Zum Inhalt der Seite

Drachenseele

Das Herz einer Priesterin
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

*~Douten~*

"Ungeachtet dessen, dass der Grund der Furcht in dem Mangel an Kenntnis liegt, hält man es doch nicht der Mühe wert, die Kenntnis zu besitzen, um die Furcht zu verlieren." – Decimus Laberius
 

Kapitel 48 – Douten

-Furcht-
 

*Kann Reue einen Menschen nachhaltig verändern?

Wie wichtig schätzt der Einzelne die Details ein? Und was ist, wenn sich die Gegebenheiten als etwas anders als zunächst angenommen herausstellen? Äußert der Täter dann noch immer den Wunsch, seine Missetat ungeschehen machen zu wollen?

Oder fällt er zurück in sein altes Muster und vertritt erneut die Meinung, die ihn zuvor in die Misere stürzte?*
 

ּ›~ • ~‹ּ
 

Hatte er seinen Kontrahenten dermaßen unterschätzt?

Oder traf die Schuld an der prekären Entwicklung Eldsvoði, dem eine gehörige Fehlkalkulation unterlaufen war?

Súnnanvindur spielte mit ihm – aus dem simplen Grunde, dass er es konnte. Der offenkundigen Dominanz des Luftdrachen in diesem Kampf hatte Neisti nicht viel entgegen zu setzen.

Wie die Katze, die einen Vogel mit gebrochenen Flügeln belauert…

Glücklicherweise bestand sein Auftrag nicht darin, das Oberhaupt der Loftsdrekar zu töten, denn in jenem Fall hätte er dabei kläglich versagt, wie der derzeitige Stand der Begebenheiten es lebhaft veranschaulichte; seine hoffnungslose Unterlegenheit war beinahe erniedrigend, und die Frustration darüber zehrte an seinen Nerven.

War er tatsächlich so schwach?

Wenn der ältere Drache sein Versprechen ihm gegenüber brach, würde er hier sein Leben lassen…

Keuchend rang der junge Eldursdreki nach Atem, er zitterte, und mittlerweile vermochte sich kaum mehr auf den Beinen zu halten. Und während ihm gleichermaßen das Bewusstsein zu entgleiten drohte, seine Sicht sich stetig verklärte, rührte sein Gegenüber keinen Muskel, den konzentrierten, unergründlichen Blick ins Nichts gerichtet.

Ab und an zuckten die Fingerspitzen seiner rechten Hand, unscheinbar, aber kontrolliert, und Neisti vermutete eine spezielle Technik dahinter, mit der er die Gaskonzentrationen in der Luft manipulierte.

Stränge aus Youki, die er beherrscht wie ein Puppenspieler seine Marionette…

Durch den Sauerstoffmangel, den er somit erzeugte, erstickte er jegliche Flamme und schadete obendrein noch der physischen Kondition seines Gegners.

Verdammt clever…

Die Explosionen hatte ebenfalls er, wenn auch indirekt, verursacht, aus einem empfindlichen Gemisch von Wasserstoff und Sauerstoff, dessen Entstehung durch die unsäglichen Energien aus dem weißen Feuer katalysiert wurde, um den Jugendlichen weiterhin in die Ecke zu drängen, und ihm schonungslos seine Hilflosigkeit zu demonstrieren.

Mit schwerfälligen Schritten wich der Feuerdrache zurück.

„Ergib dich, Neisti. Bitte.“

Nur noch ein Weilchen, halt ihn in Schach…

Sein Gleichgewichtssinn begann zu rebellieren, und er schwankte bedrohlich, sodass er schlussendlich matt in die Knie sank.

„Ich kann nicht…“

Von einem anhaltenden Hustenkrampf geschüttelt, kippte seine heisere Stimme, und er krümmte sich vor Schmerz zusammen, was seinen vermeintlichen Gegner dazu veranlasste, die Miene zu einem mitleidigen Ausdruck zu verziehen, dem ein Hauch von Schuldbewusstsein anhaftete.

