Ouvertüre
Hell tanzt die Musik durch die Leere, fließt, perlt durch die Luft wie Wasser aus einem Blütenkelch, umfängt das Sein mit all ihrer Vollkommenheit, bevor sie sich in ungeahnte Höhen schwingt. Die Klänge tönen, spielen, sind wie ein Gewebe aus Sternenlicht, rein, voll Schönheit, sie fliegen, schweben, sind.
Und er segelt auf den Schwingen des Liedes, leicht, unbeschwert, er tanzt, tanzt im Reigen der Melodie, die ihn immer höher hebt, fort von dem, was ihn hindert, tanzt zu den Klängen, die ihn leiten, in den Himmel führen. Er folgt dem Pfad, den ihm die Noten bauen ...
Doch mit einem Mal spürt er, wie seine Schwingen schwerer werden; er stolpert, verliert jeden Halt und stürzt, während die Musik immer leiser zu ihm dringt, immer vergangener, schwächer. Mit aller Macht versucht er, dagegen anzukämpfen, er will nicht zurück, er will höher, weiter, näher zu dem überirdischen Klang, der ihn anzieht, lockend beschwört, nicht nachzugeben. Doch seine Füße werden plump, sein Tanz lahmer, mit einem Mal spürt er einen unglaublichen Schmerz in seinem Körper, der ihn starr und leblos werden lässt. Und mit der Melodie, nach der er sich sehnt, verschwindet auch seine Erinnerung. Verzweifelt umklammert er sie, doch unerbittlich zieht es ihn in die Tiefe, in die Kälte, in die Trostlosigkeit, in der er, das weiß er, nicht bleiben will, nicht bleiben kann, nicht überleben wird...
Doch er vergisst.
Vergisst und treibt immer tiefer, immer weiter in die Einsamkeit, fühlt, wie alles egal, gleich wird, wie er die Wirklichkeit verliert, und ist eigenartigerweise beruhigt. Er muss nicht leben, nicht leiden, nicht gegen das kämpfen, was er fürchtet, nur das verlieren, wonach er sich so sehnt. Dunkler und wahrer wird es um ihn herum und er spürt sich selbst schon kaum mehr.
Doch plötzlich hört er sie wieder, die Klänge, nach denen es in ihm lechzt, die ihn locken, rufen, verführen wollen, und er folgt ihrem Ruf, müde, ausgelaugt, mutlos, nur getrieben von der Hoffnung, sie wieder zu finden...
Die eisige Kälte, die ihn nun umfängt und betäubt, hat nur auf ihn gewartet und ein übermenschlicher Schmerz ergreift von ihm Besitz. Es ist ruhig, still, nur aus der Ferne hört er die Töne. Er weiß nichts, nur dass er sie finden, einholen und besitzen muss...
Der stechende Schmerz lähmt ihn und frierende Tränen laufen über seine Wangen, immer mehr, immer schneller, immer kälter, bis sie seinen ganzen Körper bedecken, wie tausende Klingen, die ihm das Fleisch zerschneiden. Wie Eis fließt, pulsiert das Blut in seinen Adern und doch spürt er die Hitze seines Atems auf der Haut, von der er nicht weiß, woher sie kommt, denn alles an ihm ist kalt, seine Hände, seine Arme, seine Füße, die Wangen, die Beine, das Herz, nur der Atem scheint glühend, versengend, unwirklich. Die Melodie, die ihn zu sich geholt hat, wird lauter, klingt näher, drängender und mit ihr wird die Pein wahrhaftiger, der Schmerz echter. Er versucht, sich zu den Klängen vorzukämpfen, den Pfad wieder zu finden, der ihn diesen schon einmal näher gebracht hat, vergebens, merkt, wie er stirbt, wieder lebt und kaum denken kann vor Leid ...
Es regnet.
In dichten, langen Fäden fällt das Wasser vom Himmel und durchweicht seine Kleidung weiter, die schon ganz nass, ganz klamm ist und an seinem Körper klebt. Der Schmerz ist kaum auszuhalten, es kreischt, schreit, weint in jedem Glied und er wünscht sich für einen Moment, gestorben zu sein.
Doch die sanften Töne, die durch das Plätschern des Regens zu ihm dringen, vertreiben diese Gedanken, vertreiben eigentlich alles andere aus seinem Kopf. Er fühlt, dass diese Musik ihn leiten muss, so, wie sie ihn aus dem Nichts geführt hat, aber er bringt kaum die Energie auf, sich zu erheben, sich auch nur nach ihrem Ursprung umzusehen. Aber schließlich schafft er es doch, öffnet die Augen, in die kaltes Wasser fließt. Die Dunkelheit, die mit einem Mal gar nicht so dunkel erscheint, wird erleuchtet von dichten, grauen Wolken, die das Licht aufgesogen haben. Mit einiger Mühe dreht er den Kopf, um endlich zu sehen, wonach es ihm schon immer, so scheint es ihm, verlangt hat.
Und er sieht.
Sieht eine verhüllte, magere Gestalt, die eine kleine, dreieckige Uhr, deren Oberfläche im Dämmerlicht golden schimmert, als sei sie aus flüssigem Sonnenlicht, fest umschlossen in den Händen hält.
Und plötzlich, ohne nachzudenken, weiß er, dass es seine ist, dass er sie wieder haben will, haben muss, ohne nachzudenken springt er auf, stürzt auf den Fremden zu, ohne nachzudenken reißt er ihm das Kleinod aus den Händen, bevor er strauchelt, fällt und von einer gnädigen Finsternis umfangen wird.
Dunkel dringt ein Alt zu ihm, dunkel und schwer wie der süße Duft des Jasmins, der im Sommer den Garten füllt. Und er lässt sich tragen von der Melodie, die ihm fremd und vertraut zugleich erscheint, jubiliert, weil er sie wieder gefunden hat. Ohne zu sehen, folgt er dem schwingenden, lachenden Rock, der sich stets im Kreis dreht, ständig, immerzu, ohne Pause, ohne Unterlass, der schwingt, sich im Wind wiegt und auf seine eigene Weise tanzt. Er weiß, dass er die Stimme, die Frau, nicht verlieren darf, dass er sie an sich nehmen muss, dass sie der Schlüssel, die Antwort ist, dass sie zumindest Teil des ganzen Bildes werden muss, damit er es verstehen kann. Doch er kann nicht sehen, nicht sie, nicht den Rock, obwohl dieser sich ohne Ende dreht und dreht und dreht, obwohl er Sie sehen muss. Er ist wie blind, geblendet und getäuscht, und die Gewissheit, kurz vor der Lösung, dem Ende zu stehen, macht ihn schier wahnsinnig. Doch egal, was er tut, der Tanz, der Rock und das Mädchen, dem er gehört, schwinden, werden zu Luft, sind wie ein Traum, kurz bevor der Schlaf dem Wachen weicht. Doch er will sie halten, nicht ziehen lassen, will nicht wieder verlieren, was ihm so wichtig ist, will endlich Gewissheit...
Trotz seines Bemühens wird es ruhiger, der Gesang leiser, sanfter, bis er in der Unendlichkeit verklingt und ihn alleine lässt mit dem Gefühl, ein Stück seines Selbst verloren zu haben. Er fühlt sich einsam, verloren und will gar nicht mehr erwachen, nicht mehr zurück in die ungnädige Wirklichkeit, die ihn doch nur enttäuscht ...
Doch tief in sich spürt er den starken Drang, sie wieder zu finden, die Musik, den Tanz, der, das weiß er genau, sein Leben verändern wird oder schon verändert hat. Er glaubt und spürt, er weiß, dass er eine Aufgabe hat, dass er gegen sich selbst kämpfen und sich aus diesen trüben Gedanken befreien muss, da er sonst nicht gelebt, sein Leben verschwendet hat...
Mit einem Mal sagt ihm ein altbekannter, dumpfer Schmerz, dass er in der Wirklichkeit angekommen ist.
Er ist hungrig. In seinem Kopf rumort es. Seine Augen sind kraftlos. Und in seine Nase steigt ein fremder Geruch, ein Duft nach Seife und altem Leinen, der durchaus nicht unangenehm ist. Mit Mühe und unter Schmerzen schlägt er die Augen auf, nur um zu sehen, dass er nichts sehen kann, sich geirrt hat und noch in der ewigen Dunkelheit treibt. Fast schon erleichtert, doch nicht kämpfen, doch nicht leben zu müssen, aber alles dafür getan zu haben, will er wieder zurück in den Traum, in dem er erreicht hat, was er will...
Plötzlich überflutet helles, grelles, schmerzendes Licht sein Gesicht, kalt und unnahbar, falsch und ungewohnt. Unbekannte Farben, fremde Formen tanzen, spielen vor seinen Augen und versperren seine Sicht, bis er sich an das Laninlicht, das vor seiner Nase leuchtet, gewöhnt hat. Dann sieht er einen jungen Mann, und bei Gott, er könnte schwören, noch nie einen so verlogenen, verbrecherischen Menschen erblickt zu haben. Es ist ein Mensch, der sofort all seinen Argwohn, seine Zweifel und sein Misstrauen auf sich zieht. Er kann nicht genau sagen, warum, denn das goldblonde Haar, das in die dunklen, blauen Augen fällt, sollte der Erscheinung von vorneherein jede Chance nehmen, bedrohlich, kriminell oder falsch zu wirken. Vielleicht liegt es an dem schmalen, spitzen Gesicht, den knochigen Händen, die wie gemacht dafür zu sein scheinen, flink in Taschen zu schlüpfen oder auch an dem mageren, gelenkigen Körper, der mit Sicherheit schlangengleich durch jede Öffnung kommt. Auf jeden Fall weiß er, dass dieser Mensch nichts Gutes im Schilde führen kann, und merkt, fühlt, dass er ihm schon etwas genommen hat...
"Guten Tag."
In den Augen des Blonden ist Unsicherheit, Unbehagen, ja geradezu Angst zu lesen, gemischt mit einer Neugierde, die der Besessenheit gleichkommt.
"Wie geht es Ihnen?"
Zwei Blicke treffen, kreuzen sich und mit einem Mal durchfährt es den Krieger wie ein Blitz und er verwünscht sich dafür, dass es ihm nicht früher eingefallen ist, verflucht den Fremden dafür, dass er es gewagt hat, ihm genau jenen Schatz zu stehlen, der ihm helfen soll wieder zu finden, was er vergessen hat, und das ist viel. Ohne auf den höhnischen, schadenfroh lachenden Schmerz zu achten, der durch jede Faser seines Körpers fährt, springt er auf, drückt den schmutzigen Dieb, der ihm zum zweiten Mal genommen hat, was für ihn so wichtig ist, gegen die Wand und verlangt sein Eigentum zurück.
"Gib es mir."
Er weiß, dass diese Ratte es hat, dass er bestohlen, beraubt wurde, während er hilflos in der Besinnungslosigkeit trieb, und so kann er, mit eiskalter Wut im Blick, den Hals des Anderen umschließen und ihn würgen, als er es leugnet.
"Ich weiß nicht, was Ihr meint! Ich habe Euch von der Straße geholt, ohne mich wäret Ihr erfroren!"
Der Griff wird fester, der Druck größer, die Luft knapper, denn auch wenn es eine halbe Wahrheit ist, will er zurückhaben, was ihm gehört, was einst Teil von ihm gewesen ist.
"Gib es mir."
Die Angst lässt den Atem des Diebes fliegen,fliehen, hasten, und mit aller Macht versucht er, sich aus dem Klammergriff, dem Würgen zu befreien, bereut von Herzen, dass er seinem Gefühl nachgegeben und den bedrohlichen, seltsam fesselnden Fremden mitgenommen hat.
Noch einmal versucht er es, voller Angst, Unruhe, voller schwarzer Todesgedanken.
"Lasst mich herab, ich weiß nicht, wovon Ihr sprecht!"
Doch seine Augen, zuckend, die Ausweglosigkeit ahnend, verraten ihn, entlarven den Lügner, den Dieb in ihm, denn er ist viel zu erschrocken, zu überrumpelt, um aus seinem sicherlich größeren Repertoire zu schöpfen. So hebt der Gedächtnislose den Arm und drückt entschlossener zu, sodass nur ein Japsen, ein keuchendes Röcheln zu hören ist.
"Gib es mir."
Endlich, fast zu spät, erkennt der Dieb die Situation, sieht, dass er dieses Mal falsch gehandelt, dem Falschen das Falsche gestohlen hat, und panisch sucht er in den großen, weiten Taschen, in denen einiges lagert, nach dem, was der Stärkere verlangt. Seine Lungen schreien nach Atem, vor seinen Augen tanzen dunkle, endgültig tote Flecken, während er mit einer Hand der puren Angst wegen die Faust des Fremden umklammert. Immer schneller wühlt er, doch seine zitternden Finger spüren nichts mehr, fühlen nicht mehr, was sie greifen, immer unwirklicher wird die Welt, immer schwärzer und schmerzender...
Doch mit einem Mal findet er sich keuchend, japsend, nach Luft schnappend auf dem Boden wieder, merkt, wie sich die Sicht langsam klärt, er dem Leben immer wieder näher kommt, bis er völlig lebendig, mit schmerzender Brust schnell herausholt, was ihn fast das Leben gekostet hätte, und es seinem Peiniger übergibt, der es sofort umschließt und die sanfte Wärme in seiner Handfläche spürt. Während der eine noch Gott für sein Leben dankt, kurz davor ist, seinen Beruf an den Nagel zu hängen, ehrbar zu werden und sich selbst verflucht, weil er den faszinierenden Fremden nicht hat auf der Straße liegen lassen, lauscht der andere den sanften Klängen, für die er alles, wirklich alles, machen würde.
Halb wünscht er, schon jetzt zu wissen, warum diese Uhr so wichtig, so grundlegend für seine Suche nach sich selbst ist, doch er kann sich nicht erinnern. Aber das wird schon kommen, das fühlt er, und plötzlich spürt er auch den nagenden Hunger, den Schmerz in seinem Magen, der ihn darauf aufmerksam macht, dass auch sein Körper Bedürfnisse hat. Und während der gescheiterte, noch immer keuchende Dieb versucht, seine Gedanken zu ordnen, sich selbst zu verstehen, öffnet der Krieger eine Türe, die, wie er zu Recht vermutet hat, in die Kochnische führt. Unsicher blickt er sich um, mustert all die Gegenstände, von denen die wenigsten rechtmäßig hier sind und weiß mit einem Mal, auch wenn er sich sonst an kaum etwas erinnern kann, dass er nie gelernt hat, mit diesen umzugehen. Unbeholfen lässt er den Blick weiter schweifen und überlegt, wägt die Unbequemlichkeiten ab.
Er entscheidet sich recht schnell und dreht sich zu der Türe, die einen kleinen Spalt aufsteht, durch den ihn Augen misstrauisch, ängstlich und zugleich fragend anblicken, als warteten sie auf etwas. Der ehemalige Patient schluckt schwer und schaut den anderen dann bittend, um Hilfe heischend aus denselben grünen Augen an, die diesen eben noch in Todesangst versetzt haben.
Und mit einem Mal kann Adamo Leham, Kleinkrimineller aus Leidenschaft, nicht anders und macht sich daran, den gewalttätigen Besuch zu bekochen.