfach an ihm vorbeirauscht. Wo er Dinge verpasst, die alle anderen mitbekommen. Oder wo er merkt, dass er wieder irgendetwas gesagt hat, was ein klitzekleines bisschen daneben war. Nicht wahnsinnig auffällig daneben, nur eben so viel daneben, dass Leute die Stirn runzeln, innehalten und denken „huh?“.
 

Menschen bringen ihn meistens dazu, sich unwohl zu fühlen. In der Regel findet er sie ein bisschen störend und empfindet sich selber fast immer als ein bisschen fehl am Platz.
 

Einige Leute bezeichnen das als ‚unsozial’. Andere als ‚autistisch’.

Für ihn selbst ist es eigentlich immer nur ‚dieses Problem’.
 

Er hat irgendwann einmal versucht, Andy dieses Problem zu erklären.

Dieses Gespräch hatte er so lange vor sich hergeschoben, dass er beinah vergessen hatte, dass es ein Problem war. Und deswegen weil Andy irgendwann wirklich wichtig geworden war und weil Chris wirklich nichts weniger von ihm hören wollte, als eine taktvoll formulierte Frage, die das Wort „Autist“ oder eine höfliche Umschreibung davon enthielt.
 

Als er endlich fertig war (mit wesentlich weniger Gestammel, als er befürchtet hatte) legte Andy den Kopf schief und zog nachdenklich die Augenbrauen zusammen.

„Also, wenn alle Menschen ein Radio wären, wäre es so, als ob du einfach auf einer anderen Frequenz empfängst als die anderen?“
 

„Ja, so in der Art“, hatte Chris erwidert, und er war beinah irritiert davon, dass Andy sein Problem in einem Satz präziser zusammenfassen konnte, als es ein Schulpsychologe in sieben Seiten geschafft hatte.

Tatsächlich war es auch genauso einfach.
 

Andy versuchte nie irgendetwas logisch zu erklären oder Chris in verschiedene Kategorien einzuordnen. Möglicherweise lag das nur daran, dass Andy in der elften Klasse die meiste Zeit über high war. Andererseits versuchte er es auch nicht in der zwölften Klasse, in der er die meiste Zeit über clean war.

Vielleicht lag es einfach nur daran, dass Andy die Welt gerne bunt und verwirrend fand. Und Chris für ganz fabelhaft einzigartig hielt. Ein Zustand, der nie aufhörte irgendwie befremdlich zu sein, weil Chris sich selbst für relativ 08/15 hielt.
 

Deswegen bekam Chris auch nicht die Krise, als Andy ihn eines Abends lange und nachdenklich anstarrte und schließlich sagte: „Wir sollten es wirklich miteinander probieren, du und ich.“
 

„Probieren? Was?“ Chris hatte die Augenbrauen gehoben. Ein ungutes Gefühl machte sich in einem Magen breit. „Wie eine … Beziehung?“

Er versuchte das Wort nicht auszusprechen wie eine exotische Tropenkrankheit, aber es fiel ihm schwer. Denn …halt, stopp, zurück. Er machte das nicht. Beziehungen.

Er hatte eine, vermutlich lebenslange Beziehungskiste zu seinem kleinen Bruder, die nicht geschieden werden konnte, und das war völlig in Ordnung. Alles andere überforderte ihn.
 

„Woah, woah, langsam.“ Andy grinste. „Wer redet von Beziehung?“
 

„Was soll das denn dann werden?“ fragte Chris zurück, immer noch skeptisch, aber ein kleines bisschen beruhigter.
 

„Man könnte es einfach als Kooperation bezeichnen“, schlug Andy vor. „Oder als Teamwork. Denn wow, würden wir geil zusammenarbeiten.“
 

Chris verzog das Gesicht.

„Würden wir nicht. Das hat schon in der elften Klasse nicht funktioniert.“
 

„Wieso? Wir hatten eine zwei auf unser Projekt!“
 

„Ja, und ohne dich wäre es eine eins gewesen.“
 

„Okay. Das tut weh.“
 

Also, eine Kooperation. Chris ist ziemlich sicher, dass er lausig ist, was so was angeht. Noch lausiger und nutzloser als Andy damals bei ihrem Bio-Projekt über die Paarungsrituale der grünfleckigen Sumpfkröte.