Natürlich wohnte er dem nicht ungerührt bei, er wollte Neisti nicht verletzen. Grausamkeit lag seinem Wesen fern, ebenso wie Sadismus, und er bereute augenblicklich, zu resolut gehandelt zu haben.

Trotzdem…

Den Kleinen zu überwältigen hatte ihn einiges an Youki gekostet, für ein unerfahrenes Kind definitiv zu viel, und die rohe Gewalt, jene undefinierte, brachiale Macht, die hinter den Angriffen des Jungdrachen steckte, irritierte und erschreckte ihn zugleich.

Súnnanvindur stockte.

Nein, unmöglich…

Bewahrheiteten sich so Hríðarbylurs Befürchtungen, dass ein weiterer würdiger Erbe im Clan der Eldursdrekar existierte…?

Und wenn das stimmte, warum sandte Eldsvoði ihn so leichtfertig ins feindliche Territorium? Was bezwecke er damit…?

Wollte er ihn eventuell aus dem Weg räumen? Wozu?

Postwendend verbannte er die abwegigen Gedanken, die ihm infolgedessen durch den Kopf spukten, in die hintersten Gefilde seines Verstandes. Darüber sollte er nicht nachdenken, nicht jetzt.

Zu viele, unbeantwortete Fragen…

Unzufrieden über seine Unwissenheit presste er die Zähne aufeinander, fokussierte den Jungdrachen mit einem bittenden, möglichst neutralen Blick.

„Neisti, sei vernünftig…“

Die Intensität der Flammen um sie herum schwand rapide, das orangerote Flackern verblasste, und wurde von der gierigen Finsternis, die sie wie eine Sphäre umhüllte, verschlungen, als im Hintergrund der gigantische Feuerwall wie der schwere Brokatvorhang auf einer Theaterbühne fiel.

Letzte Glutfunken stieben empor, leuchteten wie Glühwürmchen in einer mondlosen Nacht.

Eine gespenstische Stille hatte sich derweil über das in Schutt und Asche liegende Residenzgelände ausgebreitet, einer dichten Decke aus gefrorenem Schnee gleichend, die gewichtig auf der ohnehin bereits niederdrückenden Atmosphäre lastete, und überschnitt sich nun mit dem makellosen Intermezzo des Schweigens, das sich zwischen dem Oberhaupt der Luftdrachen und dem jugendlichen Eldursdreki einstellte.

Súnnanvindur seufzte tonlos, und entspannte seine rechte Hand, wodurch er den harten Griff lockerte, mit dem er Neisti umfangen gehalten hatte.

„Ich halte mein Wort.“

Daraufhin fasste er das Schwert an seiner Hüfte unterhalb der Tsuka, zog es aus dem Seidengürtel und schleuderte es anschließend achtlos in die Dunkelheit der verwüsteten Umgebung, wo es mit einem gedämpften metallischen Klirren auf dem kiesigen Grund landete.

Vorerst kam von dem angeschlagenen Jungdrachen keinerlei Reaktion, denn zu mehr als einem angestrengten Atemschöpfen war er nicht fähig; begierig sog er die frische Luft in seine brennenden Lungenflügel, gönnte seinem geschundenen Leib die längst überfällige Ruhepause.

Dann hob er den Kopf, richtete sich mühselig auf.

Doch auch danach äußerte sich Neisti nicht zu der nachsichtigen Aktion des Älteren, starrte ihn anstatt dessen voller Missfallen und Frustration an.

„Wieso tut Ihr das…?“

Er demütigte, verhöhnte ihn willentlich, indem er ihm das Recht eines ebenbürtigen Gegners verwehrte – wieso behandelte er ihn anstatt mit dem adäquaten Ernst so gelinde?

Verdrossen und gleichermaßen enttäuscht ballte der Eldursdreki nun die Hände zu Fäusten, wodurch die Knöchel sichtlich weiß hervortraten, und presste die Kiefer aufeinander bis ihm der Schmerz der gewaltsam gegeneinander mahlenden Zähne in den Ohren surrte. Er hielt erbittert an seiner Selbstbeherrschung fest, um nicht noch das letzte Bisschen Respekt zu verspielen, um sein Gesicht und das seines Clanes zu wahren.

