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Schall und Rauch

Which path will you choose?
von

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Bild - sexy Elphie: http://gillian-leigh.deviantart.com/art/Schall-und-Rauch-sexy-Elphie-100170021

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Kapitel 42
 

Elphaba trat gerade mit einem Korb warmer Quadlinger Brötchen in den Wohnsaal, als sie sah, wie Glinda die Treppe herunter kam. Sie trug Elphabas anderen Morgenmantel. Er war dunkelblau mit einem weißen Gürtel, den Glinda zu einer Schleife gebunden hatte.

Lächelnd stellte Elphaba den Korb auf den Tisch, als sie Glindas Stimme hörte: „Mmmmmh, das riecht aber gut!“

Die grüne Frau stand mit dem Rücken zu ihr und als Glinda an dem schwarzen Flügel vorbeiging, fuhr sie einmal kurz mit den Fingerspitzen über das glänzende Holz. Sofort fühlte sie ein warmes Prickeln und zog eilig die Hand wieder weg. Dann setzte sie sich auf den Stuhl, welchen Elphaba ihr bereithielt. Mit großen Augen betrachtete sie den reichlich gedeckten Frühstückstisch.

„Elphaba…“, hauchte sie, noch immer erstaunt und sog das Bild in sich hinein. Auf dem Tisch standen frische Tomaten, Gurken und Paprika. Die warmen Brötchen dampften noch.

„Oh, das Beste habe ich ja vergessen!“, meinte Elphaba plötzlich und verschwand in der Küche.

„Das Beste?“, rief Glinda ihr fragend nach und starrte auf den Tisch, der mit Quadlinger Brötchen, Wurzelkäse, Skalpen Frischkäse, Winkietalern, smaragdischen Getreideflocken, der orzianischen Wurstvariation, darunter auch Kallenwurst, Munchkinberry Marmelade, Glindas Apfelkraut und mit einem Glas Nuss-Vinkus-Créme gedeckt war.

Als Elphaba mit einer Kaffeekanne in der rechten und einer Tüte Milch in der linken Hand wieder in den Raum geschlendert kam, quietschte Glinda vor Vergnügen auf und klatschte in die Hände: „Gillikin Kaffee mit Glikkenmilch! Mmmh!“

Die Hexe verbeugte sich spielerisch und fragte dann mit einer ernsten Miene: „Die Dame, dürfte es vielleicht etwas Kaffe zu diesem umwerfenden Frühstück sein?“

Glinda unterdrückte ein Kichern: „Sehr gerne, Frau…“

„Elrik…“, grinste Elphaba.

„Sehr gerne, Frau Elrik.“

„Ach bitte, nennen Sie mich doch Elphaba.“

„Danke, Fräulein Elphaba.“, lachte Glinda, als die Hexe ihr Kaffee eingegossen hatte. „Elphaba Elrik, das gefällt mir!“

„Oh, nein!“, lachte Elphaba, als sie gegenüber von Glinda Platz nahm. „Komm jetzt nicht auf dumme Gedanken!“ Sie wusste, wie sehr Glinda es liebte, alles und jedem neue Namen oder Spitznamen zu geben.

„Zu spät!“, lachte die Blondine und die blonden, noch immer nassen Haare wackelten leicht.

Ohne darauf einzugehen, fragte Elphaba: „Brötchen?“

„Ja, bitte! Sag mal….“, setzte Glinda an, während Elphaba zwei Brötchen aufschnitt, „… Wie bist du auf den Namen gekommen?“

Schmunzelnd blickte Elphaba in die eisblauen Augen: „Ich habe nur festgestellt, dass eine elektrische Kaffeemaschine viel praktischer als eine manuelle ist ….“

„Und dann bist du von elektrisch auf Elrik gekommen?“, Glinda konnte sich vor Lachen kaum noch halten.

„Nein. Von Elektrik!“, meinte Elphaba und schmollte spielerisch, was bei Glinda zu einem erneuten Lachanfall führte. Jemand, der Elphabas Gedankengänge nachvollziehen konnte, dachte Glinda, musste erst noch geboren werden. Aber diesen Gedanken behielt sie lieber für sich.

Nachdem sie schweigend mit Genuss das erste Brötchen gegessen hatten, wusste Elphaba nicht sicher, wie sie das Gespräch beginnen sollte. Also fragte sie: „Glinda, warum hast du eigentlich die Zimmertür abgeschlossen? Habe ich dich geweckt?“

Elphaba hoffte innig, dass Glinda ihr Klavierspiel nicht gehört hatte und Glinda hoffte umso inniger, dass Elphaba sie nicht auf der Treppe bemerkt hatte.

„Nein, nein, du hast mich nicht geweckt… Aber ich…“, setzte Glinda an und erzählte Elphaba dann, was sie sich zurechtgelegt hatte: „Ich bin aufgewacht und du warst nicht mehr da. Und seit dieser Nacht habe ich irgendwie … Angst, wenn ich alleine aufwache. Ich habe dann die Tür abgeschlossen. Ich weiß, es ist vielleicht kindisch, aber danach habe ich mich besser gefühlt. Und weil mir so kalt war, habe ich mich dann vor den Kamin gelegt… Ich bin wohl wieder eingeschlafen…“

„Nein, Glinda, das ist nicht kindisch.“, sagte Elphaba sanft, streckte ihren Arm aus und berührte kurz Glindas Fingerspitzen.

„Und ja…“, lachte die grüne Frau nun, „Du bist wieder eingeschlafen. Ein kleiner, zusammengezogener Ball vor dem flackernden Ofen. Bist du denn wenigstens ausgeschlafen?“

„Ja, das bin ich! Ich weiß auch von gestern Abend nur noch, dass wir auf dem Besen geflogen sind… Den Rest habe ich anscheinend nicht mehr mitbekommen!“

„Glin…“, setzte Elphaba an und verschluckte sich mitten im Wort an ihrem Kaffee.

„Ich mag das!“, meinte Glinda plötzlich.

„Was?“, fragte Elphaba verwirrt durch ihren Hustenanfall, „Dass ich mich am Kaffee verschlucke?“

„Sei nicht albern! Den Namen, natürlich!“

„Welchen Namen? Elrik?“, fragte die Hexe, als der Husten nachließ.

„Nein! Glin. Nicht Glinda, Glin. So hast du mich heute schon drei Mal genannt.“

Die grüne Stirn legte sich in Falten. Sie konnte sich an kein einziges der angeblichen drei Male erinnern: „Wann denn?“

„Gerade eben, dann vorhin, als du ins Bad gekommen bist und…“

„Und..?“

„Und in meinem Traum.“

Die grüne Stirn zog sich noch mehr zusammen: „Also gerade habe ich mich an meinem Kaffee verschluckt, vorhin habe ich dich im Bad gestört… aber… zu deinen Träumen habe ich keinen Zugang!“

Bei den letzten Worten musste Elphaba ungewollt lächeln und Glinda grinste: „Das war auch ein sehr merkwürdiger Traum. Keine Ahnung, was das bedeuten sollte, aber mit Traumbedeutungen habe ich es ja nicht so! Ich glaube, die Hitze von dem Kamin ist mir einfach zu Kopf gestiegen!“

„Oh…“, entwich es Elphaba, als sie sich daran erinnerte, wie sie nach Glinda gerufen hatte.

„Was ist?“, fragte Glinda verwundert und ließ das Messer in ihrer Hand sinken.

„Ich glaube, ich weiß wann das dritte mal war… Ich habe dich gesucht, weil du nicht im Bett gelegen hast und da wollte ich deinen Namen rufen. Da sah ich dich dann liegen und habe es nur bis ‚Glin…’ geschafft.“

Ohne es zu wollen, drängte sich das Bild von ihr und Fiyero in Elphabas Gedanken, wie sie seine Worte damals im Traum für Glindas gehalten hatte…

„Ich finde es manchmal unheimlich, wenn sich so die Puzzleteile von selbst aufreihen. Aber trotzdem mag ich den Namen… irgendwie…“

Elphaba nickte: „Ja, manchmal kommt es eben anders, als man glaubt.“

Nun war es Glindas Stirn, die sich in Falten legte. Sie merkte, dass Elphaba gerade an etwas anderes dachte, doch die blonde Frau nahm an, es wäre besser, nicht nachzufragen.

„Elphie….“, begann sie stattdessen und die dunklen Augen schauten sie an. „Ich denke, ich habe nun lange genug gewartet. Ich bin bereit für die Wahrheit.“

Elphaba war noch immer in Gedanken bei dem ‚Ich liebe dich’, was sie damals in ihrem Traum aus Glindas Mund gehört hatte und in Kombination mit dieser Aussage von Glinda fuhr sie erschrocken zusammen.

„Die Wahrheit?“, stammelte Elphaba verunsichert, doch als sie Glindas verwunderten Blick sah, verstand sie, dass mit der Wahrheit die Nacht vor drei Tagen gemeint gewesen war.

„Achso, ja. Entschuldige, du redest von dem Feiertag, nicht wahr?“

„Ja, natürlich…“, meinte Glinda, noch immer verwundert, „Was hast du denn gedacht?“

„Nichts, schon gut. Ich war nur kurz mit den Gedanken woanders…“, lächelte Elphaba, „Aber wie dem auch sei… Sollen wir erst zu Ende frühstücken und uns dann in die Kaminecke setzen oder willst du in das Lesezimmer neben der Bibliothek oder sollen wir das hier…“

„Du hast eine Bibliothek?“, unterbrach Glinda verblüfft. Sie hatte bisher nur den Garten, den Wohnsaal und Elphabas Turmbereich gesehen.

„Irgendwas muss ich ja tun, wenn mir langweilig ist!“, grinste Elphie und zuckte mit den Schultern.

Glinda lachte in Erinnerung an das grüne Mädchen, das ihr zu Beginn mit der ganzen Leserei auf die Nerven gegangen war.

„Ich schlage vor, wir frühstücken zu Ende, räumen gemeinsam auf und machen dann eine Hausführung und dabei können wir dann reden… Ich glaube, ich kann dabei nicht still sitzen.“

Elphaba nickte: „Kann ich verstehen… Vorschlag angenommen!“
 

Dann machten sie es wie geplant: Erst frühstückten sie, bis keines der Brötchen mehr übrig war, dann räumten sie den Tisch auf und die Lebensmittel wieder in den Kühler. Da Elphaba ihre Kette nicht trug, machte Glinda den Abwasch, während Elphaba alles wieder auf seinen Platz stellte.

„Sooo….“, begann Elphaba, als sie den letzten Teller in den Schrank geräumt hatte, „Fertig?“

„Ich denke schon!“, grinste Glinda, „Auf geht’s zur Hausbesichtigung!“

„Okay!“, lachte Elphaba, „Fangen wir in der Küche an… Ja, das ist… die Küche…“, lachte sie dann unbeholfen und Glinda lachte laut auf.

„Was? Wirklich? Ach, na klar… jetzt, wo du es sagst…“ Spielerisch klatschte Glinda sich ihre Hand auf die Stirn. Elphaba musste erneut lachen und meinte: „Du solltest mich wirklich nicht so viel ärgern!“

Glinda streckte ihr nur die Zunge heraus und nahm den grünen Arm an, den Elphaba ihr anbot.

„Hier das hinter mir ist der einzige Turm ohne Wendeltreppe. Der untere Bereich ist eine Art Abstellkammer und das Gewölbe gehört Chistery. Er findet, eine Treppe sei unnötig.“ Als Elphaba Glinda ansah, war ihr klar, was sie vergessen hatte: „Chistery, mein Affe…“

Mit diesen Worten hellte sich Glindas Miene auf: „Achso. Er kann sprechen?“

„Ein bisschen… Wo steckt er eigentlich? Hast du ihn gesehen?“

„Glaubst du, ich hätte es bis jetzt verschwiegen, wenn mir ein sprechender Affe über den Weg gelaufen wäre?“ Glinda erinnerte sich an den sprechenden Affen von damals, der ihr nach Elphabas Scheintod begegnet war und fragte sich, ob es wohl ein und derselbe Affe war, von dem Elphaba nun sprach.

„Punkt für dich!“, grinste Elphaba und nahm sich vor, später nach Chistery zu suchen. ‚Im Moment gibt es wichtigere Dinge zu klären…’, dachte sie bei sich.
 

Die grüne Frau öffnete mit einer einladenden Handbewegung die Tür und schon standen die beiden auf dem Innenhof des Schlosses.

