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The Hellman

The new Messiah
von

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Pressure, that tears a building down

Es gab keinen Ausgang aus diesem Haus!

Nicht, dass er sich nach einem einmaligen, kurzen und irritierenden Aufenthalt in diesem suburbane Häuschen sich hier wie in seiner Pullovertasche ausgekannt hätte, doch damals hatte er die Haustür gefunden – wieso also jetzt nicht?

Joshua rannte permanent im Kreis. Der Genius, der aussah wie eine Drache schwirrte in der Luft um ihn herum und lachte ihn aus: „ Ex domu non potes! Me iusserunt. Studii tui stulti sunt!“

„Ich spreche kein Russisch!“, fauchte Joshua, griff blindlings nach einen Behälter und schmiss ihn auf das Drachenwesen. Der Gegenstand flog durch den Hausgeist. An der Mauer zerbrach er. Es handelte sich dabei um eine Vase, die mit einer ätzenden Flüssigkeit gefüllt war – der Teppich löste sich zu Schwärze auf.

Verärgert rannte er weiter. Nachdem er das Wohnzimmer verlassen hatte und erwartete im Vorzimmer aufzutauchen, stand er plötzlich wieder in der Küche. Dabei gab es nur eine Tür und die war vor ihm.

Der Genius lachte wieder. „Hihihi! Puer stulte! Domum non relinquere potes! Includeris!“

„Klappe!“ Joshua schritt durch die Tür, marschierte schließlich einen langen Gang entlang und betrat nach zehn Schritten das Wohnzimmer. Er setzte sich auf das Sofa, das mit einem hässlichen bräunlichen Stoff mit rosa Blumenmuster überzogen war, und stützte das Gesicht in die Hände. Er seufzte.

„Nonne omittes? Hihi. Vici! Vici! Vici!“

„Dämliche Nervensäge!“, beschimpfte Joshua den Genius und wunderte sich nicht mehr, warum das Ehepaar versuchte ihn unter Verschluss zu halten.

Er wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte. Es war draußen noch dunkel, doch da er keine Uhr fand, konnte Joshua nicht sagen, wie spät es war. Er fühlte sich jedenfalls, als hätte er drei Tage gepennt. Eventuell hatte er das auch, er konnte auch keinen Hinweis auf das heutige Datum finden. Hoffentlich nicht, er wollte sich nicht ausmalen, was für Sorgen Angela sich machen musste. Wenigstens wusste er zu seiner eigenen Beruhigung, dass er sich im Haus von Jonathan und Toraria Letherman befand. Hier würde er dieser irren Dämonin nicht begegnen.

Egal, wie nahe er sich ihr fühlen sollte, da sie zu seiner „Rasse“ gehörte, ihre aufdringliche, brutale Art war ihm zuwider. Da war ihm die sensible und unterschwellige Methodik der Magierin um einiges lieber gewesen. Auch nicht optimal, aber besser. Die wenigen Gesten, die sie getan hatten, hatten mehr in ihm bewogen, als die tausend Worte, mit denen Beenie Plainacher ihm zum Menschenmord überreden wollte.

Überhaupt hatte Plainacher aufgrund des letzten Erlebnisses wieder Antipathiepunkte bei ihm gemacht. Tatsächlich hatte sie versucht, ihn zu ermorden. Weil sie dumme Vermutungen hatte. Weil sie geglaubt hatte, Toraria könne ihn manipulieren. Er war schon einmal manipuliert worden, er wusste wie das war. Zwar von Erik dem Roten und nicht von einem Magier, doch er kannte kein Argument für einen Unterschied. Kein Anzeichen einer Manipulation hatte bemerkt... keinen Druck im Kopf, keine untypischen Handlungen, keine Handlungen gegen seinen Willen. Und aufgrund einer dummen Vermutung hatte sie versucht ihm das Licht auszublasen. Zum Glück hatte das Ehepaar ihm sein Leben gerettet.

Die beiden hatten sein Leben gerettet, während die Dämonin ihn nur demütigte und quälte, keine Unterstützung bot, und ihn ausschalten wollte, wenn er nicht alle Regeln ihres Spieles befolgte.

Hoffentlich würden die beiden ihm Schutz geben, wenn sie Plainacher nicht umgebracht haben. Schließlich hatte sie nun endgültig einen Grund ihn zu vernichten, da Jonathan Letherman verraten hatte, dass sie wussten, dass Joshua der Messias war.

Er zuckte zusammen.

„Scheiße...“, murmelte er. Plainacher wusste nun um ihr Wissen bescheid.

Teufel noch mal, hoffentlich hatten die beiden die Psychopathin umgebracht.

Irgendwie hatte er das miese Gefühl, dass dies nicht der Fall war.

„JONATHAN LETHERMAN! ICH WILL AUF DER STELLE MIT DIR SPRECHEN!“, schrie er so laut er konnte.

Selbst der Genius zuckte zusammen. „Vox maior est!“, beschwerte er sich. Doch aufgrund der ihm unbekannten Sprache ignorierte Joshua ihn einfach. Er brüllte noch einige Male, bis der Alb, nur in Boxershorts gekleidet, die Stufen herabstampfte, und sich dabei die Augen rieb. Das andere war geschlossen. Ein Wunder, dass er erst hinunter fiel, als eine Narbe an der Brust plötzlich anfing zu bluten.

Auf den jammernden Tollpatsch starrend, seufzte Joshua. Trotz seines Zornes half er Jonathan auf. Sein erster Blick fiel auf die blutende Narbe. „Ist das jetzt gerade passiert?“

„Nein“, antwortete Jonathan mit schlechter Laune.

„Im Kampf gegen Plainacher?“

„Nein.“

„Wann dann?“

„Damit büß ich meine Sünden ab.“ Er ließ sich von Joshua stützen, damit er mal nicht den starken Mann spielen musste, wenn dieses Stigma zu schmerzen begann.

Joshua hörte nicht auf nachzufragen. Irgendetwas faszinierte ihn an dieser kreuzförmigen Narbe, die unter dem Blut zu leuchten schien. „Ist das ein Fluch?“

„Ja.“ Zwar nur im übertragenen Sinne, aber immerhin war es keine Lüge. „Hast du mich aus dem Schlaf gerissen um mich über private Angelegenheiten auszufragen, oder gibt’s wichtigere Gründe?“

In diesem Moment kicherte der Genius laut und plapperte. Jonathan brauchte ihn daraufhin nur wütend anzublicken und schon verschwand das Drachenwesen in seiner Urne.

Nachdem sich der Alb auf die Stufen gesetzt hatte, seufzte Joshua, den Zorn, den er vor wenigen Minuten auf den Blondschopf noch gehabt hatte, wieder aufkeimend fühlend: „Habt ihr Plainacher umgebracht?“

Jonathan legte den Kopf schief: „Meinst du diese Psychopathin mit den roten Haaren und den vielen Piercings, sodass sie aussieht wie ein Cyborg?“

„Ja. Die.“

„Alles klar. Nee, haben wir nicht.“

Joshua brauchte ein paar Sekunden um diese Aussage zu verkraften. Da lag diese Irre einmal auf den Boden, verletzt, bewegungslos, ein idealer Zeitpunkt diese penetrante Kuh los zu werden – und die Gelegenheit wurde nicht genutzt. „Wieso nicht!“, schrie er. „Sie wollte euch umbringen.“

„Was wir wollen ist in Anbetracht deiner Klassifizierung relativ irrelevant. Ich meine, du hast ihr das Leben gerettet. Glaubst du wirklich, wir vergraulen dich, indem wir deine Freundin umbringen?“

„Meine WAS?“ Pause. „Ich soll WAS haben?“ Er raufte sich vor Entrüstung die Haare.

Jonathan fing an auf deinen Lippen zu kauen. „Heißt das, du magst sie nicht?“

„Ich HASSE sie.“

„Oh.“ Jonathan holte tief Luft. „Weißt du, es hat ausgesehen, als ob du ihr das Leben gerettet hättest, und da dachten wir, na ja, bringen wir besser nicht ’ne Dämonin um, wegen der du fast querschnittgelähmt gewesen wärst und... übrigens, sie zu retten war Toris Idee.“ Alles auf die Gattin schieben, er wollte sich nicht noch mehr vor dem Messias blamieren.

