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Die Rumtreiber und der Fluch des Siegelrings

Slow Burn Remus/Sirius | abgeschlossen
von

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Schwarzes Blut

Er konnte seinen Augen nicht trauen.

„Du hast ihn mit hierhergebracht?!“, rief er aufgebracht und starrte den anderen an. Er nutzte den durchdringenden Blick, den er von seinem Vater geerbt hatte, und wie erwartet knickte der Jüngere nach kurzer Zeit ein. Er schaute auf den Boden, wie schon so häufig. Fassungslos setzte der Ältere hinzu: „Bist du völlig wahnsinnig?! Was, wenn ihn jemand in die Hand bekommt?!“

Als sein Gegenüber nicht antwortete, setzte er mit kaltem, bestimmendem Ton hinzu: „Gib ihn mir.“

„Nein! Du wolltest ihn nicht!“ Er fixierte die Schuhe seines Gegenübers. Seine Faust war fest geschlossen. „Es ist meiner!“

„Ist mir vollkommen egal!“ Der Ältere trat ein paar Schritte vor und packte den Jüngeren am Handgelenk. „Her damit, du charakterlose Kakerlake.“

„Nein, ich hab‘ gesagt nein!“ Der Jüngere warf sich panisch gegen den Klammergriff an seinem Arm und riss sich schließlich los, kam ins Stolpern und trat zwei Schritte nach hinten. Jetzt stand Angst in seinen Augen.

Gut so.

Denn der Ältere hatte ihn nur losgelassen, um seinen Zauberstaub zu zücken. Die Spitze richtete er direkt auf den Punkt zwischen den Augen des Jüngeren. „Ich hab‘ es versucht. Am Anfang hab‘ ich dich sogar noch verteidigt! Versucht, dich auf unsere Seite zu holen! Wozu eigentlich? Wenn du nicht willst, dann bleib da, und verrotte!“

Gleißende Funken stoben aus der Zauberstabspitze und trafen den Jüngeren im Gesicht. Die Wucht des Zorns, der hinter dem Zauber lag, riss ihn von den Füßen; es roch nach verbranntem Haar. Der Jüngere schaute sein Gegenüber mit wässrigen Augen vom Boden her an, die Hand noch immer fest um den Streitgegenstand geschlossen.

Accio Erbstück“, sagte die kalte Stimme des Älteren. Und das kleine, glänzende Ding warf sich gegen die Finger, die es umschlossen. Der ganze Arm des Jüngeren begann, zu beben und zu zucken, und er versuchte, ihn mit Hilfe des zweiten Arms ruhig zu halten. Doch der Ältere nutzte all die herausragenden magischen Fähigkeiten, die man ihm zu Recht von klein auf prophezeit hatte, und so riss das kleine Ding sich los, zischte durch die Luft und landete in der offenen Handfläche, die ihn gerufen hatte.

Mit einem letzten verächtlichen Blick drehte der Ältere sich um und verschwand.

Die Schatten werden länger - Januar 1976 (1/5)

„Was willst eigentlich du nach der Schule machen, Remus?“, fragte Peter unsicher und sah zwischen all den Flyern und Pergamenten mit Karriereempfehlungen, die sich in seinem Sessel und auf dem niedrigen Tischchen im Gemeinschaftsraum stapelten, immer verlorener aus.

Doch bevor Remus den Blick von Heilers Helferlein heben und antworten konnte, fuhr Sirius laut dazwischen: „Moony, schreibst du mir meinen Aufsatz zu Ende?“

Remus warf ihm einen langen Blick zu, der Antwort genug sein sollte, auch wenn die Hundeaugen, die Sirius machte, ihn kurz in seiner Entschiedenheit wanken ließen. Und ehrlicherweise war er auch froh über die Unterbrechung. Natürlich hatte er darüber nachgedacht, wie seine zukünftige Laufbahn aussehen sollte. Er war kein sonderlich spontaner Mensch, mochte es lieber, Pläne zu machen und vorauszudenken. Und gerade jetzt, da sie langsam auf die ZAGs zugingen, musste er sich entscheiden, auf welche Fächer er sich besonders konzentrieren wollte. Und doch…

Unwillkürlich kratzte sich Remus mit dem Daumen an der Wange und spürte die unebene, narbige Haut darunter, die ihn daran erinnerte, dass eine Karriere als Heiler für ihn mit Sicherheit ausgeschlossen war, so sehr er sie auch wollte.

„Ich weiß einfach nicht, was ich machen soll“, klagte Peter. „Hier steht zum Beispiel «Konzentrieren Sie sich auf Ihre Stärken, nicht auf Ihre Schwächen», aber ich hab‘ gar kei–“

Mit einem Krachen klappte das Portrait am Eingang zum Gemeinschaftsraum auf und die Köpfe der drei Jungen fuhren herum.

„Na, was hab‘ ich verpasst?“, fragte James Potter laut in das vom Feuer erleuchtete Turmzimmer hinein und hechtete mit einem Sprung auf seinen angestammten Platz auf dem knuddeligen roten Sofa, direkt neben Sirius.

„Nichts. War ja nicht Vollm–“, antwortete Peter prompt, aber Remus unterbrach ihn mit einem unwirschen Schh! Zwar glaubte selbst er nicht, dass die Wände in Hogwarts Ohren hatten, und ihres Wissens war James hiermit der erste Gryffindor, der aus den Weihnachtsferien zurückkehrte, aber wann immer Bezug auf seine Lykanthropie genommen wurde, fühlte es sich an, als würde Remus heißes Wasser in den Nacken gegossen.

Man konnte nicht vorsichtig genug sein. Das hatten sie ihm alle eingeschärft, angefangen bei seinem Vater, über Madam Pomfrey und selbst Dumbledore, auch wenn Remus Letzterem zu ewiger Dankbarkeit verpflichtet war.

James rollte die Augen über Peters Fehltritt, fasste ihn dann aber fester in den Blick, während er die Hand nach einem Schokofrosch auf dem Tischchen zwischen ihnen ausstreckte. „Schickes Bärtchen hast du dir dastehen lassen, Wurmschwanz. Vielleicht wächst dir ja auch noch extra Grips.“

Sirius lachte und selbst Remus musste sich ein Schmunzeln verkneifen. Vor allem als er sah, wie Peter sich, plötzlich seiner Selbst bewusst, an den Mund griff und mit seiner plumpen Hand die Härchen, die in den letzten zwei Wochen über seiner Oberlippe zu sprießen begonnen hatten, betastete.

Remus hatte eines Morgens kurz vor Weihnachten gesehen, wie Peter sie im angelaufenen Spiegel oben im Schlafsaal gemustert hatte und war sich recht sicher, dass diese Entwicklung zum Mann Peter nicht gerade ungelegen kam. Sirius hatte schon seit Monaten Bartstoppeln, die er feinsäuberlich unrasiert ließ. Nun, bei ihm bildeten sie ja auch nicht nur eine spärliche Linie über der Oberlippe, sondern verliehen ihm generell ein erwachseneres, männlicheres Aussehen, das ihm mit seinen schwarzen Haaren und den stahlgrauen Augen gutstand. Bei Remus selbst hingegen waren nur mehr Falten im Gesicht dazugekommen. Doch seit Anfang des Schuljahres hatte er sich immerhin keine neuen Narben beigebracht und das verdankte er niemand anderem als den drei anderen Jungen in diesem Raum.

Remus‘ Herz tat einen Hüpfer, als er an diese erste Vollmondnacht zurückdachte, die inzwischen fast vier Monate zurücklag. Er konnte seine sprachlose Dankbarkeit immer noch nicht in Worte fassen und hoffte, dass sein Blick damals in der staubigen Hütte – und seither jedes Mal wieder – genug gesagt hatte.

Sie brachen für ihn das Gesetz und brachten damit nicht nur ihre ganze schulische Karriere in Gefahr, auch ihre Unversehrtheit stand ein ums andere Mal auf Messers Schneide. Und doch hatten sie keinen der letzten vier Vollmonde ausgelassen. Jedes Mal hatten sie ihm verlässlich in der Hütte Gesellschaft geleistet, waren bei ihm gewesen, hatten sich auf den staubigen Boden und das modrige Bett neben ihn gelegt und die Nacht durchwacht. Es hatte so gut getan.

Remus war, seit er nach Hogwarts gekommen war, die Ferien über stets in der Schule geblieben. Hier konnte er sich, sicher vor fremden Augen, verwandeln. Und auch wenn er seine Eltern durchaus vermisst hatte, vor allem in den Anfangsjahren, hatte er immer gewusst, dass es so besser für alle war. Seine Eltern mussten seine Verwandlungen nicht mit ansehen oder, besser gesagt, hinter mit Schutzzaubern verbarrikadierten Türen seine Schmerzensschreie ertragen. Und er lief nicht Gefahr, dass irgendwelche Nachbarn etwas spitzbekamen.

Bei Sirius war es etwas anders gewesen. Zu Anfang ihrer Hogwarts-Zeit war er immer zu seiner Familie nach London zurückgekehrt und auch noch in ihrem dritten Jahr, als Sirius‘ kleiner Bruder Regulus ebenfalls nach Hogwarts gekommen war, hatte er diesen in den Ferien nach Hause begleitet. Doch mit zunehmendem Alter hatte das abgenommen. Er hatte nie offen gesagt, warum er im Schloss blieb. Und zu Anfang hatte Remus gedacht, Sirius wäre einfach eigenständiger, ungebundener als andere Jugendliche. Habe keinen Wunsch nach Familie und Gemeinschaft, nach Nestwärme.

Doch eines Abends in den vergangenen Herbstferien hatte er Sirius im Schlafsaal angetroffen. Und was dort passiert war, hatte Remus bewusstwerden lassen, dass es nicht fehlende Sehnsucht nach zuhause war, die Sirius im Schloss hielt.

Inzwischen verbrachte Sirius die Ferien stets in Hogwarts und Remus war der Letzte, der sich darüber beschwerte. Peter wechselte meistens hin und her, mal blieb er, mal ging er. Nur James fuhr in den Ferien immer nach Hause. Als sehnlich erwünschtes Einzelkind wurde er von seinen Eltern stets mit Liebe überschüttet und kein Fluch, keine Krankheit hielt ihn davon ab, das zu genießen. Genau so, wie es sein sollte.

James hatte den Schokofrosch verspeist und griff nun einen der endlos vielen Flyer, die über die Weihnachtsferien im Gemeinschaftsraum aufgetaucht waren. Sie sollten die Fünftklässler über verschiedene Karrierewege informieren und ihnen nahelegen, welche ZAGs und spätere UTZe sie entsprechend verfolgen sollten.

„James, was hast du nach der Schule vor?“, fragte Peter nun wieder und Remus wandte den Blick ab. Er wollte sich mit dem Thema nicht beschäftigen. Die meisten Wege waren ihm ohnehin verbaut und im St. Mungo, wo er am liebsten anfangen würde, würden sie noch eher eine Squib einstellen, als einen ausgewachsenen Werwolf auf verwirrte oder hilflose Patienten loszulassen…

„Pff, keine Ahnung“, gähnte James und machte es sich bequemer, indem er die Füße auf den Tisch legte. „Das ist doch noch ewig hin. Aber vermutlich erstmal reisen, oder so. Ich kann doch nicht mein ganzes Leben mit Büffeln verschwenden.“

„Ha, hab‘ ich doch gesagt“, warf Sirius ein und grinste. Hatte er tatsächlich, als Peter einen Tag nach Weihnachten erstmals mit dem Thema anfing. „Ich werd‘ mir jedenfalls erstmal ein Motorrad besorgen und auf Tour gehen.“

Peter starrte ihn an und auch Remus musste lachen: „Als ob du einen Führerschein machst. Und man muss dafür 18 sein!“

„Nee, ich will damit doch nicht fahren wie ein Muggel. Ich will fliegen!“ Sirius setzte sich auf und deutete eine Bewegung mit der Hand an. James, ausgewiesener Besen-Fan, prustete und Peter setzte an: „Ist das nicht verboten…?“, aber Remus grinste nur in sich hinein.

Das Portraitloch öffnete sich und nun ergoss sich eine Schar Gryffindors aller Jahrgängen in den Gemeinschaftsraum. Augenblicklich herrschte Trubel und Lärm. James hatte trotz seines ausgeprägten Wissens über die Abkürzungen und Geheimgänge des Schlosses nur ein paar Minuten auf die anderen Ferien-Rückkehrer gutmachen können.

„Haben wir schon die neuen Stundenpläne?“, fragte James und Remus steckte sich, um ihm einen vom Tisch zu geben. Sirius hielt sich auf dem Rücken liegend noch einmal seinen halbfertigen Zauberkunst-Aufsatz vors Gesicht und murmelte etwas Unflätiges über Flitwick. Kurz zögerte Remus, dann streckte er ergeben die Hand aus und mit einem dankbaren Blick, der Remus mehr freute, als er vielleicht sollte, reichte Sirius ihm die Pergamentrolle.

„Ah. Verwandlung direkt Montagmorgen“, rief James, gerade als Lily Evans im Gemeinschaftsraum aufschlug. „Das sollte für uns kein Problem sein.“

Die Schatten werden länger - Januar 1976 (2/5)

In den ersten Tagen nach den Weihnachtsferien fand Remus ungewöhnlich schlecht in seinen üblichen Schul-Rhythmus zurück. Obwohl er sich kaum mehr daran erinnern konnte, wie es war, kein Werwolf zu sein, und obwohl es nun schon sein fünftes Jahr in Hogwarts war, irgendwie war alles anders. Am Donnerstag würde wieder Vollmond sein, der erste in diesem Jahr, und anders als bisher waren die Gefühle, die seine Gedanken diesbezüglich beherrschten, nicht die Angst vor dem Schmerz und die Scham. Es war, unglaublich aber wahr, so etwas wie Vorfreude. Remus schüttelte von sich selbst amüsiert den Kopf, während er sich am Frühstückstisch Tee eingoss, Heilers Helferlein an die Milchkanne gelehnt.

„Wie kannst du jetzt schon lesen?“, stöhnte Sirius und klatschte ihm, neben ihm sitzend, die Hand auf die Schulter. Remus sank unter der Berührung etwas zusammen. „Ich kann kaum die Augen offenhalten!“

„Das fragst du nach über vier Jahren immer noch? Remus ist jetzt nicht gerade dafür bekannt, viel Schlaf zu brauchen, um zu funktionieren“, kommentierte James trocken über einen Toast mit Sirup hinweg und musterte seine beiden Freunde. „Wobei… Erinnert ihr euch, wie er vor zwei Jahren während meines Spiels gegen Hufflepuff einfach auf der Tribüne eingepennt ist?“ Sirius lachte und Remus grinste beschämt. Peter, neben James, beteiligte sich nicht. Er versuchte, seine Hausaufgaben für Professor Slughorn fertigzustellen und man konnte ihm ansehen, wie er von Minute zu Minute panischer wurde. Zaubertränke war ihre erste Stunde direkt nach dem Frühstück.

„Iss doch lieber was“, sagte Sirius zu Remus und schob ihm einen Teller mit herrlichen marmeladengefüllten Krapfen zu.

„Ich hab‘ keinen Hunger“, sagte Remus wie aus der Pistole geschossen, ohne Sirius anzusehen, denn das war einen Tag vor Vollmond immer so. Es war, als sammle der Wolf in ihm all seinen Hunger zusammen, um dann im Licht des Mondes so richtig zuzuschlagen.

„Dein Problem“, murrte Sirius und aß den Krapfen mit viel Getue selbst. Remus spürte, wie sein Magen sich verknotete. Vielleicht hatte er doch Hunger?

Als sie in Professor Slughorns Klassenzimmer traten, stellten sie zu ihrem Missfallen fest, dass sie Unterricht mit den Slytherins hatten. Remus konnte schon beim Eintreten die fettige Matte namens Severus Snape in der ersten Reihe sitzen sehen. Drei, zwei, eins…, zählte er stumm die Sekunden bis –

Schniiiiiefelus!“, rief James und baute sich im Türrahmen auf. Die anderen Slytherins drehten misstrauisch die Köpfe, aber Snape blieb bewegungslos mit dem Rücken zu ihnen sitzen. Von Slughorn war nichts zu sehen und Remus spürte, wie das Vertrauensschülerabzeichen auf seiner Brust mit jedem Sekundenbruchteil schwerer zu werden schien. Er richtete seinen Umhang.

„Na, schöne Ferien gehabt?“, höhnte James jetzt, während sie und weitere Gryffindors in den Kerker strömten. „Weihnachten? Schöne Geschenke von Mami und Papi?“

Jemand machte ein grunzendes Geräusch, aber Remus war zu sehr damit beschäftigt, seine Bücher auszupacken und seinen Kessel aufzubauen, um zu sehen, woher es kam.

James war inzwischen, mit Sirius und Peter an seiner Seite, nach vorne getreten und beugte sich über den immer noch regungslosen Snape, die Hände neben ihm auf das abgewetzte Pult gestemmt. Es dauerte keinen Wimpernschlag, bis Snape auf den Beinen war, den Zauberstab gezückt. Sirius und James taten es ihm gleich.

„Hört auf!“, kreischte eine hohe Stimme und alle drei wirbelten herum, wie junge Hunde, die dabei erwischt worden waren, wie sie Würste aus der Speisekammer stahlen.

Lily Evans Wut war fast körperlich zu spüren, wie sie da mit ihrem flammend roten Haar mitten im Kerker stand und die Jungen anfunkelte. Remus hatte sie immer schon eindrucksvoll gefunden, aber seit sie gemeinsam Vertrauensschüler geworden waren, hatte er sie etwas besser kennen und schätzen gelernt.

„Ach, komm schon, Evans“, versuchte James es beschwichtigend. „Wir haben doch nur nach seinen Ferien gefragt?“

„Halt den Mund!“, zischte Lily und Remus zog an seinem Tisch in der hinteren Ecke den Kopf ein. Lilys Vertrauensschülerabzeichen war nicht auf wundersame Weise zwischen ihren Umhangfalten verschwunden, sondern prangte stolz auf ihrer Brust, wo es hingehörte. Und obwohl sie fast einen Kopf kleiner war als Sirius und James, wich sie nicht zurück, als die beiden auf sie zu traten.

Gerade als Sirius den Mund öffnen wollte, erschien Slughorn durch die Bürotür am Ende des Kerkers.

„Guten Morgen! Guten Morgen, alle. Willkommen zurück…“, seine Worte verloren an Lautstärke, als er zwischen Lily und den drei Jungen mit gezückten Zauberstäben hin- und herschaute.

„Gibt es ein Problem, Miss Evans?“

„Fragen Sie doch mal die hier“, sagte sie unwirsch, was einem Lehrer gegenüber so gar nicht zu ihr passte. Remus hielt mit eingezogenem Kopf seinen Blick fest auf sein Zaubertrankbuch gerichtet, spitzte jedoch die Ohren.

„Severus, mein Junge?“, fragte Slughorn, von dem alle wussten, dass Slughorn ihn aufgrund seiner Zaubertranktalents in den Slug Club aufgenommen hatte, genau wie Lily Evans.

„Es ist… nichts“, hörte Remus Snapes leise, schnarrende Stimme und dann ein lautes frustriertes „URGH!“, das eindeutig von Lily kam. Verschiedene Schritte auf dem bloßen Steinboden, dann das Kratzen von Stuhlbeinen, als sich jemand setzte.

„Ja, wir haben nur…“, sagte Sirius und Remus hörte den üblichen Schalk aus seiner Stimme, „unsere Zauberstäbe verglichen.

Slughorn schien diese Antwort auszureichen und begann die Stunde in dem Moment, als James, Sirius und Peter sich neben Remus an den Tisch setzten. Laut genug, dass es alle Gryffindors und sicherlich auch einige Slytherins hören konnten, fügte James an Sirius‘ letzte Worte an: „Und wir wissen ja alle, dass Schniefelus gewinnt, wenn es um den Längsten geht… den längsten Zinken.“

Die Stunde verlief größtenteils ereignislos, da Snape ganz vorne und die vier Freunde ganz hinten im Kerker saßen. Lily teilte sich einen Tisch mit Mary Macdonald und einem Slytherin-Mädchen, dessen Namen Remus nicht wusste. Im nächsten Moment fiel ihm auf, dass ohnehin nur ein einziges Slytherin-Mädchen im Raum war. Offenbar waren die beiden anderen, Ashe und Cross, die bisher in ihrem Jahrgang gewesen waren, nicht mehr da…

Als sie nach der Doppelstunde auf den Korridor traten, war ein Teil der Slytherins schon in Richtung ihres Gemeinschaftsraums im Kerker verschwunden. Ein anderer Teil jedoch schien sich auf den Weg zu weiterem Unterricht zu machen, wie die Gryffindors, die als nächstes Arithmantik oder Muggelkunde hatten. Lily Evans war mit einem letzten vorwurfsvollen Blick auf Remus bereits den Korridor entlang nach oben gestürmt, sodass sie nicht, wie sonst, gemeinsam zu Muggelkunde gingen. James und Sirius hatten Arithmantik, Peter eine Freistunde.

Remus biss sich auf die Unterlippe. Er hatte das Bedürfnis, mit Lily zu sprechen, aber er wusste auch nicht, was er sagen sollte: Sorry, ich kann mir nicht leisten, die einzigen Freunde, die ich je hatte, vor den Kopf zu stoßen, indem ich sie darauf hinweise, dass sie sich benehmen wie Trolle? Lily würde ihn auslachen. Sie würde ihn verhöhnen. Und das zurecht. Er war so ein jämmerlicher Vertrauensschüler. Eigentlich hatte er das Abzeichen überhaupt nicht verdient. Wieso hatte Dumbledore es ihm gegeben?

Natürlich waren seine Eltern ausflippt vor Stolz, als im Sommer die Eule eingetroffen war, aber gleichzeitig hatte Remus auch den Zweifel in ihren Augen gesehen: Bekam ihr Sohn einen Trostpreis?

Er fummelte den ganzen Weg durch den Korridor und die Treppe hinauf an seiner Schultasche herum, um seine drei Freunde nicht ansehen zu müssen. Kurz bevor sie die letzte Tür zur Eingangshalle erreicht hatten, sagte James jedoch mit einer ausladenden Handbewegung: „Was ist eigentlich das hier?“

Vor ihnen im offenen Türrahmen zur Eingangshalle stand Snape, hinter ihm im Luftzug der Halle flatterte sein Schulumhang. Anders als die der meisten anderen Schüler war er nicht mehr mitternachtsschwarz. Er war gräulich verfärbt, als wäre er schon zu oft in der Wäsche gewesen und Remus sah, dass sich einige Nähte bereits auflösten.

Snape fuhr herum und als er sah, dass James seine Hand in die Hosentasche gesteckt hatte, zückte er erneut seinen Zauberstab. Doch James hatte offenbar gar nicht vor, ihn anzugreifen. Stattdessen holte er ein paar silberne Münzen heraus und warf sie Snape klimpernd vor die Füße. „Hier, damit du dir auch mal was Ordentliches zum Anziehen kaufen kannst. Verstehe sowieso nicht, wieso irgendjemand sich mit dir abgibt, so, wie du rumläufst.“

Snape wollte, rot im Gesicht vor Wut – oder war es Scham? –, etwas erwidern, doch just in dem Moment tauchte Filch, der Hausmeister von Hogwarts, auf.

„Zauberstäbe auf dem Korridor? Zaubern auf dem Korridor?!“, fauchte er. „Das ist verboten!“ Er drängte Snape an die Wand und forderte ihn auf, ihm seinen Namen und Hauslehrer zu sagen. Kichernd führte James seine Freunde am Hausmeister vorbei.

Als die vier Freunde sich in der Eingangshalle trennten, um zu ihren unterschiedlichen Bestimmungsorten zu gehen, mied Remus die Blicke der anderen und verabschiedete sich nicht. Auch er war in einen geflickten, fadenscheinigen Umhang gekleidet.

Die Schatten werden länger - Januar 1976 (3/5)

Er fragte sich, wie es wohl für andere war. Für die Menschen, die nicht ihr ganzes Leben nach einem monatlichen Rhythmus ausrichteten. Fremdbestimmt. Die nicht von anderen Vertrauensschülern gefragt wurden, ob sie mal wieder ihre Tage hatten, wenn sie monatlich Familiennotfälle, schief gegangene Zauber und andere Zwischenfälle vortäuschten, um ihre Abwesenheiten von Kontrollgängen in den Korridoren erklären zu können. Die nicht davon getrieben waren, ihr inneres Selbst zu verstecken und zu hoffen, dass niemand hinter ihr schmutziges Geheimnis kam. Die nicht bei jeder absehbaren Schwierigkeit dachten: Nicht auch noch das.

Wie es wohl war, sich keine Sorgen zu machen?

„Lily, warte bitte!“ Remus hatte sie nach Muggelkunde angesprochen und dann war ihr Gespräch irgendwie schiefgelaufen. Nun lief er ihr mit klappernder Tasche hinterher und es kam ihm vor, als liefe er schon sein ganzes Leben lang nur hinterher: Irgendwie waren ihm die anderen immer einen Schritt voraus, hatten ihm immer den Rücken zugewandt und spähten ab und zu über die Schulter, ob er noch da war.

Würde es sie stören, wenn nicht?

„Worauf denn noch, Remus? Darauf, dass du es mir sowieso nicht erklärst? Du hast klar gemacht, dass du es mir nicht sagst, warum du so ein Waschlappen bist! Also – worauf?“ Da stand sie, die Hände in die Hüften gestemmt, und hatte Recht. Denn wirklich, warum sollte Lily sich mit ihm abgeben? Warum sollte irgendjemand das tun? Entweder Remus belog die Menschen in seinem Umfeld und verheimlichte ihnen etwas, oder sie würden sich sowieso zurückziehen, sobald sie die Wahrheit über ihn erfuhren. Es war ja nicht so, dass er nur eine hässliche Nase hatte oder vielleicht etwas streng roch. Nein, er war eine tickende Zeitbombe, wie seine nichtmagische Mutter es einmal ausgedrückt hatte. Vor vielen Jahren, im Gespräch mit seinem Vater, als sie dachten, ihr Sohn sei bereits eingeschlafen.

Die Wahrscheinlichkeit, dass sich ihm gegenüber noch mal jemand so verhalten würde wie Sirius, James und Peter, war gleich Null. Das war schon mehr, als er sich jemals erhofft hatte. Mehr, als er verdient hatte.

Remus stockte und senkte den Blick. „Ich… Es tut mir leid.“

„Ganz ehrlich, ich bin es leid, dass irgendwelche Jungs vor mir stehen und sagen, es tut ihnen leid! Severus, Potter und jetzt du auch noch! Wenn es euch so leidtut, dann tut es einfach nicht und benehmt euch einfach mal wie normale Menschen!“, rief sie entrüstet.

Dass er betreten nickte, schien Lily jedoch etwas zu besänftigen. „Ich versteh schon, dass sie dir wichtig sind. Für mich ist Hogwarts und alles hier auch wichtig. Ich will auch dazugehören. Du weißt…“, sie zögerte, als sie sich im bereits völlig verlassenen Muggelkunde-Korridor auf eine Fensterbank setzte, „ich bin muggelstämmig. Ich hab‘ früher nicht verstanden, was das Problem damit ist, aber inzwischen weiß ich es. Also. Nicht Problem, aber… naja. Und –“, ihre Stimme stockte wieder und fuhr dann etwas leiser fort, „Es ist nicht leicht. Ich hab‘ sogar den Eindruck, es wird immer schlimmer. In letzter Zeit sind wirklich hässliche Dinge passiert. Weißt du, Davey Gudgeon? Kurz vor Halloween haben sie mal wieder versucht, so nah wie möglich an die Peitschende Weide ranzukommen, wie immer. Er hat beinahe ein Auge verloren. Sie sagen zwar, es war ein Unfall, aber Mary Macdonald schwört, sie hat gesehen, dass Timothy Mulciber ihm einen Stolperfluch aufgehalst hat mit den Worten „«Bloß nicht fallen, Schlammblut!».“

Ihr Blick war verletzt, aber entschlossen. „Ich wünschte, ich hätte ihn dafür drankriegen können. Aber ich kann nicht überall gleichzeitig sein und… Und ich finde einfach, wir sollten nicht dazu beitragen, dass noch mehr gegeneinander gekämpft wird als ohnehin schon.“

„Ich weiß“, sagte Remus leise und lehnte sich neben ihrer Fensterbank mit dem Rücken an die Wand. „Du hast Recht.“

Er starrte den Wandbehang gegenüber an, auf dem zwei ehrwürdige Hexenmeister um Galleonen zu spielen schienen. Als sie Remus‘ Blick bemerkten, zogen sie sich ihre Hutkrempen tiefer in die Gesichter.