Eine Alternative bot sich ihm nicht.

Parallel dazu spiegelte sich eine Fülle von Emotionen in den weichen Zügen, illustrierte das Chaos, das im Innersten des Jungen tobte.

Súnnanvindur hingegen verblieb unsicher, was er darauf antworten sollte.

Ehe er jedoch die Gelegenheit ergreifen konnte, um zu einer Erwiderung anzusetzen, vernahm das Geräusch von schweren Schritten die Aufmerksamkeit der beiden Drachen ein.

Kies knirschte unter Ledersohlen – ohne Zweifel näherte sich ihnen ein Mensch, der vergleichsweise plumpe Gang verriet ihn.

Wer…?

Das charakteristische Resonanzschwingungen von vibrierendem Stahl ließen den Luftdrachen aufhorchen und augenblicklich alarmiert herumfahren; welcher stupide Sterbliche wagte es, sich zwei kämpfenden Dämonen in den Weg zu stellen, und sie überdies noch herauszufordern, indem er das Schwert gegen sie zog?

„Narr.“

Unwillkürlich verengte der Drachenfürst aus dem Norden die Augen; er kannte diesen Geruch, und es gefiel ihm ganz und gar nicht, dass er ihm gerade jetzt in die Nase stieg.

Akaihoshi…

„Du bist ein vermaledeiter Feigling, Súnnanvindur! Zeig dich und stell dich zum Kampf – ich weiß, dass du hier bist, du verfluchter, verlogener Hypokrat von einem Dämon!“

Laut und klar donnerte die erzürnte, von Wut verzerrte Stimme des Kämpfers über die zerstörte Gartenanlage.

Irgendetwas stimmte nicht.

Natürlich hatte er sie zur Kenntnis genommen, die scheelen, abschätzigen Blicke, mit denen der Schwertkämpfer ihm seit seiner Ankunft begegnete. Wie hätte ihm das entgehen können?

Es war so offensichtlich.

Seine Verstimmung darüber hatte er jedoch nicht geäußert – um des Bündnisses willen, das er nicht im Vorhinein mit Nebensächlichkeiten belasten wollte. Ein Fehler seinerseits, wie er begriff.

Denn eine offene, ausfallende Provokation von diesem Ausmaß verlangte nach weitaus mehr als einer wortlosen Verwarnung. Solch eine Respektlosigkeit gegen das Oberhaupt der Loftsdrekar zu begehen… hätte es sich bei Akaihoshi um einen seinesgleichen oder einen Drachen aus einem der anderen Clans gehandelt, wäre er keineswegs zu einer Milderung der Strafe geneigt gewesen. Ungerechtfertigte, persönliche Beleidigungen empfand er als außergewöhnlichen Frevel ihm und seiner Autorität gegenüber.

Das musste - und würde - er nicht dulden.

Menschen allerdings wussten es zumeist nicht besser, geblendet von falschen Idealen, durch den Fanatismus ihres Umkreises mitgerissen, von naiver Loyalität getrieben. An jener Stelle versagte ihre Lernfähigkeit jämmerlich; zu selten bedienten sie sich ihres eigenen Verstandes.

Aber…

Die Erkenntnis traf ihn schlagartig und bitterkalt.

Bedeutete das nicht…?

„Fleygur…“

Bestürzt hob er seine rechte Hand, dem neuerlichen Zittern seines Körpers allzu gewahr, und betrachtete sie ernüchtert.

Hatte er ihm Unrecht getan? Dafür, dass er sich womöglich nur gegen den überschäumenden Wahn eines törichten, menschlichen Idioten verteidigt hatte?

Aus welchem Grund hatte er ihm frühzeitig den Mund verboten, und ihn für eine Wahrheit verurteilt, die er selbst aus steifem Beharren heraus nicht hatte glauben wollen, obgleich er seinem eigenen Fleisch und Blut keine Lüge zutraute? Was hatte er sich dabei gedacht?

