Murphy's Law
Seit mehren Stunden schon, war es einzig und allein das Kratzen des Skalpells, welches durch die Stille drang.
Früher, pflegte er oft Musik laufen zu lassen, während des Arbeiten, doch inzwischen hatte er sich angewöhnt, in gänzlicher Ruhe zu schnitzen.
Obgleich er Mozart und auch Beethoven nach wie vor sehr zu schätzen wusste, so bereiteten ihm die Klänge, ihrer Stücke, doch schon lange keine Freude mehr.
Nichts, vermochte dies mehr zu tun.
Kaum merklich zuckte er zusammen, als draußen vor dem Fenster auf einmal Kinderlachen ertönte, gefolgt von Rufen und schließlich rannten mehrere Personen an seinem kleinen Kabuff vorbei.
Er konnte sie nicht sehen, genau so wenig, wie sie ihn wohl sehen konnte, denn die Vorhänge waren stets zu gezogen und die Fenster stets geschlossen, denn so arbeitet er am liebsten.
In Ruhe, ungestört und vollkommen allein.
Ein flüchtiger Blick zur Uhr, verriet ihm, dass es bereits nach Mittag war.
Die Kleinen hatten wohl Schulschluss, eilten sich nach Hause zu kommen, wo sie bereits von ihren Müttern erwartet wurden, bekocht worden, von dem Wenigen, was die Essensverteilung hergab.
Unbestimmt zuckte es um seine Mundwinkel und obwohl die Situation eigentlich nicht zum Lachen war, konnte er sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.
Wie albern, es ihm doch schien, in Zeiten wie diesen, die Schulbank zu drücken.
Nun wusste er natürlich, dass die schulische Ausbildung, zur Zeit nicht der glich, welche er zum Beispiel genossen hatte.
Trotz alle dem, versuchte man wahrhaftig den guten Schein aufrecht zu erhalten und so zu tun, als hätte man, weiß Gott auch wie, die Situation im Griff, doch es lag auf der Hand, das dem nicht so war.
Immerhin hatte er selbst gesehen, wie gut dieses Regime die kriegerischen Aktivitäten im Blick hatte und wie überaus kommerziell die Entscheidungen der Regierung ausfielen.
Leise seufzend ließ er den Blick schweifen und blieb letztendlich, damit, an seinem Holzbein hängen.
Obwohl ihn hier drinnen niemand sehen konnte, denn Besuch bekam er keinen, von wem denn auch, nahm er es selbst in seinen eigenen vier Wänden kaum ab.
Eine Ausnahme machte er, wenn er baden, oder duschen ging, da sah er sich gezwungen die Prothese, Prothese sein zu lassen, denn das Holz würde nur morsch werden, von den Dämpfen und der Feuchtigkeit.
Er schnaubte verächtlich und schüttelte dann sachte den Kopf, ehe er sich wieder seiner Arbeit zu wand.
Das Geräusch des Schaben, des Skalpells, beruhigte ihn, es hatte etwas derartig vertrautes und kurz flackerten Erinnerungen vor seinem geistigen Auge auf, wie er früher, als kleiner Junge in seinem Bett gelegen hatte, die Tür zum Kinderzimmer angelehnt und stumm gelauscht hatte.
Dem leisen Flüstern seiner Eltern, welches aus der Küche zu ihm gedrungen war, sie hatten ihn nicht wecken wollen, dabei war es gerade ihr heiseres Sprechen, was ihn oft so beruhigt hatte einschlafen lassen.
Einmal das, ebenso das Kratzen des Holzes, denn das Schnitzen hatte er von seinem Vater beigebracht bekommen, welcher es wiederum von seiner Mutter gelernt hatte, seiner Großmutter.
Früher hatten sie einen eigenen Laden gehabt, keine Hand-oder Beinprothesen geschnitzt, sondern Puppen, Marionetten aus Holz.
Viele Kinder waren gekommen und er hatte sich immer für so besonders befunden, wie er da so mit hinter der Theke saß, manchmal sogar das Geld annehmen durfte, um es in die Kasse zu legen.
Er stoppte in der Bewegung, das Schaben verstummte und es wurde komplett still in dem kleinen Raum.
Er würde den Tag nie vergessen, der Tag der sein Leben für immer verändern sollte.
Es war ein lauer Frühlingsmorgen gewesen und wie so oft, wurde er von der Mutter geweckt, doch sie hatte sein Zimmer direkt wieder verlassen, hatte sich nicht, wie sonst, an den Rand der Matratze gesetzt und leise mit ihm gesprochen, nur mit gehetztem, unglücklichem Gesicht die Tür angelehnt, noch gesagt, er solle sich sputen.
Natürlich tat er, was man ihm befohlen hatte, denn er war ein artiger Junge gewesen, gerade mal sieben Jahre alt, behütet und liebevoll aufgezogen worden, nichts hätte seine Geisteshaltung je ins schwanken zu bringen vermocht.
Bis auf...
Seine Hände zitterten leicht unter dem Gedankenfluss und er merkte, wie seine Kehle sich zuschnürte.
Unten in der Küche, hatte sein Vater gestanden, anders gekleidet als sonst, eine Uniform hatte er getragen, anstelle des lockeren Hemdes und der braunen Hose, welche von Hosenträgern an den Schultern gehalten wurde.
Schon damals hatte er gewusst, dass etwas nicht stimmte und obwohl er so eine Uniform noch nie an seinem Vater gesehen hatte, geschweige denn überhaupt wusste, dass er denn so eine besaß, wusste er sofort, wozu sie gehörte und auch, was sie bedeutete.
„Sasori.“, hatte sein Vater gesagt und ihn traurig angelächelt dabei, war in die Hocke gegangen und hatte ihm die große Hand auf den leuchtend, roten Haarschopf gelegt.
Die feuerroten Haare hatte er von seinem Vater vererbt bekommen und obgleich ihn die anderen Kinder in der Schule gerne mal deswegen aufzogen hatten und den ein oder anderen Streich gespielt, mochte er sie doch recht gerne.
„Versprichst du mir, gut auf deine Mutter und Großmutter zu achten, so lange ich weg bin?“, hatte sein Vater ihn gefragt und Sasori hatte sogleich genickt, im nächsten Moment jedoch wissen wollen, wo sein Vater denn hinginge, obwohl er die Antwort darauf fürchtete.
„Ich kämpfe für unser Land, damit wir weiterhin glücklich und in Frieden leben können.“
Bis heute hallten diese Worte in seinem Kopf und mit einem Mal splitterte das Holz an der äußeren Kante.
Deprimiert ließ er die halb beendete Prothese sinken und besah sich die Kerbe genauer.
Er hatte das Skalpell zu fest angesetzt.
Ein Anfängerfehler, aber warum gerade jetzt?
„Und wann kommst du wieder?“, hatte er seinen Vater gefragt, welcher daraufhin nur den Kopf geschüttelt hatte und leise gelacht.
„So schnell wie möglich.“, hatte er versprochen, was Sasori als Antwort genügt hatte, denn er wusste, dass sein Vater, nur das Beste für ihn wollte und er war stolz auf ihn gewesen, denn für das Land zu kämpfen, schien ihm sehr von Bedeutung zu sein und es hatte ihn mit Stolz erfüllt, der Sohn von jemanden zu sein, der etwas Bedeutens leistete.
Und als sein Vater schließlich gegangen war, begann er zu warten.
Tage wurden zu Wochen, Wochen schließlich zu Monaten und als schließlich sein Mutter an die Front musste, um im Lazarett aus zu helfen, da hatte er gewusst, dass „So schnell wie möglich“ ein sehr dehnbarer Begriff gewesen war.
Trotzdem, hatte er weiter gewartet.
Tag um Tag, Woche um Woche, Monat um Monat.
Jahr um Jahr.
Doch keiner der beiden war je zurückgekehrt.
Bis heute nicht.
Er seufzte gedehnt, legte Holz, sowie Skalpell schließlich auf der Werkbank ab und klopfte die Hände an der Hose ab, um sie von den Mikropartikeln des Feinstaubes zu befreien.
Leise stöhnend erhob er sich, verlagerte das Gewicht hauptsächlich auf das gesunde, ihn nach wie vor tragende Bein und krallte sich mit den Fingern um den Griff seiner Krücke, ehe er gemächlich aus der Werkstatt hinaus, in den Flur humpelte.
Es war komplett still im Haus, wie sollte es auch anders sein, immerhin war er der einzige Bewohner, auch die meisten Nachbarn waren fort, geflohen, ausgebombt.
Erst eine Woche, bevor er zurück nach Berlin gekehrt war, war ein paar Häuser weiter eine Fliegerbombe eingeschlagen.
Er hatte die Familie gekannt, nicht gut, nur flüchtig, doch er konnte sich genau erinnern, wie er dem Mädchen eine Puppe zu Weihnachten gefertigt hatte.
Er konnte sich genau erinnern, wie die Mutter sich bei ihm bedankt hatte, gesagt, sie wäre perfekt und auch ihm ein frohes Fest gewünscht hatte.
Das Kind konnte nicht älter als neun gewesen sein.
Auch das Obergeschoss lag da, wie ausgestorben, die einzige Geräuschquelle, war das Ticken, der Wanduhr im Wohnzimmer.
Hier oben war es heller und er musste die Augen leicht zusammenkneifen, bis er sich an das Tageslicht gewöhnt hatte, überlegte kurz, auch hier die Vorhänge zu zuziehen, entschied sich dann jedoch dagegen.
Leise seufzend und sichtlich erschöpft, ließ er sich an den Küchentisch sinken, lehnte die Krücke gegen die Kante und fuhr sich mit den Händen in den Nacken, um diesen leicht zu massieren.
Unter stetigem Murren rotierte er leicht mit dem Kopf um seine steifen Wirbel etwas zu mobilisieren, das dauernde nach unten schauen machte sich langsam bemerkbar.
Manche bezeichneten ihn als Glückspilz und vielleicht war er das auch, obwohl sich in Zeiten wie diesen vermutlich niemand unbesorgten Gemütes war und doch, hatte der liebe Gott Nachsehen mit ihm gehabt.
Er biss die Zähne zusammen, stemmte sich dann von der Sitzfläche des Stuhls erneut nach oben und humpelte wankend zur Küchenzeile um sich einen Kaffee auf zu brühen.
Ohne Krücke.
Kleine Abstände gingen aus so.
Doch für die Treppenstufen war sie unabdingbar.
Es war natürlich ein Schlag ins Gesicht gewesen, sein Bein zu verlieren, doch lieber das Bein, als den Kopf, so pflegte er sich stets zu beruhigen.
Und ganz rational betrachtet, war es ohnehin praktischer, immerhin konnte er so der Ostfront entkommen.
Dann doch lieber Berlin.
Mit gesenktem Blick ließ er sich leicht nach vorne sacken, legte die Arme auf der Arbeitsplatte, der Küchenzeile, auf und schaute verträumt aus dem Fenster.
Der Himmel war wolkenverhangen und grau und das schummrige Licht zwang Einen, die Augen zusammen zu kneifen.
Interessiert betrachtete er sich eine Weile lang die Menschen unten auf den Straßen.
Viele waren es nicht, dabei wohnte er recht nah des Zentrums, im Winter und wenn die Bäume keine Blätter trugen, so wie jetzt, dann konnte er sogar bis rüber zum Brandenburgertor sehen.
Auch das ockergelbe Gemäuer des Adlons und das dazugehörige, grüne Dach vermochte er zu erkennen.
Immerhin etwas, das bislang unbeschadet blieb, doch er wollte nichts beschwören.
Ein letztes Mal schweifte er mit dem Blick über das zerstörte Berlin und ein heiseres Seufzen stahl sich über seine Lippen.
Für gewöhnlich wurde er nicht so sentimental, denn eigentlich war er stets jemand gewesen, der sich im Griff zu haben wusste, doch das Ausmaß des Krieges, ließ selbst ihn nicht unberührt.
Auch wenn er noch lange nicht in Tränen ausbrechen musste, bei diesem Anblick, so wie anders wer, einen Schauer über den Rücken, jagte es ihm dennoch.
Es war schon verrückt, was da alles in der Welt so passierte.
Und wie wenig Einfluss man darauf nehmen konnte, selbst wenn man es denn gewollt hätte.
Doch er für seinen Teil, hatte es aufgegeben.
Was passieren würde, das würde passieren.
Murphys Gesetzt, während Andere sich vielleicht wieder aufs' Schicksal berufen würden.
Erneut legte sich Stille über ihn, nur das dumpfe Murmeln, welches von den Straßen, durch das geschlossene Fenster zu ihm nach oben drang und das Ticken der Wanduhr, erfüllten den Raum mit Klang.
Der Kaffee schien fertig.
Oder, eben das, was auch immer sie ihnen als Kaffee zu verkaufen versuchten.
Muckefuck.
Allein der Name, war ja schon ein schlechter Witz.
Ganz zu schweigen, von dem Getränk an sich, doch, nun musste sich Sasori selbstverständlich auch eingestehen, dass er recht wählerisch war, um fair zu bleiben.
Schon früher, war er ein Feinschmecker gewesen und hatte sich nur mit dem Besten zufrieden gegeben, letzteres auch auf sämtliche, andere Lebenslagen übertragen.
Man hätte ihn als Perfektionisten beschreiben können.
Und das war schon sehr trefflich.
Gerade hatte er sich wieder in eine aufrechtere Position gebracht und war bereits im Begriff gewesen, aus einem der oberen Hängeschränke eine Tasse zu kramen, da ließ ihn das vertraute, knatternde Geräusch eines Autos kurz inne halten.
Absichernd warf er einen flüchtigen Blick durchs Fenster und erschauderte kurz, als es tatsächlich der weiße Transporter war, welcher dort unten, direkt vor seiner Haustüre Halt machte.
„Verdamm' ich.“, knurrte der Rothaarige leise, donnerte die Tasse ruckartig auf das Holz der Arbeitsplatte, so dass es leicht polterte und sogar der Pfeffer – sowie der Salzstreuer durch die Erschütterung leicht ins wanken kamen, ehe er sich seine Krücke schnappte und eilig Richtung Treppe hinkte.