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The Hellman

The new Messiah
von

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Der Retter der niederen Leben

Einmal, einmal in seinem Leben, wollte er Erfolg haben.

Mit Tränen in den Augen stürzte Leonard Birghton über die Schwelle des Hintereingangs des Clubs „Odium“, wo er seit drei Wochen jeden Samstag mit der Band auftrat. Der erste Auftritt von Nocturn’s Children waren noch von all seine Freunde und Verwandte besucht worden, beim zweiten Mal hatten die Freunde und Verwandte während des Konzerts den Saal verlassen und sich zur Bar begeben, beim dritten Mal, heute, war gerade Mal die Hälfte seiner Verwandten und Freunde gekommen. Nicht einmal sein Bruder Christopher, der ihn bewunderte, hatte sich blicken lassen. Und seine Freundin hatte mit einem unbekannten Typen geliebäugelt.

Konnte denn keiner sehen, wie viel ihm seine Musik bedeutete? Oder wenigstens Gefallen vorheucheln?

Leonard setzte sich auf die Stufe vorm Hintereingang. Dass es regnete, war ihm egal, so sah man wenigstens nicht, dass der weinte.

Für so vieles konnte er sich begeistern, für so vieles zeigte er Interesse, wurde für sein Querdenken gelobt, doch wenn er seine Ideen in die Tat umsetzte, erntete er nur Verachtung. Die Band hatte er nur gegründet, weil sein Musiklehrer, seine Freundin, sogar seine Eltern die Idee toll gefunden hatten, nur mit der Stimme Melodie zu erzeugen, während die Musikinstrumente im Hintergrund quasi lärmten. Doch das Resultat schreckte alle ab. Dabei gefiel ihm selbst, was er komponierte.

Dabei hätte er es ahnen müssen.

Trotz seiner Kreativität und der Begeisterung seiner Eltern, waren sowohl Vater als auch Mutter enttäuscht. Er bildete sich ein, dass sie sich wegen seiner „Abnormalität“ hatten scheiden lassen. Er verstand jedes Thema, das in der Schule besprochen worden war, doch weil er es entweder gar nicht, oder nur unorthodox anwenden konnte, wagten die Lehrer ihn so schlecht zu benoten, dass nicht einmal das lokale College ihn aufnahm.

Er hatte nur mehr Musik. Doch die führte zu keinem Erfolg.

Leonard hatte nicht erwartet mit „Nocturn’s Children“ Karriere zu machen und damit so viel verdienen zu können, dass er sich erhalten konnte, doch wenigstens Anerkennung hatte er sich erhofft. Doch am Verhalten der Zuschauer bemerkte er, dass er diese nie bekommen würde. Noch dazu hatte er gehört, wie der Besitzer des Odiums, ein guter Bekannter, überlegte, ihn nicht mehr jeden Samstag für eine halbe Stunde die Bühne zu überlassen, weil seither das Geschäft zurückgegangen war.

„Alles okay, Nocturn?“, fragte Francis Lauder, der Gitarrist. Plötzlich war er hinter Leonard aufgetaucht.

„Geh weg!“, knurrte er. Niemals würde er die Schmach ertragen, dass sein Gitarrist ihn heulen sah.

„Nein. Denn Vincent, Valentin und ich haben etwas besprochen. Denn dass heute noch weniger Leute anwesend waren, als sonst, macht uns Bedenken.“

„Ich bin nicht in der Laune, so etwas zu besprechen.“

Doch Francis hörte nicht auf zu quasseln: „Auch wir finden, dass unser Sound zu extrem ist. Ich meine, wir begrüßen es natürlich nicht wie die breite Masse zu klingen, doch das war wir da fabrizieren ist nicht mehr Kakophonie.“

„Hörst du mir nicht zu? Ich habe gesagt, ich bin nicht in der Laune, darüber zu reden.“

„Wir erreichen einfach niemanden damit. Wir sollten unseren Sound verändern. Zwar das Konzept nicht verlassen, aber ein wenig massentauglicher werden. Was hältst du davon!“

„GAR NICHTS!“, brülle Leonard. „Massentauglich“ war ein Wort, das er hasste. Dass sein Bandkollege es in den Mund genommen hatte, war wie ein Stich in sein Herz. „Hau ab, ich bin nicht in der Verfassung darüber zu reden.“

Er drehte sich zu Francis im. Dass der Gitarrist nun die Tränen sah, war ihm egal. Sein Bandkollege würde ihn erst verstehen, wenn er seine wütende Mimik betrachten konnte.

Francis schüttelte den Kopf. „Okay, dann später.“ Im Gehen fügte er noch hinzu: „Wenigstens bist du ein wenig einsichtig.“ Dann war er verschwunden.

Leonard vergrub das Gesicht in seinen Händen. Jetzt fielen ihm sogar schon seine Bandkollegen in den Rücken.

Irgendetwas musste er tun. Doch er weigerte sich seine Musik zu verändern, denn das hieß, es würde sich selbst verändern. Und er mochte sich. Es schien nur, dass alle anderen Menschen seine Art ablehnten.

„Ich wünsche“, murmelte er, „ich wünsche mir doch nicht mehr als ein bisschen Anerkennung. Ein bisschen Erfolg.“ Er schaute gen Himmel. „Gott, wenn du existierst, so hilf mir doch und erfülle meine kleinen, bescheidenen Wünsche!“

Natürlich passierte nichts. Leonard zündete sich daraufhin eine Zigarette an.

„Gott hört niemanden.“

Die Zigarette viel ihm aus dem Mund. Hastig sah sich Leonard um. Wer hatte das gesagt?

„Wir sind dafür verantwortlich, dass ihr schwachen Menschen eine Chance bekommt, das Schicksal zu beeinflussen, wie wir es können.“

Wo war der Spinner? Hier rannten permanent irgendwelche Gestalten herum, die Anhänger einer Sekte waren und als „unheimliche Stimme aus dem Nichts“, quasi als Simulation eines Wunders, zu Opfern sprachen, dass sie den Weg zum ultimativen Glück fanden. Doch Leonard musste zugeben, dass diese Stimme, die weder männlich noch weiblich klang, anders wirkte. Viel verführerischer. Viel sympathischer, als die Stimme eines normalen Sektenanhängers je sein konnte. Zum ersten Mal in seinem Leben verspürte er den Wunsch, Kontakt zu einer seltsamen Figur herzustellen.

„Ich bin hier unten“, sprach die Stimme.

Leonard gehorchte reflexartig.

Zwischen seinen Beinen befand sich eine Regenpfütze. Und in dieser spiegelte sich nicht nur der Sternenhimmel, sondern auch ein breites Grinsen, das spitze Eckzähne entblößte.

Leonards Atem stockte. Erstaunlich, welche neue Zaubertricks sich Sekten immer ausdachten.

„Schon seit Tagen blicke ich in dein Herz. Und immer sehe ich dasselbe Begehren. Dieser kleine Wunsch, der in jedem tief schlummert. Dir scheint die Erfüllung nahezu schicksalhaft verweigert zu werden.“ Pause. „Es sei denn, ich helfe ein wenig nach.“

Er wusste nicht, warum er antwortete. Normalerweise sprach er mit diesen Fanatikern nicht, doch dieser Zaubertrick forderte ihn regelrecht heraus: „Welches Begehren meinst du, Freak?“

„Deinen Wunsch Erfolg zu haben.“

Leonard schluckte. Woher wusste der Unbekannte das? Er hatte nie jemandem davon erzählt. Doch manchmal hatte er Selbstgespräche geführt. Hatte ihn dieser Sektenanhänger belauscht?

„Stalker“, murmelt Leonard.

„Ja, Nocturn, ich bin ein Stalker, doch ich spioniere in dem Kopf ohne dir körperlich nahe zu sein.“

Na toll, Wanzen und andere Abhörgeräte. Seit waren Sekten so modern?

„Freak“, murmelte Leonard. Er stand auf und trampelte auf der Pfütze herum. Jetzt nutze auch noch eine verdammte, heuchlerische Sekte seine Zweifel und sein Leid aus. Hatte er heute noch schon genug gelitten?

Leonard ging zurück in den Backstageraum. Wahrscheinlich würde er nun dem Gespräch, das seine Bandkollegen mit ihm führen wollten, nicht entkommen können. Er hatte Angst. Doch genau so viel Angst hatte er vor der Sekte – oder besser gesagt, dass die schmeichlerischen Worte ihn in seinem Zustand überreden konnten.

Das Regenwasser beruhigte sich wieder und die Fratze war verschwunden.
 

Da der Messias seit der katastrophalen Unterhaltung dem Ehepaar konsequent aus dem Weg gegangen war, verfiel Jonathan Letherman in eine leichte Depression. Er lag die komplette freie Zeit im Bett, aß und trank Bier, das nicht ihn betrunken machte, sah fern und murmelte vor sich hin, was für ein unsensibler Trottel er doch gewesen war und er den ganzen Plan wie eine alter Unterhose behandelt hatte. Seine Narbe schmerzte unaufhaltsam. Damit dieses Leid endlich vorbei ging, musste der Messias eine Entscheidung fällen, oder getötet werden. Erstes ging nun wegen seiner Blödheit nicht mehr und für zweites brauchten sie die Hilfe Gabriel X. Paradisos, den sie nicht ansprechen konnten, weil er sonst hinter ihren Ungehorsam kommen und sie bestrafen würde.