„QUERSCHNITTGELÄHMT?“

„Na ja, du hast dich vor sie geschmissen und da ist mein Pfeil nur knapp an deiner Wirbelsäule vorbeigegangen. Aber du bist geheilt, ich bin zum Glück ein recht fähiger Mediziner. Aber du hast eine weitere schicke Narbe am Rücken.“

Die Narbe war Joshua im Moment egal. Fast wäre er Beenie Plainacher losgeworden, und dann nutzten der Alb und die Magierin ihre Chancen nicht, weil sie glaubten, er möge diese Psychopathin. Wie kamen sie überhaupt darauf, dass er diese Irre auch nur ansatzweise mögen könnte? Hatte sie ihm nicht mit dem Tod gedroht, hatten die beiden nicht mitbekommen, wie sie ihn gefoltert hatte?

Entrüstet setzte er sich neben Jonathan. „Ich hab sie nicht gerettet. Ich dachte, sie würde euch angreifen und wollte sie aufhalten, und Teufel... es ist nicht nur, dass ich sie wie die Pest hasse, jetzt weiß sie auch noch, dass ihr wisst, dass ich der Messias bin.“

Jonathan holte wieder tief Luft. Dass er sich versprochen hatte, hatte er vollkommen vergessen. Mal wieder kam er sich vollkommen unfähig vor, weil er seine Gattin daran gehindert hatte, diese Dämonin zu töten. Zum Glück wusste Joshua nicht, wer Schuld an der Misere war. Er stellte sich noch einmal dumm, um den Ärger Joshuas zu reduzieren: „Tja hm, ist das so schlimm?“

„Ja! Während meiner Prüfungszeit hier, darf niemand von meiner wahren Klassifizierung erfahren!“

„Oh.“ Pause. „Vielleicht ist sie nett und petzt nicht.“ Das brachte Joshua zum Schnaufen. „Kopf hoch. Ich leide ähnliches. Mein Chef darf auch nicht davon erfahren, dass ich den Messias kenne, weil er dich sonst umbringen würde und das ist hart für mich. Ich bin eben ein Wesen, das sich sehr gerne verplappert.“

Als ob er das nicht mitbekommen hätte. Joshua vergrub das Gesicht in den Händen, seufzte mehrere Male. Er hatte keine Ahnung, was er nun machen sollte. Er fand jedenfalls endlich einen Kalender, der verriet, dass noch immer der Tag war, an dem er Angela alleine gelassen hatte. Und die Standuhr verriet, dass es vier Uhr in der Früh war. Die übliche Uhrzeit, um die er heim kam.

Joshua stand auf. „Na dann, danke für die Mühen, auch wenn ihr alles nur schlimmer gemacht habt. Bis irgendwann, wenn ich nicht bald in die Hölle zurückgezogen werde.“

Mit entsetzten Augen starrte Jonathan auf Joshua und packte ihn am Hosenbein. „Du kannst jetzt nicht gehen!“

Erfolglos versuchte er sich los zu reißen. „Wieso nicht?“

„Äh... wenn deine Situation so beschissen ist, willst du dich dann wirklich ohne Bodyguard auf die Straße trauen?“

Das klang logisch, aber er bezweifelte, dass die beiden, auch wenn er nun die Überzeugung hatte, dass sie fähig waren, sich gegen Erik den Roten oder gar Lillith wehren konnten. Beenie Plainacher war eine Sache, sein Ausbilder eine andere.

„Danke für das Angebot, aber wenn die mich mit den Typen sehen, die mehr über mich wissen, als sie sollten, kriege ich wahrscheinlich noch mehr Ärger.“ Er schüttelte sein Bein, doch der Alb blieb hartnäckig. „Außerdem werdet ihr von nun an genug damit zu tun haben, euch selbst zu beschützen.“

Jonathan sprang auf und packte Joshua am Arm. Er war so schnell, dass er die Bewegungen des Albs kaum mitbekommen hatte. „Ja, wenn wir alle in Gefahr sind, dann können wir doch gemeinsam paranoid sein. Wo hast du deine Unterkunft? Wir haben noch ein Zimmer frei, du bist hier willkommen.“

„Äh... ich wohne bei meiner Schwester.“ Da wusste dieses Ehepaar gehütete Geheimnisse über ihn, aber wo er wohnte, war ihnen entgangen. „Und selbst, wenn ich auf der Straße pennen würde, ich vertraue euch nicht genug, sodass ich neben euch leben würde.“

Beleidigt verzog Jonathan das Gesicht: „Wieso nicht? Wir haben dir das Leben gerettet.“

Joshua zählte auf: „Und eine Woche vorher hast du mir gestanden, dass du zu einem eventuellen Gegenspieler der Hölle gehörst und mich bekehren willst, hast mich zu Boden geworfen, als ich überreagiert habe und jetzt eben ist dir rausgerutscht, dass du die Sache vor dem Chef verheimlichen musst, weil der mich sonst umbringen würde.“

Jonathan holte tief Luft und sein Griff lockerte sich. Zum Glück entging das dem Messias. „Ist doch egal, wer dich umbringen will und wer nicht. Wir stehen dir zur Seite.“ Pause. „Und sorry für die Sache mit dem Angriff, aber ich hatte Angst um meine Küche.“

Wusste dieser Depp nicht, worauf er hinaus wollte? „Danke, aber das ist schlussendlich nicht das Problem. Denn ich kenne weder eure Motive, noch eure Pläne. Das einzige, was ich weiß, ist, dass ihr so viel über mich wisst, dass es unheimlich, und dass ihr irgendein hinterlistiges Spiel treibt. Und mich prinzipiell immer in die Scheiße hineinreitet.“

Jonathan ließ Joshua endlich los. Die Argumente waren gut. Und er wusste nun nicht, was er sagen sollte, denn jeder erklärende Grund konnte den Messias wieder so schockieren, dass er floh, nachdem sich das nötige Verhältnis gebessert hatte. „Ich habe Angst, dir die Wahrheit zu sagen.“

„Kann ich nachvollziehen. Besonders bei deinem undiplomatischen Einfühlungsvermögen.“

„Verarschen kann ich mich selbst.“ Jonathan nahm Joshua wieder bei der Hand und zerrte ihn in das Wohnzimmer. Er dachte, sie würden ewig wandern, bis sie schließlich bei einem eigenartigen Einrichtungsgegenstand stehen blieben. Dieses Haus war wirklich seltsam.

Joshua schaute auf eine kaum faustgroße Glaskugel, die innen hohl war. Doch im Zentrum wand sich eine rosa Wolke, in der Blitze zuckten. Gehalten wurden von einem Bleiständer, der aussah wie die Klaue eines Geiers.

„Tori neigt dazu wichtige Ereignisse aus der Perspektive eines Beobachters zu dokumentieren. Da drinnen befindet sich alles, was mit dir im Zusammenhang steht.“

Er konzentrierte sich mehr auf den Inhalt. In der Wolke glaubte er das Verhör zwischen ihm und Jonathan zu entdecken. „Groß ist sie nicht.“

„Die Wolke? Ja, es waren nicht sehr viele Ereignisse, aber dafür waren sie umso gravierender.“ Joshua hatte eigentlich auf die Kugel selbst angespielt, aber egal. „Wenn du auf denselben Wissensstand wie wir kommen willst, musst du die Kugel nur berühren.“

Dieser Gegenstand faszinierte Joshua. Wie gebannt schaute er auf das Innenleben und langsam zeichnete sich das Gesicht eines Mannes mittleren Alters ab, der hinter einem Schreibtisch thronte.

„Ich zwinge dich zu nichts“, sagte Jonathan. „Ich rate es dir nur.“ Pause. „Bedenkt man deine Hemmungen dich in die Hölle einzugliedern, wäre es eventuell wichtig, dass du auch unsere Perspektive kennst. Die Ansicht zweier Wesen, die im letzten Krieg, den du anführen wirst, vernichtet werden.“ Er lächelte. „Wir haben nämlich die ehrliche Hoffnung, dass du auf unserer Seite kommst.“

Joshua verzog das Gesicht. „Ich hatte nur die Wahl zwischen Himmel und Hölle.“

„Nur bedingt.“ Jonathan fasste sich auf Narbe. Sie blutete nun nicht mehr, doch dafür glühte sie gelb. „Die Narbe ist ein Symbol der Verbundenheit zu unsrer Sphäre. In der Sphäre in der du geboren wurdest.“

Joshua wusste, dass der Alb ihn manipulierte. Dennoch fragte er: „Worauf spielst du an?“

In diesem Moment packte Jonathan die Hand des Messias.

