Zum Inhalt der Seite

Die Kronen des Kriegers

Die Vorgeschichte zu den Ereignissen in der Zeit der Echidna
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

'Blitzmesser'

Die Sonne stand hoch am wolkenlosen Himmel, über den zerklüfteten, felsigen Hügeln westlich der Hauptstadt. Kein bisschen Wind wehte über die Hügelhänge oder durch die Blätter der kleinen Waldgruppen, die versprengt an den Hängen der Berge, dicht an den steilen Felswänden oder am Boden der Täler zwischen den Hügeln standen. Es herrschte eine geradezu unheimliche Stille unter dem dichten Blätterdach, im stark gedämpften Licht der Nachmittagssonne, und die Luft war unangenehm schwer und stickig.

Ein leises Knacken ertönte, als die Echidna ihre Hand um einen Fingerbreit nach vorne schob, und sofort erstarrte sie in ihrer Bewegung und spähte zu der Bergkatze hinüber, die sich gerade über den Kadaver eines Rehs hermachte. Das Tier hatte den Kopf angehoben, als sie das Knacken wahrgenommen hatte, und blickte sich jetzt um, während seine Ohren hin- und herzuckten.

Selina wagte nicht einmal zu atmen, während sie die Bergkatze beobachtete. Diese Tiere waren flink, stark und blitzschnell, ihre Krallen und Fangzähne waren scharf und spitz, und sie fraßen ausnahmslos alles, was aus Fleisch war oder danach aussah. Sie waren die gefürchtetsten Raubtiere der Wildnis um Echidnapolis.

Und ihr Fell war sehr kostbar. Das Fell einer jeden Bergkatze war weich und bequem, und es wärmte vorzüglich, wenn der Winter wieder einmal besonders hart zuschlug. Das Fell dieses Exemplars glänzte sogar noch im Dämmerlicht des Waldes und schien wirklich außergewöhnlich dicht zu sein. Ganz sicher würde es einen sehr wertvollen Pelzmantel abgeben.

Wenn sie das Tier erst einmal erlegt hatten.

Die Bergkatze senkte mit einem leisen Knurren ihre Schnauze wieder in den Kadaver und fraß weiter. Sie hatte sie nicht gehört.

Es war ihr Glück, dass sie den Wind von vorne hatte, dachte Selina, während sie sich einige Fingerbreit weiter auf das Tier zu bewegte. Durch das Gestrüpp, das zwischen ihnen wuchs und durch das sie im Moment hindurchkroch, war sie vor ihren Blicken geschützt, und die Windrichtung gab ihr einen weiteren Vorteil.

Wie in Zeitlupe schob sich die Echidna Fingerbreit um Fingerbreit nach vorne, bis sie schließlich nur noch das hohe Gras davor bewahren konnte, entdeckt zu werden, wenn die Bergkatze zufällig in ihre Richtung blickte – aber im Moment war sie mit Fressen beschäftigt, und weil Selina kein Geräusch verursachte, etwas, das sie in den letzten drei Jahren hatte lernen müssen, konnte ihr Ziel sie auch nicht hören. Das Tier konnte unmöglich wissen, dass sie da war.

Selina war keine fünf Schritte mehr von der Katze entfernt, als sie sich blitzartig aufrichtete. Die Bergkatze zuckte zusammen, wandte den Kopf in ihre Richtung und starrte sie für einige wenige Sekundenbruchteile an. Lange genug für Selina, um diese letzten fünf Schritte mit einigen schnellen Sprüngen zu überwinden, unterwegs eins ihrer Messer zu ziehen und der Bergkatze in den Hals zu stoßen.

Die Bergkatze hatte sich nicht bewegt, seit sie Selina geschockt angestarrt hatte. Und auch jetzt bewegte sie sich nicht, als sie mit einem leisen, gurgelnden Winseln in den Beinen einknickte und zu Boden fiel.

Routinemäßig riss Selina ein Büschel des Grases aus, das in der Wärme des kommenden Sommers schon jetzt fast vertrocknet war, obwohl der Frühling noch nicht vorbei war, und säuberte ihr Messer vom Blut ihrer Beute, so gut sie konnte, während zwischen den Bäumen zwei weitere Echidna hervorkamen. Sie sahen einander so ähnlich, von Statur, Größe, Stachel- und Augenfarbe, ja selbst von der Gangart, dass sie nur Zwillinge sein konnten. Einer von ihnen trug einen Speer und hatte eine auffällige Narbe quer über sein linkes Auge, während der andere Klingen an seinem Handgelenk befestigt hatte und sie so als Verlängerung seiner Arme nutzte.