Jonathan musste also ewig leiden.

Er hasste seine unsensible Dummheit.
 

Trotz der Depressionen ihres Gatten, ließ Toraria ihn eines Nachts alleine.
 

The Hellman war zurück.

Nach der nicht gerade erfreulichen Erkenntnis, dass das Geheimnis um seinen Messias-Titel in der Sphäre doch zwei Individuen, die eventuell zur Gegenseite gehörten, bekannt war, und nach den unschönen Konfrontationen mit Beenie Plainacher, war der einzige Möglichkeit, wie sich Joshua wieder aufrappeln konnte, das Retten von Menschen, die von paranormalen Monstern angegriffen wurden.

Zwar hatte er die ganze Zeit mehrere Sorgen im Hintergrund:

Wo zum Teufel war die psyochpathische Dämonin, warum sah sie nicht, was er tat, und warum versuchte sie ihn nicht von seinen Superheldenallüren abzubringen? Hatte sie aufgegeben? Hatte man sie zurückberufen? In beiden Fälle wäre sicher ein stärkerer Dämon auf ihn angesetzt worden.

Waren der Alb und die Magierin nun von der Gegenseite? Wenn ja, warum hatte die Hölle ihn nicht wegen dieser Aufgabenverletzung bestraft? Doch das war seine geringste Angst, denn er konnte sich nicht vorstellen, dass Lillith dieses Vergehen entgangen war. Eventuell zählten sie gar nicht zur Gegenseite.

Aber schwiegen die beiden noch immer, oder hatten sie schon Kollegen von seinem Geheimnis erzählt? Würde man dann versuchen ihn zu vernichten, wenn mehrere erfuhren, dass er für den Untergang der Erde verantwortlich sein würde?

Aber was wusste man in dieser Sphäre schon über die Messias-Legende? Nur Himmel und Hölle waren eingeweiht. Selbst paranormale Wesen dieser Sphäre konnten nur Ungenauigkeiten kennen.

Auch wenn er mit Angela speiste, stachen diese Fragen, Sorgen und Gedanken wie verschluckter Maschendrahtzaun in seinem Magen.

Doch die waren im Moment, wenn das vermeintliche Opfer ihn dankend anstrahlte, vergessen. Das war die Aufheiterung, die er brauchte. Das war wie eine Droge.

Und jedem Menschen, den er half, antwortete er auf die Frage, wer ihm gerade geholfen hätte: „The Hellman“.
 

Beenie Plainacher spürte eine Veränderung am Messias. Die Aura, die jeden Anfänger vor seiner Soldaten-Prüfung umgab, durfte sich eigentlich nicht verändern – doch dass geschah gerade mit Joshua. Hoffentlich hatte er keinen Kontakt mit einem Magier gehabt. Erfahrene Infanteristen, die viele Aufträge in dieser Sphäre erledigen mussten und dabei in Berührung mit jenen Kreaturen kamen, konnten von ihnen infiziert werden. Was genau so eine Infektion bedeutete, wusste sie nicht, doch Erik der Rote hatte ihr gesagt, dass jene Infizierten dazu neigten Verrat zu begehen – sie solle sich also immer vor Magiern in Acht nehmen. Und sie hatte selbst miterlebt, wie ein Mitschüler Kontakt mit einem Mitglied dieser mysteriösen, mächtigen Magierfamilie Simson hatte. Danach war er anders gewesen. Sowohl seine Ausstrahlung, als auch etwas in seinem Wesen hatte sich verändert. Daraufhin war er von Erik dem Roten vom Feldwebeltitel zum Arbeiter degradiert worden. Ob Joshuas Charakter sich gewandelt hatte, konnte sie nicht beurteilen. Doch seine Aura wirkte genau so, wie jene dieses Kollegen.

Vor knapp einer Woche war Plainacher dieser Veränderung aufgefallen. Doch er hatte keinen Kontakt mit einem Magier gehabt. Zumindest hatte sie keinen gespürt.

Doch eventuell war er einem äußerst starken Magier begegnet, jene, die ihre Macht vollkommen unterdrücken konnten. Und schon die kleine Berührung einer solch mächtigen Kreatur konnte sein Wesen von Grund auf ändern.

Sie spionierte ihm nach, um eventuelle verräterische Aktivitäten zu bemerken, doch das einzige unwürdige, was er tat, war das Retten des Menschengewürms. Gerne hätte sie eingegriffen, doch dank der schlechten Eindrücke, die sie hinterlassen hatte (erst zwang sie ihn mit Gewalt zum Menschenmörder zu werden, und als sie sich überwunden hatte, mit ihm zu sprechen, hatte sie sich ihm sexuell genährt – was hatte sich dabei gedacht!), wollte sie ihn nicht auch noch bei seinem „Hobby“ stören.

Aber kein Kontakt mit Magier.

Irgendetwas stimmte da nicht.

Fünf Tage beobachtete sie ihn, blieb zum Glück unentdeckt, und irgendwie fand sie es plötzlich nicht mehr so schlecht, wenn sie seine Freude darüber sah, einen dieser Würmer gerettet und irgendeinem Klagegeist, Vampir oder Werwolf das Licht ausblies.

Dann ging sie einen Schritt Richtung Erkenntnis. Aber nicht in Richtung Verstehen.
 

Angela hatte nicht wollen, dass er heute Nacht auf der Straße herumrannte. Sie ahnte, dass er sie anlog, da er nur tagsüber schlief, aber dann auch nur maximal zwei Stunden, obwohl er die ganze Nacht mit der faulen Ausrede, er treffe Freunde, unterwegs war. Und nun hatte sie sein Gesicht berührt und all die Narben auf den Fingerkuppen gespürt. Natürlich hatte sie diese falsch interpretiert. Wie genau ihre Auslegung aussah, hatte sie nicht verraten, aber durchklingen lassen, dass sie die nächtlichen Streifzüge dahinter vermutete.

Doch er hatte sich nicht von ihr abbringen lassen. Was bildete sie sich ein sich in seine Angelegenheiten einzumischen? Dennoch verließ er die Wohnung erst, wenn sie zu Bett gegangen war.

Deswegen war es schon dreiundzwanzig Uhr.

Er wollte nicht wissen, wie viele Seelen er nicht hatte retten können. Es reichten die vielen haptischen Eindrücke, wenn die Strahlung einer Leiche seine Haut berührte. (Seit wann konnte er derartiges wahrnehmen?)

Aber zu spät hieß nicht, dass alles verloren war.

Joshua sah, kurz nachdem er rauchend das Haus verlassen hatte, eine junge Frau und einen älteren Mann in die Ecke gedrängt von einem auf zwei Beinen stehenden Leoparden in Jeanshosen.

Er warf die Zigarette weg und stürzte auf die Kreatur zu. Ehe er dem Mann, der an die Wand gepresst, an die Kehle zugedrückt wurde, die Gedärme aus dem Bauch reißen konnte, stieß ihn Joshua weg. Er schlug gegen die Mauern, so hart, dass der Verputz abbröckelte.

Der anthropomorphe Leopard fletschte die Zähne. Als er sich halbwegs gefangen hatte, vergaß er die menschlichen Opfer und stürmte auf den Angreifer zu, um sich zu rächen. Die ausgestreckte Kralle näherte sich Joshua. Doch gekonnt schnappte sich dieser den pelzigen Arm und schmiss ihn zu Boden.

Binnen der letzten Woche hatte sein Kampfstil sich verbessert. Sein Handeln war nun nicht mehr holprig und unüberlegt, sondern präzise und durchdacht, auch wenn er nur wenige Sekunden zum Überlegen hatte. All das, was Erik der Rote ihn in der Theorie beigebracht hatte, fruchtete nun.

Anfangs hatte er Discordia und Eris vermisst, seine Waffen, die ihn Liam Warrick gestohlen hatte. Doch nun wusste er, dass er auch ohne ihnen sich zu helfen wusste.

Wie war er nur so gut geworden? An der Übung konnte es nicht liegen.

Der anthropomorphe Leopard ging zu Boden. Mit voller Wucht trat Joshua auf seine Wirbelsäule, brach sie, damit er sich nicht mehr bewegen konnte. Und dann bohrte er seinen Fuß in sein aufgerissenes Maul, blockierte ihn, sodass er zwar seine Zähne durch die Lederschuhe spürte, der Leopard den Kiefer nicht mehr bewegen konnte. Aus der Sole in sein Maul floss Wasser.

Genüsslich nahm Joshua wahr, wie der Leopard ertrank.

Der alte Mann und die junge Frau sahen keine große Heldentat. Auf brutale Weise schlug ihr Retter den Angreifer zusammen, sodass sie plötzlich mehr Angst vor ihm, als vor dem Verbrecher hatten. Während er sich über das Morden amüsierte, rannten sie weg. Doch sie waren zu Dankbar um die Polizei zu rufen.

Joshua seufzte enttäusch, als er sah, dass das ungleiche Pärchen verschwunden war. Kein Danke also. Aber die Nacht war noch zu lang.

Glaubte er jetzt jedenfalls.

Nachdem sich die Leiche des Wesens halb Mensch, halb Leopard aufgelöst hatte, verließ er die Seitengasse nicht. Mit großen Augen sah er auf die Person, die sich vor ihm wie ein tonnenschwerer Obelisk auftürmte.