Es war ihm klar, dass dies wieder ein undiplomatischer Akt war, doch in diesem Moment begann sein Stigma so stark zu schmerzen, wie sie es noch nie getan hatte. Er hegte die Hoffnung, dass die Erkenntnis des Messias seinem Leid endlich ein Ende setzen würde. Joshua musste wissen.

In dem Moment stellte er Kontakt zwischen der Hand des Messias und der Glaskugel her.
 

Joshua durchfuhr ein Stromschlag. Alles wurde schwarz vor seinen Augen, er wollte schreien, ging aber nicht. Minutenlang war er taub, stumm und blind, bis weit hinten die rosa Wolke erschien. Doch überraschend schnell bewegte er sich auf sie zu.

Er sah sich, er sah Jonathan, er sah Toraria. Die Schatten der Wolke zeigten ihn, wie er sich gerade aus dem Fenster stürzte.

Doch die Szene, in die er eintauchte, war eine vollkommen andere:
 

In Gabriel X. Paradisos Augen spiegelte sich nie viel Humor. Die blauen Augen des Mannes, der von Gott persönlich gesandt worden war um die Ordnung dieser Sphäre zu bewahren, zeugten stets von einem Bierernst, der einem das Blut in den Adern gefrieren ließ. Seine Haltung war immer aggressiv, was auf seinen cholerischen und leicht reizbaren Charakter hindeutete. Doch heute wies seine Mimik und Gestik auf ein Element der Unsicherheit hin. Sein eigentlich unbeugbares Erscheinungsbild wurde gestört von einer Haltung der Angst und Unsicherheit.

Und das machte Jonathan Letherman wiederum Angst.

Noch nie hatte er sich dem uralten Mann, den man aber nie älter als fünfzig schätze, so nahe gefühlt. Natürlich hatte er schon in den hundert Jahren, in denen der APEHA diente, Gespräche gegeben, doch diese waren immer in der Anwesenheit von mindestens zehn Gleichrangigen geführt worden. Nun saß er nur mit seiner Gattin der Angst einflößenden Gestalt gegenüber, die durch ihre passive Art keine große Unterstützung war. Er fragte sich, wie Tori so ruhig bleiben konnte. Seit einem Jahr waren sie verheiratet, doch Jonathan hatte noch immer das Gefühl, sie nicht zu kennen.

Gabriel X. Paradiso räusperte sich. „Zeus ist gestorben.“

Ein Wink der Verzweiflung durchfuhr Jonathan. Der alte Zeus war tot?

Er kannte den Magier nur zu gut. Er war einer der dienstältesten Wesen der APEHA und auch eines der stärksten. Zwar machten sich schon Anzeichen von Senilität bei ihm bemerkbar und auch hatte er seine Kräfte nicht mehr so gut unter Kontrolle, wie vor einem Jahrhundert, doch er zählte noch immer zu den fähigsten Mitarbeitern. Jonathan traf diese Nachricht noch dazu persönlich, da der alte Magier eine Art Mentor für ihn gewesen war. Und nun war er tot. Selbst auf Toris Gesicht spiegelte sich so etwas wie Entsetzen.

„Wie... Wieso? Was ist passiert?“, stammelte Jonathan.

„Eben das, was zu erwarten ist, wenn man den schwersten Job erledigt, den die APEHA je hatte. Ein Fürst namens Samael hat ihn ermordet.“ Gabriel X. Paradiso seufzte. Auch ihm ging der Tod des Magiers sichtlich nahe. „Jedenfalls, der Messias ist nun seit zwei Tagen schutzlos.“

Jonathan nickte. Damit war das Hauptthema angesprochen. So gerne er auch nach den Details um Zeus’ Tod gefragt hätte, Gabriel hatte ein anderes Thema angeschnitten und weitere Fragen würde er zum alten nicht mehr beantworten. Schweren Herzens ging Jonathan auf die Aussage des Chefs ein: „Wie geht es ihm? Hat er den Tod seines Vaters schon verkraftet?“

„Zeus meint nein, doch die Beobachtungen anderer Mitglieder behaupten das Gegenteil.“

„Es ist natürlich fraglich, wie man es verkraftet, wenn der Vater vor den eigenen Augen erschossen wird. So was kann jeder Zeit wieder hoch kommen. Wie alt ist er denn jetzt?“

„Demnächst wird er siebzehn.“

„Ein schwieriges Alter.“ In dem Alter hatte der Alb allerdings noch nicht einmal laufen können.

„Nicht nur für ihn, auch für uns. Die Hölle wird langsam panisch, wenn er nicht bald stirbt, haben sie die Chance ihn auf ihre Seite zu holen verspielt. Sie setzen immer stärkere Söldner auf ihn an, mittlerweile neigen sie dazu, ihn auch direkt anzusprechen und zu manipulieren. Mehr noch als früher.“

Jonathan nickte. Er dachte an Zeus. „Und was haben wir damit zu tun?“

Gabriel X. Paradiso seufzte: „Wie ihr wisst, ist es unmöglich den Messias ohne Wache irgendwohin gehen zu lassen.“ Pause. „Zeus braucht einen Nachfolger. Ich habe lange überlegt, es sogar riskiert den Messias zwei Tage alleine zu lassen, doch nun habe ich meine Entscheidung getroffen.“

„Werden Sie es selbst machen?“, fragte Jonathan.

Darauf schlug sich Gabriel X. Paradiso auf die Stirn. „Nein, Sie Volltrottel, ich darf meinen Führungsplatz nicht verlassen. Und außerdem, weswegen glauben Sie, habe ich euch beide herkommen lassen.“

Er brauchte ein paar Sekunden um zu verstehen, doch dann klappte Jonathans Unterkiefer nach unten: „Wie... Sagen Sie bloß, Sie belasten uns damit.“ Belasten erschien zwar als unpassender Ausdruck, doch er passte. Selbst Zeus hatte es widerstrebt die Verantwortung für den Messias zu übernehmen. Zu recht, wie sich herausstellte.

„Ja“, knurrte Gabriel X. Paradiso.

„Wieso? Ich meine, ich bin erst seit hundert Jahren bei der APEHA, habe kaum schwere Aufträge erhalten und weiß relativ wenig über die Hölle. Und Tori ist überhaupt seit nicht mal einem Jahr Mitglied. Das widerspricht Ihrer sonstigen Vorgehensweise!“

Gabriel X. Paradiso holte wieder tief Luft. „Ich habe selbst Zweifel, doch wiegt man Vorteile und Nachteile ab, so sind mehr Vorteile gegeben.“ Er schob einen Zettel und einen Kugelschreiber zu ihnen. „Ihr zwei seid Killermaschinen. Keiner bei der APEHA weist eine derartige Präzision im Kampf auf, wie ihr. Jeder eurer Schritte ist überlegt und gewählt, außerdem beschränken sich eure Fähigkeiten nicht nur ein spezielles Fachgebiet, sondern sind vielseitig.“ Pause. „Eine weitere Begründung ist auch, dass ihr unter Menschen lebt. Ihr habt Kontakt zu ihnen, was euch weniger weltfremd macht, als neunzig Prozent der Mitglieder.“

Jonathan hätte nie gedacht, dass Gabriel X. Paradiso ihm Komplimente machen würde. Und dass er sich je positiv über Toraria Letherman, geborene Simson, äußern würde, wenn man bedachte, wie sehr er sich gegen ihre Mitgliedschaft widerstrebt hatte, die schließlich aber aufgrund der Hochzeit bewirkt worden war.

Allein die Beauftragung war Kompliment genug, bedachte man, wie kurz sie erst bei der APEHA arbeiteten. Doch Jonathan hätte gerne auf diese Ehre verzichtet.

Alles hing vom Messias ab. Hatte man die Verantwortung über ihn, hatte man automatisch die Verantwort über die ganze Welt inne – und als Welt war nicht nur diese Sphäre, sondern auch der Himmel und die Hölle zu verstehen. Gott persönlich war unter den Begriff „Welt“ zu subsumieren!