„Es war doch vereinbart, dass du uns das Tier zutreibst“, knurrte der Echidna mit der Narbe, offensichtlich enttäuscht darüber, dass er nur hatte zusehen können.

Selina zuckte nur mit den Schultern. „Ich wollte wenigstens meinen Spaß haben, wenn ihr schon das Fell mitnehmt“, meinte sie mit einem entschuldigenden Grinsen.

„Als ob du nicht schon genug von uns profitieren würdest“, meinte der zweite, während er sich zu ihrer Beute hinunterbeugte. „Du kriegst das Fleisch und die Krallen, wir kriegen nur das Fell.“

„Ohne mich könntet ihr dafür euren Pelzhandel vergessen“, konterte Selina mit einem überlegenen Lächeln. „Ihr würdet euch hier draußen, abseits der Stadt, hoffnungslos verirren. Oder wollt ihr lieber allein versuchen, nach Echidnapolis zurückzufinden, Zachery?“

Damit war ganz offensichtlich der Echidna ohne die Narbe gemeint, denn der schüttelte nur mürrisch den Kopf. „Ich hasse es, wenn du Recht hast, Blitzmesser“, knurrte er und musste dann doch wieder lächeln. „Lass uns nur nächstes Mal auch noch was übrig. Zuschauen ist langweilig.“

„Ich werds mir überlegen“, meinte Selina und setzte einen angestrengt nachdenklichen Gesichtsausdruck auf, bei dem die beiden anderen grinsen mussten. „Immerhin überlasst ihr mir ja freundlicherweise immer die Krallen und die Zähne“ – dabei wies sie beiläufig mit einer Hand auf eine Kette aus Krallen und Zähnen von erlegten Tieren und auf die Nähte ihrer Kleidung, die auch mittlerweile dicht an dicht mit dieser Art von Trophäen bestückt waren – „und ein bisschen was von dem, was in der Stadt passiert, erfahre ich ja auch noch... da könnte ich mir schon mal überlegen, euch nächstes Mal noch mal ran zu lassen, denke ich.“

Ohne noch weiter zu zögern, bückten sich die drei Echidna nach der Bergkatze und zerlegten sie mit sicheren, routinemäßigen Schnitten. Nach kurzer Zeit hatte Selina die Krallen, Zähne und die besten Fleischstücke für sich in einem Deckenbündel beiseite geschafft und sah den beiden Brüdern zu, wie sie das Fell nun ebenfalls zu einem Bündel zusammenrollten und zusammenbanden.

„Genug für heute“, meinte der Echidna mit der Narbe, nachdem er einen Blick zur untergehenden Sonne geworfen hatte, die den Himmel bereits rot zu färben begann.

Selina zog missbilligend die Stirn in Falten. „Wenn wir uns ranhalten, schaffen wir noch ein Fell, Keiyari“, meinte sie, nachdem sie ebenfalls einen Blick auf den Sonnenstand geworfen hatte.

„Und dann müssen wir durch die Dunkelheit zu deiner Höhle zurück“, meinte Keiyari und schüttelte nur den Kopf. „Das können wir uns sparen. Für heute reicht es, finde ich. Morgen haben wir auch noch Zeit.“

Die Echidna zuckte nur mit den Schultern. „Wenn du meinst“, meinte sie gleichgültig. „Ich verliere dadurch kein Fell.“ Mit diesen Worten lud sie sich ihr Deckenbündel auf die Schulter, warf einen letzten prüfenden Blick zur Sonne, überlegte kurz und schlug dann sicheren Schritts den Weg in Richtung Nordwesten ein. Dieser Weg, da war sie sich ganz sicher, würde sie und ihre Begleiter direkt zu der Höhle führen, in der sie sich in den letzten drei Jahren ein gewisses Zuhause geschaffen hatte.

In den drei Jahren, seit ihrer Flucht vor der Hinrichtung für ein Verbrechen, dass sie nicht begangen hatte...