„Du?“, keuchte er. „Was willst du hier?“ Mit ihm sprechen wohl eher nicht.

Toraria Letherman blinzelte dreimal. Über ihr bauschten sich dunkle Gewitterwolken auf – dabei war Himmel zuvor sternenklar gewesen.

„Was willst du?“, fauchte er noch einmal. Natürlich antwortete sie nicht. Joshua schlug sich auf den Kopf. Wieso versucht er mit jemandem eine Konversation zu beginnen, der sich weigerte zu sprechen?

Sie stand in der Mitte des schmalen Eingangs der kegelförmigen Seitengasse, sodass für ihn zu wenig Platz zum Vorbeigehen war. Er knurrte: „Lass mich vorbei.“

Toraria bewegte sich keinen Millimeter. „Willst du, dass ich Gewalt anwende?“ Irgendetwas Ähnliches wie der leichte Ansatz eines Lächelns zeigte sich auf ihrem Gesicht, doch auch nicht länger als eine Sekunde. Gut, sie hatte es nicht anders gewollt. Woher nahm eine so schwache Magierin überhaupt die Arroganz her, sich auch nur einer Maus in den Weg zu stellen?

Er wollte ihr nur einen Kinnhaken verpassen. Doch er prallte an etwas ab, ehe seine Faust ihr auch nur nahe kam. Es folgte wieder diese Quasi-Gesichtsregung. Ein zweites Mal versuchte er es. Ein Schlag mitten ins Gesicht sollte es werden. Wieder kam er nicht weit. Binnen dem Bruchteil einer Sekunde hatte sie ihre Hand schützend vor das Gesicht gehalten. Und ihre Handfläche war so steinhart, wie eine Mauer.

Joshua knurrte. Gut, ihre Schwäche machte also ihre Schnelligkeit wieder wett... Oder?

„Das war damals ein Trick“, murrte er. „Du hast dich absichtlich retten lassen...“

Es begann nun in der ganzen Stadt zu regnen.

Seine Faust berührte noch immer ihre Handfläche. Sanft umfasste sie plötzlich seine Finger. Joshua wunderte es, wie warm ihre Hände im Vergleich zu ihrer kalten Ausstrahlung waren. Sie senkte seine Hand und Joshua verspürte nicht einmal den Ansatz eines Widerstandwunsches. Und trotz ihrer wärmenden Berührung blickten ihre Augen vorwurfsvoll: „Du würdest eine Frau schlagen?“

„Verzeih“, sagte Joshua. Irgendwie verneinten ihre Augen. „Aber würdest du bitte zur Seite gehen?“ Jetzt verneinte ihr Blick wirklich.

„Oh verdammt noch mal! Ich habe heute noch eine Menge zu erledigen! Was muss ich tun, damit ich vorbei darf? Mit dir kämpfen? Mit dir reden? Mit dir schlafen?“ Obwohl alle drei Fragen rhetorisch als Scherz gedacht waren, wirkte letzter Punkt sehr verlockend. Trotz ihrer unheimlichen Ausstrahlung war diese Frau so unfassbar attraktiv. Das plötzliche Verlangen sie küssen, ihre von die von so anliegenden, dass man sich alles vorstellen konnte, Leder überzogenen Brüste wollte er berühren, ihr den langen Rock dem Körper reißen und hier mit ficken... doch er glaubte selbst nicht daran, dass sie das zulassen würde.

Noch immer hielt Toraria seine Hand. Sie ging los und zerrte ihn mit sich. Nicht einmal protestieren konnte er, sodass er nur knurren konnte: „Wohin bringst du mich?“ Hatte er immer noch nicht gelernt, dass es sinnlos war, dieser Frau fragen zu stellen? Sie würde nicht antworten.

Während sie ihn durch die Stadt zerrte, hörte Joshua einen Betrunkenen schreien: „Kuckt mal – Vampirella und ihr dämonischer Liebessklave.“ Daraufhin zerplatzte die Flasche in seiner Hand. Das war Joshuas Schuld. Retten tat er die Menschen, aber verarschen ließ er sich von Fremden nicht. Das hatte zu Lebzeiten zu lange akzeptiert.

Als sie stehen blieben, befanden sie sich plötzlich in der suburbanen Gegend, auf einem erhöhten Gebiet, von dem man aus man die Stadt sehen konnte.

„Würdest du mir endlich mal erklären, was hier abgeht!“ Ach ja, sie redete nicht. „Wenn du mich schon erführst, bitte, sag mir, was wir hier machen und was du von mir...“ Auf einmal kam ihm die Erleuchtung. Was auch immer die Stumme und ihr seltsamer Ehemann mit ihm vorgehabt hatten, der Plan war nicht aufgegangen und nun würden sie das tun, was jeder vernünftige Bewohner dieser Sphäre getan hätte – ihn erledigen.

Bestimmt sprang hinter irgendeinem Auto, irgendeinem Busch, der die Straße vom Gehsteig abgrenzte, irgendein verdammt starkes Wesen heraus und würde ihm ein Schwert in den Rücken reißen. Eventuell arbeiteten sie sogar mit Liam Warrick zusammen.

Joshua ging in Kampfstellung. „Ich warne dich, wenn das eine Falle ist, dann schlägt’s dreizehn. Ich bin stärker als ich aussehe.“

Erneut tauchte für eine Sekunde das Quasi-Lächeln auf. Doch diesmal schüttelte sie sogar den Kopf. Keine Falle?

Doch, aber eine andere.

Toraria hielt ihm ein Foto seiner Familie vor die Augen.
 

Beenie Plainacher zuckte zusammen.

Nur fünf Minuten, als er sich den Kampf mit dem Werleoparden lieferte, hatte sie die Spionage vernachlässigt, weil sie nicht ansehen konnte, wie sich der Messias der Hölle den jene verriet und verkaufte.

Sie fütterte Taurus gerade mit einem Menschenkopf, als sie es spürte. Für den Buchteil einer Sekunde hatte sie Aura eines Magiers gespürt.

Er hatte also Kontakt zu einem – noch dazu einem, der es schaffte seine Klassifizierung zu verbergen.

Verdammter Mist, war er nicht schon genug infiziert und manipuliert worden?

Plainacher erspähte, wie Joshua gerade von dem Magier, nein, von der Magierin weggezerrt wurde. Sie berührte ihn! Wenn sie nur wüsste, ob eine Berührung eines Magiers den Einfluss auf einen Dämon verstärkte, oder egal war.

„Arschgefickte Pferdescheiße, ich muss das verhindern!“, fluchte sie. Sie rief Taurus herbei, sprang auf seinen Rücken und los ging die Verfolgungsjagd.
 

Vor Jonathan konnte sie sich nicht verstecken, auch wenn sie ihre Kräfte noch so gut verschleierte – unter paranormalen Verwandten und Verschwägerten bestand nun mal eine besondere Verbindung. Er war sauer auf sie, weil sie ihn alleine gelassen hatte. Und da sie in der Nähe war, würde er sie zur Rede stellen.

Doch es erfreute ihn, dass sie den Messias bei sich zu haben schien.
 

Das Foto zeigte die ganze Familie – Vater, Mutter, Schwester und ihn. Er erinnerte sich an das Ereignis. Das Foto war drei Tage vor dem Tod von Joseph Nazara geschossen worden. Es zeigte die Familie in einem windigen Tag beim Picknick, der Fotograph war ein Fremder gewesen, der eine freundliche Geste vollbrachte. Maria Nazara hielt ihren Sonnenhut fest, den sie immer trug, auch wenn das Wetter gegen ein solches Accessoire sprach. In der anderen Hand hielt sie eine Zigarette, die Asche fiel auf ihr Kleid irgendeines bekannten Designers. Trotzdem war ihr Gesichtsausdruck fröhlich. Angela, damals noch wohlgenährter und kein von Alkohol getränktes Wrack, machte sich über einen Schokoladekuchen her, den sie mit den Händen aß, obwohl sie in der anderen Hand eine Gabel hielt. Und Joshua Nazara saß auf den Schultern von Joseph Nazara. Beide lachten, nur Josephs Gesicht war etwas verzerrt, weil Joshua sich an seinen Haaren festhielt. Doch seine Mimik widersprach dem autoritären Bild, das sein Sohn von ihm in Erinnerung hatte.

Doch ein Detail zerstörte das harmonische Bild – mit blutroter Schrift war in krakeligen Buchstaben das Wort: „JUNGFRAU“ über Marias und „OPFER“ über Josephs Körper geschrieben. Über Angela stand „VERDAMMTE“. Und über Joshua „SELBSTMÖRDER“. Als Überschrift diente ein fettes, schwarzes „MENSCHEN“.

„Woher hast du das?“, knurrte Joshua. „Es gab nur einen Abzug und den hat meine Mutter in ihrer Geldbörse aufbewahrt. Woher hast du das?“ Pause. „Weißt du, wo Maria ist?“ Doch das interessierte ihn eigentlich nicht.

Ihre Lippen zuckten – diesmal kam sie einem Lächeln näher. Doch es war kein angenehmes Lächeln.

„Sprich! Als Messias, befehle ich es dir! Sag mir, woher hast du das Foto? Und was zum Teufel bedeutet dieses Gekrakel über unseren Gesichtern?“

Daraufhin verdrehte Toraria die Augen. Mit der anderen Hand, zeigte sie auf die Schrift.