„Wow!“, entwich es Glinda, „Ich hatte ja keine Ahnung, dass Kiamo Ko so riesig ist!“

„Kiamo Ko ist noch nach alten Maßen gebaut worden, was bedeutet, es hat vier Türme, die nach den verschiedenen Himmelsrichtungen gebaut worden sind und eben einen Innenhof. Es existiert nur die untere Etage, moderne Bauten besitzen auch noch eine weitere. Und den Keller erreicht man nur durch den Garten.“

„Alles klar, Frau Lehrerin…“, nuschelte Glinda, noch immer gefangen von dem Bild des Innenhofs: unter ihren Füßen lief ein roter Backsteinweg bis zur Mitte des Hofs. Dort spaltete er sich in drei weitere kleine Wege, die zu den jeweiligen Türen führten. Links neben ihr war ein Blumenbeet voller hellblauer und rosafarbener Hortensien. Weiter hinten an der Wand links von ihr stand eine große quoxwälder Eiche, von der eine Schaukel herunterhing.

„Elphie! Eine Schaukel!“, rief Glinda aufgeregt, ließ Elphabas Arm los und rannte hinüber zur Schaukel.

Elphaba setzte sich schweigend auf die Bank, welche neben dem Baum stand und sah amüsiert zu, wie Glinda hin und herwippte.

„Großer Oz!“, schnaubte die Frau in der Schaukel plötzlich und deutete auf das gegenüberliegende Ende des Hofs. „Was um alles im Ballon ist DAS da?“

„Ach das…“, kicherte Elphaba, als sie auf eine Art übergroßes und sehr instabil-erscheinendes Gerüst aus braunen Hölzern blickte. „Das ist Chisterys… Was auch immer… Er klettert darauf immer herum. Er meint, fliegen wäre auf die Dauer zu langweilig.“

„Da kann ich aber nicht zustimmen! Ich finde den Besen toll!“, lachte Glinda, doch wurde danach wieder ruhig.

„Möchtest du Fragen stellen oder soll ich einfach anfangen, von der Nacht zu erzählen?“, fragte Elphaba unsicher, da sie nicht wusste, wie sie hätte anders anfangen sollen.

„Bitte erzähl mir erst alles, was du weißt. Aber können wir dabei bitte reingehen?“, fragte Glinda und hüpfte dabei elegant von der Schaukel. „Ist schon was kalt… so ohne Unterwäsche!“

„Glinda… du…“, Elphaba erdunkelgrünte immens.

„Darüber sprechen wir am Ende!“, lachte die Blondine und zog die dunkelgrüne Freundin hinter sich aus dem Schnee und in das warme Gebäude.

„Oh, wo sind wir denn hier gelandet?“, fragte Glinda, als sie in einen dunklen Raum traten, der nur am anderen Ende zwei Fenster hatte.

Elphaba atmete einmal tief durch, bevor sie antwortete: „Das hier ist der Empfangsflur, wenn man so will. Da vorne ist auch das Eingangstor. Nicht besonders interessant, aber hier….“, Elphaba öffnete die Tür, welche rechts neben ihnen lag, „… das ist das Arbeitszimmer. Da vorne steht mein Schreibtisch und der da drüben gehörte einmal Fiyero. Er benutzt ihn aber kaum noch…“

„Und was ist in dem Turm da drüben?“, fragte Glinda neugierig und deutete mit dem linken Zeigefinger auf die Wendeltreppe am anderen Ende des Raumes. Die Treppe sah genauso aus wie die im Wohnsaal.

„Oh, das ist Fiyeros Turm. Er hat den Ostturm für sich, während ich meinen Privatbereich im Westturm habe. Ehrlich gesagt war ich noch nie dort oben…“

Glinda hätte am Liebsten vorgeschlagen, mal nachsehen zu gehen, ob er vielleicht dort wäre, aber sie verwarf diesen Gedanken gleich wieder.

Stattdessen sagte sie: „Und die Bibliothek ist da?“ Dabei deutete sie durch den Flur und die offen stehende auf die gegenüberliegende, geschlossene Tür.

„Richtig!“, nickte Elphaba, schloss die Tür zum Arbeitszimmer und führte Glinda an ihrem Arm zur gegenüberliegende Seite des Flurs.

Als die grüne Hand die Klinke herunterdrückte und die Tür knarrend aufsprang, hielt Glinda die Luft an.

„Willkommen in meinem Heim!“, grinste Elphaba und sog mit einem kräftigem Atemzug die Luft des Raumes ein. Sie liebte diesen Geruch nach quoxwälder Eiche, gemischt mit dem Duft von alten Büchern. Außerdem lag noch eine Spur Kamille in der Luft, was auch Glinda nicht entging.

„Elphaba, das ist… atemberaubend!“

„Nicht wahr? Ich liebe es hier. Aber das Schönste kann man auf den ersten Blick nicht ausmachen.“

Glinda hörte Elphaba gar nicht zu. Sie starrte auf die großen dunkelgrünen Bücherregale, die ohne Zweifel höher waren als vier Meter. Generell hatte das Schloss eine sehr hohe Decke, aber die Bücherregale berührten diese Decke fast. Direkt rechts neben Glinda begann die dunkelgrüne Regalreihe, welche sich in einer U-Form durch den gesamten Raum zog. Auf der gegenüberliegenden Seite entdeckte Glinda zwei Durchgangsmöglichkeiten in der Regalreihe, welche ohne Zweifel zu dem vierten und letzten Turm führen mussten.

Noch immer sprachlos löste sich Glinda von Elphabas Arm und ging auf das Regal zu, welches in der Mitte des Raumes stand und nicht mit den anderen Regalen, die in der U-Form positioniert worden waren, verknüpft war.

Vorsichtig fuhr sie mit ihren Fingern über das dunkle Holz und griff dann nach einem Buch, welches im Regal stand. ‚Carl Philipp Emmanuel Bach – Versuch über die wahre Art das Klavier zu spielen’ stand dort und dann wendete Glinda das Buch. Neugierig las sie die Kurzbeschreibung: ‚Carl Philipp Emanuel Bachs Lehrbuch ist einerseits eine praktische Anleitung zum Klavierspiel, die für Spieltechnik, Ornamentik und artikulatorische Verfeinerung des Generalbassspiels innovatorisch wirkte, andererseits ein bedeutendes theoretisches Dokument der neuen Musikästhetik…’

„Dieses Regal hier beinhaltet alle Bücher, die ich regelmäßig lese. Durch all die Bücher im Hufeisen bin ich selber noch nicht durch.“

Lächelnd stelle Glinda das Buch wieder zurück und sah sich noch einmal in dem außergewöhnlichen Raum um.

„Bei der Anwesenheit von so viel Literatur fühle ich mich wieder wie eine Studentin…“, flüsterte Glinda in die Stille hinein.

„Man lernt nie aus…“, bestätigte Elphaba.

Plötzlich drehte Glinda sich um und mit leuchtenden Augen nahm sie Elphies Hand in ihre eigene.

„Oh, Elphie! Das erinnert mich so sehr an Shiz! Erinnerst du dich noch an das Foto, was Milla heimlich von uns gemacht hat, als du mir etwas vorgelesen hast? Daran musste ich gerade denken!“

Elphaba lächelte und ging mit Glinda an der Hand ein paar Meter weiter das Bücherregal entlang. Suchend blieb sie stehen und zog nach kurzer Zeit ein dickes Buch aus der dritten Reihe.

„Die wunderbaren Märchen der Ozma Tippertarius!“, lächelte sie und ihre dunklen Augen funkelten.

Es war eines der ältesten Kinderbücher in ganz Oz, doch Glinda hatte die alten Geschichten geliebt. Sie hatten ihr im fernen Shiz ein Gefühl von Heimat vermittelt.

„Ich musste dir immer daraus vorlesen, wenn du Heimweh hattest!“, grinste Elphaba nun und schien in Erinnerungen verloren.

Glinda griff beschwingt nach dem Buch in Elphabas rechter Hand und ließ dabei ihre linke los.

„Dass du das noch weißt!“, meinte Glinda erstaunt, als sie die Hülle des Buches betrachtete.

„Wie könnte ich vergessen, dass du immer vor Lachen geweint hast, wenn ich meine Stimmlage verändert habe!“, grinste Elphaba und machte Anstalten, das Buch wieder ins Regal zu stellen.

Glinda drehte sich mit dem Rücken zu Elphie und schlug das dicke Buch auf. Bald hatte sie ihr altes Lieblingsmärchen aus diesem Buch gefunden. Genau zwischen diesen zwei Seiten steckte das Bild von Glinda und Elphaba unter dem großen Baum.

„Du hast es noch…“, lächelte Glinda in das Buch hinein.

„Natürlich.“, war das einzige, was Elphaba erwiderte.

Schnell umrandete Glinda mit ihrem freien Zeigefinger zart die Konturen der jungen Frauen auf dem Bild, bevor sie das Buch schloss.

Sie stellte das Buch ins Regal und sah Elphaba abwartend an.

Elphie war froh, dass Glinda sie nicht gefragt hatte, warum sie das Bild noch immer hatte oder warum sie es ausgerechnet in diesem Buch aufbewahrte.

Schnell bot sie Glinda den grünen Arm an und führte die blonde Schönheit um das Regal herum, welches in der Mitte stand. Dann deutete sie auf die Wendeltreppe, welche man durch einen Gang zwischen den anderen Regale sehen konnte.

„Darf ich bitten? Der letzte und dazu der schönste Turm im ganzen Hause hier.“

„Ich bitte darum!“, nickte Glinda lächelnd und ließ sich von Elphaba die Treppe hinaufführen.

Oben angekommen, hielt Glinda schon wieder den Atem an. Sie hatte nicht geahnt, dass Kiamo Ko so viele schöne Seiten hatte.

Elphaba betrachtete mit großem Interesse die Mimik der Frau, deren Arm sie hielt. Die blauen Augen funkelten im Sonnenlicht noch viel stärker und ihre Kinnlade fiel langsam herab.

In der Mitte des runden Raumes befand sich eine große, offene Feuerstelle mit einer Art Abzug darüber. Um die Feuerstelle herum waren Sitzbänke angebracht worden. Jedoch waren diese weit genug vom Feuer entfernt, sodass einem nicht zu heiß werden konnte, wenn man darauf Platz nahm. Weiter links und rechts im Raum standen zwei Tische aus schwarzem Ebenholz und dahinter begann die Sitzecke. Das Sofa hatte die gleiche Farbe wie die Regalreihe in der Bibliothek und es zog sich in einer ähnlichen Kurve durch den ganzen Teil des hinteren Raumes.

Die Morgensonne schien kräftig durch die Fenster, welche sich rechts in der Wand befanden.

Elphaba sah, wie Glinda in diese Richtung starrte und summte leise: „Im Osten geht die Sonne auf, im Süden ist ihr Mittagslauf, im Westen wird sie untergehen, im Norden ist sie nie zu sehen…“

Glinda drehte sich lächelnd um und seufzte mit einem erneuten Blick durch den Raum.

„Von meinem Fenster aus sieht man die wunderschönen Sonnenuntergänge!“, meinte Elphaba stolz.

Die Wärme war noch nicht bis in diesen Raum vorgedrungen und Elphaba ließ das Feuer auflodern, als sie Glinda zu dem Sitzhalbkreis führte.

Nach einem kurzen Schweigen begann Elphaba unsicher: „Glinda, ich weiß nicht, wie ich jetzt anfangen soll, darum ….“

„Das war doch schon ein Anfang!“, unterbrach Glinda sie grinsend.

„Bitte, das ist nicht gerade hilfreich!“, Elphaba machte ein verzweifeltes Gesicht.

Die beiden Frauen saßen sich gegenüber, Elphaba hatte ihren linken und Glinda ihren rechten Arm auf die Sofalehne gelegt, mit dem sie ihren blonden Lockenkopf stützte. Die reizvollen Beine hatte sie hochgezogen und der Bademantel teilte sich auf ihrem Oberschenkel.

Ohne Vorwarnung erinnerte Elphaba sich an Glindas Bemerkung über die nicht vorhandene Unterwäsche und sah schnell in die andere Richtung, da sie nicht wollte, dass Glinda merkte, wie sie erdunkelgrünte.

Glinda deutete diese Bewegung anders und legte ihre freie Hand auf Elphabas Oberschenkel: „Entschuldige, Elphie. Ich wollte nicht gemein sein. Bitte erzähl mir von der Nacht.“

Im Inneren ihres Körpers sammelte Elphaba ihre durcheinandergeratenen Gefühle wieder auf, atmete einmal tief durch und starrte dann auf die gegenüberliegende Seite des Zimmers.

„Du solltest wissen, dass noch einiges vor dieser Nacht passiert ist. Ich habe mich schon ungefähr eine Woche vorher in dieser Sache verharkt und zwar nachdem ich dich und diesen Ramón durch die Glasschale gesehen habe.“

Bei diesen Worten merkte Elphaba, wie Glinda ihre Hand von Elphabas Oberschenkel nahm. Elphie wusste, dass Glinda noch etwas Zeit brauchte, um diese Beobachtungsgeschichte zu verarbeiten.