Selina seufzte leise, kaum hörbar, und die Zwillinge hinter ihr hatten es auch nicht gehört. Die drei Jahre hatten sie stärker und schneller gemacht, obwohl sie noch weiter abgemagert war. Niemand hätte, bei ihrer verdreckten und unzählige Male geflickten Kleidung, bei ihrer wirklich mageren Figur, bei der man längst die Rippen zählen konnte, überhaupt bei ihrer kompletten äußeren Erscheinung, die wirklich ziemlich heruntergekommen und ungepflegt war, in ihr die Schwester der Verlobten des Prinzen vermutet.

Was wohl Malinche jetzt tat... Sie hatte sich bisher nicht getraut, die Zwillinge zu fragen, aus Angst, zu viel über sich zu verraten. Dieser grüne Igel mit diesen seltsamen Augen, dem sie nur ganz knapp entkommen war, musste immer noch hinter ihr her sein, und ein zweites Mal würde sie ihm sicher nicht entkommen.

Sie verstand nicht einmal völlig, wie ihre erste Flucht vor ihm passiert war. Irgendeine Macht hatte sie vor seinem dritten Angriff beschützt und danach schnell und doch sanft die Klippe hinunterbefördert, weg von ihm. Noch einmal würde sie ihm auf diese Weise nicht entkommen können.

Sie fragte sich immer noch, was genau damals eigentlich passiert war. Hector war der einzige gewesen, der neben ihr und dem Igel auf dem Plateau gewesen war, aber Malinche hatte ihr immer wieder gesagt, er sei ein ganz gewöhnlicher Echidna – was bei dem Prinzen alles andere als selbstverständlich schien. Wenn Hector tatsächlich irgendwelche besonderen Fähigkeiten gehabt hätte, dann hätte Malinche, neugierig wie sie war, zweifellos davon wissen müssen. Abgesehen davon – wenn Hector tatsächlich solche Fähigkeiten gehabt hätte, dann hätte er sie sicherlich anders genutzt, als sie so heimlich aus dem Palast zu schmuggeln, nachdem er das Todesurteil nicht hatte verhindern können – oder wollen.

Früher hätte sie allein bei dem Gedanken an Magie oder etwas ähnliches nur mit dem Kopf geschüttelt. Das war Stoff aus den Geschichten, die ihre Mutter ihr als kleines Kind erzählt hatte, aber der Gedanke, dass Magie immer noch existieren sollte, war schlicht und einfach absurd gewesen. Bis zu dem Morgen, an dem dieser seltsame Igel Huascar getötet hatte, ohne ihn überhaupt zu berühren. Sie konnte und wollte einfach immer noch nicht glauben, dass Magie doch zu existieren schien – und gleichzeitig merkte sie, wie sie sich immer wieder fragte, wer noch alles Fähigkeiten haben mochte, von denen sie nichts wusste.

Fähigkeiten, an die sie nie wirklich geglaubt hatte, die sie immer als Unsinn abgetan hatte...

Selina verkniff sich einen leisen, nachdenklichen Seufzer und sah sich um. Sie hatten bereits den Großteil der Strecke zu ihrer Höhle zurückgelegt. Vor ihnen war der Wald ein wenig lichter, wie sie wusste, und auf der anderen Seite dieser Stelle, an der die Bäume etwas dünner standen, erhob sich hinter einem weiteren kurzen Waldstück eine der vielen Felswände der Gegend. Eine Straße führte an dieser kleinen Lichtung vorbei, und von oben, von der Felswand aus, hatte sie schon oft Karawanen belauscht, wenn sie nachts halt machten, von Zeit zu Zeit hatte sie es sogar gewagt, sich unter die Reisenden zu mischen.

Sie blieb stehen und hob die Hand, um die Zwillinge zu warnen, die ebenfalls stehen blieben. Und nach einigen Sekunden drangen tatsächlich entfernte Stimmen zu ihnen herüber.

„Eine Karawane“, flüsterte Selina tonlos, während sie zwischen Freude und Angst schwang. Es war ein Risiko, sicher, schließlich war sie immer noch eine verurteilte Mörderin, aber sie stellte fest, dass sie sich wünschte, zumindest den Abend bei der Karawane zu verbringen.

„Gehen wir doch hin“, meinte Zachery nach kurzem Nachdenken. „Wir sind Pelzjäger und suchen Gesellschaft, vor denen sie keine Angst zu haben brauchen.“

Die Diskussion, die keine war, war damit entschieden.