„Weißt du… Ich verstehe das einfach nicht“, sagte Lily nach einer Weile und ihre Stimme klang gar nicht mehr wütend. „Severus war früher so lieb zu mir. Und in letzter Zeit hängt er mit genau solchen Typen wie Mulciber rum. Ich meine, die treffen sich natürlich im Gemeinschaftsraum und lernen sich da kennen und so. Oder spielen Quidditch zusammen. Und natürlich sitzt niemand von denen in Muggelkunde, obwohl es ihnen echt guttun würde, wenn du mich fragst.“ Lily schnaubte, dann fuhr sie bitter fort: „Ich hab‘ Severus damals gefragt, ob er den Kurs mit mir machen will. Als wir die Fächer wählen mussten, weißt du. Ich bin gleich morgens beim Frühstück zu ihrem Tisch rübergegangen, aber anstatt zu antworten, ist er nur auf seinem Platz rumgerutscht und hat mich nicht mal angesehen. Als wäre ich gar nicht da.“ Remus war sich sicher, dass er Lilys Stimme ein wenig brechen hörte. Ein Schauer lief ihm über die Arme, denn er wusste ganz genau, was sie meinte. Dann räusperte Lily sich. „Aber wie Potter und Black sich aufführen, geht auch überhaupt nicht. Ich glaube, vielleicht haben sie gar nichts gegen die Dunklen Künste oder irgendwas für Muggel und Muggelstämmige übrig. Sie hassen einfach nur Severus. Auf den haben sie sich eingeschossen. Potter ist auch Reinblüter und Professor Binns hat gesagt, die Familie Black ist sogar berühmt für –“

„Sirius ist nicht wie die anderen Blacks“, sagte Remus bissig und drehte sich mit scharfem Gesichtsausdruck zu ihr. Er hatte gar nicht so hart sprechen wollen, aber manchmal hatte er sich nicht im Griff, so sehr er sich auch zu kontrollieren suchte.

Lily schien verdutzt, lenkte dann aber schnell ein. „N-nein, natürlich nicht. Das wollte ich auch nicht sagen. Dieser Regulus zum Beispiel ist ganz anders als Sirius. Er ist echt unheimlich, obwohl er erst in der Dritten ist. Ich habe ihn in der Großen Halle mit diesem Siegelring angeben sehen, der angeblich verflucht ist.“

Remus wusste ganz genau, welchen Ring Lily meinte. Sirius hatte es ihm über die Sommerferien in einem Brief berichtet: Eigentlich hätte der ältere Bruder das Schmuckstück mit dem Wappen der Blacks selbst erben sollen, aber als er sich geweigert hatte, es zu tragen, hatte Regulus ihn bekommen. Am letzten Tag vor den Herbstferien war Sirius Regulus aufgelauert und hatte dem kleinen Bruder den Ring wieder abgenommen. Er hatte ihn Remus und Peter während der Herbstferien gezeigt, einen protzigen, silbernen Siegelring. Was dann damit passiert war, wusste Remus nicht. Aber er erinnerte sich noch ganz genau an Sirius‘ Gesichtsausdruck, der unter seinem frechen Grinsen versteinert ausgesehen hatte.

Das war kurz vor diesem Herbstferien-Abend im leeren Schlafsaal gewesen.

„Ich meine nur…“, sagte Lily mit einem Tonfall, der hoffte, dass Remus ihr widersprach, „wenn die beiden sagen, dass sie gegen Severus sind, dann glaube ich irgendwie nicht, dass Muggelfreundschaft der wirkliche Grund ist.“

Das glaube ich auch nicht, dachte Remus und rief sich bildlich vor Augen, wie James seit Monaten versuchte, Lilys Aufmerksamkeit zu erhaschen, wenn sie in der Nähe war.

Er, Remus, würde sich niemals so peinlich aufführen, egal, wie gut er jemanden fand. Mal abgesehen davon, dass es für ihn ohnehin keine Hoffnung auf Vertrauen und Familie gab.

„Ich halte sie ihm Zaum“, sagte Remus und schaute Lily direkt in die Augen. „Versprochen.“

Die Schatten werden länger - Januar 1976 (4/5)

Am nächsten Abend traf Remus sich kurz vor Sonnenuntergang mit Madam Pomfrey im Krankenflügel. Wie jeden Monat bot sie ihm eine Tasse Tee an und setzte sich einen Moment mit ihm ans Fenster, durch das jetzt die letzten Sonnenstrahlen in den ansonsten leeren Krankenflügel fielen. Sie schwiegen einen Moment und Remus hing seinen Gedanken nach, die noch immer Lilys und sein gestriges Gespräch betrafen – und gleichzeitig James, Sirius und Snape.

Er hatte seinen beiden Freunden heute nach dem Mittagessen umständlich vorgeschlagen, sich vielleicht doch einfach von Snape fernzuhalten. Aber James und Sirius hatten nur grinsend abgewinkt und sich daraufhin einem Magazin über Rennbesen zugewandt.

Remus war sich sicher, dass sie hinter den Seiten über ihn und seine Regelhörigkeit gelästert hatten. Also hatte er sich abgewandt und war schweren Herzens allein hinauf in den Schlafsaal, wo er Heilers Helferlein wieder zur Hand genommen hatte. Doch seine Gedanken waren bestimmt worden von nur einer Befürchtung: Er würde wohl nie so richtig dazugehören.

„Wie waren Ihre Weihnachtsferien?“, holte Madam Pomfrey ihn freundlich in die Gegenwart zurück. Remus schenkte ihr über seine Teetasse hinweg ein verschwommenes Lächeln. Viele Schüler fanden Madam Pomfrey etwas einschüchternd, weil sie so resolut war, aber er hatte sie über die Jahre als wohlwollende und kompetente Krankenschwester kennengelernt.

Was Filch wohl mit Snape angestellt hatte? Wie würde er sich rächen?

„Ganz gut. Ich habe das Buch gelesen, das Sie mir empfohlen haben“, sagte er. „Und ich glaube, inzwischen kann ich Wunden ganz gut selbst schließen und vielleicht auch Leute wiederbeleben… Ich konnte nur noch nicht viel üben, weil…“ Er ließ den Satz auslaufen und zuckte mit den Schultern. Es hatte nicht viele Verletzungen gegeben in letzter Zeit, aber das musste sie nicht wissen. Und wenn James, Peter und Sirius ihn heute Nacht wieder unterstützten, würden hoffentlich auch keine weiteren hinzukommen.

„Natürlich. Wir wollen ja niemandem Wunden nur zur Übung zufügen, nicht wahr? Das klingt wunderbar, was Sie erzählen“, sagte sie liebenswürdig und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. „Nun, ich denke, es wird Zeit zu gehen.“

Remus sprang von seinem Stuhl am Fenster auf, schneller als nötig gewesen wäre. Seine Vorfreude vom Vortag war einer ängstlichen Mischung aus Panik und Resignation gewichen. Zwar hatten die anderen ihm versprochen, ihn auch heute Nacht zu besuchen, aber die Aussicht auf die schmerzhafte Verwandlung ließ ihm trotzdem bereits jetzt die Eingeweide gefrieren.

Gemeinsam mit Madam Pomfrey ging er aus dem Schloss hinaus und über die Ländereien auf die Peitschende Weide zu. Im Moment lag sie ruhig da in der klirrend kalten Luft. Er war froh, dass kein Schnee lag. So würde niemand seine verräterischen Fußspuren zur Weide sehen können, bevor Madam Pomfrey die Gelegenheit hatte, sie verschwinden zu lassen.

Madam Pomfrey ließ mit ihrem Zauberstaub einen kleinen Ast schweben und auf die richtige Stelle am Stamm des jähzornigen Baums drücken. Mit einem leisen Rascheln erstarrten ihre knorrigen Äste vollkommen und Remus und sie konnten zum Tunneleingang vortreten.

„Ich hole Sie bei Sonnenaufgang wieder ab“, sagte sie freundlich, wie immer, und nickte ihm aufmunternd zu. Er zog eine Grimasse, anstatt richtig zu lächeln, nickte wortlos und trat in den Tunnel hinab, ohne zurückzusehen.

Die anderen würden doch sicher kommen? Nach Dreivierteln des Weges meinte schon beinahe, Schritte im Tunnel hinter sich gehört zu haben.

Einige Stunden später lag Remus schnaufend am Boden. Er versuchte krampfhaft, seine Aufmerksamkeit weg zu lenken von den gerade noch gebrochen Knochen, die nun neu zusammenwuchsen, aber es fiel ihm mit jeder Sekunde, die er in diesen Körper gezwungen wurde, schwerer. Jedes seiner Gliedmaßen brannte, als stünde es in Flammen, und selbst sein Hals fühlte sich rau und verletzt an. Remus musste sich die Seele aus dem Leib geschrien haben und erinnerte sich doch schon kaum mehr daran.

Augenblicklich überfiel ihn ein unbändiger Hunger und bestimmte alles, woran er denken konnte. Der Werwolf stieß einen ohrenbetäubenden Schrei aus, der sich zu einem Heulen verzerrte und ihm in den Ohren schmerzte. Die vernagelten Bretter vor den Fenstern erzitterten, als er blind vor Blutdurst dagegen sprang und sich ohne Rücksicht auf Verluste den großen Kopf aufschlug. Heißes, dickes Blut floss über sein Fell und den langen Hals hinab, fachte seinen Hunger und seine Raserei noch weiter an. Blitzartig sprang der Werwolf auf das moderige Himmelbett, krallte seine Klauen hinein und riss ein großes Stück Polsterung aus der Matratze, schlug seine Fangzähne hinein, zermalmte es unter seinen muskulösen Kiefern. Er wollte beißen, zerfleischen. Töten.

Als der Schaumstoff unter seinen Zähnen nachgab wie Watte, ließ der Werwolf ihn fallen und umklammerte stattdessen einen Bettpfosten mit dem reißzahnbewehrten Maul. Der Widerstand fühlte sich gut an, fühlte sich lebendig an, wie etwas, das noch ein wenig Überlebenswille in sich hatte. Wie etwas, dem man dabei zusehen konnte, wie es langsam und unter Folter verendete. Der Werwolf riss ein großes Stück Holz heraus wie ein Stück Fleisch und jaulte in der nächsten Sekunde schmerzerfüllt auf. Splitter bohrten sich tief in sein Zahnfleisch, seine Zunge und seine Lefzen. Heißes Blut sprudelte ihm aus dem Maul und er hatte gleichzeitig den Drang, es zu schlucken.

In dieser Nacht kam niemand zu ihm in die Heulende Hütte.

Und mit jeder Sekunde wurde seine Seele schwärzer.

 

Als der Vollmond verblasst war, dauerte es noch einige Zeit, bis Remus verstand, wo er sich befand. Er rappelte sich mühsam auf, erst auf die Knie, dann auf die Füße, und hustete von dem Holzstaub, der in der Luft lag. Sein ganzer Körper war bedeckt mit kaltem Schweiß. Als er sich umsah, stellte Remus fest, dass er das Zimmer schlimmer zerstört hatte als je zuvor. Dachträger waren aus der Decke gerissen. Eine Seite des Himmelbettes war vollständig unter kräftigen Klauen und Zähnen eingebrochen und lag nun in Form von Trümmern im Raum verteilt. Überall waren blutige Krallenspuren zu sehen, und Fangzahnabdrücke, die dem Raum einen unheimlichen Anblick verliehen. Früher hätte er Remus einen Schauer über den Rücken gejagt, wie der eines tödlichen Schlachtfelds, aber er spürte nur eine dumpfe Resignation.

Nackt und mit ungelenken Schritten trat Remus auf den Flur, zog eine Schublade des magisch versiegelten Schranks auf, der dort stand, und nahm sowohl seinen Zauberstab als auch seine Kleidung heraus, um sich anzuziehen. Er hatte sich schon zu Beginn seiner Hogwarts-Zeit angewöhnt, seine Kleidung abzulegen und sie wegzuschließen, bevor er sich verwandelte, denn er konnte seine Eltern nicht jeden Monat um neue Umhänge bitten. Seinetwegen war ihr Leben schon schwierig genug, immer auf der Flucht vor neugierigen Blicken, kaum je die Chance, Geld für ihr Überleben zu verdienen... Immer noch frierend schloss Remus seinen Umhang, die Schuhe nahm er in die Hand. Er spürte, dass etwas mit seinem Gesicht nicht in Ordnung war, aber er traute sich nicht, hinzufassen. Und auch seine Füße fühlten sich an, als sei er über Scherben gelaufen. Was er vermutlich auch war.

Jeder Schritt zurück durch den Tunnel war eine Tortur, aber sie waren nichts gegen den Schmerz in seiner Brust. Noch nie in seinem Leben hatte Remus sich so allein gefühlt, und er konnte ohnehin schon nicht mehr zählen, wie häufig er sich die Augen ausgeweint hatte vor Einsamkeit. Den ganzen Rückweg über versuchte Remus, der Hoffnungslosigkeit und der Enttäuschung nicht nachzugeben, aber als er das Rauschen der Weide am Ende des Tunnels wahrnehmen konnte, musste er doch innehalten und warten, bis der Weinkrampf endlich vorüber war.

Sie waren nicht gekommen. Er hatte sie verloren. Seine Spießigkeit hatte sie vertrieben, hatte das Fass zum Überlaufen gebracht. Hatte ihn endgültig als erträglichen Freund ausgeschlossen.

Mit einem verschlissenen Ärmel wischte Remus sich über das Gesicht, stieß sich von der Tunnelwand, an der er gekauert hatte, ab und trat ins Freie. Wie immer stand Madam Pomfrey am Fuß der Peitschenden Weide bereit und zog ihren Zauberstab, als sie ihn sah. Ihr Gesichtsausdruck war alarmiert, als sie ihn musterte, und Remus konnte sich ungefähr vorstellen, wie er aussah.

„Ach, mein Lieber“, sagte sie mitfühlend, richtete die Zauberstabspitze auf ihn und Remus spürte, dass die Splitter sanft aus seinem Gesicht glitten. Wohltuende Kühle schwappte über ihn hinweg und als er sich steif auf den blättrigen Boden setzte, sprangen auch die Scherben aus seinen Fußsohlen und hinterließen glatte, heile Haut.

Trotzdem nahm er die Erleichterung kaum wahr. Es fühlte sich an, als wäre sein ganzer Kopf voll Rauch. Remus wünschte, er würde ihn ersticken.

Wie mechanisch setzte Remus sich in Richtung Schloss in Bewegung und Madam Pomfrey eilte ihm nach. Sie hatte den Zauberstab wieder verstaut, schien aber unschlüssig, was sie sagen sollte, rang die Hände im Gehen. Er wusste er nicht, wie er zurück in den Schlafsaal gehen sollte, wo James, Sirius und Peter den Schlaf der Gerechten schliefen, wie ganz normale Jungen es um diese Uhrzeit tun sollten. Wie sollte Remus je wieder einen Schlafsaal mit ihnen teilen, wenn sie ihn nicht mehr sehen wollten? Wenn sie endlich erkannt hatten, dass es sich ohne ihn besser lebte? Dass sie glücklicher, erleichterter ohne ihn waren? Er hätte es wissen müssen. Die letzten Monate waren zu schön gewesen, um wahr zu sein.

Madam Pomfrey an seiner Seite schien immer noch auf Worten herumzukauen, bis sie sie endlich ausspuckte: „Der Schulleiter möchte Sie unverzüglich sehen.“

Die Schatten werden länger - Januar 1976 (5/5)

Madam Pomfreys Worte klangen Remus noch immer in den Ohren, als er vor dem steinernen Wasserspeier stand, der Professor Dumbledores Büro bewachte. Sie hatte ihm das Passwort genannt («Gummischnecken») und ihn dann stehen gelassen, ohne ihm genauer zu verraten, worum es ging.

In Remus’ Kopf drehte sich alles. Er war zurück in seinem Körper, aber er fühlte sich ausgelaugt und schwach. Hatte der Schuldirektor festgestellt, dass Remus’ Betreuung zu kostspielig für die Schule geworden war? Zu aufwändig? Zu schmutzig? Waren dies seine letzten Minuten auf dem Schloss? Oder hatte Lily sich beschwert? Würden sie ihm seine Vertrauensschüler-Aufgaben abnehmen und jemand Verantwortungsvollerem geben? Vielleicht Peter?

„Herein“, sagte eine tiefe Stimme, als Remus am oberen Ende der kleinen Wendeltreppe angekommen war und gerade hatte klopfen wollen. Er trat ein in der Erwartung, dass Dumbledore hinter seinem storchenbeinigen Schreibtisch in der Mitte des runden Büros saß. Remus war schon einige Male hier gewesen und immer war es um seine Betreuung, seine Krankheit, seinen Makel gegangen, und jedes Mal war es so gewesen: Dumbledore hinter seinem Schreibtisch, Remus schwitzend auf einem Stuhl davor.

Doch als er die Tür öffnete, stellte er verwirrt fest, dass da bereits zwei schwarzhaarige Jungen in Hogwarts-Umhängen vor dem Schreibtisch standen, mit dem Rücken zu Remus. Einer hatte strubbeliges, der andere langes Haar. Dumbledores Miene, die an den beiden vorbei leuchtete, war unergründlich. Beim Geräusch der Tür drehte einer der zwei Jungen sich um und Remus schaute James ins Gesicht. Er zuckte mit den Mundwinkeln, aber Remus konnte das Lächeln nicht erwidern. Was hatten die beiden angestellt? Erwartete man von ihm, Vertrauensschüler zu spielen? Jetzt? Er musterte den langhaarigen, schwarzen Hinterkopf neben James. Und in dem Moment traf es Remus wie ein Schlag. Das war ja gar nicht Sirius. Das war –

„Guten Morgen, Remus“, sagte Dumbledore und wies mit der Hand ebenfalls vor seinen Schreibtisch.

„Guten Morgen, Sir“, erwiderte Remus heiser und trat näher. Sein Hals war trocken und kaputt von den Schreien und seine Zunge fühlte sich ungelenk an, als ob sie noch nicht wieder vollends verheilt war. Er brauchte dringend etwas zu essen und Schlaf.

„Setzt euch bitte.“

Remus runzelte die Stirn, aber stellte beeindruckt fest, dass hinter ihm und auch hinter James und Snape lautlos storchenbeinige Stühle erschienen waren.

„Remus, du wunderst dich sicher, wieso ich dich davon abhalte, noch ein paar Stunden Schlaf zu bekommen, bevor der Spaß des Lernens wieder beginnt.“

Remus wunderte sich in der Tat, sagte jedoch nichts. Er warf einen Seitenblick auf James, der eins von Dumbledores seltsamen Gerätschaften auf einem Tischchen in der Ecke betrachtete, als ginge ihn das alles hier nichts an. Snape konnte er nicht erkennen, da James zwischen ihnen saß, aber Remus hatte den Eindruck, als hätte Snape sich keinen Millimeter mehr bewegt, seit er steif platzgenommen hatte.

„Nun, ich habe euch hier zusammengerufen, weil Madam Pomfrey mich auf eine missliche Lage hingewiesen hat. Man hat mich informiert, dass du, Severus, heute Nacht im Tunnel unterhalb der Peitschenden Weide gewesen bist.“

Remus wurde gleichzeitig heiß und kalt. Er riss die Augen auf und konnte nicht anders, als sich vorzulehnen und an James vorbei Snape in den Blick zu nehmen. Snapes fettiges Haar hing ihm ins Gesicht, sodass Remus nicht viel davon ausmachen konnte, doch er sah einen trotzigen Zug um dessen Lippen. Snape antwortete nicht, was Antwort genug war.

„Wie ihr alle drei wisst, war das ein Ausflug, den Severus gegebenenfalls mit dem Leben bezahlt hätte.“ Dem konnte Remus nicht widersprechen, auch wenn ihm beim Gedanken daran speiübel wurde.

„Du, James, hast Severus offenbar davon abgehalten, bis ans Ende des Tunnels zu gelangen?“

„Ja“, antwortete James und Remus konnte einen Nachdruck heraushören, den er so nicht von seinem Freund kannte. Er wirkte oberflächlich widerspenstig, aber darunter… erschöpft.

„Bitte lasst mich wissen, wie es zu diesem Umstand kam.“

„Ich wusste nicht –“, begann Remus, den die Panik überrollte. Glaubten sie etwa, er hätte Snape etwas antun wollen? Hatten sie herausgefunden, dass das Problem mit Snape, Sirius und James für ihn unbequem geworden war? Glaubten sie, er hatte Snape loswerden wollen, ein für alle Mal?

„Das habe ich auch nicht von dir erwartet, Remus“, sagte Dumbledore ruhig und mit einem sanften Lächeln. Dann richtete er den Blick auf Snape, der abschätzig die Luft ausgestoßen hatte. „Severus? Wie bist du auf die Idee gekommen, heute Nacht in den Tunnel steigen?“

Es dauerte keine Sekunde, bis die Antwort kam. „Black“, spuckte Snape verächtlich, „Er hat mich angestachelt, damit ich da runtergehe und dieses… dieses…“

dieses Monster, fügte Remus im Geiste ein,

„…ihn treffe und draufgehe. Sie glauben doch nicht wirklich, dass er nichts davon wusste?!“

„Nun…“ Dumbledores wirkte mit einem Mal hart, „Wie bereits gesagt, das glaube ich in der Tat. Und all das hier ist höchst bedauerlich.“

„Er hätte mich umgebracht!“, knurrte Snape ungehalten und hob die Hand, um in Remus‘ Richtung zu deuten. Geistesgegenwärtig packte James Snapes Handgelenk und drückte den Arm herunter. Nun klang James doch trotzig: „Hat er aber nicht.“

Eine Welle von Zuneigung für James überkam Remus, der zu perplex war, um etwas zu seiner eigenen Verteidigung zu sagen.

„Nun gut. James, Severus, ich werde eure Hauslehrer darüber in Kenntnis setzen, dass ihr beide unbefugt aus den Betten gestiegen seid, und warum. Sie werden über etwaige Konsequenzen entscheiden. Jetzt möchte ich einen Moment mit Severus und Remus allein sprechen. Bitte geh zurück in deinen Schlafsaal, James.“

James warf Remus einen rückversichernden Blick zu, als er sich mit einem „Ja, Sir“ erhob und dann das Büro des Schulleiters verließ.

Dumbledore richtete seine blauen Augen auf Remus, als die Tür sich wieder geschlossen hatte: „Remus, es tut mir leid. Ich hatte dir versprochen, dass dein Geheimnis bei mir sicher ist, solange du es hüten möchtest, und ich habe dich enttäuscht. Offenbar haben einige Schüler unsere Vorkehrungen durchschaut und ich habe dich nicht davor geschützt. Es tut mir leid. Kannst du mir verzeihen?“

Remus, völlig perplex, dass seine Meinung, seine Absolution, gefragt war, stammelte: „J-ja, Sir. Natürlich, Sir. Es war ja nicht Ihre Absicht.“

„Da hast du Recht… Ich danke dir“, sagte Dumbledore mit schwerer Stimme und seufzte dann, den Blick nun auf Snape gerichtet. „Severus, wir stehen jetzt vor einer sehr unglücklichen Lage.“

Unwillkürlich hörte Remus Sirius‘ Stimme in seinem Kopf: Na, das kannst du laut sagen!

Snape schnaubte verächtlich. „So kann man das wohl nennen, wenn ein Schüler unter Ihrer Nase beinahe ermordet worden wäre.“

Das Wort schnitt Remus ins Herz. Er war kein Mörder. Und er wollte auch keiner sein. Er hatte das alles nie gewollt. Er…

Dumbledore lächelte traurig. „Es ist das Privileg der Jugend, die Dinge unbeschönigt beim Namen zu nennen, denke ich. Aber wir können dabeibleiben, dass Remus hier nie einen Mord geplant hat.“

Snape, auf den Remus jetzt freie Sicht hatte, verzog den Mund, antwortete jedoch nicht.

„Ich denke, dir ist bewusst, in was für einer schwierigen Situation dein Mitschüler ist?“, sprach Dumbledore weiter und Remus war sich nicht sicher, ob sein Schulleiter noch alle Tassen im Schrank hatte. Versuchte er gerade wirklich, in Snape Mitleid für Remus zu wecken?

„Wie kann es überhaupt sein, dass er hier ist? Er ist… Er ist gefährlich, er sollte –“

„Er soll, genau wie alle anderen jungen Zauberer, eine Chance auf eine magische Ausbildung erhalten. Und das wird er, solange ich hier Schulleiter bin.“

Eine Woge der Erleichterung schwappte über Remus hinweg und es fühlte sich an, als sein ein Felsen aus seinem Hals gespült worden. Er sog tief die Luft ein.

„Und darum bitte ich dich um deine Mitarbeit, Severus. Ich möchte, dass du mir versprichst, dass du niemandem in oder außerhalb der Schule erzählst, dass Remus unter Lykanthropie leidet.“

„Sie sagen das, als wäre er krank“, antwortete Snape mit einer Spur Häme, ohne auf die Bitte einzugehen.

„Ja, ich denke, so könnte man es ausdrücken.“

„Aber er ist gefährlich! Er könnte jeden Monat…“

„Wir haben dafür gesorgt, dass das nicht passiert. Hätte Mr. Black dir nicht diesen zweifellos geschmacklosen, unglaublich unüberlegten Streich gespielt, wärst du niemals unter die Peitschende Weide gelangt, nicht wahr?“

Snape murmelte etwas Unverständliches, das Remus als „geschmacklos?!“ interpretierte, und das für Dumbledore Antwort genug zu sein schien.

„Was passiert mit Black?“, fragte Snape misstrauisch, als Dumbledore wieder ansetzen wollte.

„Ich werde mich der Sache annehmen.“

„Sie werden ihn nicht einfach laufen lassen, oder?“, blaffte Snape, dessen Wut die Überhand zu nehmen schien.

„Es wird Konsequenzen für ihn geben, die ich mit Professor McGonagall abstimmen werde. Sei dir versichert.“

Snape nickte langsam, wenn auch offensichtlich nicht befriedigt. Remus‘ Herz begann wieder zu rasen. Sie würden Sirius doch nicht rausschmeißen? Das konnten sie nicht. Sirius durfte nicht gehen, sie brauchten ihn. Er brauchte ihn hier.

Dumbledore atmete tief ein, legte seine Fingerspitzen zusammen und sah Snape direkt in die Augen. „Ich bitte dich also noch einmal, Severus. Ich möchte, dass du mir versprichst, dass du niemandem in oder außerhalb der Schule von Remus‘ Geheimnis erzählst. Sollte er jemals den Wunsch verspüren, andere Leute einzuweihen, dann ist das seine Entscheidung, allein seine. Bitte versprich es mir.“

Remus war froh, dass Dumbledore Snape anschaute und nicht ihn. Er hatte den Eindruck, der Blick würde ihn sonst versengen. Er war beeindruckt, wie lange Snape ihm standhalten konnte.

Nach endlosen Sekunden sagte Snape, beinahe ohne die Lippen zu bewegen: „In Ordnung.“

Familienangelegenheiten - März 1976 (1/4)

Etwa zwei Monate nach dieser üblen Nacht hielt Sirius Remus auf, als er gerade Peter und James aus dem Schlafsaal folgen und sich zum Frühstück schleppen wollte – er hatte grollenden Hunger. Sirius fasste ihn an der Schulter und Remus drehte sich verdutzt um.

Ein Schauer lief ihm über den Nacken, als Sirius‘ graue Augen ihn direkt anstarrten.

Offensichtlich war Remus noch immer übernächtigt. Der letzte Vollmond war erst eine Nacht her und nur langsam kam er wieder in einen üblichen Schlafrhythmus. Zwar hatten die vier es sich trotz des Zwischenfalls mit Snape nicht nehmen lassen, Remus weiterhin in der Heulenden Hütte zu besuchen, doch das änderte nichts daran, dass die Verwandlung für ihn viel kräftezehrender war als für sie. In früheren Jahren hatte er meist ein, zwei Tage nach Vollmond ausgesetzt. Er hatte seinen Freunden alle möglichen Lügen erzählt, weshalb er nicht da war – seine Mutter sei krank, seine Tante sei verstorben – und dennoch hatten sie ihn bald durchschaut.

Dieses Jahr wollte Remus sich die freien Tage jedoch nicht mehr leisten. Er musste zum Unterricht, um seine ZAGs zu bestehen.

„Was denn?“, fragte Remus

„Ich wollte nur…“, sagte Sirius mit einem weichen Ausdruck, den er schnell von seinem Gesicht verdrängte und dann mit einer gespielt strengen Stimme sagte: „Wie läufst du eigentlich herum?“

Remus schluckte, weil er für einen Moment glaubte, Sirius habe etwas gegen seinen abgetragenen Umhang, doch dann öffnete der andere nur den obersten von Remus‘ ordentlich geschlossenen Knöpfen und verknüllte den Umhangstoff ein wenig, damit er weniger brav aussah.