Ein schlechter Vater sondergleichen…

Unterbewusst hatten sich seine Prioritäten verschoben, er hatte die Allianz mit dem Tennô über seinen Sohn, seinen Erben, erhoben – es fühlte sich an wie ein Fausthieb mitten ins Gesicht, und es schmerzte ihn auf diese Weise zu erkennen, wie verkommen seine Persönlichkeit doch war. Seit wann verhielt er sich selbstsüchtig, derart fixiert auf die Ziele und Bestrebungen, die er als über die Maßen wichtig erachtete, dass er darüber hinaus andere, mindestens gleichwertige Pflichten vernachlässigte?

Alles für den Clan…?

Konnte er diese Einstellung verantworten, vor allem sich selbst gegenüber?

Nein…
 

Ein mattes Keuchen durchdrang die illusorische Schweigsamkeit des trüben Zwielichtes, das sich nach dem Kollaps des Feuervorhangs klammheimlich über die Trümmer der einstmaligen Sommerresidenz des Tennô ausgebreitet hatte. Grau und schwer, wie dichter Morgennebel, verklärte es die Sichtverhältnisse, und unterwanderte gleichsam das Gemüt – eine synthetische Erscheinung mit physischen sowie psychischen Auswirkungen, spontan entstanden durch die Unmengen an dämonischen Energien, die an diesem Ort miteinander kollidiert und teilweise verschmolzen waren. Es würde Jahrzehnte dauern, bis die letzten Spuren des schwarzen, verheerenden Youkieinflusses hier verschwanden.

Das Souga-Oberhaupt fröstelte, die korrumpierte Atmosphäre drohte ihn zu übermannen. Was sollte er, als einfacher Mensch ohne besondere spirituelle Talente, gegen eine solche Übermacht ausrichten?

Beinahe hätte er trocken und humorlos aufgelacht; er hatte nicht den Hauch einer Chance.

„Akaihoshi-san…?“

Dumpf verhallte das schwache Echo seines Rufes zwischen den Mauerresten und Gesteinsbrocken, die den Pfad des Provinzfürsten säumten und sich in dunklerem Grau von der Monotonie der eintönigen, gewaltsam eingeebneten Landschaft abhoben. Unmöglich, sich in diesem Labyrinth zu orientieren, und somit blieb ihm lediglich das Prinzip von Versuch und Irrtum, nach dem er zu agieren vermochte.

Dementsprechend schritt er voran, immerzu geradeaus, wobei er inständig hoffte, dass das simple Hirn des Schwertkämpfers ebenfalls eine derartige Vorgehensweise suggeriert hatte. Ansonsten könnte er durchaus in Schwierigkeiten geraten.

Nervös wrang er seine Hände.

Er durfte sich nicht beirren lassen, und wenn er nicht mit Vorsicht waltete, begegnete er in diesem Chaos letztendlich noch dem Falschen – ob Mensch oder Dämon behielt sich einerlei.

Seine eher pazifistische Gesinnung vertrug sich nicht mit der Kunst des Krieges, und eigentlich wollte er nicht sterben.

„O Kami-sama, steht mir bei…“

Herzlich gerne wäre er sofort in theatralisches Jammern und Lamentieren über seine gestrafte und bemitleidenswerte Person verfallen, jedoch hinderte ihn das letzte Fünkchen Rationalität daran, diesem Drang nachzugeben. Jedweder Laut konnte ihm das Leben kosten, und das Risiko war ihm definitiv zu hoch.

Weshalb hatte er nur auf die Empfehlung seiner Frau gehört?

Gegen deren perfide Methoden der Überzeugung war kein Kraut gewachsen…

Innerlich über das Unglück murrend, dass das verwünschte Schicksal ihm nun einmal mehr bescherte, hielt er plötzlich inne, den leisen Fluch, der sich gerade eben zwischen seinen Lippen gebildet hatte, vergessend.

Was zur…?