Aber damit kann er leben. Zusammenarbeit heißt immerhin, dass wenigstens zwei Leute sich bei etwas Mühe geben und daran arbeiten. Also kann es vielleicht auch nicht nur einer verkorksen.
 

Erst als sie sich seit zwei Jahren eine gemeinsame Wohnung teilen, regelmäßig überwältigenden Sex haben, jeden Abend um die Fernbedienung streiten und Andys Eltern ihn unablässig zu Verwandschaftsgeburtstagen einladen, wird ihm klar, dass Andy ihn damals irgendwie reingelegt hatte.

Dieser Bastard.
 


 

Nachwort: Duck-Typing "... ist ein Konzept der Objektorientierung, das die Anwendbarkeit bestimmter Verfahren nicht an die Ableitung der Klasse von einer bestimmten Superklasse oder der förmlichen Implementierung einer Spezifikation knüpft, sondern an das Vorhandensein bestimmter Merkmale." (Danke Wikipedia).

Anders formuliert: "Wenn es läuft wie eine Ente, schwimmt wie eine Ente und quakt wie eine Ente - dann ist es vermutlich eine Ente."



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (9)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Zimtstern
2010-05-31T13:13:08+00:00 31.05.2010 15:13
Andy, dieser verdammte Bastard.

LOL! xD

Ich habe mich gleich auf die nächste deiner Geschichte gestürzt und bin wieder restlos begeistert davon. Ich liebe Chris, weil er einfach...er ist irgendwie anders, aber das ist nicht schlecht anders, sondern das ist toll-anders. Oder wie auch immer. Es ist jedenfalls nicht negativ-auffallend anders, auch wenn er wohl ziemlich viele Probleme in seiner Schulzeit gehabt haben muss, mit seiner Eigenart oder wie er es nennt diesem Problem auf einer anderen Frequenz zu sein, als die meisten Menschen um ihn herum. ;)

Ich fand es wieder sehr locker flockig leicht zu lesen, musste erneut mehrere Male laut auflachen und joarh. Tollig einfach. Ich bin so begeistert von meiner Entdeckung (= deine Geschichten hier), dass ich gar keinen vernünftigen Kommentar mehr herausbringe, was eigentlich so gar nicht meine Art ist. u.u''

GlG

PS: Dass Andy die meiste Zeit der elften Klasse high war hat mich definitiv amüsiert. ;)
Von:  koennte-sein
2010-04-20T23:00:30+00:00 21.04.2010 01:00
ich schließ mich - ganz kreativ. Benni22 an. wenn er sich umbennent hab ich ein problem *lach*...egal.

Von: abgemeldet
2009-11-04T20:04:09+00:00 04.11.2009 21:04
Das ist super und ich bin von der Geschichte zu high, als das ich einen qualifizierteren Kommentar hinterlassen könnte. xDDD
Von:  Ur
2009-08-12T06:59:55+00:00 12.08.2009 08:59
So... jetzt war ich grad so im Lesefieber und hab mich mal auf eins deiner Originale gestürzt ;)

Ich finde Chris' Gedanken wahnsinnig einleuchtend, muss ich sagen. Ich meine dieses ganze Schubladendenken und dass Menschen sich scheinbar immer besser fühlen, wenn sie jemanden in eine Schublade einordnen können. Ich mag sowas nicht und kann Chris da vollkommen verstehen. Auch wenn er natürlich ein wenig seltsam rüberkommt, war er durchweg sympathisch, wie ich fand. Auch wenn er sich als 08/15 sieht ... ich finde ihn ganz und gar nicht 08/15.

Die beiden Charaktere sind dir gut gelungen und das obwohl du sie nur in einem so kurzen Text dargestellt hast. Sehr lustig fand ich die Beschreibung von Andy und dass er die komplette 11. Klasse über vermutlich high war :D Die Art wie er geredet hat, klang tatsächlich ein wenig verpeilt, fand ich ;)

Ich musste sehr über die exotische Tropenkrankheit und die Paarungsrituale der grünfleckigen Sumpfkröte schmunzeln und diese kleinen Witze haben den Oneshot sehr schön aufgelockert. Das Ende war toll. Es war genauso wenig 08/15 wie Chris und ich denke, ich werde wohl demnächst noch den zweiten Oneshot von den beiden lesen. Dein Stil und deine Charaktere sind einfach klasse.