Jonathan holte tief Luft.

Tori griff nach Zettel und Kugelschreiber und die Einverständniserklärung, den Auftrag zu übernehmen, und unterschrieb. Machte sie diese Verantwortung nicht nervös? Wie gerne hätte Jonathan ihre Selbstsicherheit und Furchtlosigkeit.

„Darf ich überhaupt verneinen?“

Gabriel X. Paradiso schüttelte wortlos den Kopf.

Jonathan seufzte. Seine Frau reichte ihm den Kugelschreiber und er unterschrieb mit krakeliger Unterschrift, aus der man seinen Widerwillen herauslesen konnte.
 

Szenenwechsel
 

Jonathan spannte den Bogen. Er zielte auf die Stirn des echsenartigen Wesens, das sich an den Messias heranschlich. Joshua Nazara bemerkte nichts. Er saß mit einem bebrillten Jungen auf einer Parkbank und ging irgendwelche Hausaufgaben durch. Der Dämon wollte ihn verletzen. Seine Kralle wollte in seinen Kopf stechen. Joshua hielt diese aber für eine Fliege, die er mit Händewedeln vertreiben wollte. Jedes Mal, wenn die Hand des Messias ausschlug, zuckte der Dämon zurück. War das Monster etwa schüchtern?

Er ließ los, der Pfeil raste auf den Dämon zu und spaltete seinen Kopf. Steif fiel er nach hinten. Der war hin. Joshua sah nach hinten, um zu sehen, was da eben geraschelt hatte, sah nichts und hielt es für eine Einbildung.

„Findest du es nicht auch zu leicht?“, fragte er Tori. Diese sah ihn prüfend an. „Was hat Gabriel noch mal gesagt? Dass die Dämonen immer stärker werden, die die Hölle auf Joshua ansetzt? Von wegen. Seit sechs Monaten erlegen wir nur Kreaturen, wie den da. Von einem Fürsten, General, Leutnant, was auch immer, keine Spur. Findest du das nicht seltsam?“

Sie zuckte mit Achseln.

Jonathan redete weiter: „Dabei rückt der Tag seines achtzehnten Geburtstages immer näher. Wieso wird die Hölle nicht panischer?“

Eher sich die Schlange Joshua näher als zwei Meter kam, wurde ihre Rachen schon von einem Pfeil Jonathans verstopf. Sie war zwar nicht tot, doch die Pfeilspitze steckte im Boden fest, sie kam nicht mehr los. Panisch zappelte sie, bis Joshua sie für einen Käfer hielt und kurzerhand ihren Kopf zertrat.

„Warum nimmt er eigentlich gar keine paranormalen Aktionen wahr?“, wunderte sich Jonathan weiter. „Er scheint nicht einmal abnormal zu sein. Und so etwas soll den letzten Kampf zwischen Himmel und Hölle entscheiden? Ich weiß nicht“, er nahm wieder einen Pfeil aus seinen Köcher, den er Olive getauft hatte, „irgendetwas kommt mir hier spanisch vor.“ Er schoss auf eine Katze mit glühend roten Augen, und einem Gebiss mit dem sie Stahl zerbeißen konnte.

„Findest du das ganze nicht auch seltsam?“, fragte Jonathan seine Gattin. „Als ob die Hölle irgendetwas planen würde, das wir nicht einmal ansatzweise ahnen.“

Toraria nickte. Doch selbst sie hatte nicht einmal eine Ahnung, was im Hintergrund laufen könnte. Und so zerquetschte sie das Hirn eines in Mantel und Schal verhüllten Dämons, der den Status eines Leutnants hatte...
 

Szenenwechsel
 

Sie beobachtete den Dämon, der seit wenigen Stunden, um Joshua herumkreiste aber keine Anzeichen gab, dass er dem Messias etwas antun wolle. Er flüsterte die ganze Zeit etwas vor sich, jedoch konnten weder Toraira noch Jonathan ansatzweise, was der große Mann mit den unheimlichen Augen, die er unter einer Melone versteckte vor sich hinmurmelte.

Joshua saß mit seiner Freundin, Rachel Simmons, ein übergewichtiges, aber selbstbewusstes Mädchen, auf den Stufen vor einem Brunnen und rauchte Kette. Dass ein Dämon um ihn herumkreiste, bemerkte er nicht.

Jonathan und Toraria zögerten den Kerl anzugreifen. Er war ein General. Dämonen dieses Status waren zwar zu besiegen, aber bei weitem schwerer, als ein Leutnant, der in der Hierarchie unter einem General stand. Ein Schuss in den Kopf oder der Versuch, sein Hirn zum Platzen zu bringen, würde nichts bringen, sie konnten ihn nur im offenen Kampf besiegen. Kaum vierundzwanzig Stunden vor der Verkündung, bevor der Messias auf die Seite des Himmels wechseln würde, wollten die beiden nichts riskieren. Überhaupt, was konnte in den vierundzwanzig Stunden noch so schreckliches passieren, das sie nicht aufhalten konnten, wodurch er sterben würde?

Der Alb grinste breit und konnte seine Freude nicht verbergen, da sie den Auftrag so gut wie erfüllt hatten. Für eine Minute ließ er sogar die Tarnung fallen, was ihm erst auffiel, als Tori ihm einen Klaps auf den Hinterkopf verpasste.

„Sorry“, murmelte er, „aber ich freu mich so.“

Toraria verdrehte die Augen, doch das konnte Jonathans Laune nicht trüben.

Weniger als vierundzwanzig Stunden. Dann war der Messias auf ihrer Seite. Und was konnte in vierundzwanzig Stunden so gravierendes passieren, was den Spieß wenden würde, das die beiden nicht verhindern konnten?...
 

Szenenwechsel
 

Jonathan schrie laut auf, als er auf die Leiche Joshua Nazaras sah: „DAS KANN NICHT SEIN! ER IST NICHT TOT! ER IST NICHT TOT!“

Toraria zeigte es zwar nicht, doch sie war ähnlich verstört. Schließlich war es ihre Idee gewesen, nicht zu reagieren, als der Messias in seiner Wohnung angefangen hatte zu kreischen, nur weil sie keine paranormalen Aktivitäten gespürt hatte. Doch in ihrem Kopf war noch alles so klar, dass sie verstand, was eben passiert war.

Joshua Nazara hatte sich aus dem Fenster gestürzt. Irgendetwas hatte ihn in den Suizid getrieben, hatte ihn so schockiert und belastet, dass er keinen anderen Ausweg als Selbstmord gefunden hatte. Und noch dazu kam das miserable Gefühl, dass dies nur geschehen war, weil die Hölle ihre Finger im Spiel hatte. Jonathans Bedenken, dass sich die Eingriffe der Hölle auf schwache Dämonen reduzierten, hätten ernst genommen werden müssen. In all der Angst vor Angriffen, hatten sie vergessen, dass man noch auf anderen Weg sterben konnte, als durch Gewalt... der Freitod.

Und nun lag Joshua Nazara auf dem Boden, sein Kopf abartig verdreht. Er atmete nicht mehr. Er war tot.

„Ich kann ihn heilen!“, schrie Jonathan. „Ich kann ihn heilen!“ Er kniete sich neben den toten Körper, kramte in seiner Hosentasche und zog ein Fläschchen hervor. Mit zitternden Händen träufelte er den Inhalt auf Joshuas Hals. Doch wenn jemand tot war, wirkten Heiltränke nicht mehr.

Jonathan begann zu heulen.

Torarias Hände zitterten gar.

Sie hatten versagt. Auf kompletter Linie.

Der Messias war in die Hände Satans gefallen. Die letzte Schlacht war demnach so gut wie geschlagen. Und die Hölle würde gewinnen.

Der Himmel würde versklavt werden, und die Erde, ihre Heimat, vernichtet.
 

Der Anblick seiner eigenen Leiche war so ein Schock für Joshua, dass er es schaffte sich von der Kugel los zu reißen. Vor seinen Augen wurde kurz alles hell. Und dann befand er sich wieder im Wohnzimmer des Hauses der Lethermans.

Jonathan starrte ihn mit von Schmerzen verzogenem Gesicht an, Joshuas Hand hielt er noch immer umklammert. Ehe er fragen konnte, was in den Alb gefahren war, berührte seine Haut wieder die Glaskugel.