Okay, sie sprach nicht, also hatte sie ihre Aussage auf das Foto geschrieben. Doch die Worte waren sinnlos. In Joshuas verwirrten Kopf wusste er nicht, was er überhaupt interpretieren sollte. Die Worte im Zusammenhang mit dem Foto. Im Zusammenhang mit der Familie? Mit ihm? „Ich verstehe das nicht.“

Toraria zog das Foto von seinen Augen weg. „Warte...“ Zu spät. Sie zerriss es und warf die Fetzen in die Regenpfützen. Trotz des starken Niederschlags, war die Frau noch immer trocken. „Was sollte das eben?“, kreischte er. „Soll ich das berücksichtigen? Und, wieso hast du das gemacht? Verdammt noch mal, ich bin nicht so clever! Du musst mit mir sprechen, damit ich weiß, worauf du hinaus willst!“ Dabei hatte er sich mal als Menschen betrachtet, der zwischen den Zeilen lesen konnte.

Joshua hatte gar nicht gemerkt, dass seine Augen leicht tränten und seine Stimme einen hysterisch verweinten Unterton bekommen hatte. Dabei hatte ihn das alte Foto gar nicht berührt. Was zeigte es schon? Seine Familie, an einem Tag, an dem alles noch gut war. Sein Vater war noch am Leben, seine Schwester konnte Alkohol nicht einmal schreiben und seine Mutter war noch keine Egozentrikerin. Er wusste nicht, was Verluste und Folter sind. Er war noch am Leben. Er war noch kein göttliches Wesen mit einer schweren Bürde. Er war noch ein Mensch.

Und konnte es ihm nicht egal sein, dass dieses Bild plötzlich im Besitz einer unheimlichen Schönheit war, die ihn eventuell auf der Gegenseite stand, der er nicht vertrauen konnte, nicht vertrauen wollte, die ihn ausnutzen wollte, und nun einfach darauf pfiff, dass sie seine wunderbare Vergangenheit mit Füßen trat?

Verdammt, er hatte gar nicht gemerkt, wie viele Qualen der Schnappschuss in ihm erweckt hatte?

„Scheiße“, schluchzte er. „Toll, ich weine. Wolltest du das damit bezwecken?“

Irgendwie beschämt über sich selbst, senkte sie den Kopf.

„Wolltest du mir damit zeigen, dass ich immer zu viel Selbstmitleid mit mir hatte? Wolltest du mir zeigen, dass ich gar keinen Grund hatte mich umzubringen? Wolltest du mir damit zeigen, dass ich damit die falsche Seite gewählt habe? Pech gehabt, mein Suizid war nachvollziehbar. Ich habe gesehen wie Papa gestorben ist. Meine Schwester war Alkoholikerin, meine Mutter hat sich nur für sich interessiert und meine Freundin ist auch noch umgebracht worden. Ich war verzweifelt! Ich wusste keinen anderen Ausweg mehr.“

Sie sah wieder hoch und legte den Kopf schief.

„Ich meine das ernst!“ Pause, denn sein schluchzen wurde heftiger. „Willst du mir meinen Selbstmord vorwerfen? Ich wollte das doch nicht. Ich hab doch nicht gewusst, wie ich damit die Zukunft beeinflussen würde. Aber alle haben mich doch alleine gelassen.“ Er vergrub das Gesicht in seinen Händen. „Und wieso habe ich jetzt das Gefühl, alle alleine zu lassen?“

Toraria ging ein paar Schritte zu ihm heran. Sie wusste, was für eine Wirkung sie auf Dämonen hatte, wie sie diese Wesen manipulieren konnte. Und nun hatte sie Joshua dorthin getrieben, wo sie ihn haben wollte. Er hatte sich endlich eingestanden, dass er an die Seite geraten war, wo er nicht hingehörte.

Zum Glück konnte sie nicht sagen, warum es überhaupt zu dieser Fehlentscheidung gekommen war.

Sie zuckte zusammen, als ihr Joshua plötzlich um den Hals fiel. Schon lange hatte es niemand mehr gewagt, Toraria zu umarmen. Doch weil der Messias der Messias war, ließ sie es zu.

Und so schluchzte er sich an ihrer Schulter aus.

Bis ihn plötzlich etwas am Kragen packte und gewaltsam wegriss.
 

Sie hatte Angst vor dieser Frau. Sie kannte sich leider mit den Magiergeschlechtern nicht aus,, wusste nicht, wie weit die Fähigkeiten der einzelnen Familien ging und wie man sie unterscheiden konnte, doch die Art, wie diese Frau ihre Fähigkeiten unterdrückte, deutete darauf hin, dass sie verdammt mächtig sein musste.

Joshua durfte nicht länger bei dieser Gefahr verbleiben. Und jetzt umarmte er sich auch noch!

So unheimlich ihr die Person war, er musst weggezerrt werden. Außerdem verbat es ihr Stolz aus Angst vor einer Kreatur dieser Sphäre einer Gefahr zu aus dem Weg zu gehen.

Und packe sie ihn am Hals, stampfte einige Schritte nach hinten, schleifte ihn hinter sich her und schmiss ihn schließlich auf den Boden.

Benommen schaute Joshua durch den Tränenschleier und schon bevor er verschwunden war, erkannte er Beenie Plainacher. Die hatte ihm gerade noch gefehlt. „Verschwinde!“, fauchte er, setzte sich auf und wischte sich die Tränen weg.

„Vergiss es! Ich muss dich vor der Hure da retten!“ Sie zeigte über ihre Schulter zu Toraria Letherman, die die Arme hängen ließ und deren Gesicht wieder absolut ausdruckslos war. Joshua wunderte sich Plainacher hätte einen Eindruck machen müssen – spürte sie nicht die Stärke die von dieser Dämonin ausging? Der Leutnant konnte eine schwache Magerin wie sie mit einem Fingerschnippen auslöschen... glaubte er zumindest

„Weißt du was so ein verfickter Magier mit Dämonen anstellen kann? Alles wird an ihnen anders!“

Joshua verzog das Gesicht. Überzeugend war dieses Argument nun wirklich nicht. „Wie anders?“

„Keine Ahnung! Anders eben. Anderer Charakter, wäre möglich. Jedenfalls wird die Aura eines Dämons anders. Und deine ist schon längst von der infiziert worden.“

Aura... ein dummes Wort, Erik der Rote hatte es oft in den Mund genommen, aber Joshua hatte sich nie etwas darunter vorstellen können. Und auch jetzt würde dies wahrscheinlich nicht passieren. Plainachers Karten, die ihn zur Überzeugungen bringen sollten, lagen also schlecht. „Hau ab!“, fauchte er. „Ich scheue heute nicht mit dir einen Kampf auszutragen.“

Plainacher raufte sich die Haare. „Du hast echt keine Scheißahnung, was dir alles zustoßen kann? Sie... Sie könnte dich dazu bringen, deine Schwester umzubringen!“ Das versetzte ihm einen Stich ins Herz. „Weißte was, ich werde dich nie wieder damit nerven, einen beschissenen Menschenwurm umzubringen, wenn du hier und jetzt diese Hure da umbringst. Ehrlich.“

Sicher? Würde sie die harte Strafe für Befehlsverweigerung akzeptieren, nur damit der Messias der Messias blieb? Was war mit ihr los? Wieso wollte sie das zulassen?

Joshua sah zu Toraria. Kein Funke einer Regung. Das machte ihm Angst... „Das Angebot klingt verlockend, aber...“ Er spielte das Szenario noch einmal durch. Von Anfang an hatten Toraria und Jonathan Letherman ihn manipuliert, ihn belogen, in Gefahr gebracht. Und nun war diese Magierin verantwortlich einen tiefen Einblick in seine eigene Seele, die laut einer verrückten Dämonin ein Trick gewesen sein konnte, gar nicht seiner eigenen Gefühlswelt und Gedankenwelt entsprach.

„Sagt sie die Wahrheit?“, schrie er zu ihr. „Kannst du mich manipulieren?“

Keine Regung.
 

Jonathan spürte plötzlich die Anwesenheit zwei weiterer Dämonen – jener, der vor einer Woche beschwört worden war, und jene, die beschwört hatte.

Er ging schneller.

Zum Glück hatte Pfeil und Bogen mit sich genommen.
 

Joshua schob Plainacher bei Seite. Sie bemerkte die Charakterveränderung. Er war selbstsicherer geworden. Kein großes Drama, aber sie wusste nicht, was sich tief unter den äußeren Erscheinungen verbergen konnte.

Er schritt zu Toraria. Sie hob die Augen – von unten heraufschauend wirkte sie noch unheimlicher. Unheimlicher als es ein Dämon je sein konnte.