Liebe Grüße,
Ur
Von:  Luinaldawen
2009-08-11T11:25:40+00:00 11.08.2009 13:25
So, erstmal nur Kommentar hierzu, da die anderen beiden mir erstmal zu lang sind und ich noch irgendwann was für die Uni tun sollte. o.o;;;; *es eh nicht tun wird aber der Wille zählt*

Ich kenne diese Charas eigentlich noch gar nicht aber ich mag sie jetzt schon. XD Und vor allem mag ich es, wie realistisch und nachvollziehbar du sie schreibst, es ist eine echte Wohltat zwischen den ganzen Möchtegerm-emo-ffs.
Vor allem der Vergleich mit dem Radio hat mir super gefallen, weil es einfach... logisch ist. Irgendwie. Manche Leute verstehen die Menschen eben, und manche... nicht. Aber das gerade Andy und Chris sich offenbar so gut verstehen... dafür muss ich wohl die anderen Storys lesen, vielleicht steige ich dann bei der Beziehung zwischen den beiden durch.
Aber zumindest scheint Andy Shris sehr gut zu durchschauen, wenn man bedenkt, wie er es eingefädelt hat, dass sie ein Paar werden. Vielleicht haben Drogen ja doch irgendwie nen positiven Effekt. XD

Und jetzt muss ich mich nur noch davon abhalten, den Rest auch gleich zu lesen.

~*Luina*~

PS: *deinen Stecki gestalkt hat* Und noch ein Star Trek-Fan, sehr schön, sehr schön XD
Von:  ReiRei-chan
2009-08-10T20:05:44+00:00 10.08.2009 22:05
Der Schluss ist einfach geil xD Da muss ich mich den anderen eMeinungen anschließeN! Einfach nur super beschrieben und das beste an der ganzen Sache war die Übersetzug der Wikipedia Erklärung xD
Klasse!
Von: abgemeldet
2009-08-10T16:18:02+00:00 10.08.2009 18:18
>>Erst als sie sich seit zwei Jahren eine gemeinsame Wohnung teilen, regelmäßig überwältigenden Sex haben, jeden Abend um die Fernbedienung streiten und Andys Eltern ihn unablässig zu Verwandschaftsgeburtstagen einladen, wird ihm klar, dass Andy ihn damals irgendwie reingelegt hatte.

Dieser Bastard.


Purrrrfect. <3
Von: abgemeldet
2009-08-10T13:42:35+00:00 10.08.2009 15:42
Hi,
eine Frage,die mir spontan dazu einfällt: Das wars???

Also der Anfang (anders kann ich diese Kurzgeschichte nicht beschreiben) hat mir wirklich sehr gut gefallen, aber es war eben einfach zu kurz und hat meiner Meinung nach zu abrupt aufgehört.
Ich fände es schön, wenn du daran weiterschreiben würdest, da ich deinen Schreibstil für sehr gelungen halte.

LG
Stjaerna
Von:  Junichi
2009-08-10T11:37:47+00:00 10.08.2009 13:37
So und noch eins ^^
Wie schon bei der anderen FF muss ich hier erstmal anmerken, dass es zu kurz war. Man hat zwar verstanden, worum es geht, aber trotzdem hätte man gerne einfach noch ein bisschen weitergelesen.

Trotzdem finde ich den Umgang zwischen Andy und Chris sehr gut geschrieben, auch wenn alles ein wenig subtiler dargestellt ist. Aber ich glaube genau das gefällt mir so gut. Jedenfalls würde ich mich freuen, wenn du noch ein paar Kapitel veröffentlichst.

Chris ist wirklich ein interessanter Charakter, trotz seinem Hang dazu sich langweilig zu finden. Aber Andy mag ich noch einen Tick mehr, vllt. wegen seiner Extrovertiertheit.

Mehr von den beiden, bitte. Und auch von Nick.



Zurück