Unbeirrt fuhr sie fort: „Nachdem ich das gesehen hatte, begannen die Träume. Jede Nacht war ich wieder mit dir in diesem Palast, auf der Flucht vor den Wachen. Nur einer der Männer war immer in eine Kutte gehüllt, sodass ich sein Gesicht nicht sehen konnte. Irgendwann habe ich gemerkt, dass ich die Träume verändern kann und gerade, als ich kurz davor war, den Mann zu demaskieren, hat Fiyero mich dabei gestört. Also habe ich ihn in der nächsten Nacht gebeten, mich allein zu lassen. Und das war eben diese eine Nacht… ich träumte wieder, doch diesmal war es anders. Ich schaffte es, dem Mann die Kutte vom Kopf zu reißen und es war Ramón…“

Elphaba hörte, wie Glinda die Luft einsog, aber nichts sagte. Also fuhr sie fort: „Ich erinnerte mich, dass er einer der Wachen war, die uns damals verfolgt hatten. Also kombinierte ich, dass er im Dienste des Zauberers und von Akaber gestanden haben musste.

In dieser Nacht nahm ich dann abermals meine Glasschale und sah, wie du ohnmächtig in den Armen zweier Männer lagst und ich sah Madame Akaber am Treppenansatz des Palastes stehen… Und sofort wusste ich, dass du in Gefahr warst….“

Als Elphaba Glinda von dem Regen und ihrem Sturzflug erzählte, drückte die blonde Frau die grüne Schulter sanft. Dann erklärte Elphaba ihr, wie sie auf den Balkon gekommen war: „Den Besen habe ich unten stehen gelassen, er funktionierte ja nicht aufgrund des Banns. Und dann sah ich Madame Akaber ganz gemütlich vor deinem Bett sitzen und auf dich einreden…“

„Was hat sie gesagt?“, fragte Glinda mit deutlicher Stimme. Noch hatte sie ihre Emotionen gut im Griff…

Elphaba rezitierte Accursias Worte, soweit sie sie noch in Erinnerung hatte…

„Erst dachte ich ja, du seist wach…“, fuhr Elphaba daraufhin fort, „Aber dann habe ich erkannt, dass sie dich nur aufrecht im Bett aufgesetzt hatten. Danach ging alles sehr schnell. Akaber saß mit dem Rücken zu mir, also bin ich so schnell es ging unter dein Bett gekrabbelt. Ich hörte, wie sie dich gekratzt hat und habe es erst für Papier gehalten, welches durchgerissen wird.

Ohne Vorwarnung hörten wir dann vom Flur her laute Geräusche. Akaber öffnete die Tür und zwei Männer fielen auf den Boden. Ich erkannte Ramón und hoffte, sie würden mich nicht sehen. Als Akaber auf den Flur hinausgegangen war, bin ich unter dem Bett rausgekommen und habe mich hinter die Tür gestellt. Ich habe dann nach dem silbernen Pokal gegriffen, der bei dir auf dem Nachttisch stand und habe gewartet, bis Madame Akaber wieder eintrat und die Tür schloss… Und dann habe ich… Ich habe…“ Elphaba begann zu stottern.

„Elphie?“, fragte Glinda besorgt und rückte ein Stückchen näher an ihre Freundin heran, sodass sich nun die beiden Hände auf der Sofalehne berührten.

Elphaba atmete einmal ganz tief durch, umfasste Glindas Hand fest und blickte in die eisblauen Augen: „Dann habe ich Accursia Akaber mit meiner ganzen Kraft den Pokal auf den Schädel gedonnert.“

Glinda schnappte kurz nach Luft und drückte Elphabas grüne Hand.

„Plötzlich war überall Blut. Ich weiß nicht einmal, ob sie noch lebt…“

Elphabas Stimme brach ab und sie zog ihre Hand aus der von Glinda. Dann hielt sie sich die beiden grünen Hände vor ihr Gesicht und starrte sie an. Es hatte so lange gedauert, bis sie das hatte aussprechen können. Als sie Fiyero davon erzählt hatte, hatte sie ohne Frage unter Schock gestanden. Das musste sie sich nun eingestehen, als eine Welle von Schuldgefühlen sie überkam.

Glinda konnte das nicht mit ansehen. Sie setzte sich aufrecht hin, griff mit ihren Händen um die von Elphaba und drückte sie sanft nach unten.

„Elphaba, sieh mich an!“, sagte sie mit klarer Stimme. „Sieh mich an.“

Die dunklen blickten schuldbewusst in die blauen Augen.

„Du hattest keine andere Wahl. Es wäre entweder sie gewesen, oder ich. Und wahrscheinlich noch du dazu.“

„Ich weiß ja, dass du Recht hast, Glinda, aber… Ich hätte nie gedacht, dass ich zu so was fähig bin. Oh Oz, natürlich habe ich mir manchmal vorgestellt, was ich mit Makaber alles machen würde, wenn ich die Chance dazu hätte, aber…“ Elphaba seufzte tief. Sie sah nicht gerade glücklich aus.

Glinda lehnte sich nach vorne, zog Elphaba an sich heran und nahm sie in die Arme. Sie drückte sie fest an sich und fuhr ein paar Mal durch das rabenschwarze Haar.

Elphaba hörte leise Glindas Worte an ihrem Ohr: „Wollten die Menschen, statt die Welt zu retten, sich selber retten; statt die Menschheit befreien, sich selber befreien - wie viel würden sie da zur Rettung der Welt und zur Befreiung der Menschheit beitragen!“

Verwirrt wollte sich Elphaba von Glinda wegdrücken, doch diese hielt sie fest, sodass Elphaba es nur ein stückweit schaffte und die beiden Gesichter der Frauen gerade mal 20 Zentimeter weit voneinander entfernt waren.

Glinda konnte die Verwirrung in Elphabas dunklen Augen sehen: „Die weisen Worte meiner Mutter… Bis heute habe ich nie verstanden, was sie damit gemeint hat. Jetzt weiß ich es. Elphaba, du hast dich in dem Moment selber gerettet.“

„Ich verstehe das nicht!“, meinte Elphaba und die grüne Stirn legte sich in Falten.

Ohne jegliche Vorwarnung lehnte sich Glinda die 20 Zentimeter nach vorne und schloss die Augen. Elphaba fühlte, wie die sanften Lippen einen zarten Kuss auf ihren eigenen platzierten.

Stocksteif saß die Hexe dort, mit weit aufgerissenen Augen. Ihre innere Stimme drängte sie dazu, die Welle der Zärtlichkeit zuzulassen, die sich in ihr ausbreiten wollte, doch Elphaba würgte sie ab.

Der Kuss hatte nicht einmal zwei Sekunden gedauert, als Glinda sich wieder aufrichtete und Elphaba ansah: „Vielleicht hilft dir das, um es zu verstehen.“

Da Elphaba ihre Gefühlsebene in Schach gehalten hatte,war sie in der Lage dazu, deutlich zu sprechen: „Im Moment hilft es meinem Verständnis nicht auf die Sprünge, nein…“

Glinda lächelte, ließ Elphaba los und setzte sich wieder auf ihren alten Platz: „Gut Ding will Weile haben!“, grinste sie und kämpfte schon wieder mit den aufsteigenden Gedanken, die noch warten sollten.

‚Es ist noch nicht an der Zeit…’, dachte Glinda und hoffte, sie hätte Elphaba nicht zu sehr überrascht.

Diese schien jedoch komischerweise ganz gefasst zu sein.

„Elphaba?“

„Ich… ahm… Ich packe das jetzt in einen Schuhkarton und schaue bei Gelegenheit noch einmal rein…“, sagte diese mit völlig ernstem Gesicht, was Glinda auflachen ließ.

„Ist gut. Die, die dir so was beigebracht hat, war wohl eine ziemlich schlaue Frau!“

„Zuweilen mein' ich, eine rein weibliche Natur könne mich retten.“, grinste nun auch Elphaba. Sie hatte es geschafft, alle verwirrenden Gefühle auszublenden. ‚Diese Schuhkartonsache ist manchmal doch ganz schön nützlich!’, dachte sie bei sich.

„Von wem ist das?“

„Von wem ist was?“, fragte Elphaba verdutzt.

„Das Zitat! Mit der weiblichen Natur!“

„Achso, das! Aus einer Autobiografie mit Tagebucheinträgen von Margo Blair.“

„DIE Margo Blair? Die Frauenrechtlerin?“

„Ja.“

„Wieso hast du denn eines ihrer Bücher?“

„Habe ich nicht.“

„Nicht?“, jetzt war es Glinda, die verwirrt war.

„Nein, ich habe ALLE ihre Bücher!“, grinste Elphaba und erntete dafür eine Grimasse von Glinda.

„Gemeines Etwas! Aber bevor wir jetzt wieder vom Thema abkommen… Was ist danach passiert?“

Elphaba seufzte. Sie war für diese kleine Erholungspause dankbar gewesen, doch dieses Gespräch musste wirklich zu Ende geführt werden.

Also erzählte Elphaba ihr, wie sie Glinda dann aus dem Zimmer gerettet und Ramóns Schrei gehört hatte. Glinda, die diesen Teil der Geschichte schon vom See her kannte, war immer noch sehr gefasst. Elphaba ließ mit Absicht das Detail ihres eigenen Verletzungsgrades aus, denn den hatte Glinda ja mit eigenen Augen gesehen. Sie erzählte ihr auch nicht, was Fiyero ihr vorgeworfen hatte, vor allem nicht nach diesem Kuss. Sie berichtete nur lediglich, dass sie Fiyero auch einiges erzählt hatte, bis beide gemerkt hatten, dass Glinda aus dem Bett verschwunden war.

„…Und den Rest der Geschichte kennst du ja“, schloss Elphaba und sah die blonde Frau auf dem Sofa erwartungsvoll an.

„Jetzt bin ich wohl dran…“, seufzte Glinda nach einer kurzen Pause. Sie hatte keine Fragen mehr an Elphie, denn bis auf die Sache mit Akaber war ihr das andere nicht neu gewesen.

„Glinda, wenn du noch nicht berei….“, begann Elphaba und wurde sofort von Glinda unterbrochen.

„Nein, Elphaba, ich muss das jetzt loswerden. Ich habe es all die Zeit verdrängt, um irgendwelche Ausbrüche zu vermeiden und ich denke, dass ich jetzt einigermaßen beruhigt bin. Ich hoffe es zumindest.“

„Du bist hier bei mir. Du bist sicher. Und diese Nacht ist Vergangenheit. Du bist in Sicherheit!“, sagte Elphaba noch einmal mit Nachdruck und Glinda lächelte sie warm an: „Das hast du süß gesagt, danke. Und ich weiß auch, dass du Recht hast, aber ich kann nicht versprechen, dass ich meine Gefühle die ganze Zeit unterdrücken kann!“

„Das erwarte ich doch auch überhaupt nicht! Eher im Gegenteil! Glinda, ich habe mir auch erlaubt, alles zuzulassen und du hast mich aufgefangen. Ich kann nun nicht mehr tun, als dir dasselbe anzubieten. Ich bin für dich da. Du musst nur sagen, was du brauchst.“

Glinda sah in die dunklen Augen und wusste, dass Elphaba es so meinte, wie sie es gesagt hatte. Jedoch wusste sie nicht, ob sie wirklich sagen sollte, was sie brauchte.

„Elphie?“, begann sie zögernd, nachdem sie eine Weile geschwiegen hatten. Elphaba wartete geduldig ab, bis Glinda sie ansah und fragte dann: „Ja?“

„Halte mich… bitte.“, flüsterte Glinda zögernd und sah die grüne Frau fragend an.

Elphaba lehnte sich nach vorne, griff lächelnd nach Glindas Hand und zog sie zu sich heran. Dann drehte sie die blonde Frau sachte um, sodass Glinda sich mit ihrem Rücken an Elphabas Oberkörper anlehnen konnte. Glinda seufzte leise, als Elphaba ihren rechten Arm um die Freundin legte. Sie saß mit der linken Seite noch immer gegen das Sofa gelehnt und Glinda streckte ihre Beine aus, während Elphaba ihre Beine an den Körper zog.

„Ich sagte alles und ich meine auch alles, Glin…“, sagte Elphaba zärtlich. Den Namen aus Elphabas Mund zu hören, rief in Glinda eine seltsame Sehnsucht hervor und sie unterdrückte die aufsteigenden Tränen.

„Danke…“, murmelte die blonde Frau leise und lehnte ihren Kopf gegen Elphies Schulter. Elphaba schwieg und als einzige Antwort strich sie zärtlich mit ihrer linken Hand über Glindas Locken.

In diesen grünen Armen fühlte Glinda sich erst wieder so sicher, wie sie sich gestern Nacht beim Einschlafen gefühlt hatte. Auch da hatten sie die grünen Arme gehalten und dies war genau das, was Glinda brauchte.