„Also, eigentlich wollte ich fragen…“, Sirius zog ein Gesicht, „James hat Ende des Monats Geburtstag. Aber ich hab‘ keine Zeit, was vorzubereiten. Kannst du dich kümmern?“

„Was stellst du dir denn vor?“, fragte Remus zurück und seine Gänsehaut beruhigte sich wieder.

„Keine Ahnung. Lass dir einfach was einfallen, das Spaß macht.“ Sirius grinste keck und öffnete die Tür hinunter zum Gemeinschaftsraum, um Remus mit einer übertriebenen Verbeugung vorbeizulassen.

Sirius hatte seit Januar in der Tat keine Zeit mehr für irgendetwas gehabt. Montags bis donnerstags war er an den Abenden mit Nachsitzen beschäftigt und Professor McGonagall machte keinerlei Anstalten, die Strafe in absehbarer Zeit irgendwie zu reduzieren, geschweige denn aufzuheben. Zwar war Sirius aufgrund der verbundenen Spiegel, die James und er in ihren Taschen herumtrugen, nie wirklich von den restlichen Freunden abgeschnitten, aber dass er in der Küche aushelfen oder mit Hagrid auf den Ländereien arbeiten musste, fraß trotzdem seine meiste Freizeit auf.

Einmal hatte Sirius sich seine Hand mit fleischfressendem Schneckenschutz verbrannt und Remus hatte eine halbe Stunde gebraucht, um nachzuschlagen, wie er ihm helfen konnte. Natürlich war Sirius zu stolz gewesen, um in den Krankenflügel zu gehen.

An den Wochenenden musste Sirius seine Hausaufgaben nachholen, die jetzt, in ihrem fünften Jahr, wirklich beängstigende Ausmaße annehmen konnten, wenn man sie vernachlässigte. Peter war schon zweimal an den Rand eines Nervenzusammenbruchs gekommen. Und da Sirius zwar mit dem Zauberstab gewandt war, aber nicht unbedingt mit der Feder, tat er sich mit ellenlangen Aufsätzen nicht ganz so leicht wie Remus.

„Wo wart ihr denn so lange?“, fragte James, als die beiden im Gemeinschaftsraum aufschlugen.

„Remus musste noch seinen Büchern einen Abschiedskuss geben“, sagte Sirius und feixte, als er Remus‘ Blick sah. Sie stiefelten gemeinsamen hinunter in die Große Halle und am Gryffindor-Tisch schlug sich Remus den Magen voll mit allem, was er erreichen konnte.

Als er so langsam gesättigt war, rauschten die Eulen durch die Dachfenster und suchten unter heillosem Durcheinander ihre Adressaten. Wie zu erwarten, landete James‘ schöne Schleiereule Mabel mit einem Päckchen auf seinem Tisch. Er begann sofort, es aufzufalten und zog sein Taschengeld und einen kurzen Brief heraus, sicherlich voll liebevoller Worte. Dann landete auch noch eine elegante, schwarze Eule auf dem Tisch, die einen steif wirkenden Brief am Bein trug.

„Urgh.“ Mit lustlosem Blick band Sirius den Pergamentumschlag los, sah kurz auf das dunkelgrüne Wachssiegel und ließ ihn mit spitzen Fingern ungeöffnet auf den Tisch fallen.

Remus musterte Sirius‘ betont gleichgültiges Gesicht, fing dann seinen Blick auf und Sirius knurrte: „Mach doch du ihn auf, wenn’s dich so interessiert.“

Mit gerunzelter Stirn griff Remus den Umschlag, brach das Siegel und entfaltete das edle, schwere Pergament mit dem Wappen der Blacks. Es bestand aus einem Schild, der mit einem Zauberstaub, geschwungen wie ein Schwert, einem Totenkopf und diversen Krähen verziert war. Am unteren Ende schlängelte sich eine Banderole mit der Aufschrift Toujour pur.

Du undankbares Balg! Wir erwarten von dir, dass du unserem Sohn den Ring meiner Väter auf der Stelle zurückgibst. Du dreckiger Blutsverräter! Glaub bloß nicht, dass du einen Fuß über die Schwelle unseres vornehmen Hauses setzen kannst, bis diese Angelegenheit erledigt ist! Wir werden den Ring zurückholen und wenn es das Letzte ist, was wir tun!

Es gab weder eine Unterschrift noch eine Abschiedsformel.

„Wie nett“, sagte Sirius, der den Brief nun doch über Remus‘ Schulter hinweg gelesen hatte. „Sie hat sich sogar die Mühe gemacht, ihren Sohn zu erwähnen. Ihren einzigen Sohn, soll das wohl heißen.“ Er grinste schief und übertrieben selbstzufrieden. Remus‘ Herz tat weh.

„Wundert mich, dass sie dir keinen Heuler geschickt hat“, kaute James, nachdem auch er die wenigen Zeilen überflogen hatte.

„Und in der Großen Halle eine Szene machen? Die Reputation des vornehmen Hauses der Blacks beschmutzen? Ha! Niemals!“ Sirius lachte trocken, doch Remus sah, wie er den Tisch der Slytherins nach dem Gesicht seines Bruders absuchte. „Die würden mich auch niemals aus der Schule abziehen, was sollten denn die Leute denken?“

„Was hast du eigentlich mit dem Ring gemacht?“, fragte Peter, als auch er, der etwas langsamer las, mit dem Brief fertig war. Sirius schien ihn nicht zu hören.

Er hatte den Slytherin-Tisch in den Blick gefasst, wo Regulus Black, schwarzhaarig, schmächtig und von einem ähnlich adligen Schein umgeben wie Sirius selbst, mit Severus Snape die Köpfe zusammengesteckt hatte.

„Was macht denn der alte Schniefelus mit meinem kleinen Brüderchen? Das sieht mir nach ganz schlechtem Einfluss aus. Das sollte ich mir mal genauer ansehen, meint ihr nicht?“ Sirius tastete im Aufstehen nach seinem Zauberstab und auch James war schon auf den Füßen, als Remus mit ungewohnter Härte in der Stimme sagte: „Hältst du das gerade wirklich für klug?“

Einen Moment schien Sirius aufgebracht widersprechen zu wollen, doch dann änderte sich etwas in seinem Gesicht. Offensichtlich hatte Remus ihn auf dem richtigen Fuß erwischt, also fügte er an: „Meinst du nicht, du hast schon genug Nachsitzen?“

„Jaah… ja, vielleicht…“, antwortete Sirius lahm und ließ sich ganz langsam wieder auf die Bank sinken.

James warf ihm einen äußerst irritierten Blick zu, setzte sich aber nicht wieder und rollte stattdessen übertrieben die Augen. Dann sagte er: „Ich muss eh noch meine Tasche holen. Wir sehen uns bei Flitwick.“

Familienangelegenheiten - März 1976 (2/4)

Remus beschäftigte der Brief von Mrs. Black noch bis zum nächsten Morgen. Sirius und er hatten nie wieder über diesen Abend im Schlafsaal während der Herbstferien gesprochen, doch seit Oktober brodelte es in Remus, wann immer seine Gedanken zu Mrs. Black schweiften. Und das passierte unerwartet häufig – wenn er Regulus in den Gängen über den Weg lief, der bei Remus‘ Anblick angewidert das Gesicht verzog, wenn Professor Binns von den alteingesessenen Zaubererfamilien schwafelte, wenn in Verteidigung gegen die dunklen Künste von Todesfeen gesprochen wurde.

Abgesehen von dem Streich gegenüber Snape hatte Sirius noch nie etwas Böses getan und er war auch nicht gefährlich. Er hatte es nicht verdient, so behandelt zu werden. Es ekelte Remus an. Er wollte dringend etwas tun, aber was? Er konnte schlecht bei den Blacks auftauchen und ihnen drohen, und für Beschwichtigungen schienen sie ihm, nach allem, was er wusste, schon gar nicht zugänglich zu sein.

Und vor allem wollte er Sirius, der das Thema mit keiner Silbe erwähnt hatte, nicht darauf drängen.

Am Morgen nach Mrs. Blacks Brief trudelten wieder Eulen ein. Und diesmal erhielt auch Remus eine Zustellung. Ein fremder Waldkauz ließ ein kleines Paket auf seinen Platz fallen und als er es unter den neugierigen Blicken seiner Freunde öffnete, entdeckte er an oberster Stelle eine Grußkarte. Sie war bedruckt mit einem schnauzbärtigen Comicfigur im Anzug, die einen weißen Hasen aus einem Zylinder zog. Sie bewegte sich nicht. Darüber zog sich in giftgrünen Lettern: Wir wünschen dir einen zauberhaften Geburtstag!

„Was ist das denn?“, lachte James laut und zog die Karte heraus.

„Die ist von meiner Mum.“

„Ach ja, ich vergesse immer, dass sie eine Muggel ist.“

„Moony – du hast Geburtstag“, sagte Sirius tonlos und schien um Worte zu ringen.

„Ja, so wie jedes Jahr“, spottete Remus und inspizierte sein Paket. Er wollte die beschämten Gesichter seiner Freunde nicht sehen, die diesen Tag offensichtlich, wie eigentlich immer, vergessen hatten. Aus irgendeinem Grund nahm James‘ Geburtstag nur zwei Wochen später immer eine Menge Raum ein, während Remus es stets schaffte, unter dem Radar zu bleiben.

„Moony, alles Gute!“, schrie Peter aufgeregt und drückte ihm die Schulter und auch James reckte sich über den Tisch, um ihm beide Hände auf die Schultern zu klatschen. „Schon sechzehn! Und das auch noch vor mir. Erschütternd.“ Nur Sirius sagte nichts und schluckte mit roten Wangen sein Rührei.

Im Paket kam zunächst eine große Packung Kaubonbons zum Vorschein und dann ein schmales längliches Kästchen mit elegant wirkender Prägung.

„Was ist das denn, ein neuer Zauberstab?“ Peter beugte sich herüber.

„Ich glaube nicht… Ich mag meinen.“

Remus schob die Kiste auf und auf samtig grünem Untergrund erschien ein goldener Kugelschreiber mit silberner Klemme. Als er ihn in die Hand nahm, entdeckte Remus die Prägung: Remus John Lupin. Sein Herz tat einen Hüpfer. Ihm war klar, dass das Ding nicht billig gewesen sein konnte. Er ließ ihn klicken.

Sirius runzelte die Stirn. „Okay, und was ist jetzt das?“

Das ist ein Stift, du Blitzmerker. Zum Schreiben“, erklärte Remus und griff sich ein Stück des Packpapiers, um ihn daran auszuprobieren. Er zog eine sanfte, blaue Linie, die irgendwie zu dick für die kleine Kugel an der Spitze des Stifts wirkte. Moony, Krone, Tatze, Wurmschwanz schrieb er. „Ich hatte Mum schon vor Ewigkeiten mal geschrieben, dass ich mit Federkielen immer noch nicht klarkomme, weil ich als Kind immer nur mit Buntstiften gemalt habe. Das scheint sie sich gemerkt zu haben.“

„Ist das denn erlaubt?“, fragte Peter unsicher. „Ich dachte, wir müssen mit Federkielen schreiben. Zauberertradition und so.“

„Werden wir rausfinden, wir haben gleich McGonagall.“

„Und wo tut man die Tinte rein?“ James nahm Remus den Stift aus der Hand und hielt ihn gegen das Licht, als würde das ein verstecktes Tintenfass offenbaren.

„Das weiß ich gar nicht… Ich glaube, man wirft ihn weg, wenn die Farbe alle ist. So ist das bei den meisten.“

„Das ist ja bescheuert“, runzelte James die Stirn.

Du bist bescheuert“, zischte Sirius, während Remus einen Blick in die Karte mit dem Kaninchen warf.

 

Lieber Remus, alles Gute zum Geburtstag! Ist die Karte nicht lustig?

Ich hoffe, du kannst mit dem Stift etwas anfangen. Dad hat sich daran zu schaffen gemacht, damit sein Schriftbild aussieht wie das einer Feder. Er meint, damit würde weniger auffallen, dass du einen Kugelschreiber benutzt. Ich verstehe immer noch nicht, was daran ein Problem sein soll, aber gut… Ihr zwei steckt in eurer eigenen Welt, nehme ich an.

Grüß deine Freunde von uns und hab einen tollen Tag!

Alles Liebe,

Mum und Dad

 

Sirius warf über Remus‘ Schulter hinweg einen Blick auf den Brief und Remus spürte, wie er rot wurde. Es war ihm irgendwie unangenehm, dass seine Eltern ihm so liebe Worte sendeten, während sein Freund nur eisigen Hohn abbekam. Jetzt wo er darüber nachdachte, konnte Remus sich überhaupt nicht daran erinnern, dass die Blacks irgendwie darauf reagiert hatten, dass Sirius bereits im letzten November sechzehn geworden war.

„Kann ich einen probieren?“, fragte Sirius und streckte bereits die Hand nach den Bonbons aus.

„Bonbons sind nichts für Hunde“, sagte Peter und schnappte ihm ungewöhnlich behände die Tüte weg.

„Aber Ratten essen alles, meinst du?“, gab Sirius zurück. „Müll zum Beispiel?“

Sirius holte gerade mit der Hand aus, als plötzlich Lily Evans neben Remus stand.

„Hey Evans“, rief James von der anderen Tischseite und aus irgendeinem Grund klang seine Stimme deutlich tiefer als sonst. Sirius prustete.

„Danke Lily“, ließ Remus sich nicht beirren und nahm mit hüpfendem Herzen das Geschenk entgegen, „Das wär‘ doch nicht nötig gewesen.“

„Ich weiß“, grinste sie selbstzufrieden. „Aber ich wollte. Wir haben doch neulich… du weißt schon.“ Kurz wirkte ihr Gesicht ernst. „Irgendwie fand ich es passend. Aber nimm es nicht zu ernst.“

Remus entwickelte unter Lilys aufmerksamem Blick ein mit goldenen Buchstaben bedrucktes Buch: George Orwell – 1984.

„Lily!“, rief er aus, dann wusste er nicht, was er noch sagen sollte.

„Ich sag ja, nimm es nicht zu ernst. Aber vielleicht ein bisschen.“ Sie sprühte vor Belustigung. „Ich weiß nicht, ob du’s schon kennt?“

„Nein.“

„Gut. Dann viel Spaß beim Lesen. Wir sehen uns nachher!“

Dann verschwand sie und sofort fragte James: „Was meinte sie damit, Moony? Was habt ihr neulich? Was meinte sie damit?“

„Nichts“, sagte Remus und wurde ein bisschen rot, weil er sich immer noch für sein Verhalten vor ihrem Gespräch schämte, was allen drei Freunden einen misstrauischen Blick auf die Gesichter trieb.

„Nicht sowas! Was denkt ihr denn, meine Güte. Wir haben uns unterhalten. Über alles. Was draußen so vor sich geht und so.“

„Du meinst, dass Leute verschwinden und so?“, sagte Peter eine Spur zu beiläufig und studierte den Rücken von Remus‘ neuem Roman.

„Ja… auch. Und dass Muggelstämmige es nicht so leicht haben in letzter Zeit.“

James machte ein mürrisches Gesicht und auch Sirius schien nicht überzeugt. „War es für die denn jemals leicht?“

„Nein“, antwortete James.

„Das klingt gruselig. «Wer die Gedanken kontrolliert, kontrolliert die Realität»“, zitierte Peter und reichte das Buch an Sirius weiter, der es jedoch nicht ergriff und stattdessen sagte: „Wir sollten uns beeilen. Wir kommen noch zu spät.“

Familienangelegenheiten - März 1976 (3/4)

„Was ist eigentlich los mit dir?“

„Was meinst du?“

„Erst kuschst du vor Snape, dann willst du pünktlich im Unterricht sein und jetzt machst du dir Sorgen, dass uns draußen jemand sehen könnte. Und stattdessen sitzen wir jetzt hier aufm ollen Boden! Du machst dir wohl Sorgen, noch mehr Nachsitzen zu bekommen.“

Sirius stieß abfällig die Luft aus.

„Wundert mich schon fast, dass du überhaupt mit runter in die Küche gekommen bist. Wir hätten ja erwischt werden können“, äffte James die Stimme der Vernunft nach.

„Ich mach mir Sorgen um Nachsitzen? Das glaubst du? Das glaubst du wirklich?“

„Was denn sonst?“

„Meinst du nicht, gerade, was Snape angeht, sollten wir vielleicht ein bisschen die Füße stillhalten?“

„Wieso, hast du Schiss vor ihm? “

„Bist du so dumm oder tust du nur so?“ Nun klang Sirius wirklich aufgebracht.

„Was willst du von mir, Alter?“

„Glaubst du nicht, wenn wir ihn weiter provozieren, könnte er vielleicht Remus‘ kleines Geheimnis ausplaudern?“

Remus‘ Magen machte einen Salto, als er seinen eigenen Namen hörte. Eigentlich hatte er nicht lauschen wollen, sondern nur seine Geschenke hoch in den Schlafsaal bringen, aber als er James‘ und Sirius‘ Stimmen hörte, war er vor der angelehnten Tür stehen geblieben.

Kurz kam es ihm so vor, es wären wieder Herbstferien und als er höre wieder Stöhnen durch die Schlafsaaltür.

James antwortete nicht und Remus konnte nicht ausmachen, was dort drinnen stattdessen vor sich ging. Gerade, als es Remus zu blöd wurde, vor der schweren Holztür herumzulungern, setzte James wieder an: „Du machst dir echt Sorgen?“

„Du nicht? Traust du Snape etwa wirklich zu, sein dreckiges Maul zu halten? Wahrscheinlich wissen die Slytherins schon alle Bescheid und warten nur darauf, die Stinkbombe platzen zu lassen.“ Sirius klang verbittert. „Und wenn, ist das meine Schuld.“

James ließ sich nicht beirren: „Und was machen wir jetzt? Willst du dich ewig von ihm einschüchtern lassen, nur weil er von Remus‘ pelzigem kleinen Problem weiß?“

„Ich weiß es doch auch nicht. Müssen ihm halt irgendwie das Maul stopfen. Sodass er es gar nicht ausplaudern kann.“

„Moony könnte ihn für uns fressen“, feixte James, woraufhin Sirius mit einem trockenen Ha Ha antwortete.

„Hm.“ Eine kurze ratlose Pause entstand. „Erstmal machen wir Slytherin im Quidditch fertig.“

„Oh ja, super Idee“, höhnte Sirius. „Damit ganz Slytherin so richtig gute Laune hat.“

„Was ist das denn jetzt? Schlägt plötzlich die alte Familientradition durch, ein bisschen Slytherin-Stolz?“

„Pass bloß auf, was du sagst“, zischte Sirius gefährlich und Remus vor der Tür rutschte beinahe das Buch aus den schwitzigen Händen.

„Schon gut. War nicht so gemeint.“

„Dann sag es auch nicht.“

James murmelte irgendwas und Remus hörte, wie Glas auf Holz traf.

„Meinst du, das reicht?“

„Glaube schon. Dann geh ich jetzt mal runter und hole die anderen beiden.“

„Okay.“

Remus hörte Sirius‘ Schritte auf sich zu kommen und für einen Moment wünschte er sich, James‘ Tarnumhang zur Hand zu haben. Er wollte nicht, dass sie wussten, dass er sie belauscht hatte. Er stürzte die Wendeltreppe zum Gemeinschaftsraum hinunter und als zehn Stufen über ihm die Schlafsaaltür quietsche, tat er so, als käme er gerade erst ganz entspannt von unten.

„Oh hey. Wo ist Wurmschwanz?“ Sirius stand zwei Stufen über ihm und überragte ihn dadurch noch mehr als ohnehin schon.

„Unten. Der spielt Koboldsteine“, lächelte Remus unschuldig.

„Oh okay. Warte eben, geh noch nicht hoch. Ich hol‘ ihn.“

Remus blieb mit klopfendem Herzen auf der Treppe stehen und als wenige Augenblicke später Sirius und Peter von unten hochkamen, hatte sich sein Blut noch immer nicht ganz beruhigt.

Sirius führte sie in den Schlafsaal. Dort sah es ein wenig aus, als sei eine Bombe explodiert. Alle Wände waren mit Dr. Filibusters Fabelhaftem Nass-zündendem Hitzefreiem Feuerwerk bedeckt, das in blendenden Farben vor sich hin leuchtete und Funken über ihre Himmelbetten und Schrankkoffer spuckte. Neben und vor den dunklen Fensterscheiben wirkten sie besonders grell. Die Sternenschauer schrieben geräuschlos HAPPY BIRTHDAY MOONY in die Luft. Remus lächelte versonnen.

„Sorry, dass wir nicht heute Morgen schon dran gedacht haben“, murmelte Sirius betreten und zuckte mit den Schultern.

„Aber wir haben Essen!“, rief James und deutete auf den Boden, auf dem sie eine der Bettdecken wie an einem Picknickplatz ausgebreitet hatten. Darauf lagen auf silbernen Tabletts Muffins und Schoko-Eclairs, sowie klebrige Stücke Siruptorte. Auf dem Holzfußboden daneben standen einige Flaschen Kürbissaft, an denen die Luft kondensierte. „Ich wollte ja eigentlich rausgehen, aber Sirius –“

„Ist doch alles gut!“, rief Peter aus, der selbst in den Sommerferien Geburtstag hatte und darum nie von den anderen gefeiert wurde, und ließ sich auf der Decke nieder.

„Danke“, sagte Remus glücklich und klatschte die Kaubonbontüte seiner Mutter neben die Törtchen, nachdem er Lilys Buch und den Kugelschreiber auf seinem Nachttisch deponiert hatte. James und Sirius setzten sich ebenfalls auf den Boden. „Ja… Also, wir dachten, ein Picknick wäre doch ganz nett. Das Abendessen können wir jedenfalls ausfallen lassen.“

„Ist mir recht“, grinste Remus und nahm sich einen Blaubeermuffin.

Als Sirius ein Schoko-Eclair griff, sagte James: „Wusstest du, dass Schokolade giftig für Hunde ist?“

Sirius warf ihm das Eclair an den Kopf, was James nicht auf sich sitzen ließ. Er packte ein Kissen von Peters Bett, zog es Sirius mit aller Kraft über den Schädel und verteilte überall Federn. Eine kleine Rangelei entstand, doch als sich die beiden wieder beruhigt hatten, begannen sie über das in knapp zwei Wochen anstehende Quidditch-Spiel gegen Slytherin zu reden. James erklärte den dreien die angepeilte Taktik, die vor allem auf einen schnellen Fang des Goldenen Schnatzes aus war. „Das ist wohl kaum eine Strategie“, merkte Remus murmelnd an. Doch es war das letzte Spiel der Saison und sie führten die Tabelle an. Wenn sie sich das Spiel nicht aus der Hand nehmen ließen, gehörte der Quidditch-Pokal Gryffindor.

„Gib Regulus einen Haken von mir mit“, sagte Sirius schadenfroh. „Das kann ihm nur guttun.“

„Wird gemacht.“

Als sie vollgefuttert und müde waren, gingen James und Peter schon mal hinunter, um sich für die Nacht fertig zu machen. Remus machte sich ans Aufräumen.

„Hier, das ist von mir.“

Remus hielt beim Einsammeln der Kuchenkrümel und Kissenfedern inne. Sirius kam aus seiner Bettnische und hielt etwas in der Hand. „Hab’s nicht geschafft, es noch einzupacken. Aber hätte eh mies ausgehen, ich kann das nicht.“

Remus betrachtete das Geschenk. Es sah aus wie ein runder Holzteller, auf dem vier kleine Figuren standen. Offenbar war das ganze Gebilde aus einem einzigen Stück Holz geschnitzt, denn die Figuren waren fest mit dem Boden verwachsen. Remus betrachtete hingerissen die vier Tiere, einen Hirsch, einen Hund, einen Wolf und eine Ratte. Dem Hirsch fehlte ein Stück Geweih.

„Das ist mir abgebrochen. Du kennst doch mein Messer, ist zum Aufbrechen von Schlössern. Der Zauber ist für’s Schnitzen eigentlich nicht geeignet. Wenn ich mehr Zeit gehabt hätte –“

„Es ist großartig“, antwortete Remus atemlos und strahlte Sirius an. Der lächelte verschwommen, dann wandte er sich ab, um ein Fenster zu öffnen und das verbleibende Feuerwerk hinaus zu scheuchen.

Familienangelegenheiten - März 1976 (4/4)

Kommt um 21:00 Uhr in den fünften Stock, vierte Tür links von Boris dem Bekloppten. Das Passwort ist «Meeresbrise». Nehmt den Tarnumhang., war alles, was Remus die anderen am 27. März, einem Samstagabend, durch eine Notiz am Spiegel im Schlafsaal wissen ließ.

Und als James, Sirius und Peter sich endlich gegen kurz nach neun im Türrahmen den Umhang herunterrissen, war Remus bereits mit allen Vorkehrungen fertig. Er grinste zufrieden bei ihren sprachlosen, offenstehenden Mündern.

„Was ist das denn?“, brachte Sirius endlich hervor, als die drei ein paar Schritte in den rundum aus Marmor gemauerten Raum hineintraten und die Tür krachend zu fiel.

„Das ist das Vertrauensschüler-Bad“, grinste Remus verschmitzt.

„Nicht dein Ernst!“

Das hast du uns ein halbes Jahr lang verheimlicht?!“

„Du treulose Schnecke.“

„Verräter!“

„Ich war selbst nur zweimal hier drin und auch nur, um kurz aufs Klo zu gehen.“ Remus wies mit einem Arm auf die Toilettenkabinen, die sich in eine Ecke des ausladenden Raums drängten. Ihnen gegenüber befand sich eine im Boden eingelassene Wanne von der Größe eines kleinen Schwimmbeckens, die den ganzen Raum dominierte. Gesäumt war sie von dutzenden goldenen Wasserhähnen, die alle mit unterschiedlichen Juwelen besetzt waren. Es gab sogar ein Sprungbrett.

„Bei Merlin“, flüsterte Peter. Er lief neben Sirius um das leere Becken herum, direkt auf ein Buntglasfenster zu, das das Abbild einer spärlich bekleideten Meerjungfrau zeigte. Ungeachtet der Dunkelheit draußen versprühte das Fenster einen warmen Glanz, ganz ähnlich dem der dutzenden Kerzen auf dem Kronleuchter über ihren Köpfen.

„Guten Abend, Mylady!“, grüßte Sirius die Nixe großspurig und sie kicherte verlegen. Remus ignorierte es.

„Moony, das ist der Wahnsinn“, sagte James, der noch kaum drei Schritte getan hatte. „Was machen wir jetzt?“

„Na was schon“, lachte Remus, „Baden!“ Er deutete zu einem weiteren Fenster, auf dessen breite Bank er knuddelige weiße Handtücher, Bademäntel und die Badehosen von Sirius, Peter und James gelegt hatte. Daneben standen reihenweise Flaschen Butterbier und salzige und süße Köstlichkeiten.

Schon vor einer Woche hatte Remus Sirius beauftragt, durch den Buckel der Hexe im dritten Stock zu schlüpfen und Getränke und Knabbereien aus Hogsmeade zu organisieren. Er hatte nur nicht genau verraten, wofür.

„Ich geh mal davon aus, dass wir das Bad den ganzen Abend für uns haben. Die Schüler dürfen nicht mehr aus den Betten und ich habe Korridor-Wache für diesen Stock.“ Er grinste zufrieden.

„Genial, Moony, ich bin stolz auf dich. Hervorragende Regelbrecherei. Auch wenn ich es dir ewig übelnehmen werde, dass wir nicht früher davon erfahren haben“, erklärte James feierlich und begann, seinen Umhang aufzuknöpfen.

„Dauert das nicht ewig, bis das Becken voll ist?“, sagte Sirius, der von seiner Inspektion durch den Raum zurück war.

„Probieren wir’s aus“, sagte Remus munter.

Er hockte sich am Beckenrand neben einen Wasserhahn und drehte ihn auf. Türkisblaues, nach Meer duftendes Wasser ergoss sich in das Schwimmbecken, das sich trotz seiner Größe erstaunlich schnell füllte. „Sieht doch gut aus.“

In Remus‘ Rücken hatten Sirius und Peter es James gleichgetan und ihre Umhänge abgelegt. Sie waren in ihre Badehosen gesprungen und öffneten gerade ein paar Butterbiere. Dann ging Sirius am Beckenrand in die Hocke und schraubte noch zwei, drei weitere Wasserhähne auf. Einer spuckte goldenes Wasser aus und einer dicke Seifenblasen, die in die Höhe stiegen und schimmernd über dem Becken schweben blieben. Der Dritte entpuppte sich als Schaumkanone.