Etwa fünf Schrittlängen von seinem derzeitigen Standpunkt entfernt nahm er verschwommen die Silhouetten zweier Gestalten wahr; wie erstarrt verharrten die beiden regungslos, die rechte aufrecht stehend, den Kopf gesenkt, die linke in sich zusammengesunken auf dem kiesigen Boden kniend.

Was ging hier bloß vor sich? Und vor allem, wessen Aktionsradius hatte er soeben gekreuzt?

Der Souga selbst fühlte sich in seiner kontinuierlichen Bewegung eingefroren, unfähig, noch einen einzigen weiteren Schritt, weder vor noch zurück, zu tätigen.

Sein Herz begann zu rasen, seine Kehle war wie zugeschnürt.

Nie zuvor in seinem Leben hatte er eine vergleichbare panische Angst verspürt wie in jenem Augenblick, obwohl er nicht wirklich zu benennen wusste, aus welchem Grund.

Dann vermeinte er allerdings ein Wimmern zu vernehmen, das alsbald in ein röchelndes Husten überging.

Das klang nicht gut.

„Ich… nein, das… ich wollte das nicht… wirklich, das… nein, nein… Nein!“

Daraufhin ertönte ein markerschütternder Schrei, der dem Menschenfürsten Gänsehaut verursachte und eine gespenstische Kälte in seine Innerein trieb.

„Akaihoshi-san, antwortet!“

Was um Himmels willen war geschehen?

Der befremdlichen Tonlage und dem gebrochenen Sprachfluss zum Trotz hatte er die Stimme des Schwertkämpfers mühelos erkannt.

War er eventuell ernsthaft verletzt?

„Souga… -san… Ihr müsst mir helfen, ich… holt einen Heiler… oder die Priesterin, ja, holt die Priesterin hierher! Und beeilt Euch!“

Hoffnungslos überfordert und zwischenzeitlich bis an die Grenzen seiner Selbstbeherrschung verängstigt, zwang er sich zur Ruhe und näherte sich den schattenhaften Umrissen – eher zögerlich als bestimmt, aber nichtsdestotrotz mit unterschwelliger Entschlossenheit.

„Bitte beruhigt Euch, Akaihoshi-san. Was…?“

Mit einem Mal verstand er das hektische, verstörte Betragen des Menschenrechtlers; denn die Person, die vor ihm kauerte, dessen Abdomen er mit der Klinge seines Katanas durchstoßen hatte, zählte sicherlich nicht einmal fünfzehn Sommer.

Ein Kind…

Blut rann die scharfe Schneide hinab, sammelte sich an der Kissaki und tropfte schließlich auf den Ruß geschwärzten Untergrund.

Dennoch regte es sich nicht, krampfte seine Finger fest in den Stoff des indigoblauen Baumwollhaori, den der Mann, der mit schreckgeweiteten Augen auf es herabblickte, trug.

„Es war ein Versehen… ich konnte doch nicht wissen… ich wollte doch nicht…“

Die fruchtlose Rechtfertigung – oder eher der Versuch einer solchen - lief ins Leere, und der ersichtlich angeschlagene Krieger verstummte, beschämt und reumütig.

Welcher Teufel hatte sich seiner bemächtigt und ihn dazu veranlasst, so unbedacht und grausam zu Werke zu schreiten? War er am Ende gar dem Wahnsinn anheim gefallen?

Zweifel marterten sein Bewusstsein, und eine beklemmende Schuld nistete sich in seinem Gewissen ein. Nebenbei wurde er sich einer gewichtigeren Problematik gewahr: was galt es jetzt zu tun?

In der Versorgung Verwundeter war er nicht gerade bewandert, und mit Sicherheit konnte er allenfalls sagen, dass er sein Schwert nicht irgendwie entfernen durfte, indem er es einfach wieder herauszog. Damit würde er den Jungen vermutlich töten.

Fraglich, wie hoch seine Überlebenschancen überhaupt einzuschätzen waren.

Ohne einen Arzt…

Unvermittelt forderte ein schwaches Stöhnen seine Aufmerksamkeit ein, und er wagte es kaum, seinen Sinnen zu trauen, als er simultan dazu ein heiseres Wispern vernahm und durch die Tsuka in seiner rechten Hand eine nachhaltige Vibration spürte.