Dann fing sie leise an zu erzählen: „Diese ganze Sache fing eigentlich schon mit Akabers Ausbruch aus dem Gefängnis an, denn zu dieser Zeit meldete sich Ramón als Freiwilliger, um mich … zu beschützen. Orez versicherte mir damals, er wäre ein anständiger Kerl, also stellte ich ihn ein. Am Anfang hat er sich sehr angemessen mir gegenüber verhalten und erst mit der Zeit merkte ich dann, dass er anscheinend größeres Interesse an mir hatte. Er hat mich nie gedrängt oder irgendwelche unangebrachten Versuche gestartet… Er ging das ganze eher genau so an, wie sich das eine romantische Frau wünschen würde… Als ich ihn einmal fragte, warum er sich so plötzlich aus heiterem Himmel bei mir gemeldet hatte, erzählte er mir, seine Schwester hätte früher unter Akaber gelitten. Es war wirklich eine haarsträubende Geschichte… Madame Akaber hätte sie wohl soweit getrieben, dass sie nun psychisch gestört wäre. Er log mir etwas vor von Rachegelüsten und dem Bedürfnis danach, mich vor Akaber zu schützen. Er meinte, er hätte ein schlechtes Gewissen seiner Schwester gegenüber und er hätte eben genau gewusst, wie man mit Akaber umzugehen hätte. Nach ihrem vorgespielten Tod blieb er dann noch bei mir, da er damals als meine Begleitung für den Feiertagsball eingeteilt worden war – zu meinem persönlichen Schutz natürlich….“

„Du meinst den Feiertag, der meinem Tod zu Ehren eingerichtet worden ist?“, hörte Glinda Elphabas ruhige Stimme an ihrem linken Ohr.

Leicht nickte sie und die blonden Locken streichelten Elphabas Kinn: „Ja, genau der. Er wollte noch dieses Wochenende bei mir bleiben und danach wollten wir halt weitersehen. Es lag eine Art Spannung zwischen uns, bei der mir nicht ganz wohl war, ihm aber schon. Ich wusste nicht genau, was sich in mir so gegen ihn sträubte, aber da er mir die ganze Zeit über so zuvorkommend und verständnisvoll entgegengetreten ist, konnte ich ihn ja nicht einfach aus heiterem Himmel vor die Tür setzen. Ich hatte mit dem Gedanken gespielt und wollte mir dann die Woche über noch mal Gewissheit darüber verschaffen, dass zwischen Ramón und mir alles in Ordnung war. Doch merkwürdigerweise war er die letzte Woche vor dem Feiertagsball nicht mehr anzutreffen.

Er entschuldigte seine Abwesenheit dann auch, indem er meinte, er hätte wichtige Dinge erledigen müssen. Ich war natürlich stocksauer und stellte ihn zur Rede. Er äußerte sich nicht und meinte, ich würde es morgen früh verstehen. Das war an dem Freitag Abend vor dem Ball…

Und als ich am nächsten Morgen aufwachte, fand ich eine Rosenblätterspur in meinem Zimmer, die zu seinem Geschenk für mich führte… Es war die Kette der heiligen Aelphaba.“

Der grünen Hexe lief ein kalter Schauer über den Rücken, der das Ergebnis von ihrem ansteigenden Ekel war. Sie fand Ramóns Art einfach nur widerwärtig.

„Und da dachte ich natürlich…“, fuhr Glinda fort, die Elphabas plötzliche Anspannung ignorierte, „… dass er die halbe Woche für dieses Geschenk geopfert hatte. Da konnte ich ihn wirklich nicht mehr rauswerfen und ich fühlte mich auch eigentlich ganz wohl in seiner Anwesenheit. Er hat mich mit Respekt behandelt und war immer sehr schmeichelhaft… Bis eben zu diesem Abend…

Es fing damit an, dass Orez, mein Kutscher, der eigentlich frei hatte, mich gemeinsam mit Ramón abholte. Das war das erste, was mir merkwürdig vorkam… Wir fuhren mit der Kutsche zum Ball und wir wurden natürlich in großer Manier begrüßt… In der Menschenmenge von Presseleuten suchte ich den Reporter, mit dem ich bisher die besten Erfahrungen gemacht habe, doch Ramón zog mich ohne Vorwarnung an den Rand, zu einer anderen Reporterin. Erst dachte ich mir nichts dabei, doch als sie anfing, mir komische Fragen, auch in Bezug auf dich, zu stellen, habe ich mich gefragt, ob diese ganze Sache inszeniert worden war…“

„Sie hat dich was über mich gefragt?“, fragte Elphaba nun verwundert.

„Ja… zum Beispiel, ob ich die Kette dir zu Ehren tragen würde und ob ich dich vermissen würde. Und die ganze Zeit über hat sie so hinterhältige Anspielungen gemacht….“

Glinda gab das Gespräch mit der Reporterin, die sich da noch als ‚Elfina Rob’ ausgegeben hatte, so gut wie sie es noch in Erinnerung hatte wieder. Bei dem Namen der Frau zischte Elphaba abwertend und murmelte etwas, was Glinda jedoch nicht verstand. Glinda erzählte ihr auch, wie diese Elfina sich anscheinend den ganzen Abend auf sie fixiert hatte und dann schilderte sie den gesamten Abend. Sie berichtete von Milla und Marec, von Meredith und Reseda, bis hin zu ihrer Rede vor dem gesamten Publikum und dem Walzer mit Ramón.

„Ich muss zugeben, dass ich den ganzen Abend über reichlich getrunken habe, aber nie zu viel. Ich konnte es einfach ohne einen gewissen Grad von Betäubung nicht aushalten. Ich fühlte mich so schrecklich und wollte das alles gar nicht sagen… Ich habe immer nur gedacht: ‚Gleich ist es vorbei… Gleich hast du es geschafft…’

Aber nach diesem Wein, den ich kurz vor dem Walzer getrunken habe, ging es mir alles andere als gut. Ich merkte, wie ich immer mehr das Bewusstsein verlor und dachte wirklich erst, ich hätte einfach nur zu viel getrunken. Ich hatte plötzlich Angst vor Ramón… Mir war der ganze Abend schon sehr komisch vorgekommen und ich wollte nach diesem Tanz einfach nur verschwinden… Doch dann kam alles anders: Ich glaube, dass etwas in meinem Wein gewesen sein muss, denn ich wurde ohnmächtig und wurde genau um Mitternacht von den Glockenschlägen geweckt….“

Dann erzählte Glinda alles, woran sie sich noch erinnern konnte. Sie berichtete, wie sie Orez und Ramóns Stimme gehört hatte.

„Ich wollte mich wehren, doch dann haben sie mir gedroht, Elaine würde etwas passieren und zum Beweis haben sie mir ihre Perlenkette gezeigt… Oh Oz… Sie muss immer noch dort sein… genau wie Mer und Resi… Und ich weiß nicht, was mit ihnen ist…“

Die ganze Zeit hatte Glinda das Geschehene ruhig geschildert und auch jetzt schien sie gefasst zu sein. Elphaba jedoch merkte, wie sich die blonde Frau in ihren Armen anspannte. Sie legte ihre rechte Hand auf Glindas Rücken und streichelte sie vorsichtig. Sie wusste, dass es jetzt noch nicht an der Zeit war, die Glasschale zu erwähnen…

„Wie ging es weiter?“, fragte Elphaba ruhig. Sie wollte nicht riskieren, dass Glinda die Kontrolle über sich verlor. Jetzt noch nicht…

Glinda atmete einmal tief durch und erzählte ihr dann gefasst von dem Szenario, welches sich draußen vor dem Gebäude abgespielt hatte.

„Irgendwann wurde die Menschenmenge kleiner und nur noch Ramón, diese Elfina und ich standen draußen. Erinnerst du dich an Aylin Heidenbrunn?“, fragte Glinda auf einmal ganz unvermittelt, löste sich aus Elphabas Armen und blickte fragend in die dunklen Augen.

„Was hat das denn jetzt damit zu tun?“, fragte Elphie verwirrt.

„Aylin Heidenbrunn. Das Mädchen, das mein Bett anzünden wollte.“ Glinda ignorierte Elphabas Frage.

„Ja, ja natürlich erinnere ich mich an sie, aber was…“

„Die ganze Zeit über hat sich Aylin als Elfina Rob ausgegeben. Ramón und sie haben sich gestritten und er hat im Eifer des Gefechts ihren richtigen Namen benutzt.“

„Was?“, schoss es aus Elphaba heraus, die nun Glinda fassungslos anstarrte.

„Mir kam das Gesicht schon die ganze Zeit bekannt vor, aber ich konnte es nicht zuordnen… Auch Ramóns Nachname kam mir bekannt vor, aber ich habe nie wirklich darüber nachgedacht.“

„Soll das etwa bedeuten, die beiden sind Geschwister?“, fragte Elphaba, nun noch verblüffter als zuvor.

„Wie… uff…“, seufzte Glinda, die nun auch perplex schien. „So habe ich das noch gar nicht gesehen… Ramón heisst doch in Wirklichkeit Akaber… Er ist ja Accursias Sohn. Vielleicht war der Nachname nur ein Zufall.“ Glinda zuckte ratlos mit den Schultern und erntete dafür einen sehr skeptischen Blick von Elphaba.

„Du glaubst wirklich noch an Zufälle in dieser ganzen Angelegenheit?“, blaffte Elphaba. Glinda nahm diese Äußerung nicht persönlich, da sie wusste, dass Elphaba sich nicht über sie, sondern über die offensichtliche Komplexität der ganzen Geschichte aufregte.

„So viele Verbindungen… Da fragt man sich ja wirklich, wie weit im Voraus das Ganze geplant worden ist!“, seufzte Glinda resigniert und meinte dann: „Wir wissen es natürlich nicht, ob die beiden Geschwister sind… Wir können es nur vermuten. Ich meine, es wäre einleuchtend, aber sag mir mal bitte, von wem Akaber das zweite Kind bekommen haben sollte? Vom Zauberer ganz bestimmt nicht, oder er wusste gar nichts von seinem Glück…“

„Das kann ich mir auch nicht vorstellen… Wer weiß, woher Akaber das zweite Kind gezaubert hat. Hier kann man sowieso nichts mit Gewissheit behaupten!“, ärgerte sich nun die grüne Hexe und ihre Stirn legte sich in Falten.

„Selbst wenn du böse guckst, siehst du noch bei weitem schöner aus, als diese Statue.“, sagte Glinda leise und strich Elphaba mit ihren Fingern über die Wange.

„Was für eine Statue?“, fragte die Hexe verwirrt und sah Glinda fragend an.

Diese erzählte ihr dann den restlichen Teil des Abends, welchen sie noch in Erinnerung hatte. Als Glinda die Statue beschrieb, musste Elphaba lachen: „Na wenigstens ist sie grün! Da könnte ich sogar mit der Kette um den Hals einfach mal so in die Smaragdstadt spazieren, ohne erkannt zu werden, denn so hässlich bin ich ja nun wirklich nicht!“ Elphaba grinste und fasste sich an die Nase, die bei weitem kleiner war, als die der Statue.

„Elphie!“, hauchte Glinda mit weit aufgerissenen Augen.

„Was?“, fragte Elphaba und ihre linke Augenbraue schob sich skeptisch in die Höhe.

„Das ist DIE Idee! Wir können in die Smaragdstadt, ohne erkannt zu werden!“, rief die blonde Frau aufgeregt aus.

„Mal langsam mit den jungen Pferden!“, murmelte Elphaba.

„Ich meine das wirklich ernst!“

„Ja, das sehe ich… Du wirst absolut keine Aufmerksamkeit auf dich lenken, wenn du in meinem Morgenmantel durch die Stadt spazierst!“, meinte Elphaba ironisch. „Wir müssen das gut durchdenken!“

„Schon gut, schon gut!“, sagte Glinda und rollte mit den Augen. „Aber untätig rumsitzen kann ich hier bestimmt nicht!“

„Das hatte ich auch gar nicht vor. Ich habe sogar an das gleiche gedacht, wie du, aber wir müssen uns erstmal ansehen, was momentan in der Smaragdstadt los ist!“, gestand Elphaba.

„Wie willst du das denn anstellen?“ Nun war Glinda verwirrt.

„Meine Glasschale!“, sagte Elphaba ruhig. Sie ahnte, wie Glinda reagieren würde und sie war vorbereitet…

„Aber natürlich! Das ich da nicht von selber drauf gekommen bin!... Aber… Wieso erwähnst du das erst jetzt?! Wir hätten doch schon viel früher…“, begann Glinda und als sich in ihre Stimme ein ärgerlicher Unterton mischte, unterbrach Elphaba sie.