„Wie viel Wahrheit steckt in ihrer Aussage? Kannst du mich manipulieren?“

Sie erkannte seine Verzweiflung. Da hatte sie ihn endlich auf den richtigen Weg geführt und nun kam diese dumme Dämonin, die zu wenig wusste, dazwischen und zerstörte alles. Ja, sie hatte Joshua verändert – doch der Einfluss eines Magiers auf einen Höllenbewohners, der in dieser Sphäre geboren worden war, war selbst für sie begrenzt. Sie konnte sie zum Unterdrücken und Anspornen ihrer Gefühle bringen, konnte sie verdrängte Erinnerungen sehen lassen, konnte verdrängte Eigenschaften zum Vorschein bringen lassen. Mehr nicht, und das hatte sie getan. Sie hatte Joshua selbstsicherer gemacht und ihn seine Verzweiflung verstehen lassen. Mehr nicht. Ihn nicht keine Flausen ins Ohr gesetzt, keine falschen Erinnerungen eingepflanzt, ihn nicht sensibler gemacht, ihn nicht gegen die Hölle aufgebracht. Sie hatte ihn eher... verbessert.

Doch das alles würde sie nie erklären. Sie sagte nur: „Nein.“

Und Joshua glaubte ihr. Warum auch immer. Wahrscheinlich, weil nur wahrlich ernste Gründe eine Frau, die nicht sprach, zum reden bewegen konnte.

Als Plainacher dies erkannte, brodelte die Wut in ihr.

Was zum Teufel ging in diesem Kerl vor, dass er einer Magierin mehr traute, als ihr, der Dämonin, dieselbe Existenz, wie er. Woher und wie lange kannte er sie? Warum redeten sie so vertraut miteinander? Verdammt, waren die beiden...

Sie ballte die Fäuste, ihre Augen fingen an zu glühen und die Erde begann zu beben. Die Fensterscheiben der Autos zersprangen und Ratten rannten ängstlich aus ihren Verstecken. Jetzt würden sie die wahre Kraft der Beenie Plainacher kennen lernen.

„DU VERDAMMTE HURE!“, schrie sie aus voller Kehle.

Taurus kam aus seinem Versteck. Mit einem schnaufen packte er Joshua an der Kehle und hob ihn hoch. Er drückte zu, aber nicht so fest, dass Joshua nicht mehr atmen konnte. Mit einem Satz sprang er hinter Beenie Plainacher.

Toraria senkte die Augen.

„Ein dummes Wort und der Scheißkerl ist tot!“ Sie konnte nicht ahnen, dass die Magierin wusste, um wen es sich bei diesem Dämonen handelte und sie deswegen nie ihre Drohung wahr machen würde. Sie konnte auch nicht ahnen, dass Toraria die Drohung so oder so alles andere als ernst nahm.

Plainacher riss sich mehre Piercings aus dem Ohr. „Wir tragen das aus.“ Die acht Ringe wandelten sich zu acht Stahlpfeilen. „Hier und jetzt!“ Sie schmiss die Pfeile.

Die Magerin wich nicht zur Seite.

Toraria hätte sich selbst verteidigen können. Brauchte sie aber nicht. Jedes einzelne Geschoss prallte an einem vorbeizischenden Holzpfeil ab.

„Was ist denn hier los!?“, fragte Jonathan, der über ein Auto sprang und dann schwer das Gleichgewicht wieder finden sollte.

Plainacher hätte über diese Kreatur fast zu lachen angefangen. Ein Blick genügte und man wusste, der Typ war eine Witzfigur. Schlaksig und äußerst untrainiert mit schlechter Kondition, und närrisch klingender Stimme. Und noch dazu war er ein Alb. Es konnte zwar etwas Gutes sein, dass dieser Kerl jedem anmutigen Bild entsprach, dass sie sich über die Jahre von Alben gemacht hatte, aber er konnte nicht so sehr seinem Klischee widersprechen, dass er ein pazifistisches, zum Kämpfen ungeeignetes Wesen war, das sich mehr für Natur und friedvolle Magie interessierte, als ein Krieger war. Immerhin hatte er die zu seinem Typ passenden, langen blonden Haare und die Sitzohren.

Sie warf wieder drei spitze Pfeile auf ihn und in letzter Sekunde wich er mit einer ungeschickten Bewegung aus.

„Du...“, fauchte er. „Du bist diese Dämonin, die das Massaker angerichtet hat.“

Kurz danach fiel sein Blick auf den Minotaurus, der in seiner Kralle die Kehle des Messias hielt, während Joshua versuchte die Finger vergebens zu lösen. Seine Hartnäckigkeit von zuvor hatte nachgelassen, denn vom Dampf, den der Dämon aus der Nase blies, wurde ihm schlecht. Sein Blickfeld trübte sich.

„Fuck!“, schrie Jonathan, während er wieder den Pfeil auswich. „Was hast du mit dem Messias vor?“

Toraria schlug sich auf die Stirn.

Joshua hörte in dem Moment auf sich gegen die Klauen des Minotaurus zu wehren. Na toll, spätestens jetzt wusste die Hölle, dass er gegen die Auflagen verstoßen hatte.

Plainacher stoppte ihre Angriffe. Bitte? Er wusste davon? Woher zum Teufel wusste der mickrige Alb das?

Und warum waren seine Reflexe so gut, dass er ihren Geschossen ausweichen konnte?

Der Augenblick der Überraschung war ein Fehler. Jetzt beschoss er sie. Plainacher spürte plötzlich einen Stich im Oberarm. Laut schrie sie auf und ging zu Boden. Ein Pfeil hatte ihren Oberarm durchbohrt.

„Du hättest den Nahkampf wählen sollen“, grinste Jonathan. „Keiner schlägt mich in Schießduellen.“

Plainacher brach den Pfeil entzwei und zog die beiden Teile aus ihrem Arm. Trotz der starken Schmerzen lächelte sie. Dann wusste sie ja, wie sie nun gegen ihn kämpfen musste.

Doch erstmals musste sie an ihn herankommen. Daran scheiterte sie. Sie dachte, unheimlich schnell zu sein, doch kaum an ihn herangekommen, traf sie der nächste Pfeil. Diesmal in den Bauch.

Mitten im Schritt hielt sie an und ging zu Boden.

„Du verficktes Arschloch!“, hörte man unter Schmerzensschreien heraus. „Kannst du nicht fair kämpfen?“

Jonathan grinste. „Ja klar, wenn Dämonen unterlegen sind, reden sie gleich von Unfairness. Typisch.“ Er spannte wieder einen Pfeil. „Sag Ciao zu deinem Sklaven.“ Er zielte auf Taurus.

Plainacher zog den Pfeil aus ihrem Bauch, und setzte sich auf. Versuchte aufzustehen und sich auf den Beinen zu halten, doch sofort brach sie wieder zusammen. Die Wunde blutete stark. „Okay. Ich lass Joshua frei, wenn du uns am Leben lässt.“

„Du würdest ihn nie umbringen“, sagte Jonathan und schoss.

Toraira verzog das Gesicht. Immerhin schätzten sie die Dämonin gleich ein.

Der Pfeil traf den Minotaurus an der Stirn. Doch außer einem kleinen Kratzer führte er zu keinem Ergebnis. Am harten Schädel prallte er ab. Und dies ließ ihn den Befehl, Joshua gefangen zu halten, vergessen. Wütend schnaufte er, er wünsche gewaltsame Rache. Wie einen Müllsack schmiss er Joshua zu Boden. Er stürmte auf den Alb und die Magierin zu.

Plainacher grinste. Ja, Taurus würde sie rächen.

Nichts da.

Mitten im Lauf fror seine Bewegung ein.

Jonathan grinste breit. „Dachte schon, du würdest gar nichts machen“, sprach er zu seiner Frau.

Plainacher schnaufte. Sie machte doch gar nichts. Sie stand ohne Mimik regungslos in der Gegend herum, wie zuvor. Aber trotzdem blockierte sie die Bewegungsfähigkeit ihres Taurus.

Sie quälte sich auf ihre Beine. Obwohl der Alb wieder den Bogen spannte, ließ er sie aufstehen. Seine sadistische Ader kam wohl zu tage, er wollte ihre Schmerzen sehen, ehe er ihr das Licht ausblies. Doch das würde sie nicht zulassen. Mit letzter Kraft konzentrierte sie sich, wich dem Pfeil aus, und trat den Alb in den Bauch.

Er krümmte sich. Sie hätte wirklich von Anfang auf einen Nahkampf setzen müssen. Ursprünglich wollte sie ihm den Schädel spalten, doch die Wunde ließ nur einen Kratzer im Gesicht zu. Jonathan packte ihren Arm und schmiss sie zu Boden. Auf einmal schmeckte sie ihr eigenes Blut im Mund. Zitternd lag sie auf dem Boden. Nie hätte sie vermutet, dass dieser Alb dermaßen kräftig und kampferfahren war.

Und die Magierin hier noch immer Taurus in Schach.

Langsam verging die Übelkeit, Joshua durch den stinkenden Atem des Minotaurus erlitten hatte, doch sein Blickfeld war noch immer getrübt. Er hätte wirklich vermutet, dass diese Irre ihn umbrachte. Messias hin oder her, er traute dieser komischen Frau alles zu.

Er setzte sich auf, hielt sich den Kopf und betrachtete verschwommen das Szenario.

„Erledige das Vieh!“, riet Jonathan seiner Frau.

Toraira holte tief Luft. Sie ließ sich nichts von ihm befehlen. Doch da ihr das aufwandslose In-Schach-Halten des Viehs zu langweilig wurde, befolgte sie den Rat. Genüsslich beobachtete sie, wie der Minotaurus unter Qualen aufschrie und in die Knie ging. Nach einander im Abstand von zehn Sekunden brach je einen seiner Knochen. Bei den Zehen hatte sie begonnen.