„Gut warm hier drinnen“, sagte Peter behaglich und setzte sich mit einer Flasche in der Hand an den Beckenrand. Das stimmte. Remus war es ehrlich gesagt sogar etwas zu warm, seine Haare im Nacken waren schon ganz durchgeschwitzt. Den Umhang hatte er schon vor einer Stunde abgelegt, doch noch immer lief er in Hose und Hemd herum. Er krempelte sich die Hosenbeine hoch und steckte die Füße in das steigende Wasser. Es fühlte sich angenehm kühl an.

„Ziehst du dich nicht um?“, fragte Sirius mit hochgezogener Augenbraue, doch ehe Remus etwas erwidern konnte, betrat James mit viel Brimborium das Sprungbrett. Es gab unter seinem Gewicht ein wenig nach und je weiter er vortrat, desto mehr vibrierte es. James gab ihm einen guten Tritt und dann federte er in die Luft und landete zusammengerollt wie eine Kanonenkugel im Wasser. Sirius bekam einen großen Schwall ab und klatschte sich die langen, nassen Haare aus dem Gesicht.

„Super Arschbombe von einem super Arschgesicht“, sagte er trocken, dann sprang er James hinterher und drückte ihn unter Wasser. Die beiden kabbelten sich johlend und spritzend, während Remus und Peter ihnen an ihren Flaschen nippend zusahen.

Remus lächelte selig. Er hatte eine gute Idee gehabt. Vielleicht war er doch ein guter Freund.

Sirius und James tobten immer noch, als Remus seine Flasche bereits ausgetrunken hatte und die ersten Kerzen zu flackern begannen, ein Knäul aus nackten Schultern, Armen und nassen Haaren. Plötzlich steckten sie verdächtig still die Köpfe zusammen. Als sie ihre beiden Freunde ins Visier nahmen, hatte Remus eine gewisse Vorahnung. James stieg betont schlendernd aus dem regenbogenfarben schimmernden Wasser, während Sirius langsam zu ihnen herüberschwamm.

Dann gab James Peter von hinten einen Stoß und Peter fiel mit einem Platschen ins Wasser. Bereits im nächsten Moment tauchte er prustend wieder auf.

„Ich kann doch nicht schwimmen!“, quiekte Peter und klammerte sich panisch an den Beckenrand. Remus reichte ihm die Hand und zog ihn mit einem Ruck wieder aus dem Wasser.

„Alle Ratten können schwimmen, Wurmschwanz“, gab James zurück und streckte erneut bedrohlich seine Finger nach Peter aus.

„Wie du siehst, bin ich aber gerade keine Ratte“, maulte er.

„Dann werd‘ doch eine.“

„Was, hier drin?“

„Warum nicht?“, fragte Sirius lachend. „Meinst du, es wird dich jemand verpfeifen?“

Peter zögerte, wischte sich das Wasser und den Schaum aus dem Gesicht. Nach einem Blick zu Remus schloss er mit vor Konzentration zerfurchter Stirn die Augen, atmete tief ein und dann war es, als würde man einen Ballon beobachten, der im Zeitraffer die Luft verlor. Peters Kopf, seine Schultern, seine ein wenig speckige Brust schrumpften zusammen, bis nichts mehr von ihm übrig war als die Badehose, die Remus heute Morgen aus seinem Schrankkoffer stibitzt hatte. Der nasse Stoff raschelte ein wenig, als die graue Ratte darunter zum Vorschein kam.

„Klasse, Wurmschwanz! Siehst du, du brauchst nicht mal mehr deinen Zauberstab. Du hast es echt drauf inzwischen“, rief Sirius begeistert und streckte die Hand nach ihm aus.

Zögernden Schrittes und mit zuckenden Barthaaren kletterte Peter auf Sirius‘ Hand und ließ sich ins warme Wasser heben. Augenblicklich fing er an, mit seinen kleinen Beinchen zu paddeln und pflügte im nächsten Moment durch die Schaumtürme.

„Und was ist mit dir?“, fragte James, der neben Remus stehengeblieben war.

„Ach…“, setzte er an.

„Du kannst mir jetzt nicht wieder mit «ist mir zu kalt» kommen“, sagte James. Tatsächlich war das immer Remus‘ Antwort gewesen, wenn Sirius und James ihn hatten überreden wollen, im Juni auch mit in den See unten zu springen. Remus hatte sich immer damit begnügt, die Socken auszuziehen und die Füße ins Wasser zu halten.

„Mir ist gerade nicht so danach.“

„Ja, ist klar, Moony“, antwortete James trocken. „So haben wir nicht gewettet. Sieh dir selbst Wurmschwanz an!“

Sirius machte sich gerade einen Spaß daraus, immer einen halben Meter von Peter wegzuspringen, wenn der die rettende Insel in Form von Sirius‘ Schulter beinahe erreicht hatte. So paddelte die kleine Ratte immer weiter im Kreis.

Dann wisperte James vertraulich: „Und hier gibt’s auch niemanden, der dich schief anguckt.“

Remus wurde rot. Das war tatsächlich der eigentliche Grund, aus dem er sich nur ungerne vor anderen auszog. Sein mit Narben übersäter Körper würde bei Fremden unweigerlich zu misstrauischen Fragen führen. Und schön war sicherlich auch was anderes.

„N-na gut“, sagte Remus endlich, knöpfte mit glühendem Kopf sein Hemd auf und zog es aus. Die anderen beobachteten ihn, das merkte er. Als er zurückschaute, sah er auf ihren Gesichtern die Erschütterung bei seinem Anblick. Das hatte Remus befürchtet. „Ich hab‘ nur keine Badehose.“

„Hier, kein Problem“, rief Sirius. Er zog sich am Beckenrand hoch, stemmte sich auf die kräftigen Arme und kletterte raus. „Kannst meine haben.“ Dann atmete er tief ein und vor ihren Augen schmolz er zu dem bärenhaften schwarzen Hund zusammen, den sie alle kannten. Er schüttelte sich, dass die Tropfen aus seinem Fell in alle Richtungen flogen. Dann warf Sirius sich mit einem lauten Bellen erneut ins Wasser, ein Wirbel aus schwarzen Hundehaaren und Schaum.

„Ich mache das jetzt mal nicht nach…“, sagte James langsam. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich mit Hufen auf diesen Fliesen laufen könnte… Und können Hirsche überhaupt schwimmen?“

Remus ging mit bereits geöffnetem Gürtel hinüber zu Sirius‘ Shorts und stieg dann mit von den anderen abgewandtem Körper in die nasse Badehose. In den Knien fühlte sie sich etwas zu lang an, aber ansonsten war sie okay. Er fühlte sich immer noch, als würde sein Gesicht glühen wie eine Laterne.

„Passt ja wie angegossen“, sagte James. „Und jetzt rein da!“ Mit großen Schritten ging er auf Remus zu, packte ihn um die Taille und warf sich mit ihm über den Beckenrand ins Wasser.

Zwar hatte sein Vater Remus einst beigebracht, wie man schwamm, aber er hatte es ewig nicht mehr getan. Mit jeder Narbe mehr hatte er jede Nacktheit vermeiden, vermied auch selbst den Blick auf seinen bloßen Körper, wann immer möglich. Tatsächlich konnte Remus sich kaum mehr daran erinnern, wo es war, dass er schwimmen gelernt hatte. Dieser See, den er in Erinnerung hatte, und diese Hütte, die sie mal eine Zeitlang bewohnt hatten, mitten im Wald, geschützt vor fremden Augen…

Remus überkam eine Welle der Sehnsucht, Heimweh. Dabei war er zuhause, jedenfalls soweit er irgendwo jemals zuhause gewesen war: Peter saß mit einem Käsecracker, den er sich von der niedrigen Fensterbank geschnappt haben musste, auf der obersten Treppenstufe im Wasser. James tauchte gerade zum Beckenboden hinunter, um sich dort unten umzuschauen. Und Sirius paddelte bellend und mit wogendem Fell durch den Schaum, ein Leuchten in den grauen Augen. Ja. Zuhause. Völlig unerwartet schossen Remus die Tränen in die Augen. Rasch hob er die Hand zum Gesicht. Seit wann war er denn so emotional?

Dann spürte er etwas Warmes, Nasses, leicht Raues über seine Wange gleiten. Erschrocken kreischte er auf. Im nächsten Moment musste Remus lachen, weil es kitzelte und weil auch James lachte und weil er gegen den Beckenrand gedrängt wurde und sich gegen den schweren Körper des riesenhaften Hundes ohnehin nicht wehren konnte.

„T-tatze“, lachte Remus atemlos zwischen die feuchte Nase und das Fell. „Tatze, hör auf!“ Doch der Hund hechelte nur, zeigte seine massiven Fangzähne wie ein Grinsen, bis Remus ihm die Hand auf den Kopf legte und ihn leicht streichelte.

Aus dem Augenwinkel sah Remus, wie James und Peter sich einen Blick zuwarfen. Prompt schubste Remus Sirius von sich und zog sich aus dem Becken, um sich etwas Neues zu trinken zu holen.

Es dauerte nicht lange, bis sich Peter und Sirius zurückverwandelten und sich mit Handtüchern um die Hüften über die Imbisse hermachten.

„Hat eigentlich jemand im Schlafsaal das Fenster zugemacht?“, fragte Sirius zwischen zwei Bissen Kartoffelchips.

„Also ich nicht“, sagte James und auch Peter und Remus schüttelten die Köpfe.

„Ah! Gut.“ Sirius öffnete ein Fenster und deutete mit seinem Zauberstab nach draußen in die schwarze Nacht. Dann sagte er deutlich: „Accio Radio.“

„Haha! Nicht wirklich!“, hauchte James amüsiert, als das Radio von Sirius‘ Nachttisch langsam durchs offene Fenster hereingeschwebt kam.

„Den hast du echt drauf“, sagte Remus anerkennend und auf Sirius‘ Wink hin fing der Empfänger an zu spielen. Sie feierten noch die halbe Nacht.

Die Schlinge zieht sich zu - April 1976 (1/3)

Vollmond fiel auf den Donnerstag vor der finalen Quidditch-Partie. Obwohl James vom dauerhaften Training völlig erledigt war, ließ er es sich trotzdem nicht nehmen, mit den anderen dreien in die Heulende Hütte zu kommen. Sie begannen, sie nach ihren Vorstellungen umzugestalten: Tatze und Krone schoben Möbel hin und her, Peter brachte noch in Menschengestalt Essbares aus dem Schloss mit. Langsam, hatte Remus den Eindruck, waren es nur noch die Schmerzen, die ihn diese Nächte fürchten ließen. In jedem Fall war es klar: Wenn die anderen dabei waren, fühlte er sich menschlicher, beinahe normal. Er hatte Spaß.

Doch die Müdigkeit danach blieb. Am Samstagmorgen erwachte Remus erst, als ihn ein übelriechender Luftzug im Gesicht traf. Er schlug angewidert die Augen auf und blickte direkt in die schwarzen, fiesen Augen von Peeves, dem Poltergeist. „Lusche, Lusche, Lupin“, sang er jetzt und hauchte Remus wieder ins Gesicht. Sein Atem stank nach vergammeltem Fisch.

„Verzieh dich“, schrie Remus und fuchtelte mit den Armen, woraufhin der Poltergeist kichern rückwärts schwebte und durch die aufkrachende Holztür verschwand. Wie spät war es? Helles Sonnenlicht brach bereits durch die eisenbeschlagenen Fenster und der Schlafsaal war verlassen. Die alte Standuhr in der Ecke zeigte halb 11. Das Spiel!

Remus sprang aus dem Himmelbett, verhedderte sich strauchelnd in den Vorhängen und fiel schmerzhaft auf das Kinn. Er stöhnte auf, hustete, aber wieder auf den Beinen schnappte er sich seinen erstbesten Umhang und zog sich an. Im Losrennen griff er den rot-goldenen Gryffindor-Schal, der immer am Balken seines Himmelbettes hing, und hastete die Treppe hinunter. Auch der Gemeinschaftsraum lag bereits verlassen da, genau wie die meisten Korridore im Schloss. Er rauschte durch die Abkürzungen bis in die Eingangshalle, durch das Eichenportal nach draußen, hinaus auf die inzwischen grünen Wiesen. Remus durfte auf keinen Fall zu spät kommen, was würde James von ihm denken, und die anderen? Wie respektlos war es, das Spiel eines seiner besten Freunde sausen zu lass–

Remus‘ Blick blieb an etwas hängen. Sirius stand am Rande des Weges zum Quidditch-Feld, mit dem Rücken zu Remus, offenbar mit verschränkten Armen. Ein Gryffindor-Schal war locker um seine Schultern geschlungen und wehte im Wind.

„Tatze, was machst du noch hier?“, rief Remus, als er ihn beinah erreicht hatte. „Es geht gleich los!“ Dann erst sah er, dass sein Freund jemandem gegenüberstand.

Im smaragdgrünen Umhang des Slytherin-Teams stand da Regulus Black.

„Also“, kurz flackerte Regulus‘ Blick zu Remus hinüber und ein kaum merkliches Grinsen schien sich auf seinen feinen Zügen abzuzeichnen, „wie gesagt. Denk an meine Worte.“ Dann wandte er sich um und schritt mit wehendem grünem Umhang die letzten Meter zum Stadion hinunter.

„Was war das denn?“, fragte Remus Sirius atemlos, aber der antwortete nicht, starrte nur seinem Bruder nach. Der Ausdruck auf Sirius‘ Gesicht gefiel Remus nicht.

„Komm… sonst verpassen wir den Anpfiff.“

Sirius nickte langsam und fiel neben Remus in einen schnellen Schritt. Remus‘ Herz hämmerte den ganzen Weg hinauf in die erste Reihe der Gryffindor-Tribüne, wo Peter schon auf sie wartete.

Was war hier los gewesen, was konnte er tun?

„Wo wart ihr zwei denn so lange?“, fragte Peter, der sich eine hässliche rote Schiebermütze aufgesetzt hatte.

„Nirgends…“, sagte Remus ausweichend.

Peter zog die Augenbrauen hoch, als könne er sich seinen Teil denken.

Remus schluckte, doch in diesem Moment liefen die Spieler ein, James als einer der Größten unter den in scharlachrote Umhänge gekleideten Gryffindors. Regulus bei den Slytherin war mit Abstand der Kleinste und Schmächtigste, war für einen Sucher allerdings die ideale Statur war. Remus beobachtete Sirius‘ scharf geschnittenes Gesicht, wie er noch immer schweigend aufs Feld hinunterstarrte.

„Für Gryffindor spielen heute“, setzte Syna Williams, eine Siebtklässlerin der Hufflepuffs, mit etwas leiernder Stimme an: „Meadowes, Cattermole, Page, Fisher…“

Remus fand immer noch, dass Peter den Job als Kommentator hätte bekommen sollen, denn er, der sich selbst überhaupt nicht auf einem Besen halten konnte, übte unerwartet scharfe Quidditch-Analysen. McGonagall hatte ihn jedoch (zurecht) für zu parteiisch gehalten.

„…McLaggen, Buhl und – Potter!“

Als James‘ Name fiel, jubelten Remus und Peter laut. Sirius jedoch saß immer noch wie versteinert da, was Remus zusätzlich verunsicherte. Hatte er vielleicht etwas falsch gemacht?

Syna Williams fuhr fort mit den Namen der Slytherins: „Mulciber, Vanity, Greengrass, Sallow, Hawk, Snyde und – Black!“ Sirius buhte beim Klang des letzten Namens so laut er nur konnte, während er seinen Gryffindor-Schal so demonstrativ herumschleuderte, dass er Peter die Kappe vom Kopf schlug.

Aufgrund der Entfernung war es nicht sicher zu sagen, aber Remus hatte den Eindruck, Regulus grinste hinterhältig. Das fühlte sich nicht gut an.

Madam Hoochs Pfiff ertönte und im nächsten Moment waren die Spieler in der Luft.

„Und Page schnappt sich als Erste den Quaffel – sie lässt Hawk mit einem hübschen Schlenker aussteigen – Pass an Fisher – Fisher an Page zurück – Wurf aufs Tor und – sie scheitert an Mulciber. Der Quaffel jetzt in Slytherin-Hand – Greengrass im Vorwärtsgang.“

Remus warf einen Blick auf James, der hoch über dem Feld Kreise zog und die Luft nach dem goldenen Schnatz absuchte. Gryffindor hatte in der Tabelle 70 Punkte Vorsprung auf Slytherin. Das hieß, wenn Regulus vor ihm den Schnatz in die Hände bekam, würde der Pokal an Slytherin gehen...

„Tor für Slytherin“, verkündete Syna Williams emotionslos, „Es steht 10 zu 0.“

Gegenüber brach die komplett in Grün gewandete Slytherin-Tribüne in Jubel aus. Snape, den man nur an Slytherin-Spieltagen auch mal in einer anderen Farbe als Schwarz sah, ballte triumphierend die Faust. Die Gryffindors hingegen buhten und schimpften laut und Remus sah Lily Evans am Ende seiner Sitzreihe ein böses Gesicht machen. Sie trug einen dunkelroten Spitzhut mit goldener Sternenstickerei, Ton in Ton mit ihrer Haarfarbe.

Wie immer kommentierte Peter das Spiel auf seine Art: „Da muss man halt auch mal mitdenken und den Pass decken, meine Güte! – Links, links ist frei, mach doch mal die Augen auf, Fisher! – Die kommen immer wieder über Greengrass‘ Seite, da muss doch mal jemand dazwischengehen!“

Zu allem Überfluss schafften es Snyde und Hawk in kurzer Abfolge, zwei Klatscher auf die Gryffindor-Jäger Hailey Cattermole und Thomas Fisher zu treiben, sodass Gryffindor kurzzeitig mit nur einer Jägerin spielte. Hüter Martin Meadowes legte jedoch ein paar Glanzparaden hin und hielt ihre Torstangen frei von weiteren Gegentoren.

„Ja, ja, ich hab’s immer gewusst, der Junge spielt mal für England!“

Remus fiel es trotz Peters Einordnungen schwer, sich aufs Spiel zu konzentrieren. Sirius‘ Gesichtsausdruck beschäftigte ihn so sehr, dass er der Letzte war, der James‘ plötzlichen Sturzflug bemerkte.

„Und Potter scheint den Schnatz entdeckt zu haben.“ Die ganze Tribüne sog kollektiv zischend die Luft ein, während ihr Sucher sich aus 100 Fuß Höhe hinabstürzte. Remus konnte den goldenen Ball nirgends ausmachen, doch sofort tauchte an James‘ Seite ein grüner Schleier in Form von Regulus Black auf. Remus erinnerte sich, dass Sirius gesagt hatte, die Blacks hätten ihm mit viel Ritus zu seiner Nominierung ins Team einen neuen Rennbesen gekauft.

„Black ist ihm direkt auf den Fersen. Wer macht das Rennen?“, fragte Syna Williams uninspiriert.

Auf! Keinen! Fall!“, knurrte Sirius verbissen, die ersten Worte, die Remus ihn heute sprechen hörte. Und als wäre es Gedankenübertragung holte James mit dem Bein aus und gab dem kleinen Slytherin-Sucher einen heftigen Tritt in die Rippen. Regulus segelte aus der Flugbahn und krachte wie eine Kanonenkugel in seinen Teamkollegen Sallow. Es haute sie beide beinahe von den Besen.

Augenblicklich ertönte Madam Hoochs Trillerpfeife und ihre Stimme überschlug sich, als sie schrie: „Foul! Foul, was für ein dreckiges Foul, James Potter! Strafstoß für Slytherin!“

Peter und Remus grinsten sich verstohlen zu und Sirius brüllte: „Richtig so, Krone! Gib’s ihnen!“

Greengrass verwandelte zwar den Strafstoß, aber das störte niemanden, denn inzwischen hatte Hailey Cattermole ihre Blutung gestillt und auch Thomas Fisher saß wieder aufrecht auf dem Besen. Es konnte weitergeben.

„Fisher, ich sagte doch, links!“, fluchte Peter. „Immer wieder die gleichen Fehler! Wie soll das je was werden?“

Das Spiel wurde merklich rauer. James hatte mit seiner Aktion das Foulen eingeläutet und beide Teams zeigten sich kreativ: Erst schlug Buhl dem Slytherin-Hüter Timothy Mulciber im Vorbeifliegen das Schlagholz an den Hinterkopf, dann nahmen Hawk und Snyde die Gryffindor-Jägerin Pauline Page in die Mitte und versuchten, sie tot zu quetschen. Nach einer halben Stunde stand es 40 zu 30 für Gryffindor, doch an allen Ecken und Enden gab es blaue Flecken und Blutspritzer („Stell doch mal den Körper rein, du Amateur!“). James und Regulus fegten im Zickzack über das Feld, immer auf der Suche nach dem Schnatz, immer dabei, den anderen auf eine falsche Fährte zu locken.

„Das mit dem schnellen Fang wird wohl nichts mehr“, murmelte Peter, der immer noch bei jedem scharfen Manöver von James zusammenzuckte.

„Sieht so aus…“, antwortete Remus. Sein Blick war fest auf das Feld gepinnt, aber aus dem Augenwinkel beobachtete er Sirius. Der stand mit den Händen auf der Balustrade und achtete fein säuberlich darauf, dass sein Gryffindor-Schal auch ja sichtbar flatterte.

„Oh“, sagte Peter plötzlich.

„Was?“, fragte Remus und musterte nervös das Spielfeld. „Was denn?“

„Schnatz“, quiekte Peter leise.

„WO?“, schrie Sirius.

„Hier!“ Die beiden drehten sich zu Peter und jetzt wussten sie, was er meinte: Der kleine goldene Ball flatterte so nah vor Peters Nase herum, dass die Flügelchen beinahe sein Gesicht streiften. Wenn er wollte, konnte er einfach die Hand ausstrecken und ihn festhalten.

Sirius fackelte nicht lange. Er stellte einen Fuß auf die Balustrade, wedelte mit seinem Schal und brüllte aus Leibeskräften: „KRONE – KRONE HIER!“

James drehte den Kopf und als Sirius mit fuchtelnden Armen auf Peter deutete, schien er das Glänzen in der Luft ebenfalls wahrzunehmen. Remus hielt die Luft an, als James sofort in einem Affenzahn auf sie zu raste.

Wieder erschien Regulus wie aus dem Nichts an James‘ Seite, diesmal jedoch in sicherem Abstand zu seinen Beinen.

Peter warf sich kreischend auf den Sitz, als James nur noch zwei Besenlängen entfernt war, und auch einige der anderen Zuschauer stoben schreiend aus seiner Flugbahn. Doch James stoppte den Besen punktgenau vor der Tribüne. Ein Windstoß fuhr Remus und Sirius durch die Haare. James stieß die Faust mit dem kleinen goldenen Ball in die Luft und es hörte sich an, als breche ein Orkan los, als die Gryffindors anfingen zu jubeln.

Keine drei Meter entfernt schwebte Regulus Blacks Gesicht in der Luft, aschfahl und ausdruckslos.

„Komm doch rüber, wenn du noch nicht genug hast, du kriecherischer Nichtsnutz!“, brüllte Sirius ihn an, Feuer in den Augen. „Viel Spaß dabei, das Mami zu erklären!“

„Hau ab, du Aasgeier!“, stimmte Peter ein und drohte mit der Faust.

Regulus‘ Lippen wurden weiß, als er sich abwandte und zu Boden schwebte, wo die anderen Slytherins ihn wenig freundlich in die Mitte nahmen.

James rauschte zu seinen Teamkollegen nach unten und Peter, Remus und Sirius nahmen die Beine in die Hand, um die ersten zu sein, die ihm um den Hals fallen konnten. Und schon schritt Professor Dumbledore auf den Platz, den großen silbernen Quidditch-Pokal in den Armen, flankiert von McGonagall, die sich mit einem schottengemusterten Taschentuch die Augen tupfte.

„Krone, Krone!“, kreischte Peter und sprang auf und ab, die Schiebermütze durch die Luft schlackernd. Sirius und Remus grinsten sich versonnen an und schrien am lautesten, als der Pokal zwischen den Quidditch-Spielern von Gryffindor herumgereicht wurde und schließlich bei James landete.

„Gehst du oder soll ich?“, murmelte Remus Sirius unvermittelt ins Ohr.

„Was m—“, fragte Sirius und drehte sich zu ihm um. Im wogenden Pulk der Gryffindors standen sie plötzlich beinahe Nase an Nase und Remus fühlte sich unerwartet in den Moment zurückversetzt, als Sirius ihm im Badezimmer der Vertrauensschüler über das Gesicht geleckt hatte. Damals war er zwar Tatze gewesen, aber…

Remus zuckte mit glühendem Gesicht zurück und murmelte „Hogsmeade – Butterbier – gehe schon“ und raste davon.

Die anschließende Party im Gryffindor-Gemeinschaftsraum war bombastisch. Remus hatte unter Aufbringung eines hervorragenden Schwebezaubers so viel Butterbier wie nur irgend möglich besorgt und war dabei so schnell gewesen wie noch nie. Die Situation mit Sirius am Spielfeld hatte ihm Beine gemacht, wegzukommen… aber irgendwie auch zurückzukommen.

Glücklicherweise glühten im Gemeinschaftsraum immer noch alle Gesichter vor Genugtuung, sodass Remus dort nicht das Gefühl hatte, weiter aufzufallen. Einige der Erstklässler hatten rote und goldene Luftschlangen ausgeschnitten und verhext, vor denen man auf der Hut sein musste, da sie jetzt mit scharfen Kanten durch die Luft surrten. Der große silbernen Quidditch-Pokal war auf den ausladenden Sims über dem Feuer gehoben worden, von wo er dann doch immer wieder heruntergenommen, geküsst und bekniet wurde. Irgendwann füllte James ihn bis an den Rand mit Butterbier und reichte ihn an herum wie einen Kelch. Vor allem aber die Mannschaft wurde immer wieder auf die Schultern genommen und im runden Turmzimmer herumgetragen, bevor sie lachend auf den Sesseln und Sofas zusammenbrachen. Fisher und Cattermole trugen ihre Spiel-Verletzungen wie Orden nach einer verheerenden Schlacht und ließen sich immer wieder bitten, die Partie nachzuerzählen.

Nachdem die vier Freunde so viel Butterbier heruntergestürzt hatten wie nur möglich, hatten sie sich zusammen in eine Ecke verzogen. James setzte sich so, dass er Lily Evans beobachten konnte, die in der anderen Ecke des Gemeinschaftsraums mit einigen Mädchen lachte, während er mit Peter das Spiel Zug für Zug durchanalysierte.

„Man muss aber schon sagen, dass Pauline Page einfach nicht finaltauglich ist. Die kriegt es immer mit den Nerven. Hast du gesehen, wir weit ihr erster Wurf daneben ging?“

„Klar. Aber sag’s nicht so laut. Wenn sie mitkriegt, dass du auf ihr rumhackst, wird’s nächstes Jahr noch schlimmer“, gab James mit todernster Miene zu bedenken. Dann platzte es doch aus ihm heraus: „Falls sie’s überhaupt noch mal ins Team schafft!“

„Was denkst du, wer nächstes Jahr Kapitän wird, wenn Meadowes weggeht?“

„Na Krone natürlich“, warf Sirius mit einem Tonfall ein, als hätte Peter gefragt, was eins plus eins ergab.

„Denke ich auch“, beantwortete Peter seine Frage selbst. „Ansonsten kommt nur noch Cattermole infrage, wenn ihr mich fragt, aber die ist ja gerade mal vierzehn…“

„Wie alt ist eigentlich dein Bruder?“, fragte James plötzlich.

Sirius zog ein Gesicht, das Remus sofort auffiel. „Dreizehn.“

„Süß.“

„Geht so.“

Peter zuckte mit den Schultern. „Er hat ein gutes Spiel gemacht.“

„Er hat sich zum Narren gemacht“, betonte Sirius. Remus fasste ihn schärfer ins Auge. Der Pokalsieg hatte ihn beinahe vergessen lassen, was er vor dem Spiel gesehen hatte, aber jetzt trat dieser steinerne Ausdruck auf Sirius‘ Gesicht wieder ganz deutlich zu Tage.

„Naja, wer tut das nicht gegen James?“

„Stimmt“, bestätigte James. „Habt ihr Schniefelus‘ Gesicht gesehen, als die Slytherins raus sind?“

Sirius lachte auf: „Ja! Die hässliche Fledermaus. Hat sich plötzlich benommen, als wäre das alles unter seiner Würde. Aber mal ehrlich, welche stinkende Würde hat der schon?“

Der dunklen Schatten auf seinem Gesicht wurde tiefer, als wüsste Sirius etwas Schreckliches, das den anderen entging. Irgendetwas hatte er heute über Regulus Black und Severus Snape erfahren, da war Remus sich ganz sicher.

