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Kreaturen der Nacht

Kurzgeschichten
von

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Als es still wird

Ich kann mich nicht mehr erinnern, wann das alles begonnen hat.

Vielleicht vor einigen Monden, als ich dem Antoniusfeuer beinahe erlag – meine Mutter schrie und weinte, als ich auf dem Weg der Besserung war.

’Das ist ein Wunder’, sagte sie nur immer wieder und betete zu Gott, der es ihr geschenkt hatte. Falls es der gute Gott im Himmel gewesen ist und nicht der Teufel, der mich am Leben halten wollte.

Ja, vielleicht hat es damals begonnen, dieses einst leise Wispern in meinem Kopf, vielleicht aber auch schon viel früher. Vielleicht hat der gute Gott, zu dem alle aufsehen, seine Hand über den Kopf eines unschuldigen Kindes gehalten und gesprochen: ‚Dein Leben soll verflucht sein’.
 

Wenn es nur aufhören würde!

In jeder Nacht raubt es mir den Schlaf, lässt mich fast in den Wahnsinn übertreten. Aus dem leisen Wispern ist ein Schreien geworden, ein heilloses Durcheinander endlos vieler Stimmen.

Wenn ich auch nur eine von ihnen verstehen könnte!

Fast kann ich schon meinen eigenen Gedanken nicht mehr lauschen, das laute Rauschen, das Stimmenwirrwarr der Unsichtbaren um mich her…

So laut, so kalt, so aufdringlich…
 

Früher suchte ich in diesen Nächten immer Schutz an den nahen Klippen. Das dunkle Wasser schlug wie auch heute geräuschvoll gegen die Felsen und schien die Stimmen mit sich zu nehmen.

Doch das tut es schon lange nicht mehr. Sie sind zu laut geworden, zu allumfassend. Nun kann auch das Meer mir die Nächte nicht mehr versüßen, in denen ich wachen muss, in denen ich friere, einsam bin.

Oder vielleicht – ja, vielleicht kann es doch auch weiterhin mein Ritter sein, mein Beschützer vor der Dunkelheit um mich her, die sich anschickt Besitz von mir zu ergreifen.
 

Fast gänzlich ohne mein Zutun bewege ich mich auf die Klippe zu, bleibe stehen, spähe in die Fluten hinab. Heute Nacht ist ihr Getöse noch mächtiger als gewöhnlich, der raue Wind, der an meinen Kleidern zerrt, treibt das Wasser unbarmherzig auf die Felsen zu, wo es zerschellt, in unendlich viele kleine Punkte aus weißer Gischt.

Das Meer wird mein Beschützer sein, so, wie es einmal gewesen war. Alles wird wieder sein, wie es war. Dafür muss ich ihm nur näher kommen, näher sein…

Meine Füße tragen mich weiter auf die Klippe zu und tief in meinem Herzen, das von den finsteren Stimmen noch nicht ergriffen wurde, weiß ich, dass sie nicht mehr inne halten werden.

Der Abgrund kommt näher, immer näher, fast kann ich schon die Gischt auf meiner Haut spüren, die Stimmen in meinem Kopf schwellen zu einem unerträglichen Heulen an –
 

Etwas Kaltes und Kräftiges schließt sich um meinen linken Arm und ich fahre erschrocken herum. Mein Herz scheint stillzustehen, als ich in die schwarzen Augen des hochgewachsenen Mannes aufblicke, so schwarz wie die Nacht um ihn her.

Dann ist der Moment vorbei, mein Herz nimmt seinen Dienst wieder auf, rast geradezu. Angst.

Ich versuche mich aus dem kalten Griff des Mannes zu befreien, doch es will mir einfach nicht gelingen, egal, wie sehr ich mich mühe. Mit aller Kraft versuche ich ihn von mir fortzustoßen, mein Kopf schmerzt von dem Getöse, das immer noch weiter anschwillt, scheint platzen zu wollen-
 

Der Mann mit dem scharf geschnittenen, bleichen Gesicht zieht mich zu sich heran, blickt mir in die Augen und alles um mich herum scheint bedeutungslos. Nur noch diese Augen, diese tiefen, finsteren Augen…

Für einen Atemzug sind sie still, die Stimmen der Unsichtbaren.

Der Fremde beugt sich zu mir hinab, nähert seinen Kopf meinem Hals – dann Schmerz. Ein brennender, tiefer Schmerz, der mich zum Schreien bringt, ihn in die Welt hinaus brüllend. Auch die Stimmen schreien, kreischen, nehmen mir die Wahrnehmung.

Nur noch Schmerz, Dunkelheit und diese Stimmen, diese Stimmen!
 

Aus.
 

Es ist still um mich her, so ungewöhnlich still, dass es mich ängstigt. Langsam schlage ich die Lider auf, blinzele in die Welt hinein, die sich verändert hat. Die immer noch herrschende Dunkelheit ist nicht mehr dunkel, der Wind auf meiner Haut nicht mehr kalt. Ist es noch dieselbe Welt, in der ich mich befinde?
 

Er ist immer noch bei mir, dieser Mann, dieses Wesen, hat die Arme um meine Schultern gelegt – doch sie sind nicht mehr kalt. Sie haben die gleiche Wärme meiner Haut –

Gestalten um uns her, überall in der lichten Dunkelheit. Durchscheinend, kaum sichtbar, wispern sie einander geheime Worte zu, die ich nicht verstehen oder auch nur hören kann.

Sind es die Unsichtbaren, die wie die Dunkelheit nicht mehr dunkel, nun sichtbar sind?
 

„Willkommen in der nächsten Welt“, knurrt eine leise Stimme in mein Ohr, sie kann nur dem Fremden gehören, der mich in seinen Armen hält – doch wie alles hier, scheint auch er nicht mehr fremd.

Und während er seine Lippen auf meine Stirn senkt, erschleicht mich eine Erkenntnis, so einfach und leicht, als hätte ich diese Wahrheit schon immer gekannt:

Es ist eine Welt zwischen Leben und Tod, eine andere als jene, die ich Monate lang durchstreift habe, nachdem ich an jenem Abend starb – an dem Abend, als mich das Antoniusfieber dahinraffte. Ich war für die Lebenden sichtbar, vielleicht bin ich es noch – doch hatte sich etwas verändert, als ich die Grenze zum Totenreich überschritt: Ich konnte sie hören, die Stimmen, die Freude, die Qualen der Geister dort draußen in all den Welten, die ich noch nie zu Gesicht bekommen habe.

Hier, an diesem Ort, ist so vieles anders, so vieles schöner und heller. Ich bin nicht mehr allein mit mir – und die Stimmen der nun Sichtbaren sind verstummt, für immer verklungen… Nur ihr Antlitz bleibt mir erhalten, doch ich kann es verbannen, immer dann, wenn ich die Augen schließe.
 

Danke, Danke…



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