Goldene, blau durchwirkte Iriden fixierten augenblicklich tiefes Grün, und Akaihoshi erlangte seinen Fokus zurück, erschrak beim Anblick der von Blut rötlich verfärbten Fangzähne, die der Junge drohend bleckte.

„Mononoke…“
 

Die Augen des Eldursdreki leuchteten rötlich auf, und das abgrundtiefe Grollen aus seiner Kehle schwoll Unheil verkündend an, als er sich mühevoll aufrichtete, die linke Hand unnachgiebig um den kühlen Stahl des Katanas geschlossen.

Dann flammte plötzlich sein Youki auf, roh und maßlos, ungebändigt, sodass die Luft durch die sengende Hitze flirrte, und der ausgezehrte Untergrund schwelend zu glimmen begann.

„Neisti!“

Zwischen all dem Schmerz und der Verzweiflung, durch die verklärende Angst vor Tod und Versagen, die seine Gedanken aufwühlte und seinen Verstand lähmte, fand Súnnanvindurs Stimme kein Gehör; er registrierte die Präsenz des Luftdrachen lediglich am Rande – sein Instinkt trieb ihn in die Offensive, taub für rationale Vernunft.

„Wir wollen aus der Vergangenheit das Feuer übernehmen… nicht die Asche…“

Perplex hielt der Drachenfürst inne, betrachtete alarmiert den nunmehr offenbar in intuitive Raserei verfallenden Jugendlichen.

„Was…?“

Das würde, das konnte kein gutes Ende nehmen.

Unwillkürlich stahl sich leise Fassungslosigkeit in seinen Blick; die beiden Menschen hingegen verblieben teilnahmslos, versteiften unmerklich die Schultern, zu eingenommen von dem Spektakel, das sich direkt vor ihnen abspielte.

Dem Herzschlag eines Lebewesens gleich pulsierte die lohende Aura des Feuerdrachen im Rhythmus seiner flachen Atmung, tauchte die Umgebung in einen dämonischen Schein aus vermeintlich lebendigem Glutrot und Orange, der alsbald ins Unscheinbare verblasste und nichts als Energie in wahnwitzigen Temperaturhöhen hinterließ.

Der spürbar heiße Youkifluss konzentrierte sich in seinem Inneren, sammelte sich in seiner Brust und gewissen Arealen in seinem Gehirn, und im nächsten Augenblick erhellte ein gleißender Blitz das Zwielicht der demolierten Landschaft.

Er wechselt in seine wahre Gestalt…

Unbestritten eine unüberlegte Verzweiflungstat, wie Súnnanvindur gedanklich konstatierte – was dachte sich der Junge dabei, so leichtfertig alles auf eine Karte zu setzen? Für offenbar nichts und wieder nichts?

Hatte Eldsvoði ihn wissentlich auf eine Selbstmordmission ohne Wiederkehr entsandt, um einen persönlichen Vorteil daraus zu gewinnen?

Von mentaler Unsicherheit befangen, zwang sich der Luftdrache dazu, sein Augenmerk wieder auf das präsente Geschehen zu lenken.

Neistis zierlicher Leib verzerrte sich hinter dem lichten Vorhang, die humanen Proportionen verschwammen, während sich die rosige Haut zu einem tiefroten, rauen Plattenpanzer wandelte, von Dornen gespickt; die weichen Züge wurden indes von einem düsteren Ausdruck überlagert, und das jugendliche Gesicht verformte sich zu einem länglichen, ehernen Schädel, aus dessen Kiefern dolchartige Reißzähne eine unmissverständliche Botschaft aussprachen.

Raubtier.

„Keiner rührt sich von der Stelle!“

Ihnen tat sich dieser eine Ausweg auf: wenn sie übeleben wollten, mussten sie den Eldursdreki mit Geschick überlisten – ohne ihn zu töten, insofern das möglich war -, denn rein physisch besaß er selbst Súnnanvindurs Hennyou gegenüber das absolute Machtprivileg.