Plainacher fing an zu heulen. Sie hielt die Einschusswunde am Bauch. Irgendwie war sie größer geworden. Sie glaubte ihre eigenen Innereien zu spüren, dabei handelte sich nur um ihr Blut.

Den Kopf ein wenig hebend, spuckte sie das Blut. Aus ihrer Lippe drehte sie die Piercings heraus, formte sie zu einer Metallpeitsche. Und dies veranlasste ihre Wunde nur mehr zu schmerzen.

Jonathan spannte den Bogen und zielte auf ihre Stirn. „Zwei Treffen und eine Bauchlandung und du bis kampfunfähig. Hat man wirklich nur einen schlichten Infanteristen beauftragt, den Messias zu bewachen?“

„Ich bin Leutnant!“, keuchte Plainacher, schwang die Peitsche und traf den Alb im Gesicht. Außer einem tiefen Kratzer und einem kurzen Zucken zu Seite, reagierte er nicht. Plainacher schluchzte. Seit wann waren Alben so robust?

Mit panischen Augen sah sie auf die Pfeilspitze. Das war ihr Ende. Ermordet von einem Alb. Und sie wollte nicht sterben. Für sie war das Leben nach diesem endgültig zu Ende. Weg würde sie sein, für immer verschwunden und vergessen.

Sie wollte nicht sterben, sie hatte Angst vorm Sterben.

„Die Ausbildung ist auch nicht mehr das, was sie mal war“, keuchte Jonathan.

Toraria hatte mittlerweile die Wirbelsäule und die Rippen des Minotaurus gebrochen.

Jonathan ließ den Pfeil los. Doch er traf Plainacher nicht an der Stirn. Sondern Joshua am Rücken.

Joshua hatte diesen Kampf durch das getrübte Blickfeld anders mitbekommen. Er sah Plainachers schwere Verletzung nicht, nur, dass sie zu Boden gegangen war. Er sah sie mit der Peitsche ausholen. Und da auch er dem Alb nicht als so robust einschätzte, den Schlag als belanglos zu empfinden, vermutete sie seine Niederlage. Er sah es in seiner Pflicht einen zweien Schlag zu verhindern. Deswegen hatte er sich auf Plainacher gestürzt. Ihre Arme zu Boden gedrückt, und seine Knie auf ihre pressend, dachte er würde sie abhalten, doch in Wahrheit beschützte er sie.

Plainachers Tränen der Angst und Schmerz wandelten sich plötzlich in Freudentränen. Hatte der Messias ihr das Leben gerettet? Doch eine Antwort konnte sie sich nicht geben, denn sie wurde bewusstlos.

„Was sollte das?“, keuchte Joshua. „Ich wollte euch helfen und ihr...“

„SO EINE SCHEISSE!“, schrie Jonathan, ohne auf Joshua zu hören.

Vor Schreck ließ Toraria den Minotaurus frei, dessen Hals sie nur mehr brechen musste, um ihn zu erledigen. Sie war nicht minder perplex, als sie den Pfeil im Rücken des Messias sah, auch wenn man es ihr nicht ansah.

Mit einem Keuchen brach der Minotaurus zusammen.

„Du bescheuerter...“, konnte Joshua nur mehr sagen. Dann verlor das Bewusstsein. Er lag auf Plainacher, die ohnmächtig mit den Fingern zuckte.

„Was hast du da getan?“, schrie Jonathan den Bewusstlosen an. „Hast du ihr gerade das Leben gerettet? Du bist doch auf unserer Seite!“ Er schaute zu Toraria. „Du hast ihn doch auf unsere Seite gezogen?“

Toraria nickte, für ihren Kaliber, hastig.

„Wieso baut er dann so eine Scheiße?“ Er packte den Bogen weg, holte stattdessen eine Kräutermixtur aus seiner Hosentasche. Schnell riss er den Pfeil aus Joshuas Rücken, nur knapp hatte er die Wirbelsäule verfehlt, und goss den ganzen Inhalt auf die Wunde. Er krümmte sich, und verzog das Gesicht, doch das Bewusstsein erlangte er nicht wieder.

„Geheilt ist er nicht, aber das verhindert Schlimmeres für’s erste.“ Toraria reagierte nicht auf diese Information, denn sie wusste, wofür diese Mixtur gut war.

Jonathan legte Joshuas Arm um seine Schulter, hielt ihn an der Hüfte und hob ihn hoch. „Wir bringen ihn zu uns.“ Seine Gattin nickte.

Er wollte loshumpeln, ehe er sah, wie sich die Dämonin und der Minotaurus plötzlich unter Schmerzen im Regenwasser krümmten und wanden.

„HÖR AUF DAMIT!“, kreischte er Toraria an. Sie ließ nur nach, doch ein Ende der Qualen war für die beiden noch nicht in Sicht.

„Das können wir uns nicht leisten!“, fauchte er. „Er hat dieser niederen Kreatur das Leben gerettet. Wir haben keine Ahnung, wie sie zueinander stehen, vielleicht sind sie Freunde oder was weiß ich, was... aber man rettet niemanden das Leben, der einem etwas bedeutete.“ In dieser Stimme lag ein Vorwurf. Wahrscheinlich kam die Erinnerung daran zurück, dass Toraria ihn einst im Stich gelassen hatte, als er einem Stamm Dunkelalben hätte geopfert werden sollen, und sie, nachdem sie ihr eigenes Leben gerettet hatte, einfach verschwunden war. „Wenn wir sie nun umbringen, haben wir es uns bei ihm verscherzt.“

Torarias Augen fragten: „Warum hat sie dann sein Leben bedroht, wenn sie befreundet waren?“

Jonathan war es ungewohnt von seiner Frau, dass sie auf der Leitung stand, doch er sagte: „Weil wir nicht wissen sollten, dass sie befreundet sind. Jetzt hör auf mit dem Scheiß, erlass den beiden ihr Leid und lass sie erst Recht am Leben. Der Messias hasst uns sonst wieder und wir werden nie unseren Plan in die Tat umsetzen können.“

Sie war alles andere als überzeugt von seiner Theorie. Nachdem, was sie gesehen hatte, konnte der Messias die Frau nicht leiden – dass er ihr Leben gerettet hatte, musste also auf einem Missverständnis basieren. Doch damit ihr lieber Gatte endlich zu nörgeln aufhörte, erlöste sie den Minotaurus und die Dämonin von dem Druck, der auf ihnen lastete.

Plainacher hatte das Bewusstsein wieder erlangt. Durch einen Tränenschleier sah sie zu den beiden hoch.

„Heute hast du noch Glück gehabt“, fauchte der Alb. „Hier.“ Er griff in seine Jackentasche und warf neben Plainacher ein selbst erfundenes Heilserum, welches er noch nicht getestet hatte. „Damit wirst du überleben.“

Toraria verdrehte die Augen. Dieses Mittel hätte nun wirklich nicht sein müssen. Doch sie mischte sich nicht ein.

Es war zum Glück nicht weit zu den beiden nach Hause. Jonathan ging los, watete durch die Regen, der Regen peitsche unangenehm in sein Gesicht. Seine Narbe, die im Kampf seit langem wieder Ruhe gegeben, fing wieder zu bluten an. dies erschwerte die Last des Mannes auf seinen Schultern. Wenn seine Frau ihn wenigstens vor dem Niederschlag schützen würde. Doch er hielt durch.

Toraria schritt langsam hinter ihrem Gatten hinterher. Mal wieder hatte sie heute fast alles erreicht, was sie gewollt hatte.
 

Liam Warrick schaute auf die Adresse, die ihn sein Händler per SMS geschickt hatte und vergleich sie mit dem Straßenschild. Beides stimmte überein. Er hatte geglaubt, dass die Gegend, wo er immer auf die Jagd nach Dämonen ging, sei der schlimmste und verkommenste Ort des ganzen Bundesstaates, doch hatte er sich geirrt. Hier war es noch schlimmer.

Hier trieben sich zwar auch Nutten, Penner, Junkies und anderes Gewürm herum, doch diese Individuen waren groteske Karikaturen ihrer selbst. Ohne Scham spritzen sich die Junkies Heroin auf offener Straße in die Adern. Ihre Gesichter waren eingefallen, von Krankheiten und Infektionen geprägt, sie hatten leblose Augen, ihre Kleidung war entweder so schmutzig, dass man die ursprüngliche Farbe nicht mehr erkennen konnte, oder so zerfetzt, dass sie fast nackt waren. Im Dämonenviertel, wie er es zu nennen pflegte, traute man den Drogensüchtigen irgendwie noch zu, runter zu kommen, doch hier schien jede Hoffnung verloren. Ähnliches konnte man von Nutten sagen. Dort wirkten die jungen Damen wie Ausreißerinnen aus reichem Hause, die mit ihren Job gegen ihre Eltern rebellierten, oder zumindest Edelnutten waren und von ihrem Job leben konnten– hier erkannte man ihre letzte Chance an Geld zu kommen. Selbst oft drogenabhängig, verprügelt, gewürgt und verseucht von Krankheiten, wirkte keine, als ob sie einmal schön gewesen wäre. Hier gab es auch viele Exemplare, die dem Paraphilen gefallen würden. Frauen über sechzig standen neben Damen in Rollstühlen, blinden oder stummen Frauen, Frauen, die schon gefesselt dastanden um ihre SM-Bereitschaft zu demonstrieren. Viele waren Mädchen – und mit Mädchen meinte er Nutten unter dreizehn. Auch gab es hier Transvestiten und männliche Prostituierte. Auch sie zeugten von einigen Abartigkeiten.