„Glinda, hör mir mal bitte kurz zu…“ Elphaba blickte in die eisblauen Augen und als Glinda nur leicht nickte, fuhr sie fort: „Wir mussten das alles doch erst klären, um herauszufinden, was wir wissen und was nicht. Jetzt wissen wir zum Beispiel, dass Orez auch etwas mit der ganzen Sache zu tun haben muss und wenn ich ehrlich bin, glaube ich das auch von diesem Londaro. Schließlich hing er ja auch die ganze Zeit mit den anderen beiden zusammen. Außerdem wissen wir, dass die ganze Sache wahrscheinlich von Akaber ausgeht und diese ganzen Vernetzungen viel weiter gestrickt sind, als wir bisher ahnen können. Ramón, Aylin, Orez… Wer weiß, wer da noch alles unter einer Decke steckt. Ich denke, es war wichtig, dass wir uns erst alles gesagt haben, was wir wissen… Jetzt können wir die Situation zwar noch immer nicht richtig, aber dennoch besser als zuvor einschätzen… Oder findest du nicht?“

„Doch, doch…“, gab Glinda zu und senkte ihren Blick. „Ich weiß ja, dass du Recht hast, Elphie, aber… Ich habe solche Angst um meine Freunde.“

„Das verstehe ich auch. Wir werden die Schale auch gleich holen gehen. Mir scheint, dass diese Organisation von Leuten alle Personen unschädlich gemacht haben, die dir sehr nahe standen. Ich frage mich, was sie mit den Politikern gemacht haben, die auf deiner Seite waren…“

„Entweder bestochen oder … eingesperrt oder sonst was! Wer weiß, was diese Monster sich alles ausgedacht haben! Ich bin einfach nur froh, dass meine Eltern an diesem Abend nicht gekommen sind!“

Glinda seufzte und sah Elphaba wieder an. Als die grüne Stirn sich abermals in Falten legte, hörte sie Elphabas Worte: „Glinda…“

Erschrocken rief Glinda aus. „Oh nein, Elphie! Nein… Du meinst doch nicht etwa, dass… Nein, das kann nicht sein! Ich… oh, großer Oz… NEIN! … Wenn Londaro… und Ramón… und…“

Verwirrt starrte Elphaba die aufgewühlte Frau an. Ohne Vorwarnung sprang Glinda plötzlich vom Sofa auf und zog Elphaba an der Hand hinter sich her.

„Schnell, Elphie, schnell! Lass uns bitte sofort in die Glasschale gucken! BITTE!“

Elphaba packte sich mit festem Griff Glindas Handgelenke und hielt sie zurück. Ruhig stand sie vor ihr und schaute in die besorgten, blauen Augen: „Glinda, was ist los? Was redest du da?“

„Ramón hat mir gesagt, er hätte meine Eltern eingeladen, aber ich bekam danach einen Brief von ihnen, dass sie noch keine Einladung hätten! Dann habe ich Londaro einen weiteren Brief gegeben – mit zwei Einladungen! Und wenn er wirklich mit zu dieser Bande gehört, dann hat er den Brief wahrscheinlich gar nicht erst abgeschickt oder… oder er hat den Inhalt verändert… oder…“

„Glinda, das wäre doch unlogisch. Wieso sollte Ramón dir so etwas sagen, wenn es doch nicht stimmt und wieso sollte Londaro dann den Brief bei sich behalten? Dann wäre es doch eindeutig, dass die beiden gar nicht geplant hatten, dass deine Eltern kommen und sie hätten sie so mit Absicht ferngehalten!“

„Und was ist, wenn Londaro tatsächlich den Brief geändert hat? Die Uhrzeit oder den Tag oder… ach, was weiß ich!“, rief Glinda aus und riss sich von Elphaba los.

„Aber es war doch in ganz Oz bekannt, dass der Ball an diesem bestimmten Tag um diese bestimmte Uhrzeit beginnt, oder nicht?“

„Elphaba, ich bitte dich!“, nun war Glinda wütend, „Nenne mir einen Grund, warum solche Leute, die die Absicht haben, mich umzubringen und Oz zu stürmen, ausgerechnet meine Eltern verschonen sollten?“ Glinda starrte die Hexe aufgebracht an.

„Ich…“, begann Elphaba stotternd und erkannte, wie ernst die Situation wirklich war. Alle Menschen, denen Glinda etwas bedeutet hatte oder andersherum waren offensichtlich evakuiert worden. Und in Anbetracht der Brutalität, mit welcher diese Organisation vorging, konnte man nur mit dem Schlimmsten rechnen.

Ohne ein weiteres Zögern ergriff Elphaba Glindas Hand und rannte mit ihr in Richtung Bibliothek.

„Die Glasschale ist in meinem Zimmer!“, keuchte Elphaba und Glinda drückte dankbar die grüne Hand.
 

„Elphieee….“, quengelte Glinda ungeduldig und ging im Zimmer auf und ab, zum Zeichen, dass Elphaba sich beeilen sollte. Elphaba durchsuchte hektisch ihre beiden Schränke, die Nachttische und den Kasten der Standuhr, in welchem sie schon einmal die Glasschale versteckt hatte.

„Glinda, ich finde die Schale nicht! Sie muss hier sein!“, murmelte Elphaba und kratzte sich verwirrt am Kopf.

„Was soll das heißen, du findest sie nicht?! Hast du hier mal nachgesehen?“, fragte Glinda ärgerlich und schaute unter das Bett.

„Oh, nein!“, meinte Elphaba, ließ sich auch auf die Knie nieder und tastete mit ihrer Hand nach der Glasschale.

„Verdammt! Da ist sie auch nicht!“, stellte Glinda fest und stand wieder auf. Sie sah Elphaba wütend an: „Elphie, wann hast du das letzte mal in die Schale geschaut und wo hast du das Ding dann hingetan?“ Elphaba wusste, dass Glinda nicht sauer auf sie, sondern auf diese undurchsichtige Situation war und überlegte laut: „Das letzte Mal… hmm… Das war kurz bevor ich zu dir geflogen bin, denn da habe ich Madame Akaber darin gesehen. Und dann habe ich sie… Ich weiß es nicht… Ich glaube, ich habe sie genau hier liegen lassen!“ Elphaba stand vor dem Fenster und deutet mit ihrer Hand in die Nähe der Ecke, in welcher sie die Glasschale hatte liegen lassen.

„Aber sie kann doch nicht einfach weg sein!“, sagte Glinda verärgert und sah sich noch einmal in dem Raum um.

„Vielleicht hat Fiyero sie weggeräumt…“, mutmaßte Elphaba in Erinnerung an die Nacht.

„Und wo hätte er sie hingetan?“, fragte Glinda und sah Elphaba wieder an. Diese zuckte jedoch nur mit den Schultern.

„Großartig, einfach nur großartig. Müssen wir jetzt das Schloss durchsuchen?“ Glinda war offensichtlich genervt.

„Oz im Ballon, nein, nein! Das würde viel zu lange dauern… Wir würden sie wahrscheinlich eh nicht finden!... Aber ich kann versuchen, die Schale durch Magie in das Zimmer hier zu platzieren.“

„Das kannst du?“

„Ich verlege des öfteren meine Brille…“, gab Elphaba grinsend zu. Glinda schwieg und sah ihre Freundin mit Erstaunen an. Elphaba schien keine Ahnung davon zu haben, wie groß ihre Macht war. Dinge um- oder deplatzierten verlangte einiges an Stärke und bei den meisten auch jahrelanges Training. Sie selber hatte es erst mit kleinen Dingen geschafft, wie zum Beispiel mit einem Ohrring, aber die größeren Dinge waren meistens nach einem kurzen Flackern wieder verschwunden.

„Gut, probieren wir das!“, sagte Glinda, nachdem sie sich wieder gefangen hatte. Sie fühlte sich nutzlos ohne ihren Zauberstab.

Elphaba schloss die Augen und drückte ihre Handballen vor der Brust gegeneinander. Dann murmelte sie einen Satz und versuchte, die Glasschale vor ihrem inneren Auge auftauchen zu lassen, doch es gelang ihr nicht. Sie versuchte es abermals und gab dann verärgert auf.

„Es klappt nicht!“, sagte sie, halb verärgert, halb verwirrt.

Die grüne Stirn zog sich zusammen und Glinda sah die Freundin abwartend an.

Nach einer Weile fragte Glinda seufzend: „Und jetzt?“

„Warte, warte..“, entgegnete die grüne Frau schnell, „… Ich habe da eine Idee… aber ich weiß nicht, ob es funktioniert…“

„Die da wäre?“ Glindas Stimme klang wieder etwas hoffnungsvoller, was Elphaba ermutigte: „Ich… Ich weiß nicht ob es klappt…“ Elphaba rieb sich nachdenklich die Stirn, „Aber wenn ich die richtigen Worte rückwärts aufsage und mich dabei stark konzentriere, gelingt es mir vielleicht, nicht in die Schale hinein, sondern aus ihr heraus zu gucken… Das hat erst ein einziges Mal funktioniert und dabei habe ich letztes Mal mein Bewusstsein verloren…“

„Oh nein, Elphie. Es muss doch auch eine andere Lösung geben….“, sagte Glinda entsetzt.

„Die da wäre?“, zitierte Elphaba Glindas Worte von vorhin, „Glin, lass es mich bitte versuchen… Aber du musst mir versprechen, mich auf keinen Fall zu stören. Das könnte böse enden…“

„Was? Wieso das?“

„Im Grimorium steht ausdrücklich geschrieben, dass es tödlich sein kann, die Sprüche rückwärts aufzusagen, denn in ganz Oz ist eigentlich bekannt, dass die großen Zaubersprüche nicht rückgängig gemacht werden können. Damit sind die Sprüche gemeint, die jemanden oder etwas ausschlaggebend verändern. Und da dieser Spruch für die Glasschale weder mich noch irgendetwas anderes verändert, habe ich mich damals getraut, den Spruch rückwärts aufzusagen. Es ist ein verbotener Zauber und sollte die Konzentration mitten im Prozess gebrochen werden, kann man als Halbwesen zwischen den Welten stecken bleiben…“

„Wovon redest du da?“, fragte Glinda verwirrt, „Was meinst du mit ‚stecken bleiben’?“

„Bei solchen Sprüchen ist es so, dass der Großteil meiner Sinne aus meinem Körper entweicht, um den Gegenstand zu orten. Also so ist es zum Beispiel in diesem Fall hier. Und wenn ich dabei gestört werde, bricht die Verbindung zu meinen Sinnen ab… Und wenn das hier passieren würde, dann könnte ich wahrscheinlich nicht mehr sehen. Im Klartext bedeutet das also: Meine Fähigkeit zu sehen, die ich in die Glasschale projizieren würde, würde auf dem Weg dorthin oder auf dem Weg zurück in meinen Körper verloren gehen.“

„Oh Oz, Elphie… Das kann ich nicht von dir verlangen!“, hauchte Glinda und sah Elphaba mit sorgenvoller Miene an. Die beiden Frauen standen sich noch immer gegenüber, als Elphaba leise flüsterte: „Weißt du, das erste Mal habe ich es auch für dich getan. Es war nach meinem offiziellen Tod… Die Hexenjäger waren hier und haben alles verwüstet… Und die Glasschale war nicht mehr aufzufinden.“

„Elphaba, ich kann nicht von di…“, begann Glinda mit Tränen in den Augen. Elphaba ging schnell auf sie zu und legte ihr einen grünen Zeigefinger auf den Mund: „Shh, shh, mein Liebes.“

Dann nahm sie Glindas Hand und führte sie zum Bett. Elphaba ließ sich auf den Boden nieder, sodass sie ihren Rücken gegen das Bettende lehnen konnte. Glinda ahmte es ihr nach. Dann setzte Elphaba sich in den Schneidersitz und sah Glinda ernst an: „Glinda, egal, was ich tue, egal was ich mache, egal ob ich aufhöre zu atmen oder sonst etwas: Fass mich auf keinen Fall an und bitte mach kein einziges Geräusch!“

Noch immer mit Tränen in den Augen gestand Glinda: „Elphie, ich habe Angst! Ich will das nicht!“

„Ich will es aber…“

„Aber…“

„Nein, Glinda. Es gibt kein ‚aber’. Ich mache das nicht nur für dich, sondern auch für mich. Ich mache es für uns!“

Glinda seufzte und hätte Elphaba am liebsten umarmt, doch sie wusste es besser. Ihre grüne Freundin brauchte nun all ihre geistige Stärke.

„Weißt du den Zauberspruch denn noch auswendig?“, fragte Glinda nun sachlich und schluckte ihre Tränen hinunter. Elphaba war ihr sehr dankbar dafür.

„Du vergisst nie einen Spruch, der dich hat ohnmächtig werden lassen!“, sagte Elphaba ruhig und Glinda konnte in ihren Augen große Zärtlichkeit lesen.

„Soll ich lieber rausgehen?“ Glinda hatte Angst, sie würde Elphaba vielleicht doch ablenken und dann wäre alles zu spät.

„Nein, ich möchte sogar, dass du hier bei mir bleibst. Das gibt mir Kraft.“

„Okay, Elphie, ich bin hier…“, sagte Glinda leise.

Elphaba nickte nur, drehte dann den Kopf zur gegenüberliegenden Wand und schloss die Augen. Sie konzentrierte sich stark und sah die Glasschale vor ihrem inneren Auge. Dann sammelte sie alle Energie, die sie in ihrem Körper spüren konnte, genau an ihrem Brustkorb und hob beide Hände bis dort. Die grünen Hände formten eine Art Halbschale und das offene Ende grenzte an Elphabas Brust.

Erst dann hörte Glinda die leisen, aber sicheren Worte: „Roiretxe noc roiretni ed oirdiv.“ Sofort fühlte Elphaba, wie sich etwas aus ihrem Körper losriss und zwar mit einer solchen Energie, dass ihr schwarz vor Augen wurde.

Glinda wollte aufschreien, als sie sah, wie etwas in Elphabas Händen zu leuchten begann, doch sie hielt sich in letzter Sekunde noch die Hand vor den Mund und unterdrückte den Schrei. Elphabas Gesicht war zu einer Schmerzensmaske verzogen: ihre Lippen waren aufeinandergepresst, um ihre Nase bildeten sich Falten und auch die grüne Stirn war zusammengezogen. Wie ein Blitz schoss der Lichtball plötzlich aus Elphabas Händen und Glinda musste mit ansehen, wie der grüne Körper kraftlos in sich zusammenfiel. Nun lag Elphaba auf der linken Seite, ihre Hände hielt sie noch immer vor der Brust und Glinda saß hilflos daneben.

„Glinda… Fass mich auf keinen Fall an…“, hörte die Blondine die Worte ihrer Freundin im Ohr.

Also saß sie starr neben Elphaba und wusste nicht, was sie nun tun sollte. Es schien eine Ewigkeit zu dauern und Glinda merkte, wie die Angst in ihr aufstieg.
 

Elphaba sah, wie ihr Körper zur Seite fiel und die schöne blonde Frau sich erschrocken die Hand auf den Mund presste. Beim ersten Mal hatte es sehr lange gedauert, bis ihr visueller Sinn sich von den anderen abgespaltet hatte. In sekundenschnelle wechselte plötzlich das Bild und sie konnte nur noch Wolken erkennen. Dann sah sie Chisterys Arme, die in einem merkwürdigen Winkel um sie gesponnen waren und erkannte, dass dies die Sicht aus der Glasschale sein musste. Im regelmäßigen Takt glitten die Flügel des Affen an ihr vorbei. Sie konnte nichts hören oder fühlen, dennoch wusste sie, dass sie sich in der Luft befinden musste und versuchte, etwas unter ihr zu sehen. Doch sie sah nichts außer Sand. Dann verschwand das Bild und sie fiel in eine unendliche Schwärze.
 

‚Oh Oz! Sie atmet nicht mehr! Sie atmet nicht mehr….’, dachte Glinda panisch und kämpfte mit sich selbst, Elphaba nicht zu berühren. Die blauen Augen starrten auf den mageren Oberkörper der grünen Frau, der sich doch noch ganz leicht im Morgenmantel auf und ab bewegte.

Erleichtert lehnte sich Glinda wieder gegen das Bettende und starrte Elphaba weiter an. Es waren nun schon vier Minuten vergangen, doch in so einem Moment konnte das eine halbe Ewigkeit bedeuten.

Ohne Vorwarnung rutschte Elphabas untere Körperhälfte etwas nach links, sodass die Hexe nun mit dem Rücken auf dem Boden lag, die grünen Hände noch immer auf dem Brustkorb liegend. Mit gleicher Geschwindigkeit zog sich Elphabas Oberkörper in die Höhe, doch ihr Kopf schien im Nacken kraftlos dazuhängen. Ihr langes, rabenschwarzes Haar berührte den Boden des Schlafzimmers und Glinda bekam es erneut mit der Angst zu tun.

Als Elphaba plötzlich nach Luft schnappte und dabei ein Geräusch von sich gab, als würde jemand ihre Atemwege abdrücken, war Glinda sofort neben ihr, jedoch sagte sie nichts.

Aus dem Augenwinkel sah sie wieder den leuchtenden Ball, doch als sie sich umdrehen wollte, bemerkte sie, wie der Ball wieder in Elphabas Hände schoss und Glinda glaubte gesehen zu haben, wie er dann durch Elphabas Brust in dem grünen Körper verschwunden war.

Sofort fiel der grüne Körper kraftlos nach hinten und Elphies Kopf donnerte auf den Boden auf. Reflexartig schossen Glindas Hände nach vorne, doch sie riss sich abermals im letzten Augenblick zusammen, sodass ihre zartgliedrigen Hände neben den grünen Ohren innehielten.

„Glin…“, keuchte Elphabas atemlos und endlich nahm Glinda den grünen Kopf in ihre Hände. Dann beugte sie sich weinend über ihre Freundin.

„Elphie… Elphie, ich bin hier. Ich bin hier. Geht es dir gut? Kannst du mich sehen?“, fragte Glinda panisch, als Elphaba langsam die Augen öffnete.

„Ein blonder Engel…“, flüsterte Elphaba und versuchte zu kichern, was ihr jedoch misslang und sie musste schrecklich husten.

Glinda hob Elphaba auf und schloss sie in ihre Arme, sodass nun der grüne Rücken an Glindas Brustkorb grenzte.

„Du solltest lieber keine Witze machen!“, kicherte sie und strich mit der rechten Hand über Elphabas rechte Wange. „Geht es dir gut?“, fügte sie nach einer kurzen Pause hinzu.

„Mir ja… aber wie geht es dir?“, fragte Elphaba, noch immer atemlos. Ihr war etwas schwindelig und erst nach und nach bekam sie wieder ein Gefühl für ihre Arme und Beine.

„Mir? Wieso mir?“, fragte Glinda verwirrt und hörte auf, die grüne Wange zu streicheln.

„Ich habe gesehen, wie geschockt du reagiert hast, als mein Körper umgefallen ist.“, sagte die Hexe trocken.

„Du hast… was?“

Elphaba erzählte ihr, was sie erst gefühlt und dann nur noch gesehen hatte. Sie erzählte ihr von Chistery und dem Sand, aber auch von dem Raum, in dem sie die ersten Sekunden noch gewesen war.

„Dein Affe hat die Glasschale und fliegt damit über Sand?“, fragte Glinda verwirrt. Diese ganze Sache machte keinen Sinn für sie.

„Ich verstehe es auch nicht. Es war unter mir nur Sand zu sehen und um mich herum waren Wolken. Ich habe keine Ahnung, wohin er damit fliegen will und vor allem habe ich keine Ahnung, aus welchem Grund er meine Glasschale mitgenommen hat!“, meinte Elphaba und richtete sich stöhnend auf. Glinda ließ sie los und sah, wie ihre Freundin sich abermals im Schneidersitz gegenüber von ihr setzte.

Die blonde Frau nahm dies als Zeichen, dass es ihrer Elphie wieder etwas besser ging und lächelte sie an: „Wie wäre es erstmal mit einem Schluck Kaffee?“

„Der von heute Morgen? Nein danke!“, wehrte Elphaba mit einem angeekeltem Grinsen ab.

„Elphie, wir haben erst kurz vor elf!“, bemerkte Glinda mit einem Blick auf die Standuhr.

„Oh, wirklich?“, fragte die Hexe überrascht und drehte sich um. „Tatsächlich!“, sagte sie erstaunt, „Dann lass uns mal gehen!“
 

Gemeinsam gingen sie die Treppe hinunter, nahmen sich die Kaffeekanne und zwei Tassen und setzten sich damit auf das Sofa vor dem Kamin, dessen Feuer noch immer leicht brannte. Die ganze Zeit fragte Glinda Elphaba über den Sinneszauber aus. Sie hatte so etwas noch nie gesehen und es gab kaum Leute in Oz, die so etwas schon einmal miterlebt hatten.

Als Glindas größte Neugierde gestillt war, saßen sie schweigend nebeneinander und nippten an ihrem Kaffee.

„Aber Elphaba…“, begann Glinda nach einer Weile wieder von Neuem, was die Hexe grinsen ließ, „Eins verstehe ich aber immer noch nicht… Wieso hat der Platzierungszauber nicht funktioniert und der Sinneswechselzauber schon? Der Platzierungszauber ist doch normalerweise viel einfacher… Wieso konntest du die Glasschale nicht sehen, aber durch sie hindurch sehen?“

Elphaba legte ihre Füße auf den Wohnzimmertisch und schwieg. Darüber hatte sie die ganze Zeit schon nachgedacht und sie konnte nicht glauben, dass der Grund dafür wirklich der war, den sie sich vorstellte.

„Elphaba?“, fragte Glinda nach einer Weile.

„Wie? Was? Hast du mich eben etwas gefragt?“ Die dunklen Augen sahen die Blondine fragend an.

Glinda kicherte und wiederholte ihre Frage geduldig.

Plötzlich wurde Elphabas Gesicht ernst, als sie sagte: „Weil man Dinge, die sich außerhalb von Oz befinden, nicht mehr zurückholen kann!“

„Was?!“, schoss es aus Glinda heraus, die ihre Freundin nun ungläubig anstarrte. Schnell stellte sie den Kaffe auf den Tisch, um nicht vor lauter Schreck noch etwas zu vergießen.

Elphaba sagte nichts und ging ihre Theorie noch einmal im Kopf durch.

„Elphie, das macht doch keinen Sinn… Erstens ist es nicht einmal bewiesen, dass es noch etwas außerhalb von Oz gibt und zweitens, wenn es wirklich etwas außerhalb des Landes geben sollte, wieso sollte dann dort der erste Zauber nicht funktioniert haben, der zweite aber schon?“

„Hast du mal im Grimorium gelesen?“, fragte Elphaba und merkte erst danach, was diese Frage bedeutete. Glinda war es unangenehm, dennoch gab sie ehrlich zu: „Nein… Ich konnte es einfach nie öffnen… Aber bitte lass uns da ein andermal drüber sprechen…“

Elphaba wusste nicht, ob sie erleichtert sein sollte oder eher nicht. Denn das Glinda das Buch nie geöffnet hatte, bedeutete auch, dass sie nie das Lied gesehen oder gelesen hatte…

„Wieso fragst du?“, unterbrach Glindas Stimme die Gedanken der grünen Frau.

„Weil die mögliche Erklärung zu dieser Sache dort drin steht.“

„Die da wäre?“, meinte Glinda mit einem Grinsen, welches Elphaba ihr in Anbetracht der dritten Wiederholung des Satzes zurückschenkte.

„Es steht darin, dass es in Oz zwei Magiekreise geben soll. Der erste ist der kleinere von beiden. Er geht bis zu den Grenzen des Landes und er endet demnach vor den Bergen und den Wüsten, die wir nur ansatzweise kennen. Der zweite Kreis jedoch, so steht es im Buch, geht noch weiter und zwar reicht er bis zu den Bergspitzen und bis in die Mitte der Wüsten.“

„Das wusste ich ja gar nicht!“, unterbrach Glinda erstaunt.

„Die Lehre der Magiekreise ist in Oz auch kaum verbreitet und ich glaube, ich weiß, warum. Das Wissen über solche Kreise hat in früheren Jahren nämlich böse Zauberer dazu veranlasst, eigene Wirkungskreise zu legen und in diesen ihre Bevölkerung gefangen zu halten. Darum hat man damals kurzerhand beschlossen, jegliche Aufzeichnungen darüber zu verbrennen und mit organisierter Propaganda hat man es geschafft, dass diese Lehre als Gerücht abgetan wurde.“

„Woher weißt du das alles?“ Glinda war noch immer verblüfft.

„Ich kann lesen!“, grinste die Hexe.

„Haha…“, machte Glinda ironisch und streckte der Frau gegenüber von ihr die Zunge heraus.

„Nana! Das ist nicht gerade damenhaft!“

„Lenk nicht ab, erzähl schon!“, drängte Glinda sie. In ihren Augen stand neben Neugier auch großer Wissensdurst und Verwunderung.

„Es steht als Erklärung im Grimorium. Ich habe es selbst nicht geglaubt, vor allem, weil ja dort stand, alle Aufzeichnungen wären verbrannt worden. Aber wahrscheinlich ist dieses Buch schon so uralt, dass man einfach nicht riskieren konnte, die größte Aufzeichnung der Magie zu verbrennen. Nebenbei bemerkt ist das auch der Grund, warum beinahe niemand mehr die Schrift lesen kann: die Aufzeichnungen stammen noch aus Urzeiten und damals gab es eben auch noch eine andere Schriftart. Wie dem auch sei… Mein eigentlicher Punkt ist, dass Chistery sich im Zwischenraum dieser Magiekreise befinden muss. Er muss die Grenze des ersten Kreises schon überflogen haben, aber befindet sich noch im zweiten Kreis. Das würde auch erklären, warum der erste Zauberspruch nicht funktioniert hat.“

Als Elphaba Glindas verwirrten Blick sah, fuhr sie fort: „Es ist nämlich so, dass die etwas einfacheren Zaubersprüche nur im Rahmen des ersten Kreises vollzogen werden können und demnach auch nur bis an seine Grenzen reichen. So zum Beispiel auch die Wetterzauberei. Wir wissen zwar über die Wüsten Bescheid, aber es ist offensichtlich, dass unsere … naja, eher alltäglichen Zaubereien nicht bis dort vordringen. Ansonsten müsste die Wüste schon grünen und blühen.