James Augen blitzten. „Apropos stinken… Vielleicht sollten die Schleimbrocken mal ihren eigenen Mief abkriegen.“

Remus spürte, wie die Atmosphäre in ihrer Sitzecke augenblicklich umschlug.

„Du meinst, jetzt?“, grinste Sirius listig. „Warum eigentlich nicht?“

„Leute?“, fragte Remus alarmiert. „Noch ein Butterbier?“

„Lass mal gut sein, Moony… Du weißt doch, wie man in deren Gemeinschaftsraum reinkommt, Tatze?“

„Klar. Seit ich denken kann, hat man mir vorgebetet, wo er ist. Unten in den Kerkern ist eine Öffnung in der Steinmauer, die aufgeht, wenn man das richtige Passwort nennt. Und die Passwörter sind immer vom gleichen Schlag. «Reinblüter», «Zaubererehre», «Paselmund»…

„Warum sind wir eigentlich nicht schon früher auf die Idee gekommen? Ich geh eben hoch und hol den Umhang. Und die Stinkbomben.“ James sprang aus dem Sessel und zischte davon.

„Tatze, ehrlich…“, setzte Remus hilflos an und erinnerte sich plötzlich an Sirius‘ eigene Worte, die er an seinem Geburtstag James gegenüber geäußert hatte: „Meinst du nicht, wir sollten Snape gegenüber ein bisschen die Füße stillhalten?“

Sirius sah Remus mit seinen stahlgrauen Augen direkt ins Gesicht und sagte düster: „Glaub mir, seit heute weiß ich: Dem sind wir überhaupt nichts schuldig.“

Die Schlinge zieht sich zu - April 1976 (2/3)

Der nächtliche Überfall auf den Slytherin-Gemeinschaftsraum war am folgenden Sonntag das bestimmende Gesprächsthema. Ob in der der Großen Halle, der Bibliothek, dem Innenhof, es gab die wildesten Spekulationen, wer hinter dem Coup steckte, und vor allem auch darüber, wie sie in den Kerkerraum hineingekommen waren.

Remus war gerade auf einem Kontrollgang durch die Korridore des ersten Stocks, als er ein Gespräch mithörte.

„Ich sag es schon seit Jahren“, meinte Catherine Bright, die seit dem Herbst mit Sirius geflirtet hatte, großspurig zu ihren Hufflepuff-Freundinnen. „Passwörter sind einfach nicht sicher. Jeder könnte danebenstehen und mithören, wenn du es nennst.“ Remus, der wusste, dass man für die Hufflepuff-Tür ein einfaches Klopfzeichen benötigte, bemühte sich, nicht allzu offensichtlich die Augen zu rollen.

„Ja, aber was denn sonst?“, fragte ein anderes Mädchen. „Schlüssel?“

„Oh bloß nicht. Ich verlier sowieso schon ständig meinen Kram…“, maulte eine Dritte.

„Mathilda hat mir erzählt, bei Ravenclaw muss man jedes Mal ein neues Rätsel lösen…“, murmelte die Zweite wieder.

„Oh je, was soll das denn bringen? Da zerbrichst du dir ja nur den Kopf.“

Remus wandte sich kopfschüttelnd ab und trat durch die Tür in die Bibliothek, wo seine drei Freunde an einem Ecktisch vor ihren Hausaufgaben saßen.

„Also wenn ihr mich fragt!“, zischte ein Ravenclaw-Junge, dessen Namen Remus nicht kannte, gewichtig. „Es geschieht ihnen ganz recht. Wer auch immer es war, ist ein Held.“

„Dann war’s hoffentlich nicht Peeves“, antwortete David Alinac, ein Ravenclaw aus dem siebten Jahrgang. „Der hat mir heute Tinte über den Kopf geschüttet, und ich will keinen Grund, ihn weniger zu hassen.“

Remus setzte sich zu den anderen dreien an den Tisch und sah sie mit einem vielsagenden Blick an. Sirius und James lächelten zuckersüß und hüllten sich in Schweigen. Denn, so sehr Sirius und James ihre Angebereien in der Regel auch genossen, diesmal schienen sie ausreichend Selbstbeherrschung aufzubringen, um nichts verlauten zu lassen. Was in Anbetracht von Sirius‘ Nachsitz-Kalender vermutlich auch das einzig richtige Vorgehen war.

„Ich hab‘ eben auf dem Weg hierher gehört, dass Snyde und Hawk jetzt im Krankenflügen liegen, weil ihr Würgreiz nicht aufhört“, kicherte Peter.

„Geschieht ihnen Recht“, spuckte Sirius, ohne die Stimme zu senken, und klappte das Buch zu, das vor ihm lag.

Remus überraschte alle, indem er harte sagte: „Sehe ich auch so. Wenn sie gekonnt hätten, hätten sie Pauline auf ihrem Besen zu Brei verarbeitet!“

Sirius strahlte. Dann rückte er mit seinem Stuhl näher an Remus heran und flötete langgezogen: „Moooony….“

„Ja, ja“, lachte Remus, „schon gut. Gib her, was ist es denn?“

„Zaubertränke.“

„Und das soll ich für dich Korrektur lesen? Willst du unbedingt durchfallen?“

„Naja, du sollst es ja nicht brauen“, argumentierte Sirius findig, „nur lesen...“

„Frag doch lieber Lily…“ Remus nickte mit dem Kopf hinüber zu einem Tisch auf der Galerie, an dem Lily Evans mit drei anderen Mädchen saß, unter ihnen die Slytherin, mit der sie sich in Zaubertränke ihren Tisch teilte.

Sirius starrte ihn an. „Bist du verrückt geworden? Die hasst mich!“

„Eigentlich ist sie sogar ganz nett…“, gab Remus zurück und winkte Lily zu, die ihm gerade den Kopf zugedreht hatte. Lily winkte zurück, dann wandte sie sich jedoch wieder ihren Freundinnen zu.

„Nein, danke. Wer mit Eliza Carrow rumhängt, wird sicher nicht meine erste Adresse für unaufspürbare Gifte.“ Sirius lehnte sich mit seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme. „Dann echt lieber durchfallen.“

„Das ist eine Carrow?“, fragte James und setzte sich gerader hin. „Weiß Evans das?“

„Wie soll sie das nicht wissen? Meinst du, die sitzen seit Monaten zusammen und haben sich nie vorgestellt?“

„Was macht sie dann mit der?“

„Keine Ahnung, frag sie doch.“

James stand auf, als Ausrede Sirius‘ Aufsatz in der Hand, und schickte sich an, zu Lily, Mary Macdonald, Hailey Cattermole und Eliza Carrow hinüber zu schlendern.

„Was ist mit den Carrows?“, fragte Peter interessiert und auch Remus spitzte die Ohren.

„Die Carrows waren Anfang des Jahrhunderts quasi die ersten Gefolgsleute von Gellert Grindelwald. Sie sollen in Frankreich seinen ersten Stützpunkt aufgebaut haben, indem sie die Muggel-Besitzer von dem Haus, das sie haben wollten, abgeschlachtet haben, auch die kleinen Kinder… Ein Blutbad.“ Er lächelte freudlos. „Wir sind bestimmt irgendwie verwandt.“

„Also sind sie wie die Malfoys?“, schlussfolgerte Peter.

„Und die Blacks, die Lestranges, die Rosiers, die Averys… Gefühlt wie jede einzelne reinblütige Familie in Groß Britannien, mit Ausnahme der Potters und der Weasleys vielleicht.“

„Was ist mit den Carrows passiert, nachdem Dumbledore Grindelwald weggesperrt hat?“, fragte Remus. Er gab sich zwar Mühe, in Zaubereigeschichte aufzupassen, aber es war einfach etwas anderes, mit Sirius darüber zu sprechen, der all diese Dinge mit der Muttermilch aufgesogen hatte, während er, Remus, sich mit seinem Zauberervater und seiner Muggelmutter in kleinen Dörfern und abgelegenen Hütten versteckt hatte.

„Wie die meisten reichen Reinblüterfamilien haben sie sich rausgeredet… oder rausgekauft. Und als es langsam Gerüchte über einen neuen, starken schwarzen Magier gab, waren sie mit Sicherheit die ersten, die ihre Köpfe wieder aus den Löchern gesteckt haben.“ Er knurrte. „All diese Kakerlaken.“

Peter war blass geworden. „Du meinst, D-Du-weißt-schon-wen? Er soll schon vor Jahren hinter all diesen Entführungen und so gesteckt haben…“

Remus musterte James, der schon auffällig lange neben Lily Evans Tisch stand, ohne dass herumgeschimpft wurde. Sie beugte sich tatsächlich über ein Stück Pergament. Dann fiel Remus plötzlich etwas ein.

„Sag mal, was weißt du über die Snapes?“

„Nichts.“

„Wie, nichts?“

„Ich meine, die sind ziemlich sicher keine alte Zaubererfamilie. Vielleicht ist er ein Halbblut. Oder sogar ein Schlammblut.“ Sirius lachte bellend auf, als er sich wieder gerade hinsetzte. Die Ravenclaws von eben warfen ihnen misstrauische Blicke zu. „Sähe ihm ähnlich, einen auf Reinblüter zu machen, damit seine schmierigen kleinen Freunde ihn akzeptieren. Können kaum drauf warten, mit der Schule fertig zu werden und sich den Todessern anzuschließen.“

„Hmm…“

„Wieso fragst du?“

„Ach, ich weiß auch nicht… Ich hab‘ mich nur gefragt, warum er Muggelstämmige so hasst, wenn er vielleicht sogar selbst einer ist.“

„Schon mal was von Selbsthass gehört?“, fragte Sirius und der Blick, mit dem er Remus bedachte, war viel zu lang, um nichts auszusagen.

Remus rutschte unangenehm berührt auf seinem Stuhl herum und suchte nach einer Ablenkung: Mit dem Finger auf Peters Aufsatz deutend, sagte Remus: „Ziemlich sicher muss das Eisenhut heißen, nicht Fingerhut. Fingerhut ist giftig. Aber guck lieber noch mal nach.”

„Oh”, sagte Peter, inspizierte den Absatz und stand dann auf, um das richtige Buch in der Abteilung für Zaubertränke nachzuschlagen.

Remus verschwendete keine Sekunde, um Sirius mit seinen eigenen Waffen zu schlagen: „Tatze, was hat Regulus gestern vor dem Spiel zu dir gesagt?“

Sirius sah nicht so aus, als wäre er sonderlich erpicht darauf, diese Frage zu beantworten. Aber dann sprach er doch: „Dass er den Familienring zurück will und… Er hat durchblicken lassen, dass Snape geplaudert hat.“ Sirius‘ Lippen waren weiße Linien geworden und von seinem normalerweise so überlegenen Lächeln war nichts mehr übrig.

Remus‘ Magen machte einen Salto, aber keinen von denen, die Sirius‘ Augen sonst manchmal in ihm auslösten.

„Nein… Nein, das würde er nicht tun“, gab Remus kleinlaut zurück. Ihm wurde kalt.

„Meinst du? Meinst du wirklich nicht?“ Sirius‘ Augen verengten sich. „Was für einen Grund hat Severus Snape dir je gegeben, an das Gute in ihm zu glauben, Moony?“

„Ich… “, murmelte Remus hilflos, „Dumbledore…“ Der Raum begann sich zu drehen, das Licht schien zu flackern. Schweiß stieg ihm auf die Stirn.

„Wenn du’s ganz genau wissen willst, hat Regulus gesagt: «Ich kenne euer kleines pelziges Geheimnis. Also wenn du nicht willst, dass die ganze Schule davon erfährt, rück den Ring wieder raus.»“

Remis versuchte noch, sich mit den Händen an der Tischplatte festhalten. Doch dann wurde alles schwarz.

Die Schlinge zieht sich zu - April 1976 (3/3)

„Ihr seid Fünftklässler, nicht wahr?“

„Ja.“

„Ich sage das jedes Jahr – der Stress – die ZAGs…“ Madam Pomfrey schüttelte missbilligend den Kopf, dann goss sie ein wenig dampfenden Aufpäppel-Trank in einen Messingbecher und stellte ihn scheppernd ab.

„Seht zu, dass er das trinkt, wenn er wieder richtig bei sich ist.“ Remus hörte, wie sie davon wuselte und dabei murmelte: „Und er hat es ja ohnehin schon so schwer…“

Remus schlug die Augen auf.

„Na, wieder unter den Lebenden?“ James grinste ihn von oben herab an. Dann erschien auch Peter in Remus‘ Blickfeld. Remus stützte sich auf die Unterarme, schob sich in dem Krankenflügel-Bett hoch, und sah sich um.

„Wo ist Tatze?“

„Wollte eigentlich nur kurz aufs Klo…“, sagte Peter und warf einen Blick auf seine Armbanduhr.

„Was ist passiert?“, fragte James. „Er meinte, du wärst einfach so umgekippt.“

„R-Regulus Black weiß es.“

„Was?“

„Das Geheimnis.“

„Wer in den Gemeinschaftsraum eingebrochen ist?“, fragte Peter mit einer Spur Panik in der Stimme.

„Nein. Nein, mein Geheimnis.“ Remus‘ Herz hämmerte wie wild, doch seine Hände fühlten sich immer noch kalt an.

James riss die Augen auf und Peter quiekte leise: „Woher –?“

„Snape muss es ihm gesagt haben, oder?“

„Dieses widerliche Stück Dreck!“, fluchte James und schlug mit der Faust auf den Bettrahmen, während Peter Remus nur wie mechanisch den Messingbecher reichte.

„Was machen wir jetzt?“

„Ich weiß nicht…“, sagte Remus und erkannte seine eigene Stimme nicht wieder. „Ich weiß es einfach nicht.“

„Wir müssen zu Dumbledore gehen!“, rief Peter viel zu laut und erntete von Madam Pomfrey, die am anderen Ende der Halle mit einem Schüler sprach, einen vorwurfsvollen Blick.

„Und dann? Dann vergisst Regulus auf einmal alles, was er weiß?“ James stieß die Luft aus. Er schien nachzudenken. „Seit wann weiß er es?“

„Keine Ahnung“, sagte Remus, der langsam erst so richtig realisierte, dass er ohnmächtig geworden sein musste. Er trank einen Schluck und spürte, wie ihn Wärme durchfloss, doch flau war ihm immer noch. Wo war Sirius? „Er hat es Tatze gestern vor dem Spiel gesagt… Er wollte den Ring zurück, den Sirius ihm weggenommen hat, und hat gedroht, mich– es sonst allen zu verraten.“

„Das erklärt’s“, sagte James abschätzend. „Tatze war gestern Nacht im Kerker ganz versessen darauf, auch noch genau herauszufinden, wo Snape und Regulus schlafen… Er wollte es ihnen heimzahlen.“

„Was hat es eigentlich mit diesem verfluchten Ring auf sich?“, schimpfte Peter laut.

„Genau das“, seufzte James. „Er ist verflucht. Jeder, der ihn ansteckt und nicht zur Blutlinie der Blacks gehört, stirbt. Sirius hat gesagt, es sei richtig ekelhaft… Dein Blut, in dir drin, würde zu Schlamm werden oder sowas…“

Remus standen die Haare zu Berge bei dem Gedanken und Peter bekam vor Grauen den Mund nicht zu. „Wer denkt sich sowas aus!“

„Na, jemand, der Schlammblüter hasst, nehme ich an…“

„Das hat er mir nie erzählt“, sagte Peter bekümmert. Remus spürte einen bösen Stich in der Brust, als er dachte: Mir auch nicht. Warum redet er bloß nicht mit mir?

Mal wieder wanderten Remus‘ Gedanken zu jenem Abend in den Herbstferien zurück. Vielleicht deshalb…

Mit einem Mal saß Peter kerzengerade da. „Ihr meint doch nicht, Sirius ist gerade hin, um Regulus den Ring zu geben?“

„Ich…“, sagte Remus und schämte sich dafür, dass er ein wenig hoffte, dass Sirius genau das tat.

„Und dann?“, fragte James trotzig. „Dann fällt Regulus das Nächste ein, was er gern von uns will, und kann uns immer wieder mit der gleichen schmutzigen Erpressung Beine machen? Sorry, Moony, aber…“

„Du willst ja wohl nicht auf Moonys Rücken deine Sturheit austragen!“, keifte Peter unerwartet und funkelte James an, „genau wegen sowas kann Lily Evans dich nicht leiden!“ Eine Welle der Zuneigung für Peter überkam Remus. James hatte es offenbar die Sprache verschlagen. Rosa Kreise zeichneten sich unter seiner Brille ab.

„Aber Krone hat schon recht“, sagte Remus schließlich mit Grabesstimme. „Dieses Ding darf nicht wieder in Umlauf kommen. Stellt euch mal vor, ein anderer Schüler findet ihn.“

„Können wir ihm nicht irgendeine Fälschung andrehen?“, überlegte Peter hoffnungsvoll.

„Mit dem Gemino sollte das eigentlich gehen… Ich weiß nur nicht, ob dann auch der Fluch kopiert würde?“

„Das lässt sich sicher herausfinden“, ergänzte James. „Aber nur, wenn es nicht schon zu spät ist. Ich suche Tatze.“ Er stand von seinem kleinen Stuhl auf.

„Ich will mit“, sagte Remus entschlossen, aber als er sich aufrichtete, schwankte er so sehr, dass er gegen Peters Schulter stieß.

„Ohne dich finde ich ihn schneller. Wisst ihr, was richtig praktisch wäre? Ein Wegweiser für Leute, der dir immer zeigt, wo sie sind.“ Er lachte kurz, dann wirbelte James davon und ließ Peter und Remus mit nervösen Gesichtern zurück.

Neue Wege - April 1976 (1/5)

Die Woche drauf war die letzte vor den Osterferien. Sirius und James hatten Regulus noch direkt am Sonntag nach dem Quidditch-Finale den falschen Ring untergejubelt. Doch erst jetzt, da mehr als eine Woche ohne geflüsterte Gerüchte vergangen war, begann Remus langsam, sich wieder wirklich zu entspannen. Vollmond war noch knapp zwei Wochen hin, Regulus Black und Severus Snape liefen ihm in den Korridoren nicht mehr über den Weg, und Remus hatte endlich Zeit, sich so richtig seiner ZAG-Vorbereitung zu widmen.

Und außerdem hatten Sirius und er den Gemeinschaftsraum wieder für sich allein.

Am dritten Morgen der Ferien warf Sirius ihm ein Kissen an den Kopf. „Hey!“

„Hey was!“, rief Remus zurück und setzte sich in seinem Bett auf.

„Was willst du heute machen?“ Sirius saß im Schneidersitz auf seinem Bett. Er trug noch seinen teuren dunkelblauen Schlafanzug. „Bin schon seit ‘ner Stunde wach und du schnarchst nur vor dich hin.“

„Ich schnarche nicht“, maulte Remus beleidigt.

„Oh doch, rat mal, warum ich meine Vorhänge jeden Abend mit Abschirmzaubern belege.“

„Wegen Peter.“

„Ja, das auch“, grinste Sirius. „Also, was liegt heute an? Und komm mir nicht mit Lernen. Ich kann das alles. Du kannst das alles. Was soll das also?“

Remus stieß amüsiert die Luft aus. „Na gut. Was schlägst du also vor?“

„Hab‘ nachgedacht, wie ich das manchmal so tue…“, sagte Sirius und legte sich auf den Arm gestützt auf die Seite. Remus fiel auf, dass der oberste Knopf seines Schlafanzugs nicht geschlossen war und bemühte sich, nicht dort hinzustarren. „Und da ist mir eine Idee gekommen. Eine brillante, möchte ich meinen. Zu dir hat James doch auch gesagt, er hätte gerne einen Wegweiser, um Leute im Schloss zu finden?“

„Ja…“, gab Remus langsam zurück, auch wenn er in seinem Kopf wenig nach dieser Erinnerung kramen musste. Der ganze Tag war wie im Nebel.

„Nun – hier.“ Sirius sprang auf die Füße und kam zu Remus herüber. In der einen Hand hielt er seinen Zauberstab, in der anderen einen altmodischen Wecker. Den hatte Sirius benutzt, bevor er sein Radio auf den Nachttisch gestellt hatte, erinnerte Remus sich. Ohne zu fragen, setzte sich Sirius auf Remus‘ Bett (Remus rückte ein wenig zur Seite) und legte den Wecker mit dem Zifferblatt nach oben auf die Decke. „Also. Ich habe eine angeheiratete Cousine…“, begann er, dann besann er sich eines Besseren. „Ach, ist auch egal. Die hat jedenfalls eine Standuhr, die anzeigt, wo ihre Kinder und ihr Mann sich befinden. Aber eben nicht im physischen Raum, sondern im übertragenen Sinne. «Bei der Arbeit» und so. Das hat mich auf die Idee gebracht, dass man so eine Anzeige auch mit einer Uhr machen könnte, nur dass sie eben nicht die Zeit zeigt, sondern wie ein Kompass in die Richtung, in der die Person sich befindet. Einen richtigen Kompass hatte ich jetzt nicht zur Hand. Schau mal.“

Er tippte mit dem Zauberstab auf das Zifferblatt und sagte: „Wo ist Moony?“ Augenblicklich sprangen die beiden Zeiger der Uhr auf 12 Uhr, die Richtung, in der Remus saß.

„Ohh“, sagte Remus und nahm den Wecker in die Hand. Er drehte ihn und die Zeiger drehten sich mit, sodass sie weiterhin auf sein Gesicht zeigten. „N-nicht schlecht…“

„Du bist nicht überzeugt“, sagte Sirius scharfsinnig.

„Naja, ich dachte nur… Das ist nicht sonderlich hilfreich, wenn der Kompass dich ständig vor eine Wand leitet, weil die Person zum Beispiel in einem Gebäude ist oder ein Korridor einen Umweg macht, oder?“

„Hast du eine bessere Idee?“, fragte Sirius eine Spur beleidigt.

„Wie wär’s mit einer Karte?“, sagte Remus, als hätte er im Schlaf bereits ausführlich darüber nachgedacht.

„Eine… Karte?“, fragte Sirius skeptisch.

Remus dachte nach. „Ja, warum eigentlich nicht… Stell‘ dir vor, eine Karte von Hogwarts, mit allen Gängen und Abkürzungen und… und darauf für jede Person eine Markierung, je nach dem, wo sie sich gerade befindet.“

„Alle Personen gleichzeitig? Das wird ja total unübersichtlich…“

„Schon… aber auch irgendwie echt, oder?“ Remus‘ Verschlafenheit war wie weggeblasen. So verlassen und ruhig das Schloss in den Ferien auch dalag und so sehr er es genoss, die alten Gemäuer und Flure für sich zu haben, der wahren Reiz an Hogwarts war doch, wenn es durch die hunderten Schüler vor Leben nur so sprühte.

„Ja…“, meinte Sirius endlich, „warum eigentlich nicht…“

Remus öffnete die Schublade seines Nachttischs und zog einen Fetzen Pergament heraus. „Lass uns doch mal erstmal anfangen mit… nur mit dem Erdgeschoss oder so…“

Sirius‘ Augen leuchteten begeistert. Remus fühlte sich, als hätte er treppabwärts eine Stufe verpasst.

Die nächsten Tage verbrachten die beiden mit glühenden Herzen. Von morgens früh bis abends spät bemühten sie sich, jeden Fuß im Schloss mit ihren Zauberstäben abzumessen und auf ihre immer umfassendere Karte zu übertragen. Nicht nur einmal entdeckte Filch sie in einem ansonsten leeren Korridor, doch da er nicht erkennen konnte, dass sie etwas Verbotenes taten, musste er sie Verwünschungen murmelnd in Ruhe lassen.

Nach einer Woche waren Sirius und Remus erst die Hälfte des Schlosses abgelaufen. Beispielsweise fehlten noch die Kerker, denn sie wollten sich so kurz nach den Stinkbomben in der Nähe des Slytherin-Gemeinschaftsraums lieber nicht blicken lassen. Doch alles, was sie bisher gesehen hatten, kartierten sie fein säuberlich mit Remus‘ Kugelschreiber.

Selbst die verborgenen Gänge nach Hogsmeade hatten sie mit aufgenommen, auch wenn sie nun im vom Feuer erhellten Gemeinschaftsraum diskutierten, ob das wirklich eine gute Idee war.

„Wir müssen die Karte dann auf jeden Fall verschlüsseln. Ich habe keine Lust, beim nächsten Ausflug in den Honigtopf auf drei Lehrer, zwei Geister und siebenundzwanzig Erstklässler zu treffen.“

„Ja“, stimmte Remus ernst zu, der neben Sirius auf einem Sofa im leeren Gemeinschaftsraum hockte und mit aufgestütztem Kopf über der Karte brütete. „Und ich möchte auch kein zweites Erlebnis wie mit Snape unter der Peitschenden Weide haben…“

„Moony…“, sagte Sirius plötzlich mit einem schmerzlichen Tonfall, „tut mir leid… Das mit Snape.“

„Ist schon vergessen“, sagte Remus, den die bereits bekannte Hitze überkam. „Es ist ja noch mal alles gut gegangen.“

„Stimmt…“ Die Worte hingen in der Luft. Dann fügte Sirius hinzu: „Es war trotzdem nicht in Ordnung. Es war dumm. Und leichtsinnig. Snape hätt‘s verdient, das schon. Hat rumgeschnüffelt. Wollte rausfinden, wohin du verschwindest. Aber ich hätte dich da nicht mit reinziehen dürfen.“

„Hast du doch auch nicht.“

„Aber beinah.“

„Tatze, es ist okay. Sogar dein Nachsitzen ist vorbei.“

Remus sah Sirius von unten her an. Es war ungewöhnlich, dass er bei einem Thema, bei dem er selbst nicht gut wegkam, nicht lockerließ.

„Als Regulus dir gedroht hat, hab‘ ich es mit der Angst zu tun gekriegt.“

Remus hob nun endgültig den Kopf und musterte Sirius mit einer Mischung aus Verwunderung und Sorge. Er wusste nicht, was er sagen sollte.

„Ich hatte so Angst, dass ich dir wirklich geschadet habe…“ Sirius starrte auf die Tischplatte. Mit einem Finger ummalte er immer wieder ein kleines Brandloch darin; lange vor ihrer Zeit musste hier ein Gryffindor-Schüler eine Kerze umgestoßen haben. Sirius‘ Stimme war fast nur noch ein Flüstern, als er sagte: „Ich… kann euch nicht verlieren. Ich habe dann… niemanden mehr.“

Ein riesiger Kloß tauchte in Remus‘ Hals auf und hinderte ihn daran, etwas zu erwidern. Zu erwidern, dass es ihm genauso ging, dass seine Freunde die Familie geworden waren, die sich endlich einmal nicht für ihn schämte. Die ihn nicht versteckt hielt. Sirius, James und Peter waren die Familie, die zu ihm stand und ihn nicht tief drinnen als Monster sah.

„Ist schon gut“, brachte Remus kieksend heraus und mit einem Mal lag seine Hand auf dem Tisch auf Sirius‘ Unterarm. Es fühlte sich gut an. Warm und vertraut, und aufregend. Sirius sah auf und schaute ihn direkt an. Langsam zog Sirius den Arm unter Remus‘ Hand weg und Remus‘ Herz begann schon zu schmerzen, doch anstatt ihn abzuschütteln, schlangen sich Sirius‘ Finger ganz langsam um die Remus‘ und hielten sie fest.

Remus starrte für einen Moment auf ihre verschränkten Hände, dann schaute er direkt in Sirius‘ graue Augen. Statt ihrer sonstigen stählernen Härte hatten sie einen verletzlichen Ausdruck angenommen, der vom Feuerschein nur noch verstärkt wurde.

„Ich geh nirgendwohin“, sagte Remus noch, bevor Sirius ihn küsste, mitten auf den Mund. Remus erstarrte für eine Sekunde. Seine Mundwinkel zuckten, weil das alles so absurd war, und dann schmolz er in eine Umarmung und küsste Sirius zurück.

Rückblick: Herbstferien 1975 (2/5)

„Ah, Lupin. Wusste doch, dass ich dich hier finde. Dein Aufsatz, von Flitwick.“ Alinac legte ihm eine Pergamentrolle auf den Tisch. Remus hatte gar nicht mitbekommen, wie der Siebtklässler aus Ravenclaw die ausgestorbene Bibliothek betreten hatte, aber es stimmte – Flitwick hatte Remus letzte Woche angekündigt, er würde ihm seine Korrektur noch nachreichen.

„Ach ja, danke!“

„Sicher wieder ein Ohnegleichen?“, fragte Alinac und seine Lippen zuckten. „Kriegst du deswegen jetzt schon Sonderlieferungen? Damit die anderen im Unterricht nicht mehr gelb werden vor Neid?“ Remus ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, sondern schüttelte nur seine verkrampfte Hand aus.

„Wieso bist du eigentlich nicht bei uns im Haus gelandet?“

Remus zuckte scheinheilig die Schultern. „Muss wohl was Verborgenes an mir geben.“

„Scherzbold“, gab der andere trocken zurück, fuhr sich durch die goldblonden Haare und winkte. Dann verschwand er zwischen den Regalen in Richtung der Verbotenen Abteilung. Der strebsame Alinac erzählte stets jedem, der es hören wollte, dass er seine UTZ-Semesterarbeit über Schweigezauber schrieb, und Remus wusste durch einen eigenen Aufsatz aus dem letzten Jahr, dass dort eine Menge interessante Bücher zu diesem Thema standen.

Remus ließ seinen Federkiel, sein Tintenfass und seine Hausaufgaben in die Ledertasche gleiten. Er hatte den größten Teil des Tages in der Bibliothek verbracht, um für Sprout eine Hausarbeit über die Anwendungsfelder von Wolfswurz fertigzustellen, die nach den Herbstferien fällig war. Kräuterkunde war nicht gerade sein Lieblingsfach, aber wann immer es darum ging, Schulaufgaben zu erledigen, riss Remus sich selbst stoisch am Riemen. Er wollte sich einfach nicht vorstellen, wie er bei seinen Eltern aufschlug, die unheimlich viel auf sich nahmen, damit er überhaupt nach Hogwarts gehen konnte, und ihnen dann erzählen musste, dass er irgendwo durchgefallen war. Wenn er schon hier war, dann musste er sich auch Mühe geben. Auch für Dumbledore, der für ihn bürgte. Dann öffnete er die Pergamentrolle und musterte Flitwicks Handschrift:

 

OHNEGLEICHEN! Exzellente Arbeit, mein Junge! Sie haben herausragendes Verständnis für Desillusionierungszauber bewiesen. Ich habe Ihnen zwanzig Hauspunkte verliehen, schauen Sie bei Gelegenheit mal auf Ihr Stundenglas!

Bitte verzeihen Sie, dass Sie Ihren Aufsatz erst jetzt zurückerhalten. Leider musste ich feststellen, dass ein anderer Schüler Textpassagen von Ihnen kopiert hat. Diese Angelegenheit musste erst geklärt werden, bevor Sie Ihre Arbeit zurückbekommen konnten.

 

Remus stand mit einer Mischung aus stolzem Hochgefühl und Scham auf. Neben Flitwicks Handschrift sah sein Gekrakel auf der Pergamentrolle aus wie das von einem Grundschulkind. Auch nach über vier Jahren Hogwarts kam er mit den Schreibfedern einfach nicht zurecht.

Bis auf Sirius und ihn waren alle Gryffindors zu ihren Familien zurückgefahren. Es war der zweitletzte Tag der Herbstferien und während Sirius und er die ersten Tage größtenteils damit verbracht hatten, im tiefstehenden Sonnenlicht über die Ländereien zu streifen oder immer neue Winkel des Schlosses zu erkunden, war nun Arbeit angesagt. Jedenfalls für Remus. Morgens war er noch mit Sirius zum Frühstück gegangen, doch danach hatten sie den Tag getrennt verbracht. Sirius hatte durchscheinen lassen, er habe was zu erledigen, und Remus hatte sich beim Verlassen der Großen Halle ausmalen können, was das war: Catherine Bright, eine Hufflepuff aus ihrem Jahrgang mit langem seidigem Haar, hatte sehr laut gekichert, als Sirius ihr zuzwinkerte.

Es war schon fast dunkel, als Remus nach einem einsamen Abendessen am Gryffindor-Tisch in den Gemeinschaftsraum zurückstapfte. Er rechnete nicht damit, dass Sirius bereits zurück war, denn Bright war ebenfalls nicht beim Abendessen gewesen. Remus trat missmutig gegen eine Rüstung, die aktuell statt ihres Helms einen Kürbis als Kopf trug.

„Hey da, spinnst du?!“, grölte sie und schüttelte klappernd die Faust.

Vielleicht sollte Remus einfach den riesigen Schokoriegel, den er sich beim letzten Hogsmeade-Ausflug im Honigtopf gegönnt hatte, anbrechen und einen Roman aufschlagen. Seine Mutter hatte ihm einen Thriller geschickt.

Die fette Dame im Portrait vor dem Gryffindor-Turm lächelte ihn erwartungsvoll an, als er dort ankam. „Was hältst du von meinem Herbstschmuck?“, fragte sie, seine niedergeschlagene Miene ignorierend, und deutete auf die roten und gelben Ahornblätter, die jemand auf den unteren Rand ihres Rahmens gelegt hatte.

„Öhm, hübsch“, antwortete Remus tonlos, „aber fallen die nicht runter, wenn Sie auf- und zuklappen?“

Sie schaute ihn verstimmt an und fragte frostig: „Passwort?“

„Kürbislaterne.“ Zähneknirschend ließ die fette Dame ihn ein. Sanft raschelnd segelte ein Ahornblatt nach dem anderen zu Boden.

Im leeren Gemeinschaftsraum war es stickig, denn trotz der Herbstsonne brannte das Feuer im Kamin lichterloh. Remus öffnete zwei der schmiedeeisernen Fenster und warf dabei einen Blick über die Ländereien. Unten konnte er ein paar verbliebene Schüler sehen, die am See spazieren gingen, und er war sich beinahe sicher, dass unter der Birke, unter der er mit seinen Freunden stets die Sommertage verbrachte, ein schwarzhaariger Junge und ein Mädchen saßen.

Remus drehte dem Fenster den Rücken zu und ließ unschlüssig den Blick durch den Gemeinschaftsraum schweifen. Während er in der Bibliothek gebüffelt hatte, war offensichtlich aufgeräumt worden. Die Sessel waren zurechtgerückt, die Kissen aufgelockert und ihr grell leuchtendes Konfetti aus Zonkos Knallbonbons vom gestrigen Abend war verschwunden.

Und dann hörte er es.

Remus zuckte zusammen und starrte die Tür, hinter der es zu den Jungenschlafsälen ging, an. Da war ein lauter Knall gewesen, wie von etwas Schwerem, das zu Boden fiel. Doch jetzt veränderte sich das Geräusch. Ein Kreischen und Keuchen.

Misstrauisch nahm Remus die Beine in die Hand, den Zauberstab gezückt. Er nahm die ersten Stufen, lauschte an der Tür der Erstklässler, doch als er feststellt, dass die Geräusche von weiter oben kamen, ließ er nach und nach auch den Stock der Zweit-, Dritt- und Viertklässler hinter sich. Erst als er vor seinem eigenen Schlafsaal stand, hörte er Rumpeln, Jaulen. Oder vielleicht so etwas wie …Stöhnen?

Remus schoss das Blut ins Gesicht. Vielleicht war das gar kein Schreien gewesen? Er wusste, dass Mädchen in den Jungenschlafsaal konnten. Und in jedem Fall war er sich sicher, dass das hinter der Tür eine Frauenstimme war. Sein Herz schlug ihm plötzlich bis zum Hals. War Sirius vielleicht doch nicht dort unten auf den Ländereien…?

Dann drang ein aggressives Rumpeln durch die Tür. Nein. Nein, das klang nicht nach Vergnügen. Mit einem flauen Gefühl im Magen öffnete Remus die Tür und spähte hinein. Und da sah er sie.

Die Todesfee. Eine hoch aufgerichtete Frau in einem spitzenbesetzten schwarz-grünen Kleid stand mitten im spärlich beleuchteten Raum. Und sie kreischte und zeterte.

„Du Blutsverräter! Du bist eine Schande, du schmutzige Missgeburt!“, schrie sie mit einer Stimme wie zerbrechender Schiefer. „Du ehrloses Gossenkind hast in unserem Haus nichts zu suchen!“ Und nun wurde Remus auch bewusst, was sie da beschimpfte, oder genauer gesagt, wen. Sirius kauerte neben seinem Himmelbett mit den scharlachroten Vorhängen, die Arme schützend über dem Kopf, und versuchte, sich klein zu machen, versuchte, sich aufzulösen.

„DU VERWEICHLICHTER TAUGENICHTS! DU ABSCHAUM!“

„Sirius, was –“, setzte Remus an und augenblicklich richtete die Frau ihren nadelspitzen Blick auf ihn. Das konnte keine Todesfee sein, denn andernfalls wären Sirius und er längst tot; der Schrei der Banshee tötete auf der Stelle. Nein, diese Frau hier umwaberte ein adliger Hauch und ihr brillantenbesetztes Haarnetz ließ auf altes Gold schließen. Sie war eine Hexe.

Remus ignorierte sie dennoch, starrte stattdessen seinen Freund an, der mit erschrockenem Ausdruck die Arme vom Gesicht genommen hatte.

„Moony“, brachte Sirius mit verschnupfter Stimme hervor, „das ist –“

Die böse Hexe trat mit gezücktem Zauberstab einen weiteren Schritt auf Remus zu – und als er sie direkt ansah, verpuffte sie. Augenblicklich schwebte dort, wo sie gestanden hatte, eine kleine weiß glänzende Kugel. Genau auf Remus‘ Blickhöhe.

„Ein Irrwicht“, hauchte Remus und mit einem scharfen Hieb seines Zauberstabs brüllte er: „Ridikkulus!“

Der schimmernde Mond verwandelte sich in ein schimmeliges, gelb-grünliches Stück Käse. Er fiel dumpf zu Boden. Remus‘ Blick sprang umher – wo war der Irrwicht hergekommen? — da!

Neben James‘ verlassenem Bett lag eine antike schwarze Schatulle auf der Seite. Remus riskierte einen Blick auf Sirius, der sich mit zittrigen Knien und roten Augen aufrappelte, und trieb dann das hopsende Stück Käse Schritt für Schritt auf die Schatulle zu.

„Tatze, jetzt!“, rief Remus und in dem Moment, da der Käse rückwärts in die Schatulle stolperte, warf Sirius sich darauf. Er drückte den Deckel herunter. Unheilvoll ruckelte die kleine Kiste unter Sirius‘ Gewicht, aber das schwere Vorhängeschloss hielt stand.

„Wo“, keuchte Remus, „kam der her?“

Sirius antwortete nicht, sondern drehte Remus den Rücken zu und ging zurück zu seinem Himmelbett. Er strich die scharlachroten Vorhänge glatt, nahm dann seine Lederjacke von der Matratze und warf sie lustlos in den offenen Schrankkoffer am Bettende. Dann sah er aus dem Fenster.

„Na, aus der Schatulle da.“

„Schon klar, aber – woher ist die? Was ist passiert?“

Remus merkte, wie erschüttert er war. Sirius war ein ausgezeichneter Duellant und in Verteidigung gegen die dunklen Künste hatte er noch jeden Zauber zustande gebracht, weshalb Professor Fawley Sirius immer noch verdächtigte, zu schummeln.

„Achhh“, knurrte Sirius unwillig und ließ sich auf sein Bett fallen, mit dem Blick zum Baldachin, sodass Remus sein Gesicht im Halbdunkel nicht richtig sehen konnte. „Hab‘ den schon vor Wochen in diesem leeren Klassenzimmer im siebten Stock entdeckt. Wollte Krone einen Streich spielen und das Ding unter seinem Bett einziehen lassen. Aber der wollte nicht wie ich, als ich den Deckel aufgemacht hab. Hat… hat mich einfach überrumpelt und dann…“

„Okay“, sagte Remus tonlos, als Sirius nicht weitersprach. In seinem Kopf raste es. Er wollte seinen Freund nicht einfach hängen lassen, aber er wollte auch nicht, dass er sich weiter vor ihm schämen musste, indem er das Thema in die Länge zog. „Schon okay… Er ist… weg jetzt.“

„Weiß ich.“

Unschlüssig stand Remus mitten im Schlafsaal und seine Gedanken pendelte zwischen Sirius, der bewegungslos auf seinem Bett lag, und der sich wütend schüttelnden Schatulle.

„Ich bringe ihn raus, oder?“

„Hmm.“

Remus versicherte sich, dass das Schloss an der Schatulle verriegelt war, dann hob er sie an und schleppte sie nach unten in den Gemeinschaftsraum, durch das Portraitloch und durch die erstbeste Tür, an der er vorbeikam: einem Besenschrank gleich um die Ecke. Am besten informierte er jemanden, denn er war sich nicht sicher, wie lustig Filch es finden würde, wenn er auf dem Weg zu seinen Besen von einem Irrwicht überrascht wurde. Was wohl Filch am meisten fürchtete?

Remus‘ Gedanken kehrten zurück zu der bösen Hexe im Schlafsaal und er ignorierte den empörten Blick der fetten Dame, als er schon wieder in den Gemeinschaftsraum wollte. Diese boshafte Schreckschraube musste Sirius‘ Mutter sein, Mrs. Black. Sirius hatte schon ein paar Mal durchblicken lassen, dass sie nicht die herzlichste aller Mütter war, aber das… Remus war entsetzt.

War das das Zuhause, in das Sirius jeden Sommer zurückkehrte?

„Tatze?“, fragte Remus vorsichtig, als er wieder am Schlafsaal ankam, bekam jedoch keine Antwort. Dann trat er dennoch durch die offene Tür.

Sirius lag immer noch vollkommen regungs- und geräuschlos auf seinem Bett. Er hatte sich jedoch mit dem Gesicht zur Wand gedreht und die Beine leicht angezogen. Das magische Radio auf Sirius‘ Nachttisch war angeschaltet worden und spielte jetzt irgendeinen langsamen Rock-Song.

Remus setzte sich auf sein eigenes Bett und betrachtete seinen Freund einen Moment, unschlüssig, ob er etwas sagen sollte. Er vermutete, dass sein neu erlangtes Wissen um Sirius‘ Situation zuhause Sirius peinlich war, weshalb er ihn nicht darauf ansprechen wollte, aber gleichzeitig wollte Remus ihn auch nicht einfach so damit alleine lassen.

Kurzentschlossen öffnete Remus seinen Nachtschrank und holte den Schokoriegel aus dem Honigtopf hervor. Mit einem lauten Knacken brach er ihn entzwei und ging dann ein paar zögerliche Schritte auf Sirius‘ Rücken zu. Ohne zu fragen, setzte Remus sich neben ihn und griff über ihn hinweg, um Sirius das Stück Schokolade vor die Nase zu legen. Durch seinen flüchtigen Blick stellte Remus fest, dass das Bettlaken rund um Sirius‘ Gesicht frische feuchte Flecken aufwies. Sein Magen verkrampfte sich hilflos. Unsicher legte Remus Sirius eine Hand auf die Schulter und dass er sie nicht abschüttelte, ermunterte ihn, hier sitzen zu bleiben und möglichst still an seinem Schokoriegel zu nagen.

Irgendwann ertönte ein lautes Knacken und dann folgte das unverwechselbare Geräusch von Kauen. Remus musste unwillkürlich schmunzeln. Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, aber Remus nahm Sirius‘ Kauen zum Anlass, um kurz aufzustehen, sein Buch von seinem eigenen Bett zu holen und sich dann wieder auf Sirius‘ Bett zu setzen. Den Rücken ans Kopfteil des Himmelbettes gelehnt, die Knie angewinkelt und das rechte Bein sanft gegen Sirius‘ Rücken gedrückt, blieb er sitzen. Es fühlte sich warm an. So verblieben sie; Remus, der ab und zu die Seite umschlug und irgendwann seinen Zauberstab entzündete, um noch etwas sehen zu können, und Sirius, der stumm dem Radio lauschte.

Neue Wege - April 1976 (3/5)

Als Remus erwachte, hielt er die Augen noch einen Moment geschlossen. Der Raum zwischen Wachsein und Schlafen erlaubte es ihm, den Traum, in dem Sirius auf ihn stand, noch etwas länger festzuhalten. Wenn er richtig wach wurde, war es damit sicherlich vorbei.

Irgendwann jedoch wurde die Neugier zu groß. Hatte er sich das alles wirklich nur eingebildet?

Remus schlug die Augen auf und dreht mit angehaltenem Atem den Kopf. Bei dem Anblick, der sich ihm bot, überkam ihn eine so überschäumende Freude, dass er zu grinsen begann wie Boris der Bekloppte. Sirius lag neben ihm, leicht eingerollt in die dunkelrote Bettdecke, in Remus‘ Himmelbett, das für zwei Leute eigentlich viel zu eng war. Es war kein Traum. Nichts davon war ein Traum gewesen. Mit vorsichtigen Fingern berührte Remus seine eigenen Lippen und spürte, dass sie sich leicht wund anfühlten.

Plötzlich stürmten die Erinnerungen alle wieder auf Remus ein, als erlebte er sie neu: Sirius, der sich entschuldigte. Sirius, der seine Hand ergriff. Sirius, der ihn küsste. Sirius, der ihn fest umarmte. Sirius, der nicht wusste, was er sagen sollte. Sirius, der nicht aufhörte, ihn zu küssen. Sirius, der erst weit nach Mitternacht vorschlug, in den Schlafsaal hoch zu gehen. Sirius, der auf der Wendeltreppe seine Hand hielt. Sirius, der ihn unerwartet fest von hinten umarmte, als sie sich zum Umziehen kurz voneinander gelöst hatten. Sirius, der sein Gesicht streichelte. Sirius, der im Morgengrauen neben ihm im Himmelbett einschlief. Sirius.

Jetzt regte er sich, offensichtlich aufgeweckt durch Remus‘ Bewegungen. Remus beobachtete, wie die Haut um Sirius‘ Augen feine Fältchen warf, kurz bevor er sie öffnen würde. Wie die Wimpern zuckten und sich scharf von der blassen Haut abhoben. Wie die Augenbrauen sich in die Höhe zogen, als Sirius gähnte. Er wollte sich alles einprägen. Es fühlte sich an, als habe er einen sechsten Sinn, der auf alles ausgerichtet war, was mit Sirius zu tun hatte. Remus stieg die Hitze ins Gesicht und er fragte sich, ob wohl schon kleine Rauchwölkchen über seinem Kopf aufstiegen. Als Sirius schließlich die Augen öffnete, sah Remus schnell weg.

„Morgen“, sagte Sirius mit belegter Stimme.

„Morgen“, kiekste Remus.

„Wie spät ist es?“ Sirius setzte sich auf, indem er seinen Nacken streckte und die Schultern rollte.

„Weiß nicht.“ Remus tat es ihm nach und wie erwartet spürte er, dass sein ganzer Rücken verspannt war. Vermutlich hatte er sich die ganze Nacht über nicht auch nur einen Zoll bewegt, um Sirius bloß nicht zu viel Platz wegzunehmen und zu riskieren, dass der in sein eigenes Bett zurückkroch. Dass er ihn allein ließ.

„Sowieso egal.“

„Ja.“

Ihre Unterhaltung krachte mit Vollgas gegen eine Wand und Remus wusste nicht, was er tun sollte, um das zu ändern. Natürlich gab es hunderttausend Dinge, die er sagen wollte, wissen wollte, fragen wollte. Aber es fühlte sich alles zu frisch, zu roh an, um diese ganzen Gedanken laut auszusprechen.

Sirius zögerte offensichtlich auch und es war gleichzeitig lustig und beunruhigend, ihn so sprachlos zu erleben. Das passte nicht zu ihm. In Remus stritten sich die Gefühle: War das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen?

Sie saßen Schulter an Schulter und starrten in den leeren Schlafsaal hinein. Remus zeigte ein gespieltes Gähnen, nur um etwas zu tun zu haben. Auch wenn er sich insgeheim wünschte, dass Sirius nach seinem Blick suchte, mied er ihn.

„Hast du… Hunger?“, fragte Sirius schließlich. Remus wandte sich ihm zu und sagte:

„Ich weiß nicht so genau, ehrlich gesagt… Du?“

„Auch nicht. Aber Durst habe ich. Mein Mund ist komplett trocken.“

„Ich auch, vom – “

Sie sahen sich in die Augen und im nächsten Moment prusteten beide los.

Immer noch kichernd stand Remus auf und holte die silberne Karaffe vom Fensterbrett, die von den Hauselfen von Hogwarts jeden Tag mit frischem Wasser gefüllt wurde. Bleib bloß sitzen, dachte er, Sirius, bleib sitzen!

Sirius bewegte sich nicht weg, sondern folgte Remus nur mit aufmerksamen Augen, und als der wieder neben ihm Platz genommen hatte, tranken sie abwechselnd so begierig, dass sie den Krug komplett leerten.

Dann sahen sie sich wieder an und prusteten erneut los. Sie lachten so heftig, dass Sirius die Karaffe zu Boden fallen ließ, die mit einem lauten Klonk auftraf, was die beiden noch mehr zum Gackern brachte. Remus traten die Tränen in die Augen, sein Brauch bekam Muskelkater. Doch jedes Mal, wenn einer von ihnen japsend, stotternd Luft holte, begannen der andere von Neuem zu kichern.

Letztlich ließ Remus atemlos seine Stirn gegen die Sirius‘ fallen. Er fühlte sich erleichtert und ein wenig schwindelig. Sirius griff zwischen ihnen Remus‘ Hände und dann lehnten sie sich wie abgesprochen ineinander und küssten sich wieder.

Remus spürte Sirius‘ Bartstoppeln an den Wangen, spürte seine glatten Lippen an seinen, atmete den Duft seiner langen schwarzen Haare ein. Es fühlte sich so echt an, so wirklich, und gleichzeitig, als hätte es nur jemand mit einem Aufmunterungszauber übertrieben. Sein Kopf war gefüllt mit Luft, aber sein Herz war voll und groß und warm.

Als sie sich das nächste Mal voneinander lösten, wusste Remus nicht, wie viel Zeit vergangen war, aber ihm tanzten kleine Funken vor den Augen und er musste ein paar Mal tief Luft holen, bis sie verschwunden waren. Die beiden strahlten einander an. Der Bann der Unsicherheit war gebrochen.

„Ich glaube“, sagte Sirius und rollte sich neben Remus auf den Rücken, die Finger fest mit denen des anderen verschränkt, „jetzt hab‘ ich doch Hunger.“

„Ich auch“, gestand Remus und fügte in Gedanken hinzu: Aber ich will nicht aufstehen.

„Wir könnten…“, setzte Sirius mit verschwörerischem Ton an.

„…was aus der Küche klauen…“

„Sollte kein Problem sein.“

„Geht ganz schnell.“

„Tut gar nicht weh.“

Die beiden stiegen endlich aus dem Bett und tauschten ihre Schlafanzüge gegen Alltagskleidung. Remus bemühte sich, dabei keinen Blick auf Sirius zu werfen, sondern starrte stattdessen auf das zerwühlte Bettzeug. Wirklich, es war wirklich. Kein Traum.

Als sie Schulter and Schulter durch die Korridore liefen, begegneten sie Sir Nick, dem Geist des Hauses Gryffindor.

„Guten Nachmittag, meine Herren.“

„Guten Tag, Sir Nicholas“, gab Remus zurück und lächelte ihn an. Vermutlich hätte ihm auch ein Troll über den Weg laufen können und er hätte ihn bloß freundlich gegrüßt.

„Genießt ihr die Ferien?“

„Öhm“, sagte Sirius und sein Fehler war, dass er Remus einen Blick zuwarf. „Ja!“ Beide brachen wieder in unkontrolliertes Gegacker aus.

„Ihr stellt doch nichts Verbotenes an, Jungs?“

„Wir?“, rief Sirius empört aus. „Niemals, wo denken Sie hin! Er ist Vertrauensschüler!“

„Und er ist ein dummer Hund“, erklärte Remus mit breitem Grinsen. Alles war lustig.

„Okay, ich sehe schon… Ich frage besser nicht weiter nach…“, sagte Sir Nick langsam und musterte die beiden mit einem Blick, der sie eindeutig für verrückt erklärte.

Die beiden setzten ihren Weg nach unten in die Kerker fort. Auf der schmalen verborgenen Treppe hinter dem Wandbehang mussten sie hintereinander gehen und Remus konnte darauf schwören, dass Sirius sich noch nie so nah hinter ihm gehalten hatte. Sie übersprangen die Trickstufe im Boden, die einen direkt versinken ließ, wenn man sie betrat, und Remus war sich sicher, dass er beinah Sirius‘ Atem im Nacken spüren konnte. Auf eine völlig verrückte Art und Weise gefiel es ihm. Das solle ihm mal jemand rational erklären…

„Nach dir“, sagte Sirius und deutete mit einer seiner spöttischen Verbeugungen auf das Gemälde der Obstschale, als sie im Keller den richtigen Ort erreicht hatten.

Remus kitzelte die Birne und unter einem ähnlichen Kichern, wie es eben noch aus seinem Mund gekommen war, verwandelte sie sich in den Türknauf. Er drehte ihn und drückte das Bild auf, das in seinen Bilderrahmen hineinklappte und den Weg in die Küchen eröffnete.

Eine Armada von kleinen Hauselfen in Hogwarts-Geschirrtüchern empfing sie.

„Guten Nachmittag, Sirs!“

„Guten Tag“, strahlte Remus und wirkte ihnen allen.

„Hättet ihr etwas zu essen für uns? Wir haben das Mittagessen leider ver-ähm-passt.“

„Was wünschen die Herren?“, piepste eine Hauselfe mit großen türkisblauen Augen.

„Vielleicht ein paar Sandwiches…?“, schlug Remus vor und Sirius nickte begeistert. „Mit Truthahn und Ei?“

„Kommt sofort, Sirs!“

Die Hauselfen stoben auseinander und verschwanden hinter großen Messingtöpfen und Arbeitsflächen. Quasi im nächsten Moment schwebte bereits ein silbernes Tablett mit Sandwiches, Crackern und süßen Eclairs auf sie zu, die die Hauselfen allesamt in hübsch verziertes Butterbrotpapier verpackt hatten. Als Remus den Kopf schief legte, sah er, dass ein einziger Hauself das Tablett über dem Kopf trug.

„Dankeschön!“, sagte er und griff mit beiden Händen zu.

„Habt nicht so viel zu tun im Moment, oder? Jetzt, wo praktisch kein Mensch im Schloss ist?“

„Oh nein, Sir“, murmelte ein Hauself vor Sirius ehrfürchtig. „Wir kümmern uns, dass alles hübsch sauber ist, wenn die Schüler zurückkehren, und die Lehrer sind da! Wir übernehmen in den Ferien zusätzliche Aufgaben, die anfallen. Professor Slughorn hat uns zum Beispiel gebeten, alle Papiere in seinem Büro zu ordnen – “

„–sieht ihm ähnlich“, säuerte Sirius.

„– und wir würden uns niemals auf die faule Haut legen!“

„Verstehe“, sagte Sirius trocken und nahm die restlichen Sandwiches entgegen. „Danke jedenfalls.“

„Verratet ihr uns, was es fürs Abendessen gibt?“, wollte Remus wissen.

„Was würde der Herr denn gerne essen?“, war sofort eine Hauselfe zur Stelle.

„Ähm… Ich hätte Lust auf Brathähnchen, glaub ich…“, sagte Remus lahm. Er hatte nur höfliche Konversation machen wollen, während Sirius sich die letzten Häppchen in die Umhangtaschen stopfte.

„Sehr gerne, Sir, sehr gerne.“

„Na dann… Danke.“

Sirius und Remus stapften aus dem Gemälde, während die Hauselfen sie wortreich verabschiedeten.

„Ich denk’s jedes Mal: Drollige Kerlchen sind das.“ Remus steckte sich ein Sandwich in den Mund und sie machten sich auf den Weg durch die Kerker.

„Jaa… wenn sie wollen. Unser alter Hauself zuhause ist von einem ganz anderen Schlag.“ Sirius machte ein düsteres Gesicht. „Er hat Regulus und mich praktisch aufgezogen. Kinder zu betüddeln, war natürlich nicht ganz die Art Arbeit, die meine Eltern sich vorgestellt hatten, als sie welche in die Welt gesetzt haben. Aber Kreacher, der Hauself, war auch nicht gerade der fürsorgliche Typ.“

Remus sagte nichts, drückte aber kurz Sirius‘ Hand. Auch wenn er ihm das Leid nicht abnehmen konnte, das hatte Remus inzwischen verstanden, konnte er es zumindest mit ihm teilen. Und Remus genoss es, dass Sirius sich ihm gegenüber öffnete.

„Er ist genauso widerlich wie die ganze restliche Bande. Glaubt, die Blacks wären sowas wie die idealen Zauberer. Der würde meiner Mutter die Furunkel aussaugen, wenn er nur dürfte! Hat uns immer Beine gemacht, wenn wir nicht gespurt haben. Hat von uns immer genau die gleichen Widerlichkeiten erwartet wie meine Eltern. Dabei verachten sie ihn und das weiß er auch. Muss er wohl richtig so finden.“ Sirius schüttelte den Kopf und Remus drückte seine Schulter an die des anderen, während der sich weiter in Rage redete: „Seine ganzen Vorfahren haben auch schon für meine Familie geschuftet. Wurden immer wie Dreck unter den Fingernägeln behandelt, wie richtige Sklaven. Und am Ende, wenn sie alt wurden, hat mein Onkel Cygnus jedem einzelnen von ihnen den Kopf abgehackt und an die Wand gehängt. Bei der letzten Hinrichtung mussten wir zusehen, da war ich neun.“

Remus sog zischend die Luft ein. „D-das ist ja grauenvoll!“

„Ja, oder? Aber meine Mutter hält es für geschmackvolle Inneneinrichtung…“

Das war nicht ganz, was Remus mit seinem Ausruf gemeint hatte, aber auch da hatte Sirius Recht. Einen Moment später blieb Sirius mitten im Kerkerkorridor stehen. „Ich wüsste zu gern, wie es jetzt da drinnen aussieht… Hoffentlich haben sie alles verbrannt.“ Mit dem Kopf deutete er auf eine bloße Steinwand.

„Ist das – ?“

„Der Gemeinschaftsraum? Ja.“ Er grinste schief. „Meine wahre Bestimmung, wenn’s nach Kreacher geht.“

„Hör doch auf. Du hast nichts gemein mit diesen Leuten.“

„Diesen Leuten?“, wiederholte Sirius und ein verzweifelter Unterton schlich sich in seine Stimme. „Diese Leute und ich teilen dasselbe Blut, Moony. Genau dasselbe.“

Ein plötzlicher Zorn erfasste Remus. Er packte Sirius fest am Arm und schleifte ihn weiter, die Treppe zur Eingangshalle hoch.

„Und seit wann sind wir der Meinung, dass Blut irgendetwas zählt?! Schau mich mal an! Ich bin nicht mal mehr ganz Mensch! Denkst du, mein Blut bestimmt, wer ich bin?“

„Nein, das ist doch was anderes…“

„Und warum?“ Sie hatten die Eingangshalle hinter sich gelassen und waren inzwischen im ersten Stock angekommen. „Ich weiß, die haben dich, seit du klein warst, terroristiert. Und dich bis oben hin vollgestopft mit diesem kranken Wahnsinn über wertvolles und wertloses Blut und Ehre und Würde und – und … Und ich weiß, dass sich das so leicht sagen lässt, aber du weißt es doch selbst: Die Meinung von solchen Leuten sollte dir verdammt noch mal egal sein! Du bist nicht ohne Grund nach Gryffindor gekommen. Du hast nichts mit diesem irren Zeug zu tun! Der sprechende Hut weiß das, James weiß das und Peter und ich auch!“ Etwas leiser fuhr Remus fort: „Und… ich weiß, du vermisst deine Mum.“ Remus‘ Stimme brach, aber trotzdem hallte der Satz an den leeren Korridorwänden wider. „Eine richtige Mum, die für dich da ist und dich liebt. Und ich weiß, ich bin dafür kein Ersatz, aber…“ Er zuckte hilflos mit den Schultern. Die Worte hingen in der Luft wie sanftes Parfüm.

Sirius starrte Remus an, als habe er eine Erscheinung gesehen. Und je länger die Pause zwischen ihnen wurde, desto mehr stieg Remus‘ Angst, dass er zu weit gegangen war.

„Ich hatte ganz vergessen, dass du sie kennengelernt hast“, murmelte Sirius schließlich. „Den Irrwicht, meine ich.“

„Ja“, sagte Remus tonlos. Dass Sirius die Stille gebrochen hatte, machte es einfacher. Sie fielen wieder in einen zügigen Schritt.

„Du hast nie was dazu gesagt.“

„Ich dachte, du würdest schon reden, wenn du so weit bist. Du hast früher nie über deine Familie geredet.“

„Naja.“ Sirius stieß die Luft aus. „Ist jetzt auch nicht gerade eine Familie zum Angeben, oder?“

„Welche ist das schon…“, gab Remus zurück. „Meine schämt sich auch für mich.“

„Tut sie nicht. Denk doch mal an deine Geburtstagskarte!“, rief Sirius erschüttert.

„Ja, das meine ich nicht. Sie lieben mich, klar.“ Im nächsten Moment bereute Remus seine Worte ein wenig, denn Sirius neben ihm war nun einmal das beste Beispiel, dass das gar nicht so klar war. „Aber trotzdem haben sie… mir immer eingeredet, wie schlecht ich bin. Manchmal mit Worten, manchmal mit Taten, aber meistens damit, was sie nicht getan haben. Sie haben nicht für mich gekämpft, wenn man mal davon absieht, dass sie mich nicht haben sterben lassen, nachdem der Werwolf mich gebissen hat. Aber als zum Beispiel Dumbledore vor fünf Jahren zu uns gekommen ist, musste er sie praktisch überreden, mich zur Schule gehen zu lassen. Anstatt sich zu freuen, haben sie ihn abwimmeln wollen. Ich hab‘ an der Tür gelauscht.“

Sirius sagte nichts und für einen Moment war alles, was sie hören konnten, das Echo ihrer Schritte.

„Das wusste ich nicht.“

„Naja“, sagte Remus traurig lächelnd, „ist auch nicht gerade eine Geschichte zum Angeben, oder?“

„Du bist so blöd“, stöhnte Sirius und schlug Remus mit der flachen Hand an den Hinterkopf.

Sie schubsten und rempelten sich den gesamten restlichen Weg zum Gemeinschaftsraum und noch bevor das Portrait der fetten Dame hinter ihnen ganz zugeklappt war, küssten sie sich wieder.

Neue Wege - April 1976 (4/5)

Alle paar Stufen durchschritten sie die kleinen erleuchteten Rechtecke am Boden, die das Mondlicht auf die Treppe warf. Sie hatten noch zwei letzte Osterferientage, doch als Remus aus dem Fenster sah und die Wolken, die im Mondlicht silbern zu leuchten schienen, musterte, erkannte er: „Morgen Nacht ist Vollmond.“

Noch nie war er vom Rhythmus der Monate so abgelenkt gewesen wie in diesen Ferien. Doch jetzt, da der Mond schon beinahe rund und voll am Himmel stand, konnte er ihn nicht mehr ignorieren.

Die beiden stiegen gerade vom Astronomieturm herab, den sie die letzte Stunde über kartiert hatten: Aktuell waren Remus und Sirius dabei, die abgelegensten Winkel des Schlosses zu suchen und abzulaufen, um auch die Ecken der Karte zu erschließen. Dennoch hatten sich ihre Fortschritte in den letzten Tagen merklich verlangsamt, seit sie sich auch anderweitig beschäftigen konnten.

„Alles wie immer geplant mit Madam Pomfrey?“, fragte Sirius.

„Ja, ich wüsste nicht, weshalb nicht. Sie war bisher auch in allen Ferien da…“

„Macht die eigentlich nie Urlaub?“

„Keine Ahnung. Aber stell dir mal sie und Filch auf Hawaii vor, oder so.“

„Er mit einer Badehose aus Katzenfell und sie immer noch mit ihrem Haarnetz. Nein, Argus, nicht spritzen, meine Frisur!

Remus kicherte und blieb am Fuß der Wendeltreppe stehen. Er lauschte an der Tür und als er draußen keine Schritte hören konnte, öffnete er sie.

Mrs. Norris starrte ihn mit ihren großen Lampenaugen an.

„Verflucht!“, zischte Remus und wollte die Tür schon wieder zuschlagen.

„Nicht wieder hoch, es gibt nur diese Treppe!“, raunte Sirius und gab Remus einen Schubs.

Die Katze wollte sich in Remus‘ Hosenbein krallen, als er an ihr vorbei zu treten suchte, aber Sirius gab ein lautes, hündisches Bellen von sich und sie zog sich fauchend wieder zurück.

Die beiden schlüpften an Mrs. Norris vorbei und nahmen die Beine in die Hand.

„Gibt es hier einen Geheimgang?“, keuchte Remus im Rennen.

Er war mit diesem Flügel des Schlosses nahezu unvertraut. Professor Dumbledore hatte ihn von Anfang an von Astronomie befreien lassen. Ein sich verwandelnder Werwolf zählte vermutlich als Unterrichtsstörung, wenn die Schüler doch eigentlich die Position des Vollmonds nachzeichnen sollten.

„Ähm — ja, tatsächlich! Hier rein!“ Sirius keuchte, aber hielt seine Geschwindigkeit bei, als er durch eine unscheinbare Tür am Ende des Korridors krachte. Dahinter lag ein kleiner Raum. Remus sah nur ein großes Fernrohr, das aus dem Fenster gerichtet war, und einen staubigen Schreibtisch, als Sirius bereits vor einer Falltür zum Halten kam. Er machte ein unglückliches Gesicht, murmelte etwas und die Klappe öffnete sich. Daraus erhob sich eine metallene Stange bis unter die Decke, genau in der Mitte des mannsgroßen Loches im Boden. Dort unten gab es nur Dunkelheit.

Remus schaute Sirius entsetzt an, aber der umfasste die Metallstange bereits mit beiden Händen und ließ sich daran hinunterrutschen. Ohne zu fragen, tat Remus es ihm gleich. Das Rutschen schien kein Ende zu nehmen. Er fiel und fiel und beinahe hatte Remus das Gefühl, seine Finger würden in Flammen aufgehen, als er endlich mit den Füßen auf harten Stein aufschlug.

„Wo sind—“, wollte Remus gerade wissen, aber Sirius bedeutete ihm, still zu sein. Diesmal lauschte er an einer Tür. Sie waren in einem ähnlich kleinen Raum gelandet, der Remus an Slughorns Klassenzimmer erinnerte: In der Ecke stand ein Schreibtisch, dahinter Regale mit leeren und gefüllten Glasgefäßen und Tiegeln, kleinen Kesseln und Kisten, und vor allem gab es eine erloschene Feuerstelle, über der ein mächtiger Kessel hing.

„Raus hier“, sagte Sirius und sie schlüpften durch die Tür. Remus erkannte sofort, dass sie in den Kerkern gelandet waren. Von hier aus wusste er den Weg nach oben und sie beeilten sich, zurück in den Gemeinschaftsraum zu kommen.

Als sie dort ankamen, warfen sie sich mit klopfenden Herzen aufs Sofa. Nachdem sie etwas Luft geholt hatten, grinsten sie sich an. Sirius legte einen Arm um Remus‘ Schultern und der drückte seinen Kopf an dessen Brust. Es gab doch nichts Besseres als eine erfolgreiche Flucht.

„Was hast du zu der Falltür gesagt?“, fragte Remus nach einiger Zeit.

Sirius murmelte etwas, aber er verstand ihn nicht.

„Was?“

Toujour pur.

„Das Leitmotto der Blacks?“

Sirius machte ein vielsagendes Gesicht, das Remus erst dann sah, als er sich den Hals verrenkte.

„Wieso kennt das Schloss den Leitspruch der Blacks?“

Sirius setzte sich gerade hin. Jemand – sicherlich die Hauselfen – hatte ein neues Feuer im Kamin entfacht. Er starrte in die Flammen, dann riss er sich zusammen und erzählte Remus die Geschichte, ohne wegzusehen.

„Dieses Zimmer da oben und der Braukeller unten – die hat mein Ur-Ur-Großvater bauen lassen, als er hier Schulleiter war. Er war ein nutzloser Typ, ein schlechter Zauberer auch, und nur an sich selbst interessiert. Hat nie was für die Schule getan. Aber hat sich für Zaubertränke interessiert. Und nachdem mal in seinem eigentlichen Büro ein Kessel hochgegangen ist, hat er sich im Kerker ein Privatzimmer eingerichtet, damit ihn keiner mehr bei seinen sinnlosen Experimenten erwischt. Und weil für manche Tränke die Planeten in genau der richtigen Konstellation stehen müssen, brauchte er eine Möglichkeit, den Himmel zu sehen. Deswegen auch die Rutsche, damit er Zutaten reinpanschen konnte, wenn die Planeten genau richtig standen. Ich glaube nicht, dass er jemals was zustande gebracht hat, aber… naja. Darum jedenfalls die Falltür. Sie öffnet sich nur für –“

„Blacks.“

„Jap.“

„Mit euch wird’s auch nie langweilig, oder?“, schmunzelte Remus.

Sirius deutete eine Ohrfeige an, doch Remus zuckte nicht mal.

Dann sagte er plötzlich lachend: „Du hast die Katze angebellt.“

„Hab‘ ich das?“

„Das merkst du nicht mal mehr?“

„Lass mal die Karte sehen.“

Remus zog das Stück Pergament aus der Tasche und breitete es auf dem Tisch vor ihnen aus. Es zeigte das Erdgeschoss, und als Remus eine Falte in die obere rechte Ecke machte, verschwanden die Linien, als würden sie in das Papier gesogen. Im nächsten Moment erschienen neue, die die den Grundriss des ersten Stockes abbildeten. Er knickte das Eselsohr ein weiteres Mal und der zweite Stock erschien.

„Funktioniert wirklich gut“, sagte Sirius und in seiner Anerkennung schwang eine Spur Überraschung mit.

„Freut mich sehr, dass es zu deiner Zufriedenheit ist“, gab Remus trocken zurück.

„Können wir nicht einfach die bei den ZAGs einreichen? Direkt ein Ohnegleichen überall, außer vielleicht in Zaubertränke. Dafür müssten wir noch was drüberschütten.“

„Zum Beispiel eine Verschlüsselung“, sagte Remus. „Darüber sollten wir uns wirklich mal Gedanken machen. Stell dir vor, Filch hätte sie eben in die Finger gekriegt.“

„Urgh. Ja.“ Sirius griff sich in den Nacken und massierte seine Schultern. „Vielleicht hat James eine Idee.“

„Erzählen wir’s ihnen?“

„Klar – oder nicht?“

„Doch, wollte ich.“

„Okay, gut.“ Sirius schien erleichtert und so fühlte auch Remus sich. Er genoss es zwar, dass es Dinge gab, die nur Sirius und er für sich behielten, aber die Karte war zu gut, zu genial und zu ausbaufähig, um sie den anderen vorzuenthalten. Und Remus hätte ihnen auch sein Leben anvertraut.

„Was machen wir morgen?“, fragte Remus plötzlich.

„Was meinst du?“

„Wegen Vollmond.“

„Na, du gehst runter, zeigst dein putziges flauschiges Selbst und dann komm ich runter und besuche dich. So wie immer.“ Sirius schien die Frage nicht zu verstehen.

„Meinst du, allein ist das eine gute Idee?“

Sirius schien verwundert und als er sprach, hörte Remus eine Spur Verletztheit: „Willst du nicht?“

„Doch natürlich! Ich… ich meine nur, ohne Krone… bin ich vielleicht gefährlich für dich.“

„Quatsch. Das kriegen wir schon hin.“

„Okay.“ Es tat gut, dass Sirius so unerschütterlich zu ihm stand, aber gleichzeitig hatte Remus den Eindruck, dass er das ganze Thema vielleicht ein wenig zu leichtsinnig betrachtete.

„Hör auf, dir Sorgen zu machen, Moony. Damit ist es vorbei.“ Sirius rüttelte an seinem Arm und zog ihn dann an sich. Sirius küsste ihn an die Schläfe und Remus schloss die Augen.

„Na gut. Aber wir sind vorsichtig.“

„Vorsicht ist mein zweiter Vorname.“

Neue Wege - April 1976 (5/5)

Als Madam Pomfrey Remus (nach einer langgezogenen Verabschiedung von Sirius) im Krankenflügel begrüßte, fühlte sich wieder alles wie immer an. Sie machte ihm einen Tee, sie plauderten ein wenig über die Ferien und die anstehenden ZAGs. Bei der Erinnerung an die Prüfungen sank Remus langsam das Herz in die Hose, doch dann war es auch schon Zeit, hinab über die Ländereien zur Peitschenden Weide zu gehen. Früher hatte dieser Weg sich jedes Mal angefühlt, als liefe er zum Schafott, doch inzwischen hatte Remus nicht nur Routine, sondern auch etwas, auf das er sich freuen konnte.

„Sie haben so gute Laune heute“, lächelte Madam Pomfrey, als sie den Baum beinahe erreicht hatten und sie den Zauberstab zückte, um ihn erstarren zu lassen. „Das freut mich für Sie. Sie verdienen das, wissen Sie.“

Er lächelte sie dankbar an, auch wenn sie mit Sicherheit überhaupt keine Ahnung hatte, wovon sie redete.

„Passen Sie auf sich auf!“

„Mach ich doch immer!“

Remus stieg zwischen den Wurzeln hinab und fragte sich mal wieder, ob es nicht auch eine andere Lösung hätte geben können. Er verstand schon, dass er sich fernab von anderen Schülern verwandeln musste, aber musste es ausgerechnet ein dreckiges, staubiges Erdloch sein?

Eiligen Schrittes lief er durch den leicht ansteigenden Gang. Zwar wusste Remus, dass er noch kein einziges Mal zu spät in den Tunnel getreten war, doch die Angst, sich womöglich in der Zeit verschätzt zu haben, machte ihm jedes Mal Beine. Inzwischen hatte der Frühling so stark Einzug gehalten, dass er unter seinem Umhang schwitzte.

Die Heulende Hütte sah aus, wie sie sie das letzte Mal zurückgelassen hatten. Es war still, staubig und unheimlich. Ob sich die Bewohner von Hogsmeade inzwischen fragten, warum die vermeintlich raufwütigen Geister immer nur zu Vollmond auftraten? So viel an diesem Plan erschien ihm inzwischen unausgegoren und er wusste nicht, ob es daran lag, dass er zynischer wurde oder einfach nur erwachsener.

Remus schaute sich im Schlafzimmer der Hütte um. Weil dies der Ort war, an dem er sich zumeist verwandelte, sah es hier am schlimmsten aus. Scham überkam ihn – warum konnte er nicht lernen, sich zu konzentrieren? Wie konnte es sein, dass über Jahrhunderte noch immer kein Zauberer auf eine Heilung für Lykanthropie gestoßen war?

Als Vollmond nicht mehr weit war, legte Remus seine Kleidung ab und setzte sich fröstelnd auf den Rest des zerstörten Himmelbettes. Und dann wartete er auf das vertraute Knacken, wenn sein Brustkorb begann, sich zu weiten, und schließlich seine Knochen brachen, bevor sie sich in neuer Form und neuer Größe anordneten. Das Knirschen seiner zusätzlichen Fangzähne, die sich plötzlich durch sein Zahnfleisch bohrten. Er schrie markerschütternd, als es passierte.

Als der Werwolf zu sich kam, war das Erste, was er spürte, der Hunger. Es fühlte sich an, als habe er einen Monat lang nichts gegessen und anstatt davon erschöpft und schwach zu werden, wurde er halb wahnsinnig und rachsüchtig. Seine Krallen schabten über den Holzboden, als er aufstand und den wuchtigen Kopf drehte, um seine Umgebung zu mustern. In diesem Gefängnis gab es nichts zu zerreißen, zu töten.

Seine spitzen Ohren zuckten. Das scharfe Gehör des Werwolfs nahm im unteren Stock dieses Verlieses eine Bewegung wahr. Aus gelben Augen starrte er den Türrahmen an und bleckte die fingerlangen Fangzähne. Seine Nackenhaare waren aufgestellt, doch er unterdrückte ein Knurren, um seine Beute nicht vorzuwarnen. Der Werwolf machte sich bereit zum Sprung, bereit, was auch immer in der Tür erschien, anzugreifen. Bereit, zu töten.

Die Schnauze eines anderen Werwolfs schob sich seitlich in den Türrahmen. Er stockte. Dann erschien auch der Rest des massigen Körpers, schwarz, struppig und mit großen Ohren und Tatzen. Nein, es war kein Wolf, es war ein Hund, ein mickriger Hund. Doch ein Hund mit weit aufgerissenen, im Halbdunkel beinahe farblosen Augen.

Der Hund fiepte leise und die Ohren des Werwolfs zuckten wieder. Seine Lefzen senkten sich und anstatt einer angriffslustigen Haltung, legte er aufmerksam den Kopf schief. Dies veranlasste den Hund dazu, mit klackernden Tatzen in den Raum zu treten. Er musterte den Werwolf mit unverhohlener Vorsicht.

Sie starrten sich an, bis der Hund wieder fiepte und dann ein leises, entrüstetes Kläffen ausstieß.

Und der Werwolf fühlte sich, als erinnerte er sich an etwas, das sehr lang zurücklag, das sehr weit unten im See seiner Gedanken verborgen war. Es war wie ein Geruch, den er kannte, aber von dem er nicht sagen konnte, was es war… Er setzte sich auf die Hinterläufe und der Hund kam näher. Nase an Nase standen sie da im Mondlicht, dass durch die Spalten in den brettervernagelten Fenstern hindurchleuchtete. Der Werwolf konnte seinen heißen Atem auf der Schnauze spüren und wieder regte sich etwas in ihm. Der See seiner Erinnerung war inzwischen aufgewühlt, doch noch war nichts an die Oberfläche getreten.

Als der schwarze Hund seine Schnauze schließlich gegen die des Werwolfs schmiegte, schloss er die Augen und lehnte sich in die Berührung. Nur einen Moment später legten die beiden sich auf den staubigen Boden und der Werwolf platzierte voll von ungekannter Erleichterung seine Schnauze auf dem Rücken des Hundes. Der Hund zuckte nicht einmal. Er schien entschieden zu haben, dem Werwolf zu vertrauen.

Remus wusste nicht, wie lange so sie dagelegen hatten, doch je mehr Zeit verging, desto klarer war sein Kopf geworden. Es fühlte sich völlig verrückt an: Diese massigen Muskeln, diese langen Beine mit den scharfen Krallen und dann erst diese Rute…

Er hob den Kopf und Sirius tat es ihm gleich. Erst jetzt stellte Remus wirklich fest, wie schön Sirius‘ Animagusform eigentlich war. Sicher, er war geradezu bärenhaft für einen Hund und sein Fell war struppig, doch er hatte einen athletischen Körper, die gleichen blitzenden Augen wie auch als Mensch und er strotzte nur so vor Energie.

Sirius bellte und eine plötzliche Woge von Aggression überkam Remus. Was fiel diesem erbärmlichen Köter ein?!

Mit purer Willenskraft kämpfte Remus die Angriffslust des Werwolfs nieder, dann öffnete er hechelnd das Maul, was für Sirius wie ein Grinsen aussehen musste. Sirius bellte wieder, diesmal auffordernd. Mit einer Eleganz, als wäre er in diesem Körper geboren, stand er auf und warf sich mit den Vorderläufen auf den Boden. Instinktiv wusste Remus, was das bedeuten sollte – es war eine Aufforderung.

Zwar vermisste Remus es, sprechen zu können, doch diese Nähe, diese Klarheit des Verstandes, das war eine Wohltat. Es fühlte sich an, als wäre ein eiternder Splitter aus ihm herausgeglitten und er begann, zu heilen. Mit jeder Sekunde wurde es besser.

Remus schüttelte den großen Kopf, aber Sirius ließ nicht locker. Vorsichtig, doch bestimmt schnappte er Remus‘ Ohren mit den Zähnen und zog daran, bis Remus in einen langsamen Trott verfiel. Sirius schleifte ihn zur Tür, durch den Flur mit dem kleinen Schrank und zum Treppenabsatz.

Perplex riss Remus sich los und grub die Füße in den Boden, sodass tiefe Krallenspuren im Holz zurückbleiben.

Sirius nickte auffordernd, doch Remus schüttelte entschieden den Kopf. War der verrückt geworden?

Sirius rollte dramatisch die silbern glänzenden Augen, trat jedoch von der Treppe zurück und machte Anstalten, zurück in das Zimmer zu gehen. Gerade, als auch Remus versuchte, seinen riesigen Körper im engen Flur umzudrehen, rammte Sirius ihn von hinten und polternd stürzten sie beide die Stufen hinunter bis zum Tunneleingang. Remus lag mit dem Gesicht im Dreck und Sirius sprang bellend auf.

Mit geschmeidigen Schritten lief er voraus in den unterirdischen Gang und blieb nach fünf, sechs Schritten stehen, den Blick über die Schulter gewandt. Kommst du?

Remus‘ Herz hämmerte. Das konnten sie doch nicht machen! Da draußen waren Schüler, da draußen… Da draußen waren gar keine Schüler. Es waren Ferien. Die Einzigen, die im Schloss zurückgeblieben waren, waren die Lehrer und diese zwei verwirrten Hufflepuff-Zwillinge, die er beim Frühstück gesehen hatte. Und die lagen mit Sicherheit allesamt in ihren Betten, immerhin war es mitten in der Nacht. Und dann stand hier Sirius, der mit ihm alleine draußen sein und die Sterne ansehen wollte. Und außerdem, stellte Remus verblüfft fest, hatte er keine Sekunde mehr an seinem Verstand gezweifelt. Er war vollkommen bei Bewusstsein – so würde er niemals jemandem gefährlich werden.

Er trottete los, ein kribbelndes Hochgefühl in der Brust. Er war normal! Er war praktisch ein Animagus! Genauso wie seine drei Freunde. Er konnte denken und fühlen und sich ausdrücken und kein Hunger, kein Blutdurst trieb ihn dazu, sich nach Fleisch zu verzehren.

Als Remus zu Sirius aufgeschlossen hatte, leckte der ihm über das Gesicht. Sein Herz machte einen Hüpfer und beinahe hätte Remus auch noch mit der Rute gewedelt. Ein verliebter Werwolf, wo gab’s denn sowas…

Kurz bevor sie das Ende des Tunnels erreicht hatten, schluckte er. War das wirklich eine gute Idee? Was, wenn Madam Pomfrey schon auf ihn wartete? Doch Remus wusste, dass das Unsinn war. Peter, Sirius und James hatten schon vor Monaten ausgekundschaftet, in welchem Zeitraum die Peitschende Weide unbeaufsichtigt war.

Nebeneinander passten sie nicht durch den Tunnelausgang, sodass Sirius Remus den Vortritt nach draußen ließ. Mit langsamen Schritten ging er vor. Remus roch das Gras und den Wald und den Tau auf den Pflanzen. Er hörte, wie die Peitschende Weide friedlich im Wind rauschte und sogar eine zirpende Grille am Fuß ihres Stammes duldete. Die milde Luft roch magisch. Remus sog sie tief in die blasebalggroßen Lungen und mit einem Mal wurde ihm bewusst, dass er mit diesen übermenschlichen Sinnen noch nie draußen gewesen war. Über zehn Jahre lang hatte er jeden einzelnen Vollmond in einem Gefängnis verbracht. Das Gefühl der Freiheit war mit einem Mal berauschend.

Sirius trat hinter ihm aus dem Gang und blieb an seiner Seite stehen. Mit dem Kopf deutete er gen Himmel, wo eine gleißend weiße Scheibe prangte. Ein Schauer überkam Remus bei dem Anblick – es gab nichts, was er mehr verabscheute, mehr fürchtete – und doch sah er nun, warum es Menschen gab, die den Vollmond so liebten. Auch wenn es für ihn bisher undenkbar gewesen war, spürte er nun eine Art Trost, die vom Mond, der einzigen Lichtquelle in der Dunkelheit, ausging. Er seufzte leise und setzte sich an den Stamm der Peitschenden Weide. Sirius tat es ihm gleich und drängte ihn nicht, irgendeine Initiative zu ergreifen.

Eine tiefe Zufriedenheit ergriff Remus und so starrten sie nur hinauf, Schulter an Schulter, die warmen Körper aneinandergeschmiegt, und lauschten der Nacht.

Privileg und Pflicht - Mai 1976 (1/6)

„Tatze, spuck’s aus.“

Sirius versteckte sein Gesicht hinter Dementoren dominieren: Eine wahre Geschichte von Askaban und auch Remus versuchte, höchst beschäftigt auszusehen.

Die vier saßen an ihrem üblichen Tisch in der Ecke der Bibliothek (eigentlich war es Remus‘ Tisch gewesen) und bereiteten sich auf die ZAGs vor. Remus war sich nicht sicher, wie intensiv die anderen wirklich arbeiteten, aber er für seinen Teil hatte nicht vor, in Muggelkunde durchzurasseln. Er wollte, er musste seinen Eltern und Dumbledore beweisen, dass es sich gelohnt hatte, ihn zur Schule zu schicken.

„Sirius, Mensch!“ James stieß ihn an.

„Was ist denn los?“, fauchte der aggressiv. Remus kannte Sirius inzwischen so gut, dass er sich sicher war, dass er seine Genervtheit übertrieb, nur um James abzuschütteln.

„Ihr zwei. Ihr zwei seid los. Seit wir zurück sind, benehmt ihr euch sowas von komisch. Jetzt rück schon raus mit der Sprache. Was ist passiert?“ James‘ Blick sprang von Sirius zu Remus und zurück, aber Remus sah gar nicht ein, von Die Philosophie des Weltlichen: Warum die Muggel es nicht wissen wollen aufzusehen und ihm irgendeine Angriffsfläche zu bieten.

Tatsächlich waren Sirius und er nicht dazu gekommen, darüber zu sprechen, wie sie mit ihrer neuen Situation umgehen sollten, wenn James und Peter aus den Ferien zurück waren. Irgendwie waren sie die ganze Zeit zu beschäftigt gewesen. Es war irgendwie an mehreren ihrer Ferientage vorgekommen, dass sie sich am Vormittag aneinander gekuschelt hatten – und plötzlich hatte es schon wieder gedämmert.

Aber Remus war ohnehin nicht gerade erpicht auf dieses Gespräch. Er wollte die Leichtigkeit zwischen Sirius und ihm nicht damit kaputt machen, dass der andere sagte, sie sollten das Ganze lieber sein lassen, jetzt, da die Prüfungen anstanden, oder irgendeine andere Variante von «wir sollten besser Freunde bleiben».

„Ich weiß echt nicht, was du dir einbildest, Krone“, sagte Sirius in einem verletzenden Tonfall, der Remus die Haare zu Berge stehen ließ, obwohl er genau wusste, dass er gespielt war.

Aber James gab nicht nach. „Ich bin doch nicht blind. Irgendwas ist hier los und entweder du rückst jetzt mit der Sprache raus oder ich hol es anderweitig aus euch raus.“ James nahm drohend seinen Zauberstab von der Tischplatte. Augenblicklich schlug Remus das Herz bis zum Hals. Zwar würde James niemals etwas wirklich Schlimmes tun, aber er konnte sich schon vorstellen, dass er sie so lange mit dem Kitzelfluch traktierte, bis sie es endlich ausspuckten. Dann lieber nach seinen eigenen Regeln.

„Okay“, knickte Remus schließlich ein. Sirius starrte ihn an. „Okay. Ihr habt Recht. Es ist was passiert. Sirius und ich…“

Sirius‘ öffnete stumm die Lippen, als Remus den dreien bedeutete, sich näher zu ihm zu lehnen, damit ihnen niemand zuhören konnte. Das war eigentlich unnötig, denn sie hatten alle Schüler an den umliegenden Tischen mit Muffliato belegt. Der Zauber erlaubte es ihnen, offen zu sprechen, weil den betroffenen Zielen die Ohren brummten. James hatte ihn aus den Ferien mitgebracht.

„Sirius und ich… wir…“, zögerte Remus, „sind bei Vollmond rausgegangen. Auf die Ländereien.“

Peter fielen beinahe die Augen aus dem Kopf. „Aber – aber das ist ge–“

„– genial!“, unterbrach ihn James. „Wie war es?“

In Sirius‘ Gesicht kehrte langsam die Farbe zurück und Remus warf ihm ein süffisantes Grinsen zu.

„Es war toll. Leute, ihr könnt euch das nicht vorstellen. Die Nacht war lebendig. Und ich war lebendig. Die Geräusche und der Duft und der Wind…“ Er schüttelte noch immer völlig überfordert den Kopf. „Ich weiß nicht, ob das für euch immer so ist, aber… mein Herz hat so gerast.“

Jetzt grinste sogar Sirius in sich hinein.

„Und was habt ihr dann gemacht?“

„Ich… also, wir saßen nur am Eingang zum Tunnel. Aber –“

„Nur am Eingang? Willst du mich auf den Arm nehmen?“ James‘ Stimme war so laut geworden, dass im nächsten Moment Madam Pince neben ihm aus dem Boden wuchs.

„Was bilden Sie sich ein, hier so herumzuschreien?“, krächzte sie eisig. „Raus, alle vier. Sofort!“

„Aber –“, versuchte es Peter, doch unter den Brillengläsern der Bibliothekarin schmolz augenblicklich all sein Selbstvertrauen. Missmutig räumte Remus seine Bücher ein und sie standen auf.

„Danke auch“, sagte er säuerlich. Im Gemeinschaftsraum, wo inzwischen wieder Trubel herrschte, konnte er nicht halb so gut lernen.

„Hast du verdient“, meldete sich Sirius‘ Stimme schadenfroh in seinem Ohr.

Gerade als sie die Bücherei verließen, trafen Lily Evans, Mary Macdonald und Eliza Carrow ein. James stöhnte leise auf.

„Und das hat er verdient“, raunte Remus Sirius zu und sie beide kicherten in sich hinein.

James hielt den Mädchen die Tür auf, aber Lily stolzierte nur an ihm vorbei. Erst am Morgen hatte James dem Verräter Severus Snape einen Tarantallegra-Zauber auf den Hals gehetzt, was ihn unkontrolliert durch die Eingangshalle hatte tanzen lassen.

James sah etwas geknickt aus; Remus mied Lilys Blick. Er hatte sein Versprechen, die anderen am Reimen zu reißen, gebrochen, aber auch er war zu angewidert von Snapes Verrat, als dass er sich noch weiter um dessen Sicherheit scherte.

„Lasst uns doch lieber raus gehen? Die Sonne scheint…“, schlug Peter vor. „Und da sind wir ungestört.“

„Du bist so weise, mein kleiner Freund“, sagte James und drückte Peter an sich wie einen verlorenen Sohn.

Sie verließen die Eingangshalle durch das große Eichenportal und schlenderten nach unten zu der Birke, unter der sie es sich am See immer gemütlich machten. Die Luft war warm und Remus legte seinen Umhang ab. Er blinzelte wohlig in die Sonne. Die Prüfungen waren noch einen Monat hin – das war wirklich noch ewig…

„Also, noch mal: Ihr seid nur am Eingang sitzen geblieben?“ James reckte den Hals und spähte in die Richtung der Peitschenden Weide, deren oberste Äste man hinter dem Hügel ausmachen konnte.

„Ja“, gab Remus trotzig zurück. „Glaub mir, das war auch wirklich genug.“

„Für’s erste Mal!“, fügte James triumphierend an.

„Für‘s erste Mal“, lenkte auch Sirius ein, aber vielleicht auch nur, um ihn abzumoderieren: „Wir müssen euch übrigens noch etwas zeigen. Moony und ich haben an etwas gearbeitet, während ihr weg wart…“

Und Remus und Sirius erzählten den anderen beiden alles über die Karte, die Remus aus seinem Umhang zog.

„Jungs…“, raunte James beeindruckt, als sein Blick über die Tintenlinien huschte. „Das ist ja… Wahnsinn.“

Peter war schlicht und ergreifend sprachlos.

„Wenn wir sie jetzt noch mit einem Homunkulus-Zauber belegen, sollte sie alle Leute im Schloss, also innerhalb der Karte, zeigen können.“

„Wenn schon, dann aber auch alle-alle. Auch die Geister. Und unter dem Tarnumhang“, fügte Sirius mit einem vielsagenden Blick auf James zu, der ergeben grinste.

„Und Animagi“, entschied Remus.

„Der Homunkulus-Zauber, wie geht der?“, fragte Peter wissbegierig.

„Das ist genau der Punkt. Ich habe zwar irgendwo davon gelesen, aber das konnte ich bisher nicht rausfinden. Ich glaube, eigentlich ist er zum Aufspüren von verborgenen Personen, ein bisschen wie Homenum Revelio. Aber ich trau mich nicht, Flitwick zu fragen, weil er dann bestimmt wissen will, wofür ich ihn brauche.“

„Hä, ist doch logisch, Moony. Du bist sein Lieblingsschüler. Du brauchst den natürlich für deine ZAGs.“

„Aber er hat nie über diesen Spruch geredet…“, gab Remus James halbherzig Kontra.

„Ist doch völlig egal. Probier’s einfach nach der nächsten Stunde. Ich wette, er erklärt ihn dir. Schmier ihm einfach ein bisschen Honig unter die spitze Nase.“

„Okay, okay…“

„Und was machen wir wegen der Verschlüsselung? Ich hatte gehofft, ihr habt Ideen.“

„Guter Punkt. Ich überleg mir was“, sagte James. Offensichtlich war er Feuer und Flamme für das Projekt. Er studierte die Karte noch einen Moment länger, dann sagte er: „Hey, wartet mal. Das ist ja nur das Schloss. Was ist mit den Ländereien?“

„Die haben wir noch nicht gemacht. Dafür hatten wir nicht genug Zeit…“, erklärte Sirius.

„Kein Problem. Wir haben ja demnächst genügend Nächte, was?“, grinste James in die Runde und Remus hatte das leise Gefühl, dass die Sache damit entschieden war.

Privileg und Pflicht - Mai 1976 (2/6)

Der Mai war eingeläutet worden durch einen veilchenblauen Himmel und eine Reihe von Nervenzusammenbrüchen unter den Fünft- und Siebtklässlern. Die Prüfungen waren keine vier Wochen mehr hin und die Panik machte ihnen langsam zu schaffen. Selbst James nahm mal ein Buch in die Hand (Numerologie und Grammatica), offenbar eingeschüchtert von der emsigen Strebsamkeit um ihn herum. Außerdem war sein Quidditch-Kapitän Martin Meadowes, ein UTZ-Schüler, mit einem schlimmen Ausschlag in den Krankenflügel gebracht worden, nachdem er sich mit vermeintlichem Clevernesspulver eingerieben hatte. Es stellte sich heraus, dass es nur aus gemahlenen Kappa-Schuppen bestand.

Peter machte sich, alles in allem, keine allzu großen Hoffnungen, aber Remus redete ihm nach jeder Zauberstabübung gut zu. Seine theoretischen Fähigkeiten waren solide, aber in der Praxis bekam er es ständig mit seinem Nervenkostüm zu tun.

„Wärst du ein Animagus, wenn du wirklich nichts draufhättest?“, fragte Remus immer wieder und auch jetzt, da sie ihre Übungen für Verteidigung gegen die dunklen Künste auslaufen ließen.

Zwischen James und Sirius war in ihrem verlassenen Klassenzimmer ein handfestes Duell ausgebrochen und Remus erwischte sich, wie er Sirius die Daumen drückte. Als im nächsten Moment neben ihm eine antike Vase in die Luft flog, entschied er sich, seine Parteilichkeit noch einmal zu hinterfragen: Sirius hatte James‘ Angriff beinahe auf ihn abgelenkt.

„Du siehst aus wie die alte McGonagall, wenn du so guckst“, lachte James über Remus. Er ließ den Zauberstab sinken und bekam Sirius‘ Levicorpus voll ins Gesicht. Es riss James rücklings von den Füßen und Sirius ließ ihn schadenfroh an einem Fußgelenk von der Decke baumeln. Mit gespielt bedientem Gesicht verschränkte James nur die Arme, während ihm langsam die Brille von der Nase rutschte.

Jetzt musste auch Remus lachen. Ein wenig ließ Sirius ihn zappeln, aber dann hatte er Erbarmen und stellte James wieder sanft auf den Füßen ab.

„Miez, miez, McGonagall“, sagte Sirius zu Remus und trippelte mit gezogenem Zauberstab auf ihn zu.

„Du riechst zu sehr nach Straßenköter, keine Chance“, ließ Remus ihn an seiner ausgestreckten Handfläche abblitzen und Sirius verwandelte sich in den großen schwarzen Hund, um seine Ohren hängen zu lassen. Einfach nur, weil er es konnte.

„Mensch, pass bloß auf, dass dich niemand sieht…“ Remus schüttelte den Kopf, aber wusste, dass seine ewigen Warnungen sowieso zum einen Ohr rein-, zum anderen wieder rausgingen.

„Moony, wenn ich dich jemals entspannt erlebe, bitte zwick mich nicht.“ James schüttelte den Kopf und Sirius schloss spielerisch seine Zähne um James‘ Knöchel, was ihn aufschreien und Remus und Peter lachen ließ.

„Also, wie gesagt, Peter. Nicht so die Hand verkrampfen. Lass den Zauberstab einfach locker zwischen den Fingern liegen. Vertrau ihm, er steht auf deiner Seite. Du musst ihn nicht davon abhalten, dir davonzulaufen.“

„O-okay“, murmelte Peter. Nach einem tiefen Atemzug peilte er noch einmal das Kissen an, das er bisher als Ziel anvisiert hatte. „Confringo!“

Das Kissen ging mit einem lauten POFF in Flammen auf und alle drei Freunde johlten und klatschten Peter auf den Rücken. Seine Augen leuchteten glücklich, auch wenn Sirius das Feuer rasch mit seinem Zauberstab löschte.

Als sie den Raum verließen, war Remus sich sicher, dass für sie alle die Prüfung in Verteidigung gegen die dunklen Künste geritzt war.

„Was soll in der Theorie drankommen, Moony?“, fragte James auf dem Weg zurück zum Gemeinschaftsraum. Sie bogen auf einen Kreuzgang-Korridor ein, um zum Innenhof zu gelangen.

„«Dunkle Kreaturen.»“

„Du meinst, sowas wie Banshees und Vampire?“

„Ja, unter anderem, denke ich.“

„Vielleicht Werwölfe“, sagte Sirius hoffnungsvoll, als sie gerade um die Ecke zum Innenhof bogen.

Im nächsten Moment traf ihn etwas vor die Brust und er wurde zurückgestoßen.

„Entschul—“, setzte Remus bereits für Sirius an, doch dann sah er, wen sie da über den Haufen gerannt hatten. Regulus Black straffte die Schultern und starrte zu ihnen hoch. Er wirkte zerstreut.

„Pass auf, wo du hinläufst“, blaffte Sirius und wollte seinen Bruder schon aus dem Weg schieben, als der sagte: „Ich hab‘ dich gesucht.“

„Ach ja?“ Sirius‘ Tonfall war hart, aber er wartete ab.

„Sirius –“ Erst jetzt fiel Remus auf, dass Regulus‘ Stimme wirklich noch nach der eines Kindes klang. Er hatte immer erwartet, dass alle Blacks herrschaftlich und schrecklich waren, aber wenn er genau hinsah, hatte er den Eindruck eines kleinen, verängstigten Jungen. „K-können wir irgendwo reden?“

„Alles, was du zu sagen haben könntest, kannst du auch vor meinen Freunden sagen.“ Remus überkam eine Gänsehaut. Diese Kälte, die Sirius ausstrahlte, kannte er nicht.

Regulus‘ Blick flackerte von einem Gesicht zum nächsten, dann schluckte er und steckte die Hand in den Umhang. Dass James und Sirius augenblicklich ihre Zauberstäbe zogen, ließ ihn einen Schritt zurückweichen. Doch anstatt seines eigenen Stabs zog er den vermeintlichen Ring der Blacks aus der Tasche. Es war die nichtmagische Nachbildung, die James und Sirius erschaffen hatten.

„Mutter hat rausgefunden, dass es eine Fälschung ist.“

Remus stellte erschrocken fest, dass in den Augen des Jungen Tränen standen. Er hatte bei dieser Eröffnung mit einer Drohung gerechnet, aber da hatte er sich offensichtlich geirrt.

„Ach, tatsächlich?“, fragte Sirius in höhnischem Tonfall. „Hat ihr nicht gefallen, nehme ich an? War nicht so schön zuhause?“

„Nein“, kiekste Regulus mit brechender Stimme. Seine Augen drohten jetzt, überzulaufen. Seine Kinderlippe zitterte.

„Dann überleg mal scharf, warum nicht. Überleg mal, warum du an all dem Dreck, den sie dir reinwürgen, so hängst! Was für Freunde du dir aussuchst.“ Sirius spuckte seinem Bruder vor die Füße. „Wenn dir ein Licht aufgegangen ist, können wir weiterreden.“

Grob schob Sirius seinen kleinen Bruder aus dem Weg und rauschte los. Die anderen drei folgten ihm, ohne ein Wort zu sagen.

„Sirius! Sirius, bitte!“, schrie Regulus hinter ihnen, aber Sirius drehte sich nicht um, obwohl Remus hörte, dass Regulus nun weinte. „B-bitte, gib ihn mir zurück. Bitte! Bitte! Sirius!

Privileg und Pflicht - Mai 1976 (3/6)

Am Montag darauf erhielten sie von Professor McGonagall die Prüfungspläne. Die ZAGs waren angesetzt in den ersten zwei Wochen im Juni, was Remus sichtlich erleichterte: Vollmond war bereits am 27. Mai und dann erst wieder am 24. Juni, sodass er zur Prüfungszeit fit sein und nicht ausfallen würde. Insgesamt hatte Remus acht ZAG-Examen vor sich, eines weniger als James und Sirius und eines mehr als Peter. Einige wie Kräuterkunde, Verwandlung und Zauberkunst waren in Theorie und Praxis aufgeteilt, andere wie Muggelkunde und Zaubereigeschichte nicht.

Was Remus jedoch am meisten Sorge bereitete, war, dass Zaubertränke als erstes drankam – er hatte am wenigsten Zeit zur Vorbereitung für das Fach, vor dem es ihm am meisten graute.

„Nimm’s sportlich“, sagte James als Antwort auf Remus‘ Sorgen. „Wenn du eh durchfällst, brauchst du dich für Zaubertränke gar nicht weiter vorbereiten und hast mehr Zeit für den Rest.“

„Ich hatte nicht vor, durchzufallen“, murmelte Remus leicht beleidigt. „Annehmbar sollte es schon werden…“

„Warum haben wir noch mal Arithmantik genommen?“, fragte Sirius, der mit rollenden Augen von einer Pergamentrolle mit Notizen aufschaute.

„Weil man damit, mein lieber Freund, hervorragende Banne legen kann. Und ich nehme an, du möchtest, dass ein gewisses Stück Pergament sicher versiegelt wird?“ James zuckte mit den Augenbrauen. „Ist ja nicht Alte Runen. Damit kann man nun wirklich überhaupt nichts anfangen.“

Peter, der mal ein Jahr Alte Runen gemacht hatte, nickte theatralisch.

„Remus, was ist eigentlich aus Flitwick geworden?“, fragte James und griff sein Fangzähniges Frisbee aus der Luft, das leise knurrend durch den Gemeinschaftsraum surrte.

„Ha!“, machte Remus und zog ein Gesicht. „Ich hab‘ ihn nach der letzten Stunde gefragt. Und dann hat er ganz leuchtende Augen gekriegt und meinte, er freue sich schon, dass nächstes Schuljahr mit mir zu besprechen. Ich solle mich auf die Prüfungen konzentrieren und dann würde ich auch sicher in den Kurs kommen. Das hält er wohl für eine zusätzliche Motivation.“

„Na toll. Und dann hast du einfach nachgegeben?“

„Musste ich. In dem Moment kam nämlich Vanessa Buczkowski mit diesen Pilzen in der Nase und ich musste sie in den Krankenflügel bringen…“

„Urgh. Erstklässler.“

Als Remus gerade seine Notizen zusammenrollen wollte, um die Zutaten für Vielsafttrank auswendig zu lernen, rauschte Erica McLaggen in den Gemeinschaftsraum. Nicht nur war sie in James‘ Quidditch-Team, sie war außerdem Vertrauensschülerin im Jahrgang über ihnen. In ihrem Schlepptau tauchten drei verwirrt dreinsehende Gryffindors auf, die sie im Gemeinschaftsraum ablud. Mehrere Schüler hoben interessiert die Köpfe ob der plötzlichen Ansammlung. Und zu Remus‘ Überraschung kam Erica im nächsten Moment geradewegs auf ihn zu.

„Du musst mitkommen.“ Ihr Gesicht war blass und angespannt. „Alle Vertrauensschüler.“

Argwöhnisch stand Remus auf und warf seinen drei Freunden einen Blick zu, die sich ebenfalls erheben wollten. Doch Erica sagte: „Nein. Ihr bleibt hier. Alle Schüler sollen in ihre Gemeinschaftsräume. Nur wir gehen runter.“

„Was ist passiert?“, fragte Remus alarmiert, als er Erica schnellen Schrittes aus dem Gemeinschaftsraum folgte. Erst jetzt war ihm aufgefallen, dass Lily und die anderen drei Vertrauensschüler aus dem sechsten und siebten Jahrgang nicht im Gryffindor-Turm gewesen waren, obwohl es schon relativ spät war.

„Ich…“, sagte Erica zögernd, doch dann schüttelte sie den Kopf. „Ich weiß es auch nur ungefähr. Oliver Smith hat mich auf der Treppe getroffen. Er meinte, ich solle alle Gryffindors einsammeln und dich holen, aber er hat mir nicht gesagt, warum. Gucken wir einfach selbst nach.“

„Wo gehen wir denn hin?“ Remus war beunruhigt – wenn der Schulsprecher alle Schüler einsammeln ließ, musste wirklich was passiert sein.

„In die Kerker.“

Aus irgendeinem Grund hatte er sich das bereits gedacht. Der Weg hinunter dauerte fast zehn Minuten, da Erica offenbar die Geheimgänge und Abkürzungen nicht kannte, die Remus und seinen Freunden in Fleisch und Blut übergegangen waren, und da er nicht scharf darauf war, sie mit ihr zu teilen, sagte er nichts.

Als sie unten im Korridor zwischen Zaubertrank-Klassenzimmer und Slytherin-Gemeinschaftsraum ankamen, hörte er bereits von Weitem aufgebrachte Stimmen und Schritte an den nackten Steinwänden widerhallen.

„…einfach unglaublich.“

„Erschütternd!“

Eine Gruppe Personen stand im Flur. Beim Näherkommen erkannte Remus alle vier Hauslehrer, Professor Fawley, die Hexe für Verteidigung gegen die dunklen Künste, und den Schulleiter Professor Dumbledore. Doch auch Lily Evans und ein Vertrauensschüler der Ravenclaws aus dem Jahrgang über ihnen standen am Rande. Sie alle machten ein Gesicht, als sei jemand gestorben.

Als Professor Sprout einen Schritt zur Seite trat, sah Remus auch endlich, was so schrecklich sein sollte: Zwei Schüler kauerten unnatürlich in sich zusammengesunken an der Wand, offenbar ohne Bewusstsein. Madam Pomfrey hatte sich zu ihnen niederkniet und redete mit leiser Stimme auf sie ein.

Remus schluckte hart, um die Galle niederzuwürgen. Die beiden Ravenclaws, noch ganz klein, waren Erst- oder Zweitklässler. Doch Remus konnte ihre Gesichter nicht ganz erkennen, denn jemand hatte ihnen die Köpfe nach hinten gedrückt und ihnen etwas in die Münder gestopft, das aussah wie kleine leinene Säcke, die mit Erde gefüllt waren.

Erica starrte Remus entsetzt an und er legte ihr mit einer Ruhe, von der er selbst nicht wusste, woher er sie nahm, eine Hand auf die Schulter. Dann gingen sie auf die anderen zu.

„Die Nähe zum Slytherin-Gemeinschaftsraum ist schon ausgesprochen auffällig…“, sagte der Ravenclaw-Vertrauensschüler.

„Na, na, Andrew, bitte keine Spekulationen.“ Flitwick tätschelte den Unterarm seines Schülers, als McGonagall Remus und Erica entdeckte.

„Mr. Lupin, gut, dass Sie da sind. Danke, Miss McLaggen. Ich habe gerade die anderen drei losgeschickt, um die restlichen Gryffindors nach oben zu geleiten. Aber mir war es wichtig, dass alle Vertrauensschüler im Bilde darüber sind und nicht auf Gerüchte hören, die zweifelsohne bereits im Umlauf sein dürften.“ Professor McGonagall schaute ihn streng über ihre Brille hinweg an, als sei Remus persönlich für die Gerüchte verantwortlich. „Hier hinein, bitte, auch Miss Evans, Mr. Suárez.“

Die vier Schüler folgten Professor McGonagall in das leere Zaubertränke-Klassenzimmer und Professor Slughorn schloss hinter ihnen die Tür. Remus beobachtete, wie er sich immer wieder mit einem gepunkteten Taschentuch die schwitzige Stirn wischte.

„Was ist passiert?“, fragte Erica sofort. Remus stellte sich neben Lily, doch sie sah ihn nicht an.

„Nun, es sieht so aus, als habe es einen Angriff gegeben. Und damit meine ich keine Mätzchen, sondern etwas Düsteres“, antwortete Professor McGonagall. „Wir haben angeordnet, dass alle Schüler umgehend in ihre Gemeinschaftsräume gehen und dort bleiben, bis wir herausgefunden haben, was genau passiert ist. Deswegen habe ich die anderen“ – Remus nahm an, sie meinte die Vertrauensschüler der anderen Häuser – „bereits losgeschickt, um die restlichen Schüler zurück zu ihren Häusern zu bringen.“

„Aber w-was haben sie mit ihnen gemacht?“, fragte Andrew Suárez mit zittriger Stimme.

„Das kann ich zu diesem Zeitpunkt nicht sagen…“, gab Professor McGonagall zurück. Ihre schmalen Lippen kräuselten sich, als würde sie sich schämen. „Professor Fawley vermutet einen Fluch und… die Säcke mit Drachendung haben Sie selbst gesehen, nehme ich an.“

Remus‘ Magen begehrte auf und sowohl Lily als auch Erica schlugen sich die Hände vor den Mund. Remus fand als Erster die Sprache wieder und sagte: „Aber – warum?“

„Nun…“ Professor McGonagall seufzte tief und die Furchen auf ihrer Stirn schienen sich um ein Vielfaches zu vertiefen. „Ich denke, ich muss Ihnen nicht erklären, dass vor den Toren der Schule ein Krieg herrscht. Sie haben fraglos von ihm, der sich selbst als Dunklen Lord bezeichnet, gehört. Und Ihnen ist sicherlich ebenfalls bewusst, dass Angriffe auf Muggel und Zauberer, die seinen Vorstellungen missfallen, zugenommen haben.“ Ihre Haut sah plötzlich papieren aus und Remus hatte das erste Mal, seit er nach Hogwarts gekommen war, das Gefühl, dass die Lehrer auch nur Menschen waren. „Bisher konnten wir die Auswirkungen auf die Schule größtenteils abwenden, worüber die Lehrerschaft und der Schulleiter sehr glücklich waren. Doch nun“, sie räusperte sich, „nun müssen wir davon ausgehen, dass es auch innerhalb des Schlosses Personen gibt, die ihm, dessen Namen nicht genannt werden darf, nahestehen oder seine Ansichten zumindest teilen.“

Remus überkam eine Gänsehaut und er sah, wie Suárez leicht wankte: „Die beiden… Bertram und Casper, sie sind –“

„Muggelstämmige.“ Lily Evans Stimme war kaum mehr als ein Hauch und trotzdem hatte Remus sie so klar gehört, als hätte sie geschrien. Erschüttert stellte er fest, dass ihre Augen glitzerten.

Er fühlte sich, als fiele er in ein Loch.

All die Jahre, die dieser Krieg draußen bereits herrschte, hatte Remus ihn nie richtig wahrgenommen. Zu eingenommen von seinen eigenen Problemen, seinen eigenen Wünschen, zu weit weg von Muggeln und Muggelstämmigen, hatte er nie wirklich realisiert, was es bedeutete, in dieser Zeit einer von ihnen zu sein. Er hatte seine Augen verschließen können – und seine Freunde auch – und er hatte nichts, aber auch gar nichts dafür getan, dass dieses Unrecht aufhörte.

Remus streckte wie automatisch seine Hand aus und drückte kurz die Lilys. Sie drückte leicht zurück.

„S-sie sind aber nicht tot… oder?“, fragte Erica und ihre Stimme war erstickt. Sie war offensichtlich völlig von der Rolle und Remus fragte sich flüchtig, warum er es nicht auch war.

„Nein. Nein, sind sie nicht. Sie scheinen unter einem Fluch zu stehen, den wir erst noch identifizieren müssen.“ McGonagalls Lippen waren schmal, aber Remus hatte den Eindruck, dass eine gewisse Zuversicht in ihrer Stimme lag.

„Andrew und ich haben sie gefunden“, sagte Lily jetzt, was Professor McGonagall nicht zu überraschen schien. Offensichtlich hatte sie diese Geschichte schon gehört. Lily wandte sich direkt an Erica und Remus.

„Wir waren hier zum Kontrollgang“, Lