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Chiisana LOVE-STORIES

Die ultimative Anime-Crossover-Dating-Fanfic
von

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Hatori und Orihime - Heimat

Von Jitsch
 

Da sind wir wieder mit einer neuen Geschichte. Diesmal ist es zur Abwechslung kein von einem Leser gewünschtes Pairing. Für dieses Paar wollten wir zwei etwas ältere Charaktere, die gut zusammenpassen und so sind wir schließlich zuerst auf Hatori und dann auch auf Orihime gekommen. Ich hoffe, euch gefällt die Story, die wir uns auf der Fahrt nach Hamburg ausgedacht haben.

Ein wichtiger Aspekt der Story ist übrigens der Fakt, dass Orihime, nachdem sie aus der Wohnung, in der sie mit ihrem Bruder gelebt hat, herausgeschmissen wurde, in einem Zelt lebt. Ich bin mir mit dieser Info nicht ganz sicher, habe sie auf Wikipedia auch nicht wiedergefunden, also wenn es nicht stimmt, verzeiht uns bitte.
 

           Heimat
 

„Los, rein mit dir!“

Tatsuki schob ihre schwach protestierende Freundin Orihime energisch durch die automatisch öffnende Glastür der Apotheke an der Hauptstraße. „Hey, ich muss wirklich ni- haaaatschi!“

Orihimes Worte wurden von einem brutalen Niesen unterbrochen, das sie ziemlich durchschüttelte. Als sie die zugekniffenen Augen wieder öffnete, hielt ihre kurzhaarige Freundin ihr wortlos eine Packung Taschentücher mit dem Werbeaufdruck einer Mobilfunkfirma entgegen. Orihime bediente sich und schnäuzte sich möglichst unauffällig. „Danke“, nuschelte sie.

Tatsuki nahm ihre erkältete Freundin am Arm. „Los, komm, wir finden bestimmt was“, sagte sie und zog sie sanft aber bestimmt zu dem Regal mit Hustensäften, Erkältungsbädern und Nasentropfen. Einer der wenigen anderen Kunden, der am anderen Ende der Regalreihe stand, sah nur kurz auf, bevor er zielstrebig nach einer Packung Tabletten griff.

Orihime blieb vor dem Regal stehen und seufzte. „Das ist viel zu viel, wie soll ich mich denn da entscheiden?“, sagte sie gequält. Tatsuki drängelte sich neben sie. „Du bist wirklich krank, sonst würdest du nicht so mutlos sein“, erklärte sie mit hochgezogenen Brauen und wendete sich dann wieder in Richtung Regal.

„Also, du hast Schnupfen und leichtes Fieber...“, murmelte sie. Orihime nickte und trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Es war ihr unangenehm, dass sie wegen einer leichten Erkältung von ihrer Freundin gleich in die Apotheke geschleppt worden war.

„Ich würde sagen, du brauchst Nasentropfen“, sagte Tatsuki und griff ins Regal, um eine Packung herauszuziehen. „Diese hier sind bestimmt ganz gut, nicht zu billig und auch nicht überteuert.“

Orihime schniefte und tupfte sich eilig die Nase ab. „Ich brauche wirklich keine Nasentropfen, ich hab doch Taschentücher“, sagte sie. Tatsuki drehte sich um und fixierte sie böse. „Und was ist, wenn dir Nachts die Nase zuschwillt?“

„Tut sie doch gar nicht...!“, protestierte Orihime schwach.

Tatsuki verdrehte die Augen über so viel Widerwillen. „Aber es könnte noch so weit kommen“, stellte sie fest. Trotzdem schob sie die bereits hervorgezogene Packung wieder zurück neben die anderen. „Gegen dein Fieber müssen wir aber auf jeden Fall was machen“, sagte sie. „Gibt es hier keine Medizin gegen Fieber?“

Ein Räuspern ließ die Mädchen aufsehen. Der andere Kunde, ein schwarzhaariger, recht jung aussehender Mann, war neben ihnen aufgetaucht. Orihime machte unwillkürlich einen Schritt zur Seite, da sie glaubte, er wolle an ihnen vorbei. Tatsächlich wendete er sich aber an Tatsuki.

„Bei Fieber handelt es sich um eine Abwehrreaktion des Körpers auf die Krankheit. Solange es nur leichtes Fieber ist, sollte eigentlich alles in Ordnung sein“, erklärte er kühl.

Er wandte sich nun an Orihime. Sein linkes Auge war von seinem seidigen schwarzen Haar verdeckt, das andere wirkte matt und gebrochen wie das eines alten Mannes, obwohl er höchstens Mitte dreißig zu sein schien.

„Sie sollten sich einfach viel hinlegen und ausschlafen, damit das Fieber die Krankheit selbst beseitigen kann. Natürlich sollten Sie dabei viel trinken, um den Flüssigkeitsverlust durch das Schwitzen auszugleichen, zumal sie ja auch Schnupfen haben. Ansonsten kann ich Ihnen nur raten, ein Fieberpflaster zu benutzen, wenn sie sich ansonsten unwohl fühlen.“

Orihime lächelte auf der Stelle. „Das klingt nach einem guten Rat! Dankeschön!“, sagte sie. Der Mann verzog keine Miene. „Das ist eine Selbstverständlichkeit, finde ich“, sagte er ruhig.

Tatsuki drängte sich neben ihre Freundin. „Wieso sollen wir Ihnen glauben? Sind sie Arzt oder so?“, fragte sie misstrauisch. „In der Tat habe ich Medizin studiert und bin Hausarzt“, kam die erschreckend nüchterne Antwort. Tatsuki schien das nicht ganz zu überzeugen.

„Wenn ich Fieber habe, gibt mir meine Mutter auch immer Medizin“, sagte sie.

„Es gibt Ärzte, die noch glauben, Fiebersenkung sei zur Genesung essentiell. Vielleicht handelt es sich aber auch um Medizin gegen die eigentliche Krankheit.“

Tatsuki schien ein bisschen beleidigt. Orihime dagegen strahlte. „Dann muss ich gar keine Medizin kaufen?“, fragte sie.

Tatsuki verzog eine Miene bei ihrer sichtlichen Begeisterung, das änderte sich jedoch gleich wieder und sie hakte sich bei ihrer Freundin unter. „Schon gut! Aber er hat gesagt, wenn du dich unwohl fühlst, ist ein Fieberpflaster nicht schlecht. Also kaufen wir jetzt eins“, sagte sie bestimmt. Orihime zuckte die Achseln. Solange sie sich nicht gleich mit Schmerzmitteln zuschütten lassen musste, war ihr eigentlich alles recht.
 

Tatsuki überredete ihre Freundin recht schnell, ein paar mehr der Kühlpflaster zu nehmen, falls sie nicht sofort wieder gesund werden würde, aber in der Zwischenzeit war der Schwarzhaarige zur Kasse gegangen. Er hatte einen etwas größeren Einkauf, weshalb sich das Einlesen und Eintüten der Medikamente ein wenig hinzog. Orihime befühlte ihre erhitzte Stirn. Tatsuki blickte ungeduldig auf ihre Armbanduhr.

„Hast du es eilig?“, fragte die Rothaarige verwundert. Ihre dunkelhaarige Freundin nickte widerwillig. „In Zehn Minuten fängt meine Karatestunde an und bis zum Dôjô brauche ich mindestens so lange...“

„Na, dann geh doch“, sagte Orihime langsam und hob müde die Päckchen in ihrer Hand. „Die kann ich auch alleine bezahlen.“

Tatsuki nickte wenig überzeugt. „Versprich mir, dass du dir eine Flasche zu trinken kaufst und dann gleich ins Bett gehst, okay?“, bat sie.

„Ja, mach ich“, sagte Orihime sofort. Sie wünschte sich sowieso nichts sehnlicher als das.

Tatsuki seufzte, klopfte ihr kurz aufmunternd auf die Schulter und verschwand dann eilig aus dem Laden.

„Bitteschön, beehren Sie uns bald wieder“, sagte da gerade die Apothekerin zu dem Mann.

Orihime trat unsicher an ihm vorbei und legte ihren bescheidenen Einkauf hin, um ihn zu bezahlen. Während ihr Wechselgeld hervorgekramt wurde, schloss sie die Augen. Die stehende Luft in dem kleinen Laden war schrecklich. Am liebsten hätte sie sich an Ort und Stelle in einen Sessel oder sonst etwas fallengelassen, um einfach nur auszuruhen.

„Bitte sehr, Ihr Wechselgeld.“ Sie blinzelte und nahm die Münzen fahrig aus der Plastikschale, in die die Kassiererin sie gelegt hatte, um sie in ihr Portmonee zu stecken. Dabei fielen ihr ein Zehner und ein Fünfziger runter. Als sie sich bückte, um sie aufzuheben, wurde sie von einem plötzlichen Schwindelgefühl gepackt und musste sich mit dem Kopf gegen den Tresen lehnen.

„Ihnen scheint es nicht wirklich gut zu gehen“, sagte eine Männerstimme. Sie blinzelte und erkannte den Schwarzhaarigen, der neben ihr hockte. Er drückte ihr die Geldstücke in die Hand und sie schob sie mechanisch zurück in das Portmonee. Sie griff nach der Hand, die er ihr anbot und ließ sich hochziehen.

„Alles in Ordnung mit Ihnen?“, fragte die Apothekerin besorgt nach.

Orihime nickte fahrig. „Ja, es geht. Ich muss mich nur etwas zusammenreißen“, murmelte sie.

Der Mann, der sie noch immer vorsichtig stützte, warf ihr aus seinem einen sichtbaren Auge einen misstrauischen Blick zu. „Sie sollten wirklich schnell nach Hause gehen. Vielleicht sollte ich Sie begleiten“, meinte er ernst.

Orihime sagte gar nichts, verstaute ihren Einkauf und ihr Geld wieder in der Schultasche und ließ den Magnetverschluss zuschnappen. Dann ging sie langsam und konzentriert auf die Ausgangstür zu. „Beehren Sie uns bald wieder … und... werden Sie bald gesund“, rief ihr die Apothekerin hinterher.

Draußen schlang Orihime fröstelnd die Arme um ihren Oberkörper, was ihr einen erneuten besorgten Blick des Mannes einbrachte.

„Sie müssen mich nicht begleiten“, murmelte sie. „Ich... ich muss sowieso noch etwas zu trinken kaufen gehen, ja.“ Sie verschnellerte ihren Schritt in Richtung des kleinen Supermarkts an der Ecke, taumelte jedoch schon nach wenigen Metern. Der Fremde war sofort neben ihr und griff nach ihrem Arm, um sie zu stützen.

„Ich werde Sie begleiten“, sagte er mit Nachdruck.

Orihime gab sich geschlagen. „Gut... Aber dann möchte ich gerne Ihren Namen erfahren. Ich heiße Orihime Inoue.“

Er nickte. Sein Gesicht zeigte kaum eine Regung, aber das schien bei ihm sowieso der Normalfall zu sein. „Mein Name ist Hatori Sôma.“

Sie brachte ein schwaches Lächeln zustande. „Dann sollten wir jetzt etwas zu trinken kaufen. Sie können mir da sicher einen Tipp geben.“
 

Als sie den Supermarkt fast zehn Minuten später mit drei großen Flaschen isotonischer Limonade in einer von Hatori getragenen Plastiktüte verließen, sah er sie streng an. „Nun sollten Sie am besten auf schnellstem Wege nach Hause gehen und schlafen“, sagte er auffordernd.

Orihime hob den Kopf. Es war vier Uhr Nachmittags und über den Hochhäusern zeigte sich der Himmel stahlblau. In den Straßen war noch relativ wenig los, auch der Supermarkt war wie leergefegt gewesen. Zwischen den wenigen Passanten fiel nur eine Gruppe von mehreren Schulkindern mit roten Schulranzen auf, die dann lärmend um eine Ecke verschwanden. „Ich glaube nicht, dass ich um diese Zeit schlafen könnte“, sagte sie.

„Das glaube ich nicht. Sie sehen ziemlich erschöpft aus.“

Orihime senkte den Kopf. „Meine... äh... Wohnstätte ist Nachmittags ziemlich laut... Ich...“

Sie brach ab und sah ihn unsicher an, dann fuhr sie mit gesenktem Kopf fort: „... ich lebe in einem Zelt auf dem Kinderspielplatz in Sugarigaoka.“
 

Hatori schwieg, doch ein unwillkürliches Zucken lief über seine Mundwinkel und sein sichtbares Auge funkelte belustigt. Es war schwer auszumachen, aber im Gegensatz zu seiner üblichen unberührten Miene konnte sie es dennoch deutlich genug sehen, um sich eingeschnappt wegzudrehen.

„Lachen Sie nur. Seit mein Bruder tot ist, habe ich nun mal kein Einkommen mehr, aber ich muss doch zur Schule gehen, damit ich später besser dran bin“, gestand sie leise.

Sie wollte ihm die Tüte mit den Getränken aus der Hand nehmen, doch er hielt sie davon ab. „Es war nicht meine Absicht, mich über Sie lustig zu machen“, sagte er ernst. „Es handelt sich nur um einen amüsanten Zufall, dass im letzten Sommer ein Freund von mir eine junge Frau bei sich im Haus aufgenommen hat, die ebenfalls in einem Zelt lebte, wenn auch nur zeitweise.“

Sie sah ihn verblüfft an. „Da ist wirklich ein Zufall“, war das einzige, was ihr einfiel.

Er drehte sich weg und sah nachdenklich über die Elektrokabel entlang der Straße.

„Dieser Freund hat auch ein recht großes Haus. Da es mir unangenehm wäre, Sie in Ihrem jetzigen Zustand in einem Zelt schlafen zu lassen, würde ich ihn gerne fragen, ob Sie für ein paar Tage bei ihm unterkommen könnten.“

Orihime war sprachlos, was Hatori die Gelegenheit gab, sein Handy aus der Innentasche seines Mantels zu ziehen und seelenruhig eine Nummer zu wählen.
 

„Da wären wir“, sagte Hatori, als sie nach einem längeren Fußmarsch durch den Wald zu einem schmucken großen Haus kamen. Orihime blinzelte. In den letzten zwanzig Minuten hatte sie den Blick kaum von seinem Rücken gewendet, um sich nicht zu sehr auf die Umgebung konzentrieren zu müssen. Sie hatte das Gefühl, sie würde umkippen, sobald sie sich irgendwie ablenken ließe, also starrte sie auf die Mittelnaht des braunen Mantels von Hatori. Er hatte den ganzen Weg über kein Wort gesagt. Unter dem Vordach angekommen, klingelte er, ohne ein weiteres Wort zu verlieren.

Sie mussten nicht lange warten, bis im Inneren des Hauses Schritte erklangen und ein Mann in einem japanischen Gewand in der Tür erschien. Viel mehr nahm Orihime von ihm gar nicht wahr, als er zu sprechen begann. „Oh, die ist ja hübscher, als ich dachte. Glück muss der Mensch haben“, erklang seine undeutliche Stimme.

„Lass die Scherze. Darf ich sie in Tôrus Zimmer bringen?“, erwiderte Hatori kühl.

Orihime kam es so vor, als müsste er ziemlich weit von ihr weg sein, doch da spürte sie schon seine Hand, die sich auf ihren Rücken legte. „Halt noch ein bisschen durch. Wir sind gleich da“, sagte er. Sie nickte schwach und ließ sich von ihm vorwärts ziehen. Sie hörte den anderen Mann in der Nähe murmeln, aber was er sagte, drang nicht mehr zu ihr durch. Dann stieß sie mit dem rechten Fuß gegen den Treppenabsatz. Vielleicht war es der plötzliche Ruck, vielleicht auch der Fakt, dass sie sich schon den ganzen Tag durch ihr Fieber gequält hatte, auf jeden Fall wurde ihr in diesem Moment schwarz vor Augen. Sie spürte nur noch Hatoris starken Arm, der sie hielt, bevor sie in schwummrige Dunkelheit abdriftete.
 

Als sie aufwachte, lag sie unter einer weichen Decke in einem Zimmer mit weißen Wänden. Sie blinzelte und drehte den Kopf, um ihre Umgebung etwas näher zu inspizieren. Sie lag auf einem warmen Futon auf einem Parkettboden. Neben sich erkannte sie ein frisch gemachtes Bett mit einem kleinen Nachtschrank. Neben ihrem Kissen stand ein rundes Tablett mit einem Glas und einer der Flaschen Limonade, die sie zuvor gekauft hatten.

Orihime setzte sich vorsichtig auf, wobei das Fieberpflaster von ihrer Stirn in ihren Schoß fiel. Sie hatte schrecklichen Durst. Mit einer Hand griff sie nach der Zweiliterflasche neben sich und versuchte, sie zu öffnen. Der Deckel ruckte nicht einmal. Sie hatte überhaupt keine Kraft in den Armen.

Sie versuchte es noch einmal, war jedoch nicht erfolgreicher. Enttäuscht stellte sie die Flasche zurück neben das Glas. Sie überlegte kurz, ob sie aufstehen sollte, doch allein der Gedanke daran, sich trotz des schwachen Gefühls in ihren Beinen aus der warmen Decke zu schälen gefiel ihr so wenig, dass sie ihn gleich wieder verwarf. Sie drehte sich halb herum, um aus dem großen Fenster hinter sich zu sehen. Draußen war der Himmel blau und fast wolkenlos. Einige Vögel flatterten in ihrem Sichtfeld umher. Lange konnte sie der Anblick aber nicht fesseln und sie ließ sich wieder in ihr Kissen fallen. Abwesend betrachtete sie das ordentlich gemachte Bett neben sich, jede kleine Falte und Unebenheit im glattgestrichenen Bettbezug.
 

Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als die Zimmertür geöffnet wurde und Hatori das Zimmer betrat. Augenblicklich richtete sie sich im Bett auf und murmelte ein „Hallo“. Hatori missachtete sie regelrecht, denn das erste, was er tat, war, sich neben ihrer Bettstätte hinzuhocken, die Flasche mit dem unerreichbaren Getränk zu öffnen und ihr ein Glas davon einzuschenken.

„Bist du schon lange wach?“, fragte er ruhig.

„Ja, ein bisschen...“, murmelte sie und nahm das Glas entgegen, das er ihr entgegenhielt.

„Ich sagte doch, du sollst viel trinken“, mahnte er streng. Sie nahm einen tiefen Schluck und fühlte das angenehme Nass ihre ausgedörrte Kehle benetzen. In wenigen Zügen hatte sie das ganze Glas geleert. Erst dann sprach sie wieder.

„Ich hab die Flasche nicht aufgekriegt.“

Wenn Hatori seine fälschliche Annahme bereute, dann sah man es ihm zumindest nicht an.

„Hast du Hunger?“, fragte er. Sie schüttelte den Kopf. „Nur schrecklichen Durst“, sagte sie.

Hatori schenkte ihr wortlos nach und wechselte aus der Hocke in einen bequemeren Schneidersitz.

„Ich habe dich gestern untersucht. Es scheint nichts Ernstes zu sein, nur eine leichte Grippe. Wenn du dich ein paar Tage ausruhst, bist du bald wieder fit.“

Orihime nickte zwischen zwei großen Schlucken.

„Haben Sie mich umgezogen?“, fragte sie vorsichtig und sah an sich herunter. Sie trug nicht mehr ihre Schuluniform, sondern ein ziemlich lose sitzendes grünes Schlafhemd mit dunkleren Säumen, das ihr an den Ärmeln zu lang war, sich aber über ihrer Brust ziemlich spannte. Sie zog die Beine mit der Decke darüber an und stellte das Glas auf ihren Knien ab.

„Nein, das hat Tôru-kun getan. Sie gehört zu den Bewohnern dieses Hauses. Derjenige, der uns gestern begrüßt hat, war Shigure, der Hausherr. Momentan ist er in seinem Arbeitszimmer.“

Orihime nickte, hatte aber noch mehr Fragen:

„Wessen Zimmer ist das hier?“

„Auch das von Tôru. Nebenan leben noch zwei Jungen in deinem Alter, Kyô und Yuki. Sie sind alle drei in der dritten Klasse der Oberschule.“

Orihime nickte gedankenverloren und betrachtete ihn. Sein schwarzes Haar hing ihm wie am Vortag so dicht über das linke Auge, dass sie es kaum erkennen konnte. Er trug ein langärmliges Hemd und eine ordentliche schwarze Hose.

„Warum tragen Sie die Haare so?“, wollte sie neugierig wissen und nippte ein wenig an ihrem Getränk.

Das war offenbar die falsche Frage gewesen, denn Hatori verengte sein sichtbares Auge zu einem Schlitz. „Du bist ganz schön neugierig“, sagte er düster.

Orihime schluckte. Offenbar hatte sie da in eine Wunde getroffen. Besser, sie lenkte ihn ein wenig ab.

„Wie spät ist es jetzt?“

Er sah nicht einmal auf seine Armbanduhr, um die Frage zu beantworten: „Zehn Minuten nach zehn.“

„Oh, dann hat die Schule ja schon angefangen. Ich hoffe, Tatsuki-chan macht sich keine Sorgen, wenn ich heute nicht komme“, murmelte sie, „... oder Kurosaki-kun. Vielleicht sorgt er sich ja auch gerade jetzt um mich?“

Hatori reagierte nicht darauf, weshalb sie einfach weiterredete:

„Wissen Sie, ich hab bisher noch nie in der Schule gefehlt. Nichtmal, als mein Bruder gestorben ist, das ist doch komisch, oder? Aber ich will unbedingt gut in der Schule sein, damit ich mal einen guten Job kriege und nicht so arm ende wie er. Oh, Sie haben bestimmt studiert, wenn sie Arzt sind, nicht wahr?“

„Ja“, antwortete er knapp.

Orihime lächelte. „Es stört Sie doch nicht, wenn ich so viel rede, oder? Mir wird sonst einfach langweilig hier“, führte sie aus und leerte ihr Glas. Sie stellte es neben sich ab und sah Hatori freundlich an. Er schien wieder ein wenig entspannter zu sein.

„Nein, erzähl' mir ruhig, was du möchtest“, sagte er.
 

Abends lernte Orihime beim Essen auch die jungen Oberschüler kennen, die in dem Haus lebten. Tôru war ein freundliches Mädchen mit nichtssagendem Gesicht, das sich wahnsinnig um sie sorgte und ihr extra eine Schale Reisbrei kochte, da sie sonst keinen Appetit hatte.

Beim Essen saß Orihime dann doch recht schweigend da und beobachtete die anderen. Hatori war bereits wieder gegangen. Shigure, der Hausherr, war wieder in sein Arbeitszimmer verschwunden, wo er an einem Roman schrieb, wie Tôru der erstaunten Orihime erzählt hatte. Die beiden Jungen, der rothaarige Kyô und der silberhaarige Yuki waren die ganze Zeit über sehr schweigsam, hatten sich ihr nur kurz vorgestellt und wirkten ziemlich gedankenverloren, wenn auch auf unterschiedliche Art. Kyô wirkte eher mürrisch und stopfte seinen Reis missmutig in sich hinein, bevor er sehr schnell aufstand, sein Geschirr zur Spüle brachte und zur Treppe eilte. Yuki blieb noch ein wenig länger sitzen, sprach aber nur mit Tôru über Kleinigkeiten aus der Schule und ignorierte Orihime vollkommen, bis er sich schließlich auch in den ersten Stock begab.

Orihime sah ihm verdutzt hinterher. „Mögen die keine Mädchen oder haben sie persönlich was gegen mich?“, fragte sie Tôru, die offenbar in Gedanken versunken gewesen war und mächtig erschrak, als sie angesprochen wurde.

„Ääääh, wie meinst du das?“, kam es verlegen von ihr.

„Sie schauen mich nicht an, sie reden nicht mit mir, als wir uns gesetzt haben hatte ich sogar den Eindruck, sie wollen mich nicht einmal berühren“, führte die Rothaarige weiter aus.

„Äh, ja, das ist weil... oh.“ Tôru verstummte plötzlich.

Orihime legte den Kopf schief. „Weil was...?“

Tôru, die sowieso schon aufgegessen hatte, stand eilig auf und griff nach Orihimes leerer Reisschüssel. „Ich gehe dann mal abwaschen“, sagte sie hastig und verschwand dann in der Küche. Orihime runzelte die Stirn.
 

Am nächsten Tag war sie schon fast eine halbe Stunde wach, als Hatori den Raum betrat. Sie fühlte sich zwar schon fast wieder fit, aber am Vortag hatte er ausdrücklich darauf bestanden, dass sie sich noch einen Tag ausruhen müsste und sie hatte nicht gewagt, nein zu sagen. Erst recht nicht, nachdem sie das Gefühl bekommen hatte, dass die Männer in diesem Haushalt allesamt Geheimnisse zu umgeben schienen.

Da war einmal das seltsame Verhalten von Yuki und Kyô, aber auch Hatoris verdecktes Auge hatte ihr am Vorabend so viel Kopfzerbrechen bereitet, dass sie erst spät eingeschlafen war. Schließlich hatte sie einen Plan entwickelt, um die Antwort auf ihre Fragen zu erhalten. Als Hatori nun hereinkam, wusste sie, dass die Zeit gekommen war. Aber sie musste subtil vorgehen...

„Guten Morgen“, lächelte sie breit. Die Begrüßung erwiderte er kühl wie üblich. Heute trug er über seinem Hemd eine dunkle Weste und Krawatte. Er hatte eine frische Flasche Limonade dabei, die er neben Orihimes Futon abstellte. Dann hockte er sich neben sie.

„Wie geht es dir heute?“, erkundigte er sich.

Sie lächelte wieder. „Bestens, dank Ihrer fürsorglichen Pflege. Ich muss Ihnen wirklich dankbar sein, dass sie sich einfach um mich gekümmert haben.“

Er wirkte ein wenig irritiert von ihrem breiten Lächeln. Vielleicht übertrieb sie doch ein wenig, also versuchte sie, es ein wenig natürlicher aussehen zu lassen.

„Ich bin Arzt. Es ist gewissermaßen meine Arbeit, mich um Kranke zu kümmern.“

Orihime streckte die Brust raus. Wie ihre Klassenkameradinnen ihr schon öfters gesagt hatten, waren die Waffen einer Frau die stärksten. Sie müsste nur ein wenig mit ihren großen Brüsten wackeln, und schon würde Ichigo ihr zu Füßen liegen. Orihime bezweifelte zwar, dass es bei Ichigo helfen würde, aber bei Hatori konnte sie es ja zumindest einmal versuchen. Im schlimmsten Fall würde er ihr nichts verraten oder sie rausschmeißen.

Sie schürzte die Lippen ein wenig und drängte sich mit der Schulter näher an ihn heran.

Er zuckte zusammen, doch sie war noch nicht fertig.

Sie hob leicht den Kopf, um ihn direkt anzusehen und drückte dabei ihre Brust gegen seine.

Er schien zurückweichen zu wollen, doch sie legte die Hände auf seine Schultern, um ihn zurückzuhalten.

„Sag, Hatori...“, murmelte sie mit einer Stimme, die sie für erotisch hielt und blickte ihm tief in die Augen. Auf seiner Stirn zeigte sich Schweiß. Offenbar war sie noch nicht weit genug gegangen.

„Vielen Dank für alles!“, stieß sie aus und schlang ihre Arme um seinen Nacken.
 

Auf einmal spürte sie ihn gar nicht mehr.

Es war, als wäre er von einem Moment auf den nächsten verschwunden. Ihr Schwung ließ sie augenblicklich vornüberkippen. Sie fing sich mit den Händen ab und sah ungläubig zwischen ihre abgestützten Hände.

Aus Hatoris zusammengefallenem Hemdkragen schauten ihr die Knopfaugen eines Seepferdchens entgegen. Inmitten der Stofffalten wirkte es einigermaßen verloren.

Orihime blinzelte es mit großen Augen an. „Bist du... Hatori?“, fragte sie.

Es kam keine Antwort. Das wunderte Orihime eigentlich nicht besonders, schließlich hätte sie einem Seepferdchen ohnehin nicht zugetraut, sich deutlich zu artikulieren.

Mit beiden Händen nahm sie das kleine Wesen auf, das sie nur hilflos anstarrte. Es schien sich tatsächlich um ein ganz normales Seepferdchen zu handeln.

„Was ist denn bloß passiert?“, fragte sie ratlos. Ihr war nur soviel klar, dass es keine andere Erklärung geben konnte, als dass sich Hatori soeben in ein Seepferdchen verwandelt hatte. Aber warum? Wie konnte das sein?

Eine nächste Frage stellte sich ihr in der nächsten Sekunde: Würde das Seepferdchen nicht ersticken? Soweit sie wusste, handelte es sich bei den Wesen mit dem pferdeähnlichen Kopf um eine Fischart, weshalb es gar keinen Sauerstoff würde atmen können. „Wasser...!“, entkam es ihr blitzartig.

Erschrocken sprang sie auf, doch das brachte ihren Kreislauf schlagartig so durcheinander, dass ihr Schwarz vor Augen wurde und sie sich auf das Bett von Tôru sinken lassen musste. Verzweifelt presste sie sich die Hand gegen die Stirn. Sie musste das Seepferdchen so schnell wie möglich ins Wasser bringen...!

Bevor sich ihr Schwindelgefühl wieder ganz gelegt hatte, hörte sie neben sich ein Rascheln und dann erklang Hatoris Stimme: „Wasser war schon mal eine gute Idee. Ein Glück, dass ich kein echtes Seepferdchen bin.“

Orihime hielt die Augen geschlossen, aus Angst, dass ihr gleich wieder alles schwarz werden würde, und legte die Stirn kraus. Sie hörte, wie Hatori mit seinen Klamotten raschelte. Siedend heiß fiel ihr ein, dass diese ja noch auf dem Boden lagen.

Diskret hielt sie sich die Hände vor die Augen, bis sie sich sicher war, dass er wieder angezogen war. Als sie sich schließlich zu ihm drehte, sah er genau so aus wie zuvor, abgesehen davon, dass sein Hemd etwas zerknittert war und er seine Weste noch nicht wieder zugeknöpft hatte.

„Wie funktioniert das...?“, fragte sie zögernd und streckte die Hand nach ihm aus. Er ließ sie seine Wange berühren, verzog aber keine Miene.

„Das ist eine wirklich lange Geschichte“, sagte er und linste auf seine Armbanduhr. „Es ist bald Mittag. Wenn du dich wieder fit genug fühlst, können wir irgendwo essen gehen und ich erzähle dir alles.“
 

Als Orihime an diesem Abend schlafen ging, schwirrte ihr noch immer der Kopf von all dem, was Hatori ihr erzählt hatte, während sie sich über ihre Udon-Nudeln hergemacht hatten.

Das Geheimnis war ein Familienfluch: Die Familie Sôma, der sowohl Hatori als auch Yuki und Kyô sowie Shigure, der Hausherr, angehörten, war seit Urzeiten dazu verdammt, dass einige ihrer Mitglieder den Geist eines Tieres aus dem chinesischen Tierkreis in sich trugen. Die zwölf Familienmitglieder, die der Fluch getroffen hatte, verwandelten sich in das jeweilige Tier, wenn sie von einem Menschen des anderen Geschlechts umarmt wurden, genau so wie es zuvor passiert war, als sie Hatori um den Hals gefallen war. Sein Tierkreiszeichen war das des Drachen, das sich in seinem Fall allerdings in einem Seepferdchen, das in Japan als Drachenkind galt, manifestierte.

Auf dem Rückweg zum Haus hatte er ihr geschildert, wie seine Familie von ihrem Oberhaupt Akito hart geführt und angeleitet wurde.

Orihime dachte direkt an ihr Gespräch zurück, das sie auf dem Rückweg vom Restaurant geführt hatten.
 

„Ist dieser Akito wirklich so streng?“, fragte Orihime neugierig.

Hatoris Blick wurde hart.

„Sehr“, sagte er und wurde augenblicklich langsamer. Er warf Orihime einen leidvollen Blick aus seinem sichtbaren Augen zu, der sie erschaudern ließ.

„Du hast mich gestern gefragt, warum ich mein Haar so trage...“, begann er.

Orihime blieb neben ihm stehen und musterte ihn nachdenklich, während er, die Hände in den Taschen vergraben, an den umliegenden Gebäuden vorbei in den Himmel starrte.

„Vor einigen Jahren gab es eine Frau in meinem Leben. Sie hieß Kana. Wir liebten uns.“

Sein verlorener Tonfall war voller Reue, über seine Augen zog sich ein Schleier von Trauer, als er weitersprach.

„Akito fand heraus, dass wir zusammen waren. Er rief mich zu sich. Er verletzte mich am linken Auge. Ich bin seitdem fast blind darauf.“

Orihime schluckte. „Sie... Nein, du... du musst darüber nicht reden, wenn es dich schmerzt“, flüsterte sie betroffen und streckte die Hand aus, um ihm am Arm zu berühren. Obwohl sie sich die ganze Zeit gefragt hatte, was er wohl denken möge, wollte sie jetzt umso mehr, dass er damit aufhörte.

Er schüttelte leicht den Kopf. „Nein, ist schon gut. Es ist schon lange her. Ich denke, ich bin darüber hinweg.“

Orihime sah ihn traurig an. Irgendwie hatte sie geahnt, dass es so etwas sein musste, das er verbarg. Er sah ihr freundlich in die Augen.

„Du fühlst jetzt schon mit mir, dabei habe ich dir noch gar nicht die ganze Geschichte erzählt. Was danach kam...“

Sie hob die Augenbrauen. „Danach...?“

Er setzte sich langsam wieder in Bewegung und sie folgte ihm eilig. In Richtung Wald fiel die Straße des kleinen Wohngebiets, in dem sie sich mittlerweile befanden, leicht ab. Nirgendwo war ein Geräusch zu hören, nur in der Ferne zwitscherten ein paar Vögel.

„Nachdem Akito mich verletzt hatte, hat Kana sich solche Vorwürfe gemacht, dass sie krank wurde. Schließlich war sie psychisch so am Ende, dass es das Beste war, ihr Gedächtnis zu löschen, indem ich sie hypnotisiert habe. Von da an ging es ihr besser. Seit zwei Jahren ist sie verheiratet.“
 

Selbst, als sie nun daran dachte, fühlte sie sich wieder so unwahrscheinlich traurig wie schon zuvor, als sie die Geschichte das erste mal gehört hatte. Sie wünschte sich, Hatori irgendwie helfen zu können, auch wenn er mehrmals beteuert hatte, dass er Kana nicht mehr nachtrauere. Sie hatte das Gefühl, seinen Schmerz ein wenig verstehen zu können.

Es war noch gar nicht so lange her, da hatte sie ihren Bruder, ihren einzigen Verwandten, verloren. Den wichtigsten Menschen in ihrem Leben. Sie hatte sich verabschieden müssen, für immer. Musste es nicht noch trauriger sein, sich von jemandem zu trennen, der zwar noch am Leben war, doch den man einfach nicht treffen durfte, weil es demjenigen unsagbare seelische Schmerzen bereiten könnte?

Eine einsame Träne bahnte sich den Weg aus ihrem Augenwinkel.
 

Am nächsten Morgen machte sie sich nach dem Frühstück zusammen mit Tôru, Yuki und Kyô auf den Weg zur Schule, verabschiedete sich jedoch schon ziemlich bald von den drei Jugendlichen, mit denen sie ohnehin nicht viel verband, um sich hüpfend auf den Weg zu Tatsukis Haus zu machen.
 

„Eigentlich müsste ich dir dein Gedächtnis löschen, nachdem du das Geheimnis unserer Familie erfahren hast. Aber solange niemand davon erfährt, dass du es kennst, kann mir auch niemand vorschreiben, dir diesen Fakt aus den Gedanken zu verbannen.“
 

Sie hatte sich am Vortag in dem Wissen von Hatori verabschiedet, dass sie sich nicht öffentlich treffen durften, wenn kein Verdacht aufkommen sollte. Dass es das Beste wäre, wenn sie es einfach vergessen würde. Dass sie einander zwar auf der Straße begegnen konnten, aber nicht mehr.

Als sie vor Tatsukis Haus stehenblieb und die Klingel betätigte, fragte sie sich kurz, ob das wirklich die richtige Entscheidung gewesen war. Vielleicht wäre es besser gewesen, tatsächlich alles zu vergessen. Aber das hatte sie nicht übers Herz gebracht. Wenn schon seine Liebste ihn vergessen hatte, dann war es das Mindeste, was sie tun konnte, seine Geschichte in ihrem Herzen zu bewahren.

„Orihime!“ Tatsuki strahlte, sobald sie sie erkannte. „Wo warst du die letzten zwei Tage?“, fragte sie, als sie zum Gartentor stürzte.

„Ich habe meine Grippe auskuriert“, erwiderte Orihime und ballte die Fäuste. „Jetzt bin ich wieder topfit! Ich könnte Bäume zerlegen!“

Tatsuki verließ ihr elterliches Grundstück und hakte sich bei ihr unter. „Klingt gut. Auf geht's“, sagte sie unternehmungslustig. Die zwei Mädchen machten sich gut gelaunt auf den Weg zur Schule.
 

Gut gelaunt war sie in den nächsten Tagen immer weniger. Zuerst war alles wie immer, doch nach einigen Tagen ertappte sie sich das erste Mal dabei, dass sie sich fragte, was Hatori wohl gerade machte. Auf dem Rückweg von der Schule nahm sie immer wieder den Weg an der Apotheke vorbei, in der vagen Hoffnung, dort Hatori wiederzusehen.

Und jedes Mal, wenn sich diese Hoffnung nicht erfüllte, wurde sie enttäuschter.

Tatsuki konnte das natürlich nicht entgehen und fragte sie mehrmals, ob irgendwas besonderes passiert sei.

Sie sagte nein.

Sie lächelte und erklärte, dass sie lediglich ein wenig ins Nachdenken gekommen sei.

Sie tischte ihrer besten Freundin Lügen auf. Aber sie konnte nicht anders. Hatoris Geheimnis war ihr Geheimnis geworden.
 

Als der Frühling die ersten bunten Farbtupfer in die Stadt setzte, fiel Orihime das Lächeln immer schwerer.

Je munterer die Vögel, je grüner die Bäume und Büsche um den kleinen Spielplatz herum, je wärmer jeder Tag, umso schmerzhafter wurde es ihr, weiterhin so zu tun, als gehe es ihr gut.

Als sie zwei Wochen nach ihrer Übernachtung bei Hatoris Freund das erste Mal eine Tüte Obst vor ihrem Zelt fand, zog sich ihr Inneres zusammen. Sie musste nicht einmal die kleine handschriftliche Notiz lesen, die neben Orangen, Äpfeln und Bananen in der Plastitktüte lag, um zu verstehen, von wem sie war.

In der Nacht, in der grüngetünchten Dunkelheit des kleinen Zelts, wurde das Gefühl unerträglich. Die unglaubliche Sehnsucht nach einem warmen, weißgestrichenen Zimmer, dem angenehmen, dicken Futon und Hatoris sanfter Stimme erfüllte sie und Tränen drängten sich unnachgiebig aus ihren Augen, während ihre Erinnerung an Hatori verschwamm und sich mit dem Gesicht ihres Bruders zu einem Strahlenden Etwas vermischte.
 

Es war ein besonders heller und freundlicher Tag, an dem Orihime von den ersten Vogelstimmen geweckt wurde. Auf dem Weg zur Schule kam sie an mindestens drei Menschen vorbei, die sie im ersten Moment für Hatori hielt, weil sie schwarze Haare hatten und einen dunklen Mantel trugen. Jedes Mal übermannte sie die Enttäuschung, wenn sie feststellte, dass er es doch nicht wahr.

Tatsukis Laune dagegen war an diesem Tag übermäßig gut. Sie hatte es in die Regionalmeisterschaften im Karate geschafft, was sie schon seit Tagen auf einer Euphoriewelle reiten ließ. Selbst Ichigo, der sonst immer mürrisch und verloren dreinschaute, wirkte an diesem Tag ein wenig fröhlicher als sonst, vielleicht war das aber auch nur Einbildung.

Sie bekamen an diesem Tag vier Klausuren zurück: Japanisch, Mathe, Englisch und Biologie. Orihime hatte in allen unter 30 Punkte. Tatsuki schien das nicht einmal zu bemerken, sie war viel zu ausgelassen, dass sie in Englisch, ausgerechnet Englisch, die 60-Punkte-Marke überschritten hatte.

Und jeder der Lehrer rief Orihime nach dem Unterricht zu sich, um sie zu fragen, was mit ihr los sei, dass sie so ungewöhlich schlecht abgeschnitten hatte. Ihr Lächeln wurde zu einer verzerrten Maske. „Es ist alles in Ordnung, ich habe nur nicht gut genug gelernt“, sagte sie, wieder und wieder. Als ihre Englischlehrerin, eine wirklich liebe und fürsorgliche Frau, nachhakte, ob sie nicht etwa persönliche Probleme habe, hätte sie fast geweint, aber sie kämpfte es herunter, bestand darauf, dass alles okay war und floh auf die Toilette.

Im Handarbeitsclub war an diesem Tag beste Stimmung, da dieser sich wegen der Klausuren seit ein paar Wochen nicht mehr getroffen hatte. Die jüngeren Schülerinnen alberten herum, nur Orihime saß in der Ecke und stach sich beim Nähen immer wieder in den Finger. Schließlich fasste sich Ishida ein Herz, sie zu fragen, was los sei, und ob er ihr irgendwie helfen könnne.

Dass selbst der sonst so coole und desinteressierte Ishida merkte, dass etwas mit ihr nicht stimmte, ließ einen großen Kloß in ihrem Hals entstehen. Bevor ihr die Tränen in die Augen schossen, krächzte sie, dass sie noch etwas wichtiges zu erledigen habe und rannte aus dem Raum, das halb zusammengenähte Oberteil ließ sie verwaist zurück.
 

Der Weg durch die Stadt kam ihr unendlich lang vor und verschwamm dennoch zu einem einzigen verworrenen Rausch aus Farben, an denen sie vorbei eilte. Mehrmals lief sie Passanten fast um, entschuldigte sich weinerlich und rannte weiter, bis sie schließlich vollkommen außer Atem den Spielplatz erreichte, der um diese Zeit natürlich voller Grundschüler war. Nicht einmal daran hielt sie sich auf. Ihre Schritte trugen sie an den Kindern, die verwundert in Ball- und Fangenspielen innehielten, vorbei zu ihrem Zelt. Vor dessen dunkler Plane leuchtete die gelbe Tüte eines Supermarkts. Als sie sie aufhob, fiel ein Zettel zu Boden, den sie mit verschleiertem Blick las.
 

In letzter Zeit scheint es dir nicht gut zu gehen. Du solltest mehr Vitamine zu dir nehmen.
 

Das gab ihr den Rest.

Dass Hatori sie beobachtete.

Dass er sich Sorgen machte.

Dass er da war und sie ihn trotzdem nicht treffen konnte.
 

Sie schrie einfach, anders war der überquellende Schmerz einfach nicht mehr auszuhalten.

Mit immer heiserer Stimme schleuderte sie ihre Verzweiflung in die fröhlich grünenden Bäume um ihr Zelt.

Dass die Grundschüler auf dem Spielplatz sie entgeistert anstarrten und zu murmeln begannen, nahm sie kaum war. Es war ihr auch egal.

Sie schrie einfach, einen langgezogenen, unartikulierten Schrei.

Und mit dem Laut brachen die Tränen endlich aus ihr hervor und tropften ihr über die Wangen.

Sie schrie, bis sie keine Kraft mehr hatte und ihr die Knie nachgaben.

Wohltuende Dunkelheit breitete sich über ihr aus wie eine weiche Decke.
 

Ein Rausch aus Farben.

Verschwommenes Stimmgewirr.

„Sie sieht übel aus.“

Zusammenbruch. Chaos. Alles lag in Trümmern.

In einem weißen Kleid wandelte sie über kalte Lava.

Ihr Bruder und Hatori, zu einem geworden. Nicht zu erreichen.

Ihre Flügel waren gebrochen.

„Hatori...! Wo bist du...?“
 

Rotes Licht, grünes Licht, weißes Licht.

Schwindel. Ein Abgrund. Ein Stechen von überall.

„Hatori...“
 

Blumen, überall weiße Blumen.

Ihr lächelnder Bruder. „Ich muss gehen. Komm allein zurecht.“

„Nein! Nein! Nein!!“

Ein Monster. Seine wahre Gestalt.

Weiße Blumen. Vergessen.

Ein langer brauner Mantel.

Das halb verdeckte linke Auge.

Abgewandt. Fliehend. Fliegend.

Und keine Kraft, kein Weg, keine Flügel.

Verzweifelter Aufschrei.

„Hatori! Geh nicht! Hatori!!“
 

„Orihime! Ich bin hier!“

Eine warme Hand.

Ein verschwommenes Lächeln.

Das halb verdeckte linke Auge.

„Keine Sorge, ich bin hier. Du musst leben.“

Weiße Blumen wurden zu reinem Licht.
 

Orihime kam langsam zu sich, blinzelte. Noch bevor sie die Augen geöffnet hatte, sagte ihr ein undefinierbarer angenehmer Duft, wo sie war. Sie schlug träge die Augen auf, sah über sich die weiße Decke und die feine Schaltschnur an der Deckenlampe.

Neben sich hörte sie leises, regelmäßiges Atmen. Sie wendete den Kopf und war nicht überrascht, Hatori zu erblicken. Er hockte im Schneidersitz neben dem Futon, auf dem sie lag, den Rücken gegen Tôrus Bett gelehnt. Der Kopf war ihm auf die Brust gesunken. Unter seinen Augen lagen dunkle Ringe.

Orihime schob die dicke Decke zur Seite, unter der sie gelegen hatte. Ihr Schlafanzug war feucht und klebte ihr am Körper, so dass sie fröstelte, kaum dass sie die schützende Wärme verließ. Sie schob sich ihre langen Haare aus dem Gesicht. Sie waren von Schweiß verklebt. Aber das war ihr egal. Ihr Blick hing an Hatori.

Dass er da war, dass er ihre Hand gehalten und sich um sie gekümmert hatte, machte sie so glücklich, dass sie ihm um den Hals fiel, ohne nachzudenken. Erst, als sie die Arme schon um seinen Nacken geschlungen hatte, fiel ihr ein, was für einen Effekt das beim letzten Mal gehabt hatte. Doch da war es sowieso schon zu spät.
 

Erstaunlicherweise geschah nichts.

Orihime, die sich bereits mental darauf eingestellt hatte, im nächsten Moment ein Seepferdchen aus Hatoris verschwitztem Hemd fischen zu müssen, blinzelte verwundert die Wand vor sich an.

In ihren Armen regte sich Hatori leicht. Sie drückte ihn kurz noch ein bisschen fester an sich.

„Was...?“, brachte er hervor. Orihime löste sich von ihm und sah ihn fragend an, doch er schien genau so wenig eine Antwort parat zu haben wie sie und starrte ungläubig auf seine Hände.

„Das kann nicht sein...“, sagte er leise. „Der Fluch... er ist gebrochen!“

Er hob den Kopf und sah sie aus seinem gesunden Auge direkt an.

„Ein Glück, dir scheint es besser zu gehen“, stellte er fest. „Du hast fast drei Tage im Fieber gelegen. Dein Glück war, dass ich in der Nähe war, als du umgekippt bist.“

Er schwieg kurz, sein Blick glitt zur Seite ab.

„Ich habe nicht geahnt, dass es dir solche Probleme bereitet“, sagte er rau. „Dass es dir so schlecht gehen würde... Aber du hast im Fieber viel gesprochen, dadurch ist mir einiges klar geworden. Ich wusste nicht, dass du solche Sehnsucht nach einem Zuhause hattest.“

Und schon wieder stiegen ihr die Tränen in die Augen, aber diesmal hielt sie sie nicht zurück. Wieder umarmte sie ihn, ganz vorsichtig diesmal, doch erneut geschah nichts.
 

„Bitte, verlass mich nicht.“
 

Er drückte sie vorsichtig an sich. „Bestimmt nicht. Jetzt, wo der Fluch sich gelöst hat, kann mir niemand mehr vorschreiben, was ich zu tun oder zu lassen habe.“

Sein warmer Atem strich über ihren Hals, als er weitersprach.

„Ich werde dich nie wieder loslassen.“

Sie lächelte. Die Tränen, die ihr noch immer über die Wangen liefen, waren Freudentränen.
 

Sie weinte ebenfalls, als sie gut zwei Monate später in einem langen weißen Kleid vor Hatori in der Kapelle im bunten Licht der Kirchenfenster stand und die Worte sagte, die sie für immer mit ihm verbinden würden. Sie wusste, dass sich jetzt alles zum Guten wenden würde.

Und Hatori würde immer bei ihr sein.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: abgemeldet
2009-06-15T15:31:02+00:00 15.06.2009 17:31
aaahw!!! wie süß!!!!
das ist eindeutig meine lieblingsstory^^


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