Erneut tauchte er in die Erinnerungen des Albs und der Magierin ein:
 

Indem sie mit der Fingerkuppe ihres Zeigefingers an den Bücherrücken vorbeifuhr, behielt Toraria den Überblick, als sie in der Bibliothek der APEHA eine Dokumentation der Taten des Herakles suchte. Der Halbmagier und Sohn des legendären Zeus’ war kürzlich gestorben, und da er ein Halbmagier war, durfte er in der Hölle weiterleben. Kürzlich hatten sie und Jonathan ihn verhört, wobei der Verdacht gekommen war, dass der Dämon, der sich gerade in seiner Söldnerprüfung befand, schon zu Lebzeiten Dreck am Stecken gehabt hatte. Dies könnte den Verdacht erhärten, dass er auch nun gegen die Regeln verstieß.

Sie nahm ein Buch heraus, das über zweihundert Jahre alt war. Die Seiten waren so fragil, dass, wenn man nicht vorsichtig war, sie unter den Fingern zu Staub zerfallen konnten.

„Hey, Tori! Sieh dir das mal an!“, rief Jonathan laut, der sich ein Regal weiter weg befand.

Sie stellte das Buch zurück, indem es keine brauchbaren Informationen gab. Sie hoffte, dass ihr Gatte belastendes Material gefunden hatte. Nur zu gerne würde sie diesem brutalen Lüstling die Gedärme aus dem Bauch reißen.

Doch er musste sie enttäuschen.

„Sieh mal. Ein Buch über den Messias“, sagte er und hielt ihr eine Seite unter die Nase, wo ein Kapitel mit dem Titel „Die zwölf Apostel“ zu finden war.

Toraria verdrehte die Augen. Drei Jahre war es nun her, seit Joshua Nazara verstorben war, und noch immer belastete das Versagen ihren Gatten. Vielleicht, weil sie nie dafür bestraft worden waren und Jonathan krampfhaft versuchte die Fehler wieder gut zu machen.

„Anscheinend hat Gabriel X. Paradiso einiges verschwiegen. In diesem Kapitel steht nämlich, dass der Messias 12 Apostel aus dieser Sphäre hat. Diese sind Gefolgsleute, die als seine Anhänger, Beschützer, aber auch Sendeboten dienen, um Söldner aus dieser Sphäre zu sich zu gewinnen. Gott erwählt sie persönlich und man erkennt sie an einer kreuzförmigen Narbe, die unkontrolliert anfängt zu bluten oder zu leuchten, solange der Messias den Apostel nicht akzeptiert hat. die Erwählten sind nur erkennbar, wenn er auf der Erde wandelt. Für welche Seite er sich entschieden hat, ist egal.“ Pause. „Das heißt, wenn der Messias seine Söldnerprüfung ablegen wird, werden sich einige Apostel wohl oder übel zeigen.“

Toraria verdrehte die Augen. Woher wollte Jonathan wissen, dass der Messias dieselbe Ausbildung genießt, wie jeder andere Mensch? Doch sie sagte natürlich nichts.

„Weißt du, wenn Gott die richtigen Apostel wählt, kann der Messias vielleicht seine Entscheidung widerrufen und auf die Seite des Himmels wenden. Dann würden wir überleben!“

Dieser Träumer, dachte Toraria.

„Ich frage mich nur, warum der Chef das verschwiegen hat. So allwissend wie er ist, kann er von diesem wichtigen Detail nichts gewusst haben.“ Er las zwei Zeilen. „Ich meine, das ändert die Dinge. WIR, unsere Sphäre, bekommt dadurch mehr Einfluss auf den letzten Krieg, als man überall hört.“ Er dachte kurz nach und zuckte mit den Achseln. „Vielleicht deswegen.“ Dann kam ihm eine Idee. Grinsend schaute er seine Frau an. „Weißt du was, wenn wir einen Apostel finden, werden wir ihn so beeinflussen, dass Joshua Nazara für uns kämpfen wird. Versprochen?“

Sie reagierte nicht.

„Oh, da steht aber noch ein grausiges Detail. Wenn der Messias seinen Apostel binnen drei Monaten nicht akzeptiert, kommt es zum langsamen, schmerzhaften Tod und Gott erwählt einen Ersatz. Grausam...“

Toraria nahm ihm daraufhin das Buch weg und steckte es ins Bücherregal zurück. Dieser Träumer...
 

Szenenwechsel
 

Sie trat ins Badezimmer und sah ihren Ehemann gekrümmt vor Spiel schreien. Er hielt sich die Brust. Im Spiegelbild erkannte sie, dass seine Hand blutgetränkt war und auf dem Boden sich eine Lache der roten Flüssigkeit bildete. Er weinte und ging immer mehr in die Knie, bis er schließlich in der Fötushaltung auf dem Boden lag.

„Erinnerst du dich noch an das Buch... an den Scheiß, den Gabriel uns verschwiegen hat?“

Toraria nickte und kniete sich neben ihren Ehemann. Sanft strich sie ihm über die Stirn.

Er drehte sich auf den Rücken, nahm die Hand von der Wunde, aus der Blut wie aus einem Springbrunnen spritze. Und aus seinen Augen rannten Tränen. „Ich hab die Narbe. Ich hab die beschissene Narbe!“

Es wäre gelogen, wenn sich kein Anzeichen der Sorge in Torarias Gesicht gespiegelt hätte. Sie nahm seine Hand, und Jonathan drückte diese so fest er konnte.

„Er kam auf die Erde... und Gott erwählte einen Apostel. Und dieses arme Schwein bin ich!“ Er hievte sich auf ihren Schoß und vergrub sein Gesicht, in ihrem schwarzen Seidenachthemd. „Ich bin von der Gegenseite! Ich kämpfe gegen die Vernichtung der Erde! Und... denkst du unter diesen Umständen wird er mich als Apostel akzeptieren?!“ Obwohl die Berührung seiner Frau Trost spendete, wich seine Verzweiflung nicht. „Ich will nicht sterben! Ich will nicht sterben!“

„Ruhig“, sagte Toraria tatsächlich, doch durch Schmerz und Angst realisierte Jonathan die Worte seiner Gattin kaum.

„Sag mir... was soll ich jetzt machen?... und wenn Gabriel davon erfährt, bringt er den Messias um... ist das auch mein Todesurteil?“ Wohl oder übel würde es so sein, doch Toraria schwieg. „Sag mir, was soll ich machen. Bitte...“ Er stieß einen Schmerzensschrei aus, als die Blutung stoppte, doch die Narbe wie eine Glasscheibe anfing zu glühen. „Sag mir, was ich machen soll?“

Toraria holte tief Luft. Sie konnte zwar nicht glauben, was sie sagte, doch sie musste es tun, um ihren Ehemann Hoffnung zu spenden: „Den Messias manipulieren...“
 

Joshua riss sich wieder los und diesmal war er klug genug sich gegen Jonathans erneuten Versuch Kontakt zwischen ihm und der Kugel herzustellen, wehren. Er brauchte nicht viel Kraft um zu verhindern, dass der Alb seine Hand bewegen konnte. Er schien geschwächt. Mit wenig Mühe konnte er sich dem Griff entreißen.

„Ich hab genug gesehen!“, fauchte er, als Jonathan ihn wieder ergreifen wollte.

Der Alb fasste sich an die Narbe, aus der ein Blutschwall quoll. Der Boden wurde befleckt. „Nein! Hast du nicht!“, keuchte er. „Wenn du nicht weiter siehst, wirst du uns hassen.“

Joshua schüttelte den Kopf. Wie konnte er ihn hassen? Natürlich, der Alb handelte weniger aus dem Bemühen, die Erde retten zu wollen oder aus Mitleid für den Messias, sondern eher aus dem Bestreben seine Schmerzen zu stillen, doch er verstand das Motiv. Er hatte gesehen, wie schwer das körperliche Leid war, das Jonathan erlitt, sah es nun am gequälten Gesichtsausdruck. Schmerzen, für die er verantwortlich war. Ungefähr zwei Monate war er auf der Erde und ungefähr vor zwei Monaten hatte Gott Jonathan als Apostel erwählt. Wenn er sich nicht beeile ihn als Apostel anzuerkennen, starb der Alb. Wer war schon vernünftig, wenn man dem eigenen Tod ins Auge blickte?