Liam fragte sich, wie sein Händler nur auf so eine widerliche Gegend gekommen war? Immer suchte er sich Treffpunkte in miesen Gegenden aus. War das eine Ironie, weil er immer den Snob vorspielte, der die Augen vor dem Elend verschloss, was aber nur die Medien gerne betonten? Dieses Bild entsprach nämlich nicht der Wahrheit. Doch er musste zugeben, dass diese Ortschaft ihm zu viel war.

Hoffentlich würde der Mistkerl bald kommen – schon zum dritten Mal wollte man ihm Stoff andrehen, Stoff abkaufen, oder man verlangte, dass er gefälligst Sex kaufen möge. Oder seinen Hintern verkauen. Liam hatte große Mühe diese widerlichen Individuen nicht mit Gewalt abzuwimmeln.

Fünfzehn Minuten stand er alleine im Regen ohne Schirm, bis der Herr mit der Melone und dem Spazierstock, der eine riesigen Rucksack schulterte, endlich auf der Bildfläche erschien. Er trug auch keinen Regelschirm bei sich. „Guten Abend, der Herr“, sprach er. „Darf ich Ihnen eine Zigarette anbieten?“

Liam überlegte und nahm an, obwohl er eigentlich Nichtraucher war. Doch diese Gegend provozierte regelrecht zum Nikotingenuss.

„Handeln wir diesmal auf offener Straße, oder wollen Sie in ein Gebäude gehen?“

„Mein lieber Junge, wie Sie vielleicht schon mitbekommen haben, ist hier keine Gegend, wo ein Dach über dem Kopf Schutz gewährt, sondern eher ein Todesurteil verkörpert.“ Er zündete seine Zigarette an und gab Liam Feuer, der kurz danach zu husten begann. „Und wahrlich können sie darauf vertrauen, dass diese Gestalten hier alles gesehen haben und sich nicht dafür interessieren, welch illegalen Tätigkeiten das Gegenüber angeht, solange es einen nicht bedroht.“

„Haben Sie deswegen diese beschissene Gegend gewählt?“

„Ihr sprecht mit aus der Seele, werter Herr Warrick.“

Liam hasste die Art, wie dieser Mann sich ausdrückte. Die aufgesetzte Shakespeare-Sprache gepaart mit einem anscheinend gespielten deutschen Akzent ging ihm auf die Nerven, doch da der Kerl die einzige Möglichkeit war an Waffen zu kommen, äußerte er seinen Ärger nicht.

Er wunderte sich immer wieder, wie dieser gepflegt wirkende Typ an solche Waffen kam, mit denen man Dämonen bezwingen konnte. Auch wusste er weder Namen, noch Tätigkeit. Fragen darüber ging er aus dem weg. Doch da er der einzige Händler war, der solche Waffen verkaufte, musste er ihm glauben.

„Ich hörte, Ihr seid angeklagt worden, aufgrund uncharmantem Benehmens.“

Liam verdrehe die Augen. Er hasste es an diese schlechte Publicity erinnert zu werden. Noch dazu, weil er die wahren Beweggründe für sein Verhalten verheimlichen musste. Dass er einen schlichten Menschen verprügelt hatte, weil er ihn für einen Vampir gehalten hatte, hatte er als Trunkenheitsdelikt darstellen müssen. Noch dazu war sein Anwalt kürzlich gestorben und er hatte sich an den Versager wenden müssen, der Liams Vater Nikolas zwar einige Male aus der Scheiße gezogen hatte, aber nun Alkoholiker war. Es gab keine Chance den Prozess zu gewinnen. Ein hohes Schmerzensgeld würde er zahlen müssen, wenn er nicht in den Knast wollte.

„Wir sollten Klatschspaltenthemen bei Seite lassen und lieber über das reden, wegen dem wir uns verabredet haben“, drängte er.

„Wie der Herr wünscht, ich wollte nur persönlicheres ansprechen, denn schließlich kaufen Sie seit Jahren bei mir Ihre Kampfapparaturen, doch sprachen nie über private Themen.“

Liam schnaufte. Wer verriet hier nicht einmal seinen Namen? „Was bieten Sie mir heute an?“

Der Mann grinste und sein Gesicht wurde noch faltiger. Seine Augen waren vom Schatten der Melone verdeckt, doch Liam glaubte ein kurzes, rotes Glühen gesehen zu haben. „Oh, mein Angebot ist wieder vorzüglich. Eine neuartige Armbrust kann ich Ihnen vorstellen, sichere Quellen sagen, sie soll die neueste Entwicklung aus der Waffenschmiede der Hölle sein.“ Jene hatte er aus dem Rucksack geholt und präsentierte sie stolz.

Unzufrieden verzog Liam das Gesicht. „Ich habe genug zum Angreifen. Geben sie mir lieber etwas, das mich schützt.“

„Ist Ihr altes Schutzschild etwa schon zu Bruch gegangen? Erst letzten Monat kauften Sie ein neues bei mir.“

„Irgendein riesiges Vieh, das mir den Hals umdrehen wollte, hat es zerkratzt.“

„Ja, aus eigener Erfahrung spreche ich, dass man manche Dämonen nicht unterschätzen soll, auch wenn das menschliche Auge sie als zahmes Kätzchen sieht.“ Dauernd machte der Kerl Anspielungen darauf, dass er schon viele Kontakte mit Dämonen gehabt hatte, doch wenn man nachfragte, gab er keine Antworten, also unterließ Liam es diesmal. Auch wenn die Neugier in ihm brannte. Er stellte sich vor, dass dieser Kerl selbst einmal ein Kämpfer gegen die paranormale Übermacht war, doch wahrscheinlich war dies nur Wunschdenken.

Der Mann griff in seinen Rucksack und reichte ihm eine achteckige, dünne Box, die man mit einem Gurt um die Brust band. „Alles prallt daran ab und nichts kann einem damit mehr schaden, der haptische Sinn wird nahezu ausgeschaltet, doch Vorsicht ist geboten, denn den Betätigungskopf muss man offen an der Brust tragen, und er sich leicht als Zielscheibe enttarnt.“

„Ich werde darüber einen Pullover anziehen.“

„Dann geht dieser aber kaputt.“

„Ist doch scheißegal, solange ich nicht kaputt gehe.“

„Die Weisheit eines jungen Mannes... so unreif wie ein junger Baum. Doch ich will euch nicht beleidigen.“ Hatte er das nicht gerade?! „Kann ich euch wirklich nicht für die wunderbare Armbrust beigeistern?“

„Nein. Mehr als den Schutzschild brauche ich nicht. Aber geben Sie mir sicherheitshalber zwei davon.“ Der Mann kramte in seinem Rucksack und reichte ein zweites Exemplar. „Und ich habe noch eine Frage. Was halten sie von diesen beiden Gegenständen?“ Liam übergab seinem Waffenhändler eine Wasserpistole und ein Taschenmesser, die sogleich gemustert wurden.

„Sehr interessante Waffen, nicht für jedermann zu handhaben, und für das menschliche Auge nicht einmal als gefährliche Gegenstände zu identifizieren.“

„Spätestens wenn man mit der Wasserpistole angeschossen wird, weiß man, dass es sich um eine echte Pistole handelt.“

„Sie fasst sehr spezielle Patronen, die direkt vom obersten Waffenschmied hergestellt wurden. Sie scheint selbst von jenem hergestellt worden zu sein, und ihren wahren Besitzer kenn sie nicht verletzten. Selbiges gilt für das Schwert. Woher habt ihr diese Gerätschaften?“

„Einem Dämonen abgenommen.“ Pause. „Der, den ich töten sollte.“

„Oh, dieser Joshua Nazara. Wer hätte gedacht, dass dieser kleine Frechdachs über solche Waffen verfügt. Habt ihr nun endlich zur Strecke gebracht.“

Liam schüttelte etwas blamiert de Kopf. „Der Wurm hat einen Schutzengel. Oder besser, Schutzdämon.“

„Ja, sie treten eben oft in Gruppen auf.“ Pause. „Doch unser Deal gilt noch immer – solange Ihr Joshua Nazara das Leben schwer macht und ihn schlussendlich zerstört und tötet, müsst ihr nichts für die Waffen zahlen.“

Liam nickte. Eigentlich war dies ein Grund, für immer diesen Dämon zu jagen, und nie zu erledigen, denn für nichts anderes konnte man mehr Geld ausgeben, als für diese Waffen. 10000 Dollar für eine Pistole war nur die Spitze des Eisberges. Eigentlich hasste er Auftragsarbeiten ins jeglicher Hinsicht, doch wenn er sich dadurch viel Geld sparen konnte, akzeptierte er es, Beauftragter zu sein. Und da er mittlerweile dieses niedere Leben, das nun gar mit ihm verhandeln wollte, wegen seiner ungerechtfertigten Arroganz hasste, wollte er ihn so schnell wie möglich umbringen. Dieser Knilch war eine Witzfigur. Es war wirklich nicht schade, wenn er starb.