Die Augen eines Drachen erwiesen sich im Allgemeinen als nicht außergewöhnlich gut, zu fixiert auf die Bewegung einer potentiellen Beute, und nahezu unfähig, etwas, das regungslos verweilte und wartete, erfolgreich zu erspähen. Drachen waren aus simplen, evolutionären Gründen nun einmal keine Lauerjäger.

Und dieses Faktum galt es auszunutzen.

Das Oberhaupt des Clans der Loftsdrekar wusste aus Erfahrung, dass sich ein solches Unterfangen schwierig gestaltete, aber keineswegs aussichtlos. Welche Wahl eröffnete sich ihnen?

„Ein Monstrum, dieses Kind ist…“

Ungläubigkeit und Panik schwangen in den geflüsterten Worten des Schwertkämpfers mit, und der Souga rang sichtlich mit seinem Gleichgewichtssinn, stumm, da ihm die Urangst vor dem Tode bereits jegliche verbale Äußerung verwehrte.

„Solange ihr euch nicht bewegt, wird er nicht angreifen. Lasst ihn, und beherrscht euch, er wird diese Form nicht lange unterhalten können…“

Die beiden Menschen protestierten nicht und nahmen den Befehl des Loftsdreki wohl oder übel hin, doch dieser fühlte den Widerwillen des Hass erfüllten Menschenrechtlers, der verdrossen mit den Zähnen knirschte.

Insgeheim konnte er nur hoffen, dass Neistis Sinne mittlerweile zu arg in Mitleidenschaft von seinem Geisteszustand gezogen worden waren, um die feinen Schwingungen wahrnehmen und folgerichtet auswerten zu können.

Glücksspiel…

Das energetische Licht ermattete und verschwand schließlich vollkommen, gab den Anblick des haushohen Feuerdrachens preis, der sich in drohender Haltung vor ihnen aufrichtete, die vergleichsweise kurzen Flügel gespreizt.

Mit einem heiseren, infernalischen Schrei trat das Ungetüm einige Schritte zurück und riss das Maul auf, sog begierig den Sauerstoff in seinen Schlund.

Es roch nach Schwefelverbindungen, Methan und Kohlenstoffmonoxid – ein tödliches, hochentzündliches Gasgemisch.

„Verdammt…“

Damit stürzte Súnnanvindur vor Akaihoshi und den Menschenfürsten, mobilisierte das Maximum seiner Kraftreserven in einem verbissenen Aufgebot.

Der Feuerschwall aus dem Rachen des Eldursdreki traf ungehindert auf die Wand aus verwirbelter Luft, einem orkanartigen, ringförmigen Gebilde, das die drei Individuen wie ein steinerner Mauerwall schützte.

Glutfunken stoben umher, und das Geräusch von minderschweren Explosionen schallte durch die Stille der Ebene, ehe die Flammen an Stärke und Intensität verloren und verloschen.

Angestrengt nach Atem schöpfend standen sich die beiden Kontrahenten gegenüber, ausgelaugt und gleichsam von Erschöpfung heimgesucht, blickten sie sich in die Augen.

Hellroter Schaum verfärbte die Fänge des Jungdrachen, troff auf den Boden, und aus der Wunde in seiner linken Flanke quoll unentwegt Blut hervor.

Entscheidend war die nächste Attacke.

Dennoch zauderte nicht alleinig der Loftsdreki.

Nach einem Moment, der sich von einer Weile bis ins Unendliche dehnte, hob Neisti ruckartig den Kopf, wirkte, als würde er angespannt horchen und wittern – die Nüstern des Drachen bebten, blähten sich in einem regelmäßigeren Takt als zuvor.

Perplex betrachtete Súnnanvindur das überaus aufmerksame Gebaren des Feuerdrachen. Was bedeutete das?

Ein Scharren, und eine Art Pfeifen, das der heimischen Fauna nicht zuzuordnen ist…

Verständigte er sich auf diese Weise mit Bundori?