Und die beiden waren Beauftragte gewesen, die ihn auf die Seite hätten ziehen sollen, die für das Überleben der Erdbewohner garantiert hätte. Und sie hatten versagt. Er fragte sich, wie viel Schuldgewissen das Ehepaar trieb.

Inzwischen stand Toraria hinter ihm. Er brauchte sich nicht umwenden um sie zu bemerken, ihre unverkennbare Aura kitzelte seinen Nacken.

Jonathan brach unter Schmerzen zusammen.

„Ich hab wirklich genug gesehen. Und weiß jetzt mal wieder Details, die mich irritieren. Die Apostelgeschichte war mit unbekannt.“ Genauso, wie Dämonen ihn während seiner latenten Phase umbringen konnten, doch er schwieg über die Ungereimtheiten zu Lilltihs Version. Er schaute auf den stöhnenden Jonathan und die Blutlache auf den Boden. Der Genius blickte schüchtern aus der Urne heraus.

Joshua fügte hinzu: „Ich verstehe dich... Unter solchen Umständen wäre ich auch egoistisch.“

Beleidigt sah der Alb zu ihm hoch. „Ich bin nicht egoistisch!“

Joshua hatte Lust mit dem Mann zu streiten, der sich auf die Beine quälte, was ihm nicht gelang, denn er verlor anscheinend sein ganzes Blut. Er konnte jetzt nicht mit ihm reden. Tief Luft holend, sagte er: „Darf ich gehen?“

Jonathan wollte protestierte: „Musst du überlegen... ob du mich akzeptierst?“ Auch Toraria warf dem Messias vorwurfsvolle Blicke zu.

„Einerseits. Andererseits, habe ich keine Ahnung, wie ich überhaupt die Akzeptanz zeigen soll.“ Pause. „Vielleicht, weiß es euer Chef.“

Der Alb riss entsetzt die Augen auf. Joshua hatte ja nicht gesehen, wie oft er Gabriel X. Paradiso hintergangen hatte, und es bestand die Gefahr, dass er den Messias einfach töten würde, ohne auf die Folgen zu achten. Sich an den Boss zu wenden, war das letzte, was er vorhatte.

Joshua seufzte: „Dann weiß ich nicht weiter. Es tut mir Leid.“ Seine Entschuldigung war ernst gemeint. „Ich werde nun wirklich gehen.“

Jonathan holte tief Luft: „Da draußen bist du in Gefahr. Die Dämonen... sie wissen...“

„Ich werde schon überleben.“ Joshua schaute auf die Standuhr. Eine Stunde hatte die Betrachtung der Vergangenheit in Anspruch genommen. Draußen hellte es. Ob Angela sich schon Sorgen machte? „Und meine Schwester.“

Toraria wollte seine Schulter packen, doch Jonathan schüttelte den Kopf und hielt sie so ab. „Okay.“ Er hatte sich endlich auf die Beine gequält und lehnte sich gegen die Mauer. Die Narbe blutete noch immer. „Denk nach. Aber genau. Stelle fest, ob du wirklich auf der richtigen Seite stehst, denn jetzt kannst du dich noch umentscheiden.“ Jonathan erzwang sich ein Lachen. „Aber lass dir nicht zu lange Zeit, in weniger als einem Monat bin ich hinüber.“

Und er wollte nicht sterben.

Wegen dieser Tatsache würde Joshua wohl eher den Apostel akzeptieren, als seiner Bestimmung wegen.

Auf dem Heimweg gab es keine Zwischenfälle. Joshua dachte nur stets an die Narbe, die er doch zu verantworten hatte, was die beiden über ihn wussten und was die Hölle verschwiegen hatte... und dass Toraria und Jonathan ein Jahr bis zu seinem Tod über ihn gewacht hatten. Und versagt hatten. Sie hatten seinen Selbstmord nicht verhindern können.

In der Erinnerungskugel hatte es Anspeilungen gegen, dass die Hölle verantwortlich für seinen Selbstmord war. Er fragte sich, in wie weit man die Dämonen beschuldigen konnte.

Wie gerne hätte er eine geraucht. Doch leider hatte er seine Zigaretten verloren.
 

Über Sachen, die sie nicht verstand, dachte Beenie Plainacher nicht nach. Es hatte in ihren Augen keinen Sinn sich den Kopf zu zerbrechen, wenn man nicht alle Details über eine Sache kannte und deswegen zu falschen Schlüssen kam, und glaubte, man hätte es verstanden, obwohl dies gar nicht der Fall war. Dies galt vor allem für das Verhalten anderer Personen. Aber dennoch konnte sie es nicht unterlassen die ganze Zeit an den Messias zu denken.

Wie hatte sie überlebt?

Viel hätte nicht gefehlt und die unheimliche Magierin hätte ihrem Leben ein Ende gesetzt. Doch dann schwafelte dieser Alb irgendetwas von wegen, dass Joshua ihr das Leben gerettet hätte, weswegen man sie nun nicht töten durfte. Und so hatte man sie schwer verwundet zurückgelassen.

Unter Qualen hatte sie sich selbst geheilt. Jetzt saß sie in einem verlassenen Loft, außerhalb der Stadt, in der Joshua residierte, und betrachtete die vielen Wunden, die geblieben waren. Überall an ihrem ganzen Körper waren Blessuren zu finden, ihre Gelenke taten weh, ihr Bauch schmerzte und ihr Puls pochte schneller. Hin und wieder bekam sie Schweißausbrüche. Um sich von diesem Angriff zu erholen, brauchte sie mindestens eine Woche.

Taurus schlief. Auch er war ebenfalls angeschlagen.

Am liebsten täte sie weinen. Doch der Grund war nicht das Versagen und die Niederlage gegen den Alb und die Magierin. Immerzu musste sie an den Messias denken. Der ihr das Leben gerettet hatte.

Der Alb wollte ihr einen Pfeil in die Stirn schießen. Und in diesem Moment hatte sich Joshua vor sie gestürzt und das tödliche Geschoss abgefangen, dabei selbst sein Leben riskierend. Er hatte sie gerettet. Daran gab es keinen Zweifel.

Aber ihr war nicht klar, warum?

Hatte sie ihn nicht wie den letzten Dreck behandelt, ihn genötigt, ihn gepeinigt? Warum riskierte er dann sein eigenes Leben für sie?

Sie verstand es nicht, wollte keinen Gedanken mehr darüber verschwenden, doch das schlechte Gewissen verbat ihr zu vergessen.

Schlechtes Gewissen... verdammt, hatte sie vor Jahrhunderten diese schlechte Angewohnheit nicht abgelegt?

Plainacher betete, dass sie nicht auch unter dem Einfluss der Magierin stand.

Sie zog ihre Beine dicht an ihren Körper und umschlang sie fest mit den Armen. Den Kopf auf die Knie gelegt, versuchte sie ihre Tränen zu unterdrücken.

Warum sollte die Magierin sie überhaupt beeinflussen, wenn sie vorhatte, sie zu erlegen? Es wären nur sinnlose Mühen gewesen. Schuld war der Messias! Wegen ihm war sie nun verwirrt, unsicher, irgendwie sogar ängstlich. Wie sollte sie nun reagieren, wenn sie Joshua wieder begegnen würde? Ihre Aufgabe würde sie ab nun niemals erfüllen können. Niemals wieder konnte sie den Mann, der ihr das Leben gerettet hatte, nötigen, foltern, quälen...das verbat ihr schlechtes Gewissen.

Plainacher drehte den Kopf ein wenig zur Seite. Nach einer langsamen Handbewegung entflammte ein rechteckiges Feld auf dem Boden, wo nach dem Verschwinden eine beige Mappe zurückblieb. Mit großen, roten Lettern stand auf diesem: „Über den Messias.“

Die Unterlagen hatte Erik der Rote ihr überlassen, damit sie mehrere Vorteile hatte. Dadurch kannte sie seine Macken, seine Schwächen, seine Biographie. Genutzt hatte sie diese Informationen kaum, doch nun würde sie mit ihnen vielleicht verstehen, warum er ihr das Leben gerettet hatte.