Im Gegensatz zu den weniger starken Zaubersprüchen reichen die wirklich komplizierten und somit mächtigen Sprüche bis in den zweiten Kreis hinein und sogar bis zu seinen Grenzen.

Und das dürfte auch der Grund sein, warum ich die Glasschale beim ersten Versuch nicht sehen konnte: sie befand sich außerhalb des ersten Kreises. Aber der Sinnerzauber war mächtig genug, um auch bis in den zweiten Magiekreis vorzudringen. Deshalb konnte ich durch die Glasschale gucken… Und im Umkehrschluss bedeutet das, dass Chistery sich nahe der Grenze des Landes Oz aufhalten muss. Aber ich habe keine Ahnung, warum…“

Glinda rauchte nun langsam der Kopf. Sie hatte all die Dinge nicht gewusst und war hin und weg von Elphabas Wissen … und auch von ihrer Macht.

„Ich… Ich….“, stammelte sie und Elphaba sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Ich muss das jetzt erst einmal verdauen… Zwei Magiekreise… Ob meine Mutter davon weiß?“ Bei dem Gedanken an ihre Mutter trübte sich Glindas Blick, was auch Elphaba nicht entging, also sagte sie: „Auch wenn ich jetzt noch nicht verstehe, was es mit Chistery auf sich hat und auch wenn Fiyero noch immer nicht aufgetaucht ist… Ich kann das nicht mehr länger ertragen. Zum Einen meine oder unsere Unwissenheit und zum Anderen deine sorgenvollen Blicke, zu denen du allen Grund hast, Glinda. Wir müssen jetzt etwas tun!“

Glinda sah Elphaba erstaunt an, nickte dann aber dankend. „Was schlägst du vor?“, fragte sie und blickte fragend in die dunklen Augen.

„Wir müssen mit eigenen Augen sehen, was im Moment in der Smaragdstadt vor sich geht! Wenn ich meine Kette trage, wird mich niemand erkennen.“

„Daran hatte ich auch schon gedacht. Nur kann ich da beim besten Willen nicht im Morgenmantel auftauchen!“, meinte Glinda mit ernster Miene, was Elphaba grinsen ließ.

Glinda hatte lange auf dieses Gespräch gewartet, denn nun konnte sie endlich dafür sorgen, dass Elphaba sie allein lassen würde. ‚Vielleicht lange genug, damit ich meine Gedanken ordnen und zu einem festen Entschluss kommen kann….’, dachte Glinda hoffnungsvoll. Sie wollte Elphaba nicht loswerden, weil sie von ihr genervt war, sondern eher das Gegenteil war der Grund…

„Da muss ich dir Recht geben!“, nickte die grüne Frau, „Willst du nicht etwas von mir anziehen?“

„Elphie, auch hier wieder beim besten Willen… Da passe ich nicht rein…“, kicherte nun Glinda und deutete auf ihren üppigen Busen, was Elphaba erdunkelgrünen ließ.

„Wo du Recht hast… hast du Recht…“, grinste die Hexe nun und fragte: „Also, was schlägst du vor?“

Endlich kam Glinda dazu, ihren Plan in die Tat umzusetzen: „Wie heisst noch mal der kleine Ort vor Kiamo Ko?“

„Vorko… Wieso?“, fragte Elphaba verwirrt.

Glinda lachte laut auf: „Vorko? Wie originell! Wer hat sich bloß damals all die Namen einfallen lassen?!“

Elphaba musste auch grinsen: „Der Zauberer wahrscheinlich nicht, aber trotzdem würde er auch den Teil für sich beanspruchen…“

Diese Anspielung auf ihren lautstarken Disput vor Jahren an Nessas Grab ließ Glinda noch lauter lachen und auch Elphaba konnte sich vor Lachen nicht mehr halten.

Es war in diesem Moment, als beide Frauen erkannten, wie gut es ihnen getan hatte, dass sie sich über all diese Dinge ausgesprochen hatten.

Nachdem Elphaba sich wieder beruhigt hatte, während Glinda nur noch halbwegs kontrolliert kicherte, fragte sie erneut: „Was ist denn mit Vorko?“

Glinda atmete einmal tief durch, um ihr Gekicher in den Griff zu bekommen und erklärte dann: „Der Ort ist zwar nicht besonders groß, aber dort wird es doch sicher ein Bekleidungsgeschäft geben, oder?“

„Ich… naja, das nehme ich mal an…“, sagte Elphaba schulterzuckend und ahnte schon, was nun kommen würde.

„Dann würde ich dich bitten, für mich dort etwas zum Anziehen zu kaufen, inklusive… Unterwäsche, bitte.“

„Du willst, dass ICH dir etwas zum Anziehen kaufe? Kleidung? Die du dann auch anziehen musst?“, fragte Elphaba entgeistert, musste dann aber lachen.

„Ich dachte mir, ich möchte in der Smaragdstadt nicht gerade als ‚Glinda die Gute’ auffallen… Und wer würde besser neben meinem gewöhnlichen Stil einkaufen, als du?“, grinste Glinda frech.

„Na danke! Da bin ich gleich viel motivierter! Zur Strafe kaufe ich dir dann Seniorenunterwäsche!“

„Elphaba Thropp! Und so etwas aus deinem Mund!“, rief Glinda aus und musste schmunzeln. Ihre sonst so reservierte Elphie machte Witze über Seniorenunterwäsche…

„Dass du überhaupt weißt, welche Unterwäsche die alten Leute tragen!“, kicherte Glinda.

„Na nun ist aber mal gut! Ansonsten überlege ich mir meine Antwort noch einmal!“, meinte Elphaba sachlich und Glinda unterdrückte einen erneuten Kicheranfall.

„Ich bin ganz artig…“ Glinda machte große Augen und klimperte spielerisch mit ihren Wimpern.

„Ich bin ja schon fast weg…“, lachte Elphaba. Doch dann erdunkelgrünte sie leicht: „Ich bräuchte dann wohl deine Größe und deine… Größe eben…“ Die grüne Freundin machte einen sehr unbeholfenen Eindruck, was Glinda ein Lächeln auf die Lippen zauberte.

„He, das ist nicht komisch!“

„Doch, Elphie! Ist es!“, kicherte Glinda. Als sie Elphabas bösen Blick bemerkte, stand sie auf und lief in Richtung Küche.

„Glinda, was…“

„Bin gleich wieder daha!“, singsangte die Blondine und war schon verschwunden.

Verdutzt saß Elphaba auf dem Sofa und sah Glinda nach. Dann drehte sie sich wieder zum Kamin und beobachtete das Flammenspiel des Feuers.

„Deine Größe und deine Größe…“, murmelte sie leise, „Manchmal stellst du dich ganz schön blöd an, Elphaba Thropp!“ Lächelnd schüttelte sie den Kopf und hörte dann schon wieder Glindas Schritte.

Neugierig drehte sie sich um und sah eine hüpfende Glinda mit einem weißen Zettel in der Hand.

„Hier, Elphie!“, grinste Glinda und hielt der grünen Frau den weißen Zettel hin.

„Was ist das?“

„Meine Größe und meine… Größe!“, zwinkerte Glinda und Elphaba seufzte: „Nicht komisch, sagte ich…“

„Du wiederholst dich! Und nun ab mit dir!“ Bei diesen Worten zog Glinda die Frau an ihren grünen Händen vom Sofa hoch und in Richtung Wendeltreppe.

„Glinda, warte mal…“

Sofort blieb die blonde Frau stehen und sah die Hexe fragend an: „Was ist denn?“

„Was ist, wenn Fiyero wiederkommt?“

„Ich… schließe mich ein und tauche in der Wanne unter…“, grinste Glinda.

„Gute Tugend…“, seufzte Elphaba, „Was bist du anstrengend.“ Als sie Glindas Schmollmund sah, musste sie jedoch lachen.

„Tut mir leid, Elphie. Ich kann verstehen, dass du dir darum Gedanken machst, aber ich denke, wenn er kommt, werde ich das schon regeln können! Er kann ja sprechen…“

Elphaba war nicht ganz wohl bei dem Gedanken, dass Glinda vor ihr mit Fiyero sprechen würde, dennoch blieb ihr nichts anderes übrig: „Gut. Erklär ihm dann einfach nur das Nötigste und bitte sag ihm ni…. Ach, ist ja auch egal. Du machst das schon, du bist ja schon groß!“

„Und nackt! Naja, halb…“, grinste die Blondine.

„Glinda!“, rief Elphaba verlegen aus.

„Was denn? Wenn du dich nicht beeilst, dann wird der Zustand auch noch eine Weile andauern… Also, husch, husch…“ Bei den letzten Worten machte Glinda eine passende Handbewegung und scheuchte Elphaba die Treppe hinauf.

„Sag mal, willst du mich loswerden?“, lachte Elphaba.

„Nein… Ich will einen BH!“
 

„Elphabaaaaa….“, rief Glinda genervt, „Komm rahaaauuus….“ Sie saß am Bettende, ihre Beine hingen herab und sie blickte erwartungsvoll auf die noch immer geschlossene Badezimmertür.

Elphaba stand im Badezimmer. In einer Hand hielt sie den Pullover, den Glinda in ihrem Kleiderschrank gefunden hatte und der bestimmt schon über fünf Jahre alt war und in der anderen Hand hielt sie den dazugehörigen schwarzen Rock. Als sie Glindas Stimme hörte, ließ sie den Rock einfach fallen und öffnete die Tür. Sie war so genervt von diesem Pullover, dass sie ganz vergaß, sich den Morgenmantel überzuziehen.

„Glinda, ich kann das hier nicht anziehen! Das … passt einfach nicht zu mir!“ Elphaba stand jetzt vor dem geöffneten Kleiderschrank und hielt den Pullover mit ihrer rechten Hand in die Höhe.

Glinda rang nach Atem… Elphaba trug eine schwarze Unterhose mit passendem Oberteil und… mehr nicht. Ihr smaragdischer Körper stand im starken Kontrast zu der schwarzen Unterwäsche, was die grüne Haut noch intensiver wirken ließ. Glinda konnte es an einer Hand abzählen, wie oft sie den straffen Bauch oder die langen, dünnen Beine schon so gesehen hatte. Ihre Haare hatte Elphaba zu einem Knoten zusammengebunden und nur ein paar Haarsträhnen fielen über ihre trägerfreien Schultern. Die Schlüsselbeine standen etwas hervor und plötzlich hatte Glindas das Bedürfnis, sich ganz nah vor die Freundin zu stellen und mit den Fingerspitzen sanft über die grünen Schlüsselbeine zu streicheln. Glinda nahm überhaupt nicht wahr, dass Elphaba sich genervt zu ihrem Schrank umdrehte, um nach einem besseren Oberteil zu suchen, denn die Blondine sah nur den grünen Rücken und bemerkte dann, dass Elphabas Slip nur ihren halben Po bedeckte. Schnell schnappte sie nach Luft, bevor sie sich mit aller Macht gegen die aufs Neue aufsteigenden Gedanken wehrte.

‚Elphaba Thropp…’, dachte Glinda, ‚Jetzt wird es wirklich Zeit, dass du gehst. Ansonsten vergesse ich mich!’

Mit bloßer Willenskraft schaffte es Glinda, auf Elphabas Hinterkopf zu starren und ihren Blick nicht wieder abschweifen zu lassen: „Elphie? Was machst du da?“

„Nach einem gescheiten Pullover suchen!“

„Das da in deiner Hand IST ein gescheiter Pullover!“

„Glinda…“, seufzte Elphaba und drehte sich um. Die Muskeln unter ihrer Bauchdecke spannten sich leicht an.

„Nein! Keine Diskussion!“, antwortete Glinda und zwang sich, Elphabas Blick standzuhalten. „Elphie, du ziehst das jetzt an!“

„Warum um alles in Oz? Wieso tut es denn kein normaler Pullover?“

„Unsere Ansichten von normal unterscheiden sich ein wenig, aber stell dir mal vor, die Menschen aus Vorko erinnern sich an die Hexe, die andauernd nur in schwarzen Sachen herumlief? Keine Frau mit langen, schwarzen Haaren in Oz zieht sich mehr komplett schwarz an. Ich will einfach nicht, dass du auffällst!“

Elphaba fand, dass Glinda nun ein wenig arrogant klang, aber mit dem zweiten Teil ihrer Aussage hatte sie nun mal Recht: „Ist ja gut, ist ja gut!“

Seufzend warf Elphaba ihre Hände in die Luft, drehte sich um und marschierte ins Badezimmer. Glinda erhaschte schnell noch einen letzten Blick auf Elphabas Po.