Überfordert sammelte er seine Konzentration, sein Gehör und sein Geruchsempfinden verrieten keine nennenswerten Auffälligkeiten.

Mit einem raschen Satz vollführte der Jungdrache blitzartig eine Kehrtwende um die eigene Achse und eilte davon, und seine Gestalt verschmolz mit den Schatten der Dunkelheit…
 

ּ›~ • ~‹ּ
 

***>>>Kapitel 49:

>“Die Gefahr scheint gebannt, doch die Zweifel bestehen und alsbald ereilt die Beteiligten die Erkenntnis. Natürlich diente der vermeintlich gescheiterte Angriff einem Zweck, und die Ergründung dessen bringt einen schwerwiegenden Verdacht ans Tageslicht. Welche Reaktionen das heraufbeschwört, bleibt abzuwarten…“

Blekking



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (2)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Lizard
2008-04-03T19:59:52+00:00 03.04.2008 21:59
Hui, hui, hui, da ging's ja ganz schön zur Sache... das war spannend zu lesen!
Aber man musste auch konzentriert lesen, um mitzukommen. Denn der häufige Perspektivenwechsel (mal aus der Sicht von Sunnanvindur, mal aus der Sicht von Neisti und dann mal aus Menschensicht) gefiel mir zwar sehr gut, kann aber auch -wenn man zu flüchtig liest- leicht für Verwirrung sorgen.
Also, wenn ich das alles jetzt richtig verstanden habe und meine darauf aufbauenden Schlussfolgerungen richtig sind, sollte Neisti Sunnanvindur mit dem Kampf beschäftigen, richtig? Könnte es dann nicht auch sein, dass der Hundeherr ebenso beschäftigt werden sollte? Waren die beiden Kämpfe des Sonnenweberdrachen und Feuerdrachen gegen den Hund und den Luftdrachen dann eventuell nur ein Ablenkungsmanöver? Scheint mir jedenfalls so. Doch wofür soll dieses Ablenkungsmanöver sein? ... Oh, oh, die Spannung steigt...

Dummerweise sind in das Ganze dann auch noch die Menschen geplatzt, was fast ein Eskalieren der Situation provoziert hätte. Wie konnte dieser Schwertkämpfer überhaupt Neisti erwischen? Offenbar hat er ihn wohl mit Sunnanvindur verwechselt. Hat er in seiner blinden Wut denn nicht richtig hingeschaut, wen er da mit seinem Schwert angreift?!? Emotionalität scheint wirklich oft den menschlichen Geist zu vernebeln...
Armer Neisti, der steht ja völlig zwischen den Fronten. Er tut mir leid. Obwohl er auf den ersten Blick auf der falschen Seite (d.h. auf der Seite von Bundori) zu stehen scheint, mag ich diesen Jungdrachen recht gerne. Deswegen bin ich froh, dass ihm (noch) nichts passiert ist. (Womit ich meine, dass er nicht getötet wurde... dass ihm 'nichts' passiert ist, kann man ja nun auch nicht behaupten...)

Was mir in diesem Kapitel besonders gefiel, waren die Beschreibungen zu Sunnanvindur.
Dass Luftdrachen sogar die genaue Zusammensetzung der Gase in der Luft kontrollieren können, fand ich eine tolle Idee. Und mir gefiel, wie du den inneren Konflikt von Sunnanvindur wegen seiner Pflicht als Clanoberhaupt dargestellt hast.
Von:  Hotepneith
2008-03-16T10:20:21+00:00 16.03.2008 11:20
Du hast deine Chemiekenntnisse gut genutzt...

Schön geschrieben und sehr spannend. Denn dass das Gnaze einen Zweck hat, ist auch klar. Nur welchen? Neisti hat trotz all seiner Gefühle ja einen eindeutigen Auftrag bekommen.
Was treiben eigentlich inzwischen Bundori und der Hundeherr?
Die beiden Menschen sollten jedenfalls machen, dass sie wegkommen. Aber ob sie das schaffen?

Ich bin neugierig , wies weitergeht
bye

hotep


Zurück