Das erste Blatt dokumentierte seine Affinität Menschen zu retten. Die kannte sie schon. Als Begründung hatte er selbst ihr Mitleid mit den Menschen gegeben, die paranormalen Lebewesen prinzipiell unterlegen sind und deswegen eine helfende Hand brauchten. Hier wurde noch Plainachers Vermutung unterstützt, dass er mehr Sympathie zur Sphäre der Lebenden verspürte und es einfach nicht vermochte sich als Dämon zu sehen und die Hölle als neue Heimat zu akzeptieren. Der Bericht war von Lillith persönlich verfasst worden. Doch er half ihr kein bisschen weiter, denn die Informationen widersprachen sich mit der Tatsache, dass er einer verhassten DÄMONIN das Leben gerettet hatte.

Sie blätterte weiter. Es folgte das Ausbildungsprotokoll von Erik dem Roten, das einzige Dokument, das sie studiert hatte. Nun uninteressant. Weiterblättern.

Als nächstens kam ein Bericht über seine frühere Identität auf der Erde. Geburtsdatum, Größe, Verwandte, Ausbildung, Talente... sieh einer an, sein Vater war, als Joshua vier Jahre gewesen alt war, vor Augen seines Sohnes erschossen worden. Ein Detail, das Plainacher nie erfahren hatte. Es erklärte einiges. Vieles im Zusammenhang mit dem Drang Menschen zu retten. Sie war keine gute Psychologin, aber ihr Talent reichte um zu ahnen, dass er so das Versagen seinen Vater zu beschützen wieder gut zu machen versuchte. Doch erklärte das auch, warum er für sie, die DÄMONIN, sein Leben riskiert hatte?

Nein.

Das letzte Dokument, das in der Mappe zu finden war, war eine Auflistung der Eingriffe in Joshuas Leben, ehe er verstorben war. Eine langweilige Statistik:

04.03. 2012: Chrysalis sollte mit dem Messias sprechen – wurde von dem Magier Zeus ermordet.

03.03. 2008: Schaffen es Angela Nazara in einen Alkoholrausch zu versetzen.

05.01. 2008: Messias hielt den Leutnant Freyr für einen alkoholisierten Bettler und rannte vor ihm weg.

24.12. 2006: Der Messias nimmt Süßigkeiten eines Weihnachtsmannes nicht an, der in Wahrheit Erik der Rote ist.

Und so weiter und sofort. Trotz der langweiligen Materie las Plainacher bis zum letzten Eintrag:

23.03.2001: Ermordung von Joseph Nazara durch den Fürsten Samael.

Sie kaute auf ihren Lippen. Sie wusste, dass der Messias von den Dämonen stark beeinflusst worden war, regelrecht zu seiner Entscheidung Suizid gezwungen wurde, doch hätte sie nie geahnt, dass die Hölle schlussendlich für das Ereignis verantwortlich war, das den Messias für immer prägen sollte und ihn gar dazu trieb sich nicht der Hölle eingliedern zu wollen. Ob er es wusste, dass seine neue Heimat für diese Erinnerung verantwortlich war? Wahrscheinlich nicht. Aber vielleicht ahnte er es...

In diesem Moment kam ein Gefühl in Plainacher hoch, das wohl oder übel Mitleid darstellen sollte.

Sie zwang jemanden, der in seinem Leben schon genug gelitten hatte, der schon genug genötigt worden war, und nun für die Personen kämpfen musste, die für all das Leid verantwortlich waren, etwas zu tun, was seinen Prinzipien widersprach. Nur weil sie dafür noch mehr Prestige bekam, als sie eh schon hatte. Sie hasste sich selbst.

„Armer Scheißer“, murmelte sie und schlug die Mappe zu. Diese verbrannte daraufhin zu Asche.

Schlechtes Gewissen... Mitleid... und nun auch Selbstekel... lauter Emotionen, von denen sie geglaubt hatte, sie seit Jahren verbannt zu haben.

Was war nur los mit ihr?

Sie zog Rotz in ihre Nase hoch und vergrub ihr Gesicht wieder in ihren Knien.

„Wirst du langsam weich?“

Plainacher zuckte zusammen. Eben hatte sie es sich halbwegs in diesem kalten Loft gemütlich gemacht, da störte sie plötzlich eine Stimme, die sie nicht anders als Menschen verabscheute. „Was willst du?“, fauchte sie und stand holprig auf. Alle ihre Knochen schmerzten gleichzeitig. Als sie endlich auf den Beinen war lehnte sie sich erschöpft gegen die Mauer.

Aus dem Schatten heraus trat eine kleine, fette Gestalt, bei der man sich wunderte, dass sie keine Schleimspur hinterließ. Er grinste auf so zuckersüße Art, dass es wieder eklig war. Seine Haut leuchtete im Licht des Morgenrots orange, obwohl sie eigentlich gelb war. Seine Augen waren verdeckt vom Schatten einer Kapuzenkutte. In der fetten Hand hielt er einen Lutscher. Jedes Mal, wenn Plainacher ihn sah, wollte sie am liebsten kotzen.

„Beziehungsweise, was hast du überhaupt in dieser verfickten Sphäre zu suchen?“

Der Fettwanst kicherte: „Leutnantsprüfung.“

Plainacher riss die Augen auf. Jetzt schon? Der Mann war zwar ein Halbmagier, was hieß, dass es ihm möglich war die Militärlaufbahn in viel kürzerer Zeit hinter sich zu lassen, als ein Mensch, doch dass er binnen neun Jahren bis zum Leutnant aufstieg, erschien ihr viel zu kurz. Sie hatte fünfhundert Jahre gebraucht, bis sie endlich die Leutnantsprüfung ablegen durfte, und nie hatte sie sich als untalentierter erwiesen, als der Fettwanst, im Gegenteil. Und nur wegen seiner paranormalen Herkunft genoss er einen unfairen Vorteil.

„Neidisch?“, grinste er.

Sie schnaufte. „Auf deine Figur? Immer, Fettarsch...“

Es ertönte wieder das eklige Kichern. „Jetzt stehst du noch über mir, aber bald darfst du dir nicht mehr so freche Worte leisten.“ Seine Stimme war piepsig, hoch und überaus freundlich, klang aber stets überheblich.

„Wart’s ab, Eunuch.“ Doch peinlicherweise rutschte sie die Wand entlang, bis sie wieder saß. „Verfickte Scheiße“, murmelte sie.

Der Fettwanst kicherte. „Eigentlich dürftest du dir nicht einmal jetzt irgendwelche Beleidigungen leisten. Wäre ich nämlich an der Stelle von Erik dem Roten, hätte ich dich schon längst degradiert.“

„WAS!“, kreischte sie und zuckte zusammen, da ihr Brustkorb schmerzte. Sie hustete.

„Die ganze Hölle weiß von deiner katastrophalen Niederlage.“ Plainacher wurde hochrot. „Du bist das Gespött der ganzen Armee.“ Sie sackte zusammen. „Du hast Glück, dass die Magierin dich nicht beeinflusst hat, sonst...“ Er brach den Stiel seines Lutschers ab und steckte die Süßigkeit in seinen Mund und schluckte sie als Ganzes herunter.

Plainacher ballte die Fäuste. Wäre sie nicht in so einer schlechten Verfassung, hätte sie dem Kerl den Hals umgedreht. „Verp...“

Der Fettwanst unterbrach sie: „Streng deine süße Stimme nicht an, Beenilein. Du willst wissen, wie es nun weitergeht?“ Nein, wollte sie nicht, aber mit diesem Arsch konnte man nicht reden. „Das weiß keiner. Erik der Rote nimmt sich eine Denkpause. Erwarte ihn in wenigen Tagen.“

Wahrlich, wenn sie nicht angeschlagen gewesen wäre, hätte sie dem Fettarsch hier und jetzt den Kopf abgerissen, egal, was für Folgen damit verbunden waren. Und Taurus schlief noch immer, der hatte auch keinen Anstand ihr zu helfen. Sklaven waren auch nicht mehr das, was sie einmal waren.

„Verpiss dich, Wichser!“, knurrte sie.

Obwohl der Kerl wusste, dass er bei ihrem Zustand keine Angst vor ihr zu haben brauchte, gehorchte er ihr. „Nun, das war eh alles, was ich dir mitteilen wollte. Erhol dich gut, meine Schöne und genieße dein Leben, solange du nicht in die Sklaverei geschickt wirst.“

Er trat in den Schatten zurück. So leise er gekommen war, so verschwand er auch.

Plainacher wartete noch einige Minuten, bis sie sich wieder ihrer Gefühlslage hingab.

Selbstekel...schlechtes Gewissen... Mitleid... und nun drohte auch noch eine Konfrontation mit Erik dem Roten. Und das alles war die Schuld des Messias.

Doch böse konnte sie ihm nicht sein.
 

Joshua gähnte. Seit seiner Ankunft in der Wohnung seiner Schwester hatte er keine Stunde geschlafen. Zu viele Gedanken hielten ihn wach. Da Angela seine späte Heimkehr nicht bemerkt hatte, hatte er gelogen, dass er schon um zwei Uhr in der Früh gekommen sei, und nicht erst um halb sechs. Und er hatte behauptet, er hätte geschlafen. Deswegen war ihr das Wort Rücksicht fremd. Kurzerhand verdonnerte sie ihn dazu sie beim Lebensmitteleinkauf zu begleiten.

Eigentlich sollte er im Bett liegen, schlafen und sich schließlich Gedanken machen, in wie weit er den Lethermans glauben wollte, ob er einen Apostel wollte, ob die Hölle ihn bestrafen würde und der ganze andere Mist. Doch stattdessen lehnte er an einem Süßigkeitenregal, rollte einen Einkaufswagen hin und her und versuchte nicht auf der Stelle einzuschlafen. So müde hatte er sich schon lange nicht mehr Gefühl. Wahrscheinlich zehrte die Konfrontation mit Plainacher an ihm.

„...mir Hundefutter?“, waren die einzigen Worte, die er von Angelas Satz mitbekommen hatte.

Er schrak auf. „Hä? Was?“

Angela knurrte: „Schon gut, ich hol’s schon. Aber dafür trägst du das Zeug.“ Sie ließ sich von Clover zum Hundefutter führen. Dabei verfluchte sie seine nächtlichen Streifzüge mit rüden Worten. Egal, solange sie nicht nachfragte, was er nachts tat.

Joshua fiel wieder gegen das Regal, dabei fielen ein paar Schokoriegel heraus. Seine Anstrengungen die Augen offen zu halten, brachten nun nichts mehr. Die Lider klappten nach unten. Für fünf Minuten schlief er, merkte nicht, dass Angela ihn rief, dass er gefälligst herkommen soll, um ihr zu helfen die zwei riesigen Säcke Hundfutter zu tragen.

Geweckt wurde von einem dunklen Augenpaar.

Joshua hob die Lider. Sein Blickfeld war lange verschwommen. „Was wollen Sie?“, fragte er den großen, muskulösen Afroamerikaner mit der Glatze. Dann sah er, dass es Liam Warrick war.

Ungewollt stieß Joshua einen Schrei aus und rammte den Einkaufwagen gegen seine Beine. Das nutzte jedoch nichts, Warrick grinste nur. In Schlips und Kragen gekleidet wirkte er noch überheblicher.

„Du wirst doch nicht etwa jetzt...“

„Für wie dumm hältst du mich?“, unterbrach er ihn. „Ich bin unbewaffnet. Hier sind Massen an Menschen. Ich habe keine Lust auf einen Skandal, oder gar ins Gefängnis zu gehen.“ Joshua lächelte daraufhin ebenfalls. Er hob die Hand. „Du hältst mich wirklich für einen Trottel, oder, Abschaum? Ich geh doch nicht ohne Schutzschild außer Haus.“

Joshua umklammerte den Griff des Einkaufswagens. Er kaute auf den Lippen herum. Warum ging der Nichtsnutz nicht einfach, wenn er ihn nicht angreifen wollte. Reden wollte anscheinend auch nicht. Er starrte ihn nur an und schwieg. Also beschloss Joshua die Chance zu einer Unterhaltung zu nutzen: „Was hast du erlebt, dass du Dämonen hasst?“

Liam Warrick war durchaus überrascht: „Ich hasse nur Dämonen, ich hasse jeden paranormalen Abschaum.“

„Warum?“

„Weil’s mir Spaß macht.“

Joshua verdrehte die Augen. Warum sah er nicht ein, dass er aus diesem Trottel niemals eine vernünftige Antwort bekommen würde? Er hasste diese Engstirnigkeit. Der Typ war sogar arrogant genug seine Bitte zu ignorieren, aufzuhören ihn so penetrant anzustarren. Es verstrichen Minuten. Bis schließlich Clovers Bellen die Stille zerriss.

Sehr gut, er bellte Liam Warrick an. Anscheinend war Joshua nicht die einzige Person, die der Köter zu hassen schien.

Kurz darauf schlug Angela mit dem Kopf gegen Liams Rücken. „Sind sie blind!“, knurrte er. Joshua zuckte zusammen, als der Trottel seine Schwester anfauchte. Zum Glück konnte sie sich selbst wehren.

„Arschloch!“, beschimpfte sie ihn. „Ja!“

Liam Warrick war dies sichtlich peinlich. „Verzeihung. Ich konnte ja nicht ahnen...“

„Ach sparen Sie sich das und denken mal lieber nach, bevor Sie reden, Sie arroganter Snob.“ Joshua war regelrecht geschockt über Angelas Selbstbewusstsein. So hatte er sie nie erlebt. Auch während ihrem Alkoholismus war sie nie so harsch gewesen. Anscheinend stärkte Blindheit den Charakter.

Und wieso wusste sie, dass Warrick ein Snob war? Konnte ihre Haut Stoffe unterscheiden?

Warrick sah sie entgeistert an, als sie ihn bei Seite schob und eine Handvoll Schokoriegel in den Einkaufswagen war. „Wissen Sie nicht wer ich bin?“

„Ein Mulitmilliadär, der er sein halbes Vermögen der Unterschicht spendet, diese aber wie Dreck behandelt. Sie sind Liam Warrick, hab ich Recht. Natürlich hab ich Recht, ich erkenne jede Stimme wieder! Was machen sie überhaupt hier, wieso lassen Sie sich nicht ihr Essen liefern?“ Liam Warrick hielt eine Cola-Flasche hoch, schämte sich ihre Blindheit vergessen zu haben, doch konnte nichts sagen, da Angela wieder das Wort ergriff. An Joshua gewandt fragte sie: „Hat er dich belästigt?“

Ihn ereilte ein Déja-Vu: Als er zehn gewesen war, hatte Angela ihn vor Schlägern beschützt, indem sie diese auf dieselbe Art zusammengefaucht, wie sie es gerade mit Warrick machte. Einerseits war es peinlich, andererseits hätte er sie am liebsten umarmt. Doch er riss sch zusammen und verneinte.

Inzwischen hatte Clover aufgehört mit Bellen und knurrte nur mehr.

„Glück gehabt.“ Sie packte den Einkaufswagen am anderen Ende und zerrte ihn weg.

Sowohl Joshua als auch Liam Warrick schauten der Blinden perplex nach, wie sie selbstsicher durch die Regalreihen schritt.

„Meine Schwester“, sagte Joshua schließlich. Liam verstand nicht.

„Es gab keine paranormalen Frequenzen.“ Er musste sich zusammenreißen, damit er diese Zicke nicht beschimpfte.

Joshua lächelte. Wusste er etwa nicht, dass die meisten Dämonen nicht als solche geboren wurden? Was folgende Aussage wohl bewirken würde: „Ich bin mit achtzehn gestorben und kam in die Hölle. Dann erst wurde ich zum Dämon.“ Er deutete auf Angela, die gerade eine Milchpackung suchte. „Sie ist meine letzte Verwandte...“

Liam Warrick war tatsächlich sprachlos. Sein Gesichtsausdruck zeugte davon, dass sein Weltbild gerade erschüttert worden war.

Joshua klopfte ihm auf die Schulter. „Man siehst sich, und hoffentlich bis du dann nicht so feige und trägst einen Schutzschild.“ Pause. „Und bedenke, wenn du stirbst wirst du auch zum Dämon.“

Und das würde hoffentlich bald sein. Hoffentlich konnte Joshua diesen arroganten Schnösel endlich das Licht ausblasen und seine Prüfung bestehen.



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