„Und gnade dir Ozma, wenn du mir dunkle Kleidung kaufst!“, rief sie Elphaba kichernd nach.
 

„Wieso findest du Sachen in meinem Kleiderschrank, von deren Existenz ich nicht einmal mehr wusste?“, fragte Elphaba seufzend, als sie die Badezimmertür wieder öffnete und in das Schlafzimmer trat.

Glinda klatschte vor Freude in die Hände und grinste: „Pink passt so gut zu grün!“

„Kommt mir irgendwie bekannt vor… dieser Satz!“, zwinkerte Elphaba. Glinda hatte ganz hinten in ihrem Kleiderschrank einen alten, weißen Pullover gefunden. Die Ärmel begannen zu beiden Seiten mit einem grünen Streifen, worauf ein pinker folgte und am Ende der Ärmel bildete ein schwarzer Streifen den Abschluss. Ihre braune Tragetasche hatte sie sich umgehängt und zog sich nun die Kette an, an welcher die Träne der heiligen Aelphaba baumelte.

„Die Zeit verändert alles…“, flüsterte Glinda erstaunt. Es war immer noch ungewohnt, Elphabas sonnengebräunte, aber dennoch normale Hautfarbe zu betrachten und jedes Mal verblüffte es Glinda aufs Neue.

Elphaba seufzte, als sie an sich herunter sah: „Kann ich so gehen?“

„Natürlich, Fräulein Elrik. Schließlich habe ich ja auch dieses fabelhafte Oberteil, passend zu ihrem schwarzen Rock ausgesucht! Wenn ich Sie nun auf der Straße treffen würde, dann würde ich Sie wahrscheinlich gar nicht mehr wiedererkennen!“, kicherte Glinda.

„Ich habe dir ein Bad eingelassen, Liebes!“, entgegnete Elphaba zärtlich und ignorierte Glindas Albernheit. Glinda hatte zwar am Morgen schon ein Bad genommen, aber dieses Bad war ein besonderes… Sie wollte so schnell es ging wieder zurück sein, damit nicht zufälligerweise Fiyero und Glinda ohne ihr Beisein aufeinandertreffen würden.

„Oh, danke dir! Wo ist eigentlich dein Besen? Oder willst du den ganzen Berg zu Fuß hinab gehen?“, fragte Glinda und sah sich suchend im Raum um.

„Nein, der Besen müsste noch unten im Hof stehen. … Gut, ich bin dann mal weg und ich beeile mich! Damit wir so schnell wie möglich losziehen können!“

„Ist gut. Bis später dann!“, sagte Glinda, stand auf und umarmte die normalfarbige Freundin kurz. Dann verschwand sie ins Bad.

Als Elphaba hörte, wie Glinda summend in die Wanne stieg, lächelte sie und murmelte: „Nein, die Zeit verändert vielleicht vieles, aber nicht alles…“

Erst dann machte sie sich auf den Weg nach Vorko.
 

Glinda ließ sich seufzend in das warme Wasser der Wanne gleiten und tauchte kurz unter. Durch das Panoramafenster konnte sie noch sehen, wie Elphaba auf ihrem Besen in Richtung Vorko flog und bald nicht mehr zu erkennen war. Erst als die Hexe aus ihrem Blickfeld verschwunden war, schloss Glinda die Augen und fühlte, wie sich ihr Körper in dem warmen Wasser entspannte.

Mit einem Mal wusste sie, warum Elphaba ihr dieses Bad eingelassen hatte…

Sie atmete den Duft von Gillikinrose tief ein und war Elphie dankbar dafür, dass sie diesen Duft gewählt hatte. Nach dieser schrecklichen Nacht hatte die schöne Blonde sich nicht mehr getraut, den wohligen und entspannenden Duft einzuatmen. Doch nachdem sie die ganze Geschichte hatte erzählen können, war dieser Duft nun wieder entspannend, auch, wenn ihre Erinnerungen dadurch etwas lebendiger wurden.

In Gedanken öffnete Glinda einen Schuhkarton und packte jede einzelne Erinnerung sorgfältig dort hinein. Dann schloss sie den Deckel und stellte den Karton in einen Schrank.

Noch immer mit geschlossenen Augen griff sie nach dem Haarwaschmittel, welches Elphie für sie auf den Badewannenrand gestellt hatte und massierte die kühle Flüssigkeit in ihr nasses Haar.

Nach einer halben Stunde entspannen und summen, wusch Glinda ihr Haar aus und stieg aus der Wanne. Dann trocknete sie sich ab, wickelte ihre blonden Locken in ein Handtuch und schlüpfte wieder in den Morgenmantel.

Mit nackten Füßen tippelte sie zum Bett und ließ sich seufzend mit dem Rücken zuerst auf die weichen Kissen sinken. So lag sie dort weitere zehn Minuten und starrte an die Decke.

‚Jetzt ist Elphie endlich weg und meine Gedanken schwirren ungeordnet in meinem Kopf herum… Das darf doch nicht wahr sein!’, dachte sie, setzte sich auf und suchte in Elphies Nachttisch nach einem Blatt und einem Stift.

Als sie beides gefunden hatte, setzte sie sich auf und lehnte ihren Rücken an das Kopfende des Bettes. Die Knie zog sie an und legte das Blatt darauf. Mit einem gekonnten Griff wickelte sie sich das Handtuch vom Kopf, aus welchem dann die angetrockneten, blonden Haare fielen und legte es neben sich.

„Schreib es auf, Glinda… Schreib es auf…“, ermutigte sie sich selber und als sie den Stift ansetzte, füllte sich das weiße Blatt wie von selbst…
 

Nach einer halben Stunde schreiben, wieder durchstreichen und korrigieren betrachtete Glinda zufrieden ihr Werk.

„Gedichte schreiben hilft immer…“, lächelte Glinda. Ihr kam es vor, als würden sich ihre Gedanken immer dann ordnen, wenn sie sie dichterisch verpacken wollte.

Nun war sie in der Lage, die ganze Sache auch ohne Reime oder Metaphern zu durchdenken, denn im Gegensatz zu Elphaba hatte sie nicht das Bedürfnis, die Worte aussprechen zu müssen.

‚Ich fange am Besten mit den Gedanken an, die seit diesen Tagen wieder so penetrant in meinem Kopf herumschwirren, sodass ich mich immer wieder zurückhalten musste… Ich musste mich meinen Gefühlen gegenüber Elphaba nie wirklich stellen, weil sie immer im entscheidenden Moment weggelaufen ist… Und jetzt habe ich keine andere Wahl – ich MUSS eine Entscheidung treffen.

Ja, es ist nun einfach an der Zeit, dass ich mir eingestehen muss, dass meine Gefühle für Elphaba Thropp über Freundschaft hinaus gehen… Ich verstehe mich selber kaum, aber es ist das, was ich fühle. Aber was genau fühle ich… Es ist doch nicht normal, wenn eine Freundin dich berührt und dir ganz warm und kribbelig wird… Es ist nicht normal, dass ich am liebsten rund um die Uhr ihre Nähe und Wärme spüren möchte und es ist doch auch nicht normal, dass ich das starke Bedürfnis verspüre, sie zu berühren… sie in meine Arme zu nehmen… sie zu streicheln und küssen… Die Frage ist natürlich auch, was ist normal… aber unter Freundschaft verstehe ich etwas anderes!

Und nun bin ich an dem Punkt angelangt, an welchem ich sagen muss: Es ist mehr. Ich bin nicht in der Lage, genau zu definieren, was ich genau für Elphaba fühle… Ich weiß nicht, ob es Liebe ist, denn ich finde, Liebe ist ein solch abstrakter Begriff, dass man ihn für sich selber definieren muss und wenn ich unbedingt einen Begriff dazu nennen müsste, würde ich wohl sagen: Ich bin verliebt in sie.

Und ich weiß auch, dass es schon lange so ist, aber nach ihrem damaligen Verschwinden habe ich den Entschluss gefasst, nie, nie, nie mehr wieder über Elphaba in dieser Art und Weise nachzudenken.

Denn jedes Mal, wenn diese Gedanken wieder und wieder auftauchten, wurden sie durch Elphabas Verschwinden unterbrochen. Ich hatte nie die Gelegenheit zu erfahren, was ich für sie fühle, geschweige denn was sie für mich fühlt…

Nach all den Jahren sollte sich dieses Thema abgekühlt haben - so hatte ich gedacht und auch gehofft… Aber schon am See musste ich erkennen, dass es nicht so war…

Es hat schon gereicht, dass sie mich nur angelächelt hat und sofort kamen die Gefühle wieder… Dieses Kribbeln, die Unsicherheit… einfach alles. Und es kam mir vor und das kommt es auch jetzt noch, als wären diese Gefühle noch stärker als früher.

Diese ganze Sache ist schon kompliziert genug und ich habe jetzt einfach das dringende Bedürfnis, mich für eine Seite klar zu entscheiden. Die Frage ist ganz einfach: Was mache ich jetzt? Welchen Weg wähle ich? Sage ich ihr das alles oder unterdrücke ich jegliches Gefühl und hoffe dann auf Gefühlsabbau?

Mich stört einfach die Tatsache, dass ich mit dem Kopf versuche, eine Entscheidung über meine Gefühlswelt zu fällen und ich weiß genau, dass das eigentlich nicht möglich ist. Zumindest nicht für mich… Für Elphaba vielleicht schon, aber ob ich das schaffen würde, weiß ich nicht…

Ich habe die letzten Tage ziemlich viele Anspielungen gemacht und Elphaba hat auf keine einzige reagiert…’

Glinda seufzte und erinnerte sich an Elphabas Worte: „…Ich konnte unmöglich mit dir abschließen, in dem Wissen, dass meine Gefühle erwidert werden…“

Das war das einzige Mal gewesen, bei dem Elphaba nicht die passenden Worte gefunden hatte…

‚Oder eben genau die passenden…’, dachte Glinda.

„Nachdem du dich aus dem Staub gemacht hast, blieb mir nur noch Fiyero…“, hörte Glinda nun ihre eigene Worte…

‚Und das war doch wohl eine eindeutige Anspielung… oder etwa nicht?’, fragte sie sich in Gedanken, ‚Auch auf meine Worte in der Bibliothek hat sie eher abweisend reagiert, genau wie auf den Kuss… Sie wird es vielleicht irgendwann begreifen, was ich damit gemeint habe… Aber so lange kann ich nicht mehr warten. Ich muss mich jetzt entscheiden… JETZT!

Jetzt, nach all den Jahren habe ich meine Elphie wieder… Sie hat mich verletzt und mich enttäuscht… Sie hat sich entschuldigt und mich gerettet… Aber das wichtigste ist: Sie hat auch MIR alles verziehen… Und ich glaube… nein, ich weiß, dass ich sie nicht noch einmal verlieren will oder kann… Das würde ich nicht aushalten. Ich brauche einfach ihre Nähe. Sie tut mir so gut und ich kann das, was ich hier und jetzt wiedergeschenkt bekommen habe, nicht einfach so gefährden, nur, weil meine Gefühle meinen, sie müssten auf dem Tisch tanzen… Außerdem befinden wir uns beide in einer Situation, deren Ende wir nicht vorhersehen können und ich will nicht, dass wir uns schon wieder mit offenen Fragen trennen… Das will ich eigentlich gar nicht denken, aber auch diese Möglichkeit beschäftigt mich sehr… Wir wissen nicht, was uns in der Smaragdstadt erwartet und ich kann jetzt nicht riskieren, dass etwas zwischen uns steht, wenn wir uns auf den Weg dorthin machen…

Dafür bedeutet sie mir zu viel… Es ist mir egal, was passiert, aber ich will sie auf keinen Fall verlieren… Vielleicht kommt irgendwann einmal der Tag, an welchem ich ihr all das sagen werde, aber dieser Tag wird bestimmt nicht heute, nicht morgen und auch nicht in absehbarer Zeit sein…

Ich, Glinda, entscheide mich hier und jetzt nun dafür, meine Gefühle für Elphaba Thropp, die über Freundschaft hinaus gehen, in einen Schuhkarton zu packen und ihn zuzukleben… Das scheint mir der beste und klügste… aber auch einfachste Weg zur Zeit zu sein.

Alles andere würde die ganze Sache nur noch komplizierter machen… Und das weiß ich.’

Erschöpft ließ Glinda sich in die Kissen hineinsinken. Sie hatte eine Entscheidung getroffen. Sie fühlte sich einerseits erleichterte, aber andererseits tat diese Entscheidung auch weh…

Mit den letzten klaren Gedanken packte sie das Thema ‚Elphaba Thropp’ in einen Karton und verschloss ihn sorgfältig. Danach schlief sie erschöpft ein.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: abgemeldet
2010-09-07T14:19:45+00:00 07.09.2010 16:19
Ach man ey Wann werden sie es sich endlich gestehen,. Das ist die reinste Folter hier *schmoll*



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