Als die drei auf der Lichtung ankamen, sahen sie, dass es sich tatsächlich um eine größere Karawane handelte. Sie bestand aus bestimmt zwanzig Wagen, die alle von jeweils zwei Eseln gezogen wurden und bis obenhin mit den verschiedensten Waren beladen waren, die von Bögen aus schwarzem Holz über Zähne, Krallen und Felle verschiedener wilder Tiere bis zu kostbar verzierten Vasen aus rotbraun gebranntem Ton reichten.

Die Karawanenbegleiter, die gerade damit beschäftigt waren, die Esel zu versorgen, drehten sich zu ihnen herum, als sie näher kamen, und legten die Hand an die Schwerter, die man hier draußen immer griffbereit haben musste.. Es war eine notwendige Vorsichtsmaßnahme, wie Selina wohl wusste, aber sie blieb stehen und hob eine Hand zum Gruß. „Die werdet ihr nicht brauchen“, meinte sie. „Wir sind ehrliche Pelzjäger.“

Die arbeitenden Echidna beäugten sie und die Zwillinge kurz, bevor sie sich wieder ihrer Arbeit zu wandten, während aus dem Hintergrund ein anderer Echidna zu ihnen kam. Anders als die Begleiter der Karawane trug er keine Waffe, und wo sie zweckmäßige, einfache Kleidung, die meist schon recht abgetragen war, trugen, waren seine Kleider aus recht frischem Stoff, der zwar ungefärbt war, aber bei weitem nicht so heruntergekommen aussah wie bei seinen Begleitern.

„Ihr seid wohl der Anführer der Karawane“, meinte Zachery, nachdem er sich ihn angesehen hatte.

„Das bin ich“, bestätigte der Angesprochene. „Mein Name ist Mescalero. Darf ich eure Namen erfahren?“

„Warum nicht?“, meinte Selina, obwohl es diese Frage gewesen war, die sie im Stillen gefürchtet hatte. Ihr richtiger Name konnte sie entlarven, konnte Mescalero vielleicht verraten, wer sie war und warum sie nicht in der Stadt lebte, aber Decknamen wirkten nie vertrauenerweckend. „Vielleicht kennt ihr meine Begleiter ja. Zachery und Kaiyeri“ – auf beide deutete sie mit einer kurzen Handbewegung – „sind Pelzhändler aus Echidnapolis, und mich könnt ihr Blitzmesser nennen.“

Mescalero nickte jeweils einmal kurz, als sie die Zwillinge vorstellte, aber sie selbst sah er genau so an, wie sie es befürchtet hatte – mit einem Blick voller Misstrauen. „Habt Ihr etwas zu verbergen, dass Ihr euch einen Decknamen gebt?“, fragte er und versuchte zwar, möglichst neutral zu klingen, was ihm aber nicht ganz gelang.

Selina schüttelte den Kopf. „Nichts, was ich getan hätte“, sagte sie. „Ihr wisst doch, was bei jungen Kriegern üblich ist, die meinen, auf normalem Weg nichts mehr lernen zu können, oder?“

Mescalero nickte. „Sie gehen in die Wildnis“, sagte er, „aber ich habe noch nie davon gehört, dass sie ihren wahren Namen geheim halten wollen.“

„Eine Vorsichtsmaßnahme“, meinte Selina mit einem entschuldigenden Lächeln. „Sagen wir, jemand aus einer reichen Familie wagt sich in die Wildnis. Die Wildnis ist ein sehr gefährlicher Ort, nicht nur wegen den wilden Tieren und der Tatsache, dass man sich selbst mit allem versorgen muss, was man braucht, sondern auch wegen Räuberbanden, die sich hier draußen herumtreiben und jeden angreifen, der nach einem lohnenden Ziel aussieht. Wenn also jemand in die Wildnis geht und offen zugibt, aus einer reichen Familie zu stammen, wird er vor Räubern nicht mehr sicher sein, die ihn als Geisel benutzen wollen, um jede Menge Geld zu erpressen. Dass wir uns hier draußen Decknamen geben, soll eben verhindern, dass unsere Familien für unsere Sicherheit aufkommen müssen, versteht ihr?“

„Ja, das verstehe ich“, antwortete Mescalero nach kurzem Zögern. „Aber auch Räuber geben sich Decknamen. Welche Sicherheit habe ich, dass ich euch vertrauen kann?“