„Wieso hassen Sie diesen Dämon so sehr?“

Dies war eine dieser Fragen, die der Waffenhändler eigentlich nicht beantwortete, doch nun stellte er gar eine Gegenfrage: „Warum hasst ihr ihn?“

Liam Warrick seufzte: „Nicht nur, weil er paranormal ist, sondern weil er ein unfähiger Trottel ist.“

„Ihr denkt meine Gedanken. Ich unterstreiche Ihre Vorstellung nicht, dass paranormale Lebensformen kein Recht auf Existenz haben, doch ich bestätige, dass diese Kreatur zu unfähig für dieses Recht ist.“

Er fragte sich, warum der Typ ihn Waffen verkaufte, mit denen er für eine Einstellung kämpfte, die der Waffenhändler nicht vertrat. Eine Antwort würde er nicht bekommen, deswegen fragte Liam nicht. Wahrscheinlich gehörte er zu der Sorte von Geschäftsmännern, die privates und geschäftliches, sich und den Kunden streng voneinander trennten.

Liam packte die Schutzschilder, die Wasserpistole und das Taschenmesser in einen Plastiksack.

„Ich bedanke mich“, sprach der Waffenhändler.

„Nein, ich danke. Und wen ich wieder etwas brauche, melde ich mich wieder per SMS.“

„Ich freue mich darauf, wieder mit Ihnen Geschäfte machen zu können. Auf Wiedersehen.“

„Wiedersehen.
 

Sie wollten aussteigen, wenn er nicht bereit war, den Musikstil zu verändern.

Verdammte Bastarde. Dabei waren auch sie von jener Sorte Bekannte gewesen, die sich für Leonards Musikidee begeistern konnten. Und nun fielen auch sie ihm in den Rücken, diese Dreckskerle.

Francis Lauder und Vincent Warner hatte er einst seine besten Freunde genannt. Sie waren zwar zwei beziehungsweise drei Jahre älter als er, doch bezüglich ihrer Lebenseinstellung und Weltanschauung waren sie Seelenverwandte. Wie begeistert sie sich von seiner revolutionären Idee gezeigt hatten, und nur zu gut erinnerte er sich, wie sie geschworen hatten diese sperrige Musik bis zu ihrem Lebensende durchzuziehen, egal, ob man darauf mit Begeisterung oder Ablehnung reagieren würde. Doch nun, wo sich der erwartete Erfolg nicht eingestellt hatte, wollten sie den Kopf in den Sand stecken.

Leonard wusste auch, wer die treibende Kraft hinter dem Verrat war. Der dreißigjährige Valentin Jackson, der nur in die Band gekommen war, weil er als einziger Bekannter Schlagzeug spielen konnte. Von Anfang an hatte sich nicht mit der experimentellen Musik anfreunden können. Und nun hatte er sein Netz aus Intrigen gesponnen und Francis und Vincent auf seine Seite gezogen.

Frustriert sperrte er die Wohnungstür auf. Er lebte noch bei seiner Mutter, weil er sich keine eigene Wohnung leisten konnte. Er hasste dieses Apartment. Er wollte in jenes zurück, wo er noch gelebt hatte, als seine Eltern noch verheiratet waren, doch dieses hatte verlassen werden müssen, da seine Mutter alleine sich die teure Wohnung nicht mehr leisten konnte.

Verdammt, warum konnte er in seinem Leben nicht ein bisschen Glück haben?

Seine Mutter würde bestimmt gleich aufwachen, da das Schlafzimmer der Eingangstür so nahe war. Oft kam er nach Mitternacht nach Hause, doch gewöhnt hatte sich noch nicht daran.

Seit der Scheidung war seine Mutter unerträglich geworden. Erst war Leonard froh gewesen, dass sie sich für ihn interessiert hatte, doch sie hatte sich in eine Klette verwandelt, die ihn anschrie, wenn sie zu besorgt war. Und das, obwohl er schon zweiundzwanzig war.

Gott, ich will nur ein wenig Glück, murmelte er.

„Du wendest dich an den falschen.“

Leonard zuckte zusammen. Das war die Stimme des Sektentypen. War der Fanatiker ihm bis nach Hause gefolgt?

„Hau ab, sonst rufe ich die Polizei.“

„Mich kann diese Menschenexekutive nicht verjagen.“

Er spürte einen heißen Luftzug auf seinem Nacken. Überhaupt war die Stimme näher und nahbarer als zuletzt. Er drehte sich um.

Die Stimme hatte nun nicht nur eine Fratze, sondern einen Körper.

Vor ihm stand ein zwei Meter großer Mann in einer braunen Kutte, mit blasser Haut, langen, schwarzen Haaren und Eckzähnen, die so scharf waren, dass sie einen Körper spielend zerreißen konnten. Seine Augen leuchteten grünlich. Ihn umgab eine unheimliche Aura, kein Licht schien ihm nahe zu kommen.

Leonard versuchte ruhig zu bleiben: „Schicke Verkleidung.“

„Das ist keine Verkleidung“, sprach der Mann ruhig, doch er redete Angst einflößend. „Du hast eine besondere Begabung.“

„Ja, ich erkenne Fanatiker auf hundert Meter Entfernung. Es tut mit Leid, aber ich habe kein Interesse am vollkommenen Glück, das ich nur durch Selbstmord erreiche.“ Er wollte die Türe endlich öffnen, doch plötzlich konnte er den Hebel nicht mehr herunterdrücken. Klemmte das Ding also schon wieder? Diese verdammte Bruchbude.

„Du hast die seltene Gabe zu sehen, wie wir wirklich aussehen. Du bist abnormal.“

Leonard verdrehte die Augen. Toll, jetzt bezeichneten ihn auch schon Sektenmitglieder als abnormal.

„Dafür würde ich dich gerne belohnen.“

„Sie können mir helfen die Türe zu öffnen, wenn Sie Lust haben.“

„Wenn das dein Herzenswunsch wäre, würde ich es tun. Doch in Wahrheit willst du gar nicht hinein. Zu deiner klammernden Mutter und deinem unverlässlichem Bruder.“

Leonard hörte auf an der Türschnalle zu rütteln. Woher wusste dieser Irre das?

„Dein größter Wunsch ist es doch, dass deine Musik die Masse berührt, dass du für dein Werk geschätzt wirst. Du wünscht dir Treue, Verlässlichkeit, Loyalität, ein kleines bisschen Brüderlichkeit und Liebe.“

Er hatte zwar viel mit sich selbst gesprochen, doch diese Details, so wie dieser Mann sie aufzählte, hatte er nie ausgeplaudert. Ihn amüsierte das Schweigen Leonards und er fing hämisch an zu grinsen. Doch Leonard musste zugeben, ihm gefiel dieses Geräusch.

„Wer sind Sie?“, schaffte er schließlich aus sich herauszuquetschen.

„Mein Name tut nichts zur Sache. Es ist nur wichtig, dass ich der bin, der deine Wünsche in Erfüllung bringen kann.“ Er griff in eine Falte seiner Kutte. Was er heraus zog konnte Leonard nicht sehen, denn er versteckte es in seiner Faust. Zwischen seinen Fingern aber strahlte ein grünes Licht. „Dank diesem Stein werden all deine Herzenswünsche in Erfüllung gehen.“

Das Licht faszinierte Leonard. Dadurch, gepaart mit dieser ruhigen, allerdings leicht unheimlichen Stimme, wurde er in einen Trancezustand, der ihm irgendwie den klaren Verstand raubte, versetzt. Ohne genau nachzudenken, berührte er den Stein.

Binnen zehn Sekunden rasten hunderte Bilder von Vermögen, Frauen und tobenden Fans an seinen Augen vorbei. Doch irgendwie konnte er sich von dem Stein lösen. Die Realität war wieder da. Doch die Stimme des Mannes war noch immer hypnotisierend.

„Hat dir gefallen, was du gesehen hast?“

Leonard nickte. „Wie haben sie das gemacht?“

„Magie.“ Der Man schnipste mit den Fingern und auf einmal ging ein Windstoß. Irgendwie glaubte Leonard den Verstand zu verlieren – im Flur gab es kein Fenster, das geöffnet sein konnte. „Willst du den Stein haben, damit alle deine Träume in Erfüllung gehen?“

Mal im ernst – was konnte schon passieren, wenn er ja sagte? Schlimmstenfalls beging er im Ritualmord einer Sekte Suizid, aber dann war ihm wenigstens eingeredet worden, er sei glücklich und würde nachher glücklich bleiben.

Also nickte Leonard.

Der Mann holte aus und stieß die Faust in Leonard hinein – durch das Brustbein mitten in sein Herz. Leonard schrie, auch wenn er keinen Schmerz spürte. Ein warmes, aber brennendes Gefühl erfasste seinen Körper, glitt durch seine Venen und Arterien, erwärmte seine Organe. Doch bald wandelte sich die Wärme in unerträgliche Hitze. Als Leonard brüllen wollte, es solle aufhören, war das ganze plötzlich vorbei. So wie der mysteriöse Mann.

Leonard stand alleine im Flur. Er bekam kaum Luft und er schwitze, langsam wurde ihm kalt.

Die Tür hatte sich von selbst geöffnet. Leonard trat ein. Auf dem Boden fand er einen Zettel, auf den er zuerst gestiegen war. In zittrigen Buchstaben stand darauf: Mama hatte einen Schlaganfall, sind im Krankenhaus.



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