Erinnerungen
Teil 9: Erinnerungen
"Ich werde viele Menschen töten , nicht wahr?"
Hiko schluckte. Was war nun richtig? Die Wahrheit? Sollte er Kenshins junges Ich mit seiner Zukunft konfrontieren? Oder würde er Kenshin damit nur noch mehr zerbrechen?
"Ich hab es gesehen...in meinem Traum hab ich es gesehen." Erklärte Kenshin weiter und sah Hiko dann erwartungsvoll an.
Ohne ein auf Kenshin einzugehen, stand Hiko auf und bedeutete Kenshin ihm zu folgen. Sie liessen das kleine Bächlein hinter sich und begaben sich in das Dickkicht der Wälder. Aber sie gingen nicht zurück zu der kleinen Hütte, sondern nahmen einen Pfad den Berg hinunter. Kenshin fühlte sich unwohl. Hatte er etwas falsches gesagt? Vielleicht war es doch keine gute Idee gewesen, Shisho von seinem Traum zu erzählen. Normalerweise lachte Shisho ihn dann aus, aber heute war es anders.
Der silberne Mond hing über der Lichtung und breitete sein fahles Licht über die Erde.
"Warum gehen wir hier hin, Shisho?" fragte Kenshin verwirrt. Er verstand nicht, warum sie mitten in der nacht zu dem Friedhof gingen, wo Shisho ihm doch immer gesagt hatte, er solle diesen Ort nicht aufsuchen.
Hiko antwortete ihm nicht, sondern durchquerte zielstrebig das Feld aus modrigen Kreuzen. Kenshin lief verunsichert hinter ihm her. Es war anders. Anders als in seiner Erinnerung. Dabei konnte es höchstens ein Jahr her sein, das er das letzte mal hier gewesen war. Shisho wollte nicht, das er hierher kam, aber einmal war er heimlich gekommen und hatte ein paar Blumen zu den trostlosen Steinen gelegt.
Als sie das Zentrum des Friedhofs erreicht hatten, erfasste ein kalter Schauer Kenshin. Seine Erinnerung hatte ihn nicht getäuscht. Etwas war anders. Etwas hatte sich verändert. Dort, hinter den drei Steinen, die er damals so mühevoll herangeschleppt hatte, war ein weiteres Kreuz. Es gehörte dort nicht hin. Er hatte es nicht gemacht. Dennoch war es da und hob sich wie ein schwarzer Schatten deutlich vom Himmel ab. Es verunsicherte hin. Wer hatte es gemacht? Als er genauer hin sah, entdeckte er das um das Kreuz ein langer Fetzten Stoff gewickelt war, der schon ganz verwittert war. Auch das Kreuz selbst war verwittert und sah aus als wäre es schon sehr, sehr alt. Aber das konnte nicht sein, sagte sich Kenshin wieder. Es war nicht mal zwei Jahre her, das Hiko ihn hier gefunden hatte. Da war kein anderes Kreuz gewesen. Er hatte alle gemacht. Dieses aber nicht. Und selbst wenn es schon da gewesen wäre, er hätte es doch bemerkt!
Die Gedanken in seinem Kopf begannen zu rasen. Warum war das Kreuz hier? Warum hatte Shisho ihn hierher gebracht? Es ergab alles keinen Sinn.
Er konnte spüren , das Shisho ihn beobachtete. Er wartete auf etwas. Auf etwas was mit ihm zu tun hatte. Aber verstand nicht....
Das Kreuz. Das Kreuz hinter den drei Steinen. Mit einem alten, zerfetzten Stück Stoff. Einem langen Stück Stoff. Wie ein Schal. Ein Schal, mit dem der Nachtwind spielt. Kenshin begann zu frösteln. Es war der Schal. Er hatte etwas mit ihm zu tun. Aber was? Er konnte sich nicht erinnern. Alles war grau...weit entfernt...
Der Schal. Er konnte ihn sehen, vor seinem geistigen Auge. Er tanzte in der Abenddämmerung. Er hatte die Farbe von hellem Flieder.
Es war sein Schal!
Aber , nein, es war nicht richtig , er gehörte jemand anderem. Er gehörte-
"TOMOE!!!"
Kenshin schrie entsetzt auf, gleichzeitig platzte seine Narbe auf und warmes blut lief seine Wange hinunter. Seine Augen füllten sich mit Tränen, als die Erinnerungen in seinen Geist einstürzten und ihn wie eine gewaltige Welle zu Boden stürzten.
Tomoe...
Die Narbe...
Sein Schwert das sie tötete...
Der Schal den sie ihm schenkte....
Ihr Lächeln...
Ihr kalter Körper in seinen Armen...
Das Blut...immer war es Blut...
Aber da war auch Tomoe gewesen...
Sie hatte nachts auf ihn gewartet...
Sie war da gewesen...für ihn...
Doch er hatte sie getötet und damit zum ersten mal das Unglück gespürt, was er über Hunderte von anderen gebracht hatte...
Nach ihrem Tod wärmte ihr Schal ihn in der Kälte der Nacht
Das Ende der Revolution...die letzte Schlacht
Nie wieder würde er töten...
Das war sein Schwur...
Ein Schwert mit verkehrter Klinge...
Ein Kreuz mit Tomoes Schal...
Ein neues Grab zwischen all den anderen Gräbern.
Ein letztes Grab.
Für ihn.
Sein Grab.
Hitokiri Battousai.
Kenshin lag auf der Erde und weinte. Ein kontinuierliches Schütteln hatte seinen Körper erfass und sein eigenes warmes Blut lief immer noch an seiner Wange hinunter. Er war zu schwach um seine Geist vor den aufkommenden Bildern zu verschließen. Es waren so viele. Soviel Unglück, an dem er Schuld war.
Das Grab des Hitokiri.
Er hatte sich sein eigenes Grab gemacht.
Dort sollte er liegen.
Doch es war nicht so.
Er lag nicht dort unten in der kalten Erde.
Er ruhte in seinem Herzen.
Der Hitokiri war sein ständiger Begleiter.
Tief in seinem Inneren hatte er sich im Verborgenen gehalten.
Zehn Jahre...er wanderte zehn Jahre...versuchte alles hinter sich zulassen...ein anderer Mensch zu werden...ein besserer Mensch...
Er mied die Menschen...zuviel Nähe...zuviel Unheil...er würde nur Unheil über sie bringen...sie sollten nicht wissen wer er war...was er war...ein Mörder...
Zehn Jahre...weiter, immer weiter...aber nicht nach Kyoto...niemals wieder ...niemals wieder Kyoto...
Und dann...ein Lichtblick in seinem Leben. Sie gab ihm ein zu Hause...sie nahm ihn an, obwohl sie wusste was er getan hatte...
"Kaoru-dono" flüsterte Kenshin schluchzend.
Aber die Geschichte ging weiter...
Schatten der Vergangenheit holten ihn ein...
Da war auch er wieder, Hitokiri Battousai...
er kämpfte sich seinen Weg durch die Dunkelheit ...
ein Kampf wie er ihn schon oft gekämpft hatte...
nie gab es einen Sieger, nie einen Gewinner..
.auch jetzt, zehn Jahre später nicht...der Kampf wurde nicht entschieden...
Und dann...
ein Abschied...
Glühwürmchen im Mondlicht..
Kaoru-dono weinte...
aber er musste sie zurücklassen...
Kyoto...wieder Kyoto...
sie folgte ihm...
sein letzter Kampf...
alles wurde nun entschieden...
Zukunft oder Zerstörung...
da war Feuer...
Feuer und Haß..
er musste siegen..
nur noch dieses eine mal...
doch der Gegner war zu stark...
um zu gewinnen, musste er sich selbst verraten und den Hitokiri aus seinen Fesseln befreien
Tod
Er hatte wieder getötet
Kenshin schrie auf. Er konnte es nicht länger ertragen. Die Erinnerungen prasselten auf ihn ein wie Messerspitzen, die sein Herz zerschnitten.
Der Schwur war gebrochen. Er hatte sich selbst verraten und alles woran er die letzten zehn Jahre geglaubt hatte...
Was nun?
Was sollte er jetzt tun?
Ruhe...er wollte Ruhe...
Die Tage vergingen...sie kümmerten sich um ihn, aber es war ihm egal...er war allein in der Einsamkeit...sein Herz schmerzte, doch wusste er nicht warum...es gab nichts was er verlangte oder begehrte...
Er vergaß...wollte vergessen...
Aber sie zwangen ihn aus der Finsternis hervorzukommen...
Ihr Grab...er hatte ihn zu ihrem Grab gebracht...
Blut im Morgenlicht
Blut auf seiner Wange.
sein Kreisel...da war sein Kreisel...
Der Friedhof... die Steine...sein Grab...
Aber da war auch Licht....
Sie war bei ihm...
Manchmal konnte er sie durch die Dunkelheit wahrnehmen
Dunkelheit in seinem Geist...manchmal hatte er sich das gewünscht...
Kaoru-dono...
Sie war da...
Aber sie ließ ihn allein!
Sie ließ ihn allein hier zurück!
Sie ging fort!
Er wollte sie aufhalten, aber die Finsternis umhüllte ihn
Er liess sich treiben...
Mörder...
Eine Stimme in seinem Kopf
Mörder...
Du bist allein...
Tomoe...sie sagte schreckliche Dinge zu ihm!
Kaoru...
Nein! Er würde sie nicht töten, niemals!!!
Doch wo war sie?
Kaoru...
Kenshins Anfall schien kein Ende zu nehmen. Er wälzte sich unter Krämpfen auf der Erde hin und her und hielt sich selbst in seinem Armen festumklammert. Stunden vergingen. Erst als sein Weinen zu einem fast lautlosen Wimmern wurde, beschloss Hiko der Sache ein Ende zu setzten. Er zog Kenshin auf die Beine , packte ihm am Arm und zog ihn wortlos hinter sich her.
Kenshin wehrte sich nicht. Seine Augen waren rotgeweint und Blut und Erde verschmierten sein erhitztes Gesicht. Die Narbe hatte endlich wieder aufgehört zu bluten. Niemand sprach ein Wort, nur ab und zu zeriss ein unterdrücktes Schluchzen die nächtliche Stille.
In der kleinen Hütte sorgte Hiko dafür das Kenshin sich wieder ins Bett legte und machte das kleine Feuer wieder an, das inzwischen ausgegangen war. Das Prasseln der Flammen vertrieb die Stille in dem kleinen Raum und das Feuer spendete ein tröstliches Licht.
Hiko war sich unschlüssig, was er tun sollte. Er brauchte dringend Ruhe ,um seine wirren Gedanken zu ordnen und um noch einmal genaustens zu durchdenken was gerade eben passiert war. Dennoch wusste er nicht, ob es gut war, Kenshin in diesem Zustand sich selbst zu überlassen.
Schliesslich nahm Kenshin ihm die Entscheidung ab.
"Shisho?"
Keine klare Kinderstimme. Kein harte, kalte Stimme. Es war das erste mal seit Monaten das Kenshin ihn wieder so klar ansprach.
"Ja, baka?"
Kenshin hatte ihm den Kopf zugewandt und blickte ihn aus erschöpften Augen an. Auf seinem Kissen und der Decke waren inzwischen einige kleine Blutflecken von seinem blutverschmierten Gesicht.
"Shisho...sessha möchte nach Hause...." erklärte Kenshin mit schwacher Stimme.
Hiko blickte ihn erstaunt an und nickte dann.
Kenshin lächelte schwach und sein Gesicht zeigte Erleichterung. Wenige Minuten später fiel er in einen tiefen Schlaf.
Ende Teil 9