„Ihr habt unsere Namen“, antwortete Zachery, trat einen Schritt vor und legte ein Pelzbündel vor sich auf den Boden. „Ich und mein Bruder sind Pelzjäger aus der Stadt.“

„Mag ja sein“, gab Mescalero zurück, „aber es gibt viele Pelzjäger in der Stadt. Warum gebt ihr euch mit jemandem ab, der in der Wildnis lebt, wenn ihr auf der Jagd seid?“

Kaiyeri grinste verächtlich. „Und das fragt ein Karawanenführer?“, fragte er genau so verächtlich, wie er aussah. „Ihr solltet am besten wissen, wie gefährlich es ist, sich hier draußen zu verirren und wie leicht eben das Leuten passiert, die sich nur auf den Straßen auskennen. Ohne Blitzmesser hätten wir uns schon mehrfach hoffnungslos verlaufen.“

Mescalero schien immer noch nicht so recht überzeugt. „Und was kriegt Ihr dafür?“, fragte er Selina direkt.

Selina zuckte mit den Schultern. „Vieles“, antwortete sie, „auch wenn Ihr das vielleicht nicht als so wichtig anseht. Ich habe ihre Gesellschaft, ich erfahre durch sie, was in Echidnapolis passiert, und ich darf einen Teil der Trophäen“ – dabei wies sie mit einer Hand auf die Nähte ihrer Kleidung – „behalten. Es kann manchmal ziemlich einsam hier draußen sein, und man erfährt auch nichts aus der Stadt, müsst Ihr wissen.“

Mescalero schwieg einige Sekunden lang. Offensichtlich dachte er immer noch darüber nach, ob er ihnen vertrauen konnte, aber dann nickte er. „Ihr wirkt auf mich nicht wie Lügner“, sagte er, um dann fast entschuldigend hinzuzufügen: „Ihr wisst doch auch, dass man hier draußen niemandem blind vertrauen sollte.“

Zachery lud sich das Pelzbündel wieder auf die Schulter und nickte. „Schon klar. Seid Ihr zufällig auf dem Rückweg nach Echidnapolis?“

Selina hörte beim folgenden Gespräch zwischen Zachery und Mescalero nur halb zu und musste sich beherrschen, um nicht laut aufzuatmen. Trotz ihres Decknamens würde sie noch den Abend in Gesellschaft verbringen dürfen... und vielleicht würde sie auch endlich etwas neues über ihre Schwester und die Verhandlungen mit den Igeln erfahren, wenn sie es nur schaffte, unauffällig danach zu fragen.
 

Die Dämmerung war kurz. Zu dieser Jahreszeit war das nichts außergewöhnliches, und die Begleiter der Karawane waren darauf eingestellt. Es war für sie eine Arbeit von nicht einmal einer halben Stunde, die sie dazu bereits begonnen hatten, als Selina mit den beiden Pelzjägern zu ihnen gestoßen war, um die Zugesel zu versorgen, die Wagen mit dünnen Lederhäuten abzudecken – beides war mehr Arbeit, als es zunächst schien, da die Karawane ungewöhnlich groß war – und die Wachen für die Nacht einzuteilen. Es war noch nicht einmal ein Stern am Himmel zu erkennen, als die Vorbereitungen für die Nacht abgeschlossen waren.

Ein Feuer wurde nicht gemacht. Selina wusste nur zu gut, wie gefährlich es war, hier draußen nachts ein Feuer anzuzünden. Es zog Raubtiere und Räuber an wie ein Kadaver die Fliegen und verschaffte der Karawane mehr Aufmerksamkeit, als ihr lieb sein konnte.

Die anderen Echidnas saßen in Gruppen von drei oder vier zusammen, aber Mescalero war zu Selina und den Zwillingen gekommen, in den Schatten eines Wagens, nachdem er sich vergewissert hatte, dass alle Wagen abgedeckt und alle Tiere versorgt waren.

„Was führt Euch gerade in diese Gegend?“, fragte er, während er sich setzte. „Sie liegt doch ziemlich abseits von Echidnapolis. Von hier aus habt ihr einen weiten Weg zurück mit Euren Fellen.“

„Aber hier haben wir auch unsere Ruhe“, antwortete Kaiyeri, während er die Spitze seiner Waffe prüfend betrachtete, aber anscheinend nichts fand und sie daher neben sich auf den Boden legte. „Um die Hauptstadt herum jagen viel zu viele Jäger. Da findet man kaum noch Tiere. Hier draußen müssen wir zwar weiter zurück, aber wir haben eine gute Führerin, die uns auch abseits der Straße zurück in die Stadt bringen kann.“

Mescalero warf Selina einen respektvollen Blick zu. „Dann müsst Ihr Euch in der Gegend gut auskennen“, meinte er und konnte einen Hauch von Bewunderung nicht verbergen.

„In drei Jahren lernt man sie kennen“, meinte Selina und steckte das Messer weg, das sie prüfend betrachtet hatte, ganz wie Kaiyeri, bevor es dazu zu dunkel war. Dieses Messer hatte heute wieder eine Bergkatze getötet. In den letzten Jahren hatte es oft getötet, fast immer wilde Tiere, gelegentlich auch zu aufdringliche Räuber, die sie wegen ihrer Jugend als leichtes Opfer eingeschätzt hatten, ein einziges Mal, vor ihrer Verbannung, auch geisterähnliche Wesen... und in Huascars Händen sicherlich ebenfalls unzählige Male. Und trotzdem war immer noch nicht das geringste bisschen Rost auf der Klinge, keine einzige Scharte, nicht einmal ein Ansatz von einer Scharte, und die Schneiden waren zwar in den letzten Jahren kein einziges Mal geschliffen worden, aber Selina brauchte sie nur anzusehen, um zu sehen, dass sie nichts von ihrer Schärfe verloren hatten. Sie waren immer noch in dem gleichen Zustand wie vor drei Jahren, als sie sie erhalten hatte.

Mescalero nickte langsam. „Drei Jahre sind eine lange Zeit“, meinte er. „Warum habt ihr überhaupt Echidnapolis verlassen? Und warum seid ihr immer noch nicht zurück? So lange wie Ihr bleiben junge Krieger doch normalerweise nicht in der Wildnis.“

Selina zuckte nur mit den Schultern. Solche Fragen hörte sie regelmäßig, wenn sie bei einer Karawane lagerte und sich als Kriegerin in der Wildnis ausgab, und für solche Fragen hatte sie eine Antwort, die wirklich immer passte, nicht zu viel verriet und dabei noch nicht einmal gelogen war. „Ich habe in der Stadt nichts, das mich dort hält. Je nachdem, was ich dort als Kriegerin machen würde, müsste ich den ganzen Tag irgendwelche Aufgaben erledigen, die mich nicht interessieren. Ich müsste früh aufstehen, lange aufbleiben, und müsste mich mit dem wenigen, das ich für meinen Sold auf dem Markt kaufen kann, zufrieden geben. Das, was mir Spaß macht, das Kämpfen, mit diesen Waffen“ – dabei deutete sie mit einer Handbewegung auf ihre Messer – „das käme dort zu kurz.“

„Mit anderen Worten“, ergänzte Mescalero mit einem ernsten Gesichtsausdruck, der nicht zu seinen Worten passen wollte, „Ihr wollt euren eigenen Kopf durchsetzen.“

Selina hätte beinahe laut aufgelacht, verkniff es sich aber. So laute Geräusche konnten sie sich hier draußen nicht erlauben. „Wenn Ihr das so sagen wollt“, meinte sie grinsend. „Ich hänge einfach an meiner persönlichen Freiheit. Und die will ich nicht wegen irgendwelchen Regeln aufgeben, nach denen ich mich in der Stadt richten muss.“

„Dafür schwebt Ihr hier draußen ständig in Gefahr“, meinte Mescalero und konnte eine gewisse Verwunderung in seiner Stimme nicht verbergen. „Jederzeit könnte Euch ein Räuber in der Nacht im Schlaf töten, Ihr könntet auf der Jagd sterben… Ich verstehe nicht, wie Euch Freiheit wichtiger sein kann als euer Leben. In der Stadt seid ihr vielleicht nicht ganz so frei, aber dafür lebt Ihr in Sicherheit.“

„Und langweile mich zu Tode“, erwiderte sie und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als sie sah, dass der Händler sie noch weniger verstand als vorher. „Es ist doch gerade die Gefahr, die das Leben hier draußen so besonders macht. Ihr habt Recht, jede Sekunde könnte hier draußen meine letzte sein, aber deswegen bin ich ja hier und nicht in der Stadt. Hier gibt es noch Herausforderungen. In Echidnapolis würde ich mich nur langweilen.“

Der Händler zuckte mit den Schultern. „Mir kann es ja egal sein… aber was, wenn Ihr einmal zurück wollt in die Stadt? Ihr habt doch dann nichts, abgesehen von Euren Waffen und Eurem Können, und zum Überleben wird das nicht reichen.“

„Vielleicht doch“, erwiderte Selina mit einem traurigen Lächeln.

Zurückkehren… das würde sie niemals können...

„Die Armee würde mich vermutlich mit offenen Armen empfangen, und diese Felle“ – dabei wies sie auf den Packen Felle, die sie mit Zachery und Kaiyeri gesammelt hatte – „dürften fast soviel wert sein wie die ganzen Waren, die ihr hier dabei habt. Ihr wisst doch, wie verrückt die Reichen nach solchen Pelzen sind.“

„Ja, das weiß ich“, meinte Mescalero, und ein vielsagendes Grinsen legte sich auf sein Gesicht. „Aber wenn ihr wüsstet, welche Kostbarkeiten ich hier habe, dann – “

Er führte den Satz nicht zu Ende.
 

Die Nacht war schnell gekommen. Es war wirklich noch nicht lange her, dass die Karawane bereitgemacht worden war, um die Nacht an eben dieser Stelle zu verbringen, und dass im letzten Tageslicht noch kein Stern am Himmel zu sehen gewesen war. Mittlerweile, nur kurze Zeit später, war der Himmel schwarz und erleuchtet von vielen Sternen, und der runde, leuchtende, volle Mond war bereits aufgegangen und tauchte alles in sein silbernes Licht.

Ein lauter Ruf übertönte sämtliche Gespräche, die sich in der aufziehenden Nacht im Lager ergeben hatten, zerriss die Stille über den leisen Gesprächen und führte dazu, dass wirklich jeder der Anwesenden unverzüglich zu den Waffen griff, aufsprang und dorthin eilte, wo der Ruf herkam –

„Haltet den Dieb!“
 

Selina und ihre Gefährten folgten der allgemeinen Aufregung nicht. Sie hatten zwar ebenso schnell zu den Waffen gegriffen, verschwendeten aber keine Sekunde daran, dem Ruf zu folgen. Jeder von ihnen sprang mit einem Satz auf den nächststehenden Wagen und sah sich um. Der Ruf war von nicht weit weg gekommen, und im Mondlicht konnte Selina sehen, wer gerufen hatte – ein junger Begleiter der Karawane, die Hand an der Waffe, der jetzt ziellos in der Dunkelheit herumspähte und offensichtlich keine Spur mehr vom Dieb hatte.

Selina schüttelte verächtlich den Kopf. Der Fremde musste jetzt einfach wissen, dass er entdeckt worden war, und in der Zeit, die sie alle damit verbrachten, sich zu beraten, konnte er, selbst wenn diese Zeit nur einige Minuten betrug, schnell ins Dunkel der Nacht verschwinden.

Weit konnte er – noch! – nicht sein.

Und tatsächlich entdeckte sie, als sie ihren Blick über das Lager schweifen ließ, einen dunklen Schatten, der sich von der Stelle wegbewegte, wo der Diebstahl passiert sein musste.

„Ihr bleibt hier bei der Karawane“, sagte sie leise zu ihren Gefährten. Die beiden würden sich nur verlaufen und sie behindern – und wenn jemand den Dieb fangen konnte, dann war sie das. Sie kannte sich in der Gegend aus und würde ihre Freunde nötigenfalls mit verbundenen Augen wieder finden, wenn sie den Dieb gestellt hatte.

Sie sprang auf der anderen Seite vom Wagen hinunter und huschte, so schnell sie konnte, aber gleichzeitig völlig geräuschlos, in die Richtung, in die der dunkle Schatten gelaufen war.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (1)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Fenrion
2006-05-02T22:03:17+00:00 03.05.2006 00:03
8DD Cool x33 Du hast die Zwillinge eingebaut x33 *froiz*
....83 Hab schon gewartet dass die FF weitergeht x33 Juhuuu xDD...8D
Is wie immer total klasse geworden x33
Keep it up! *daumen hoch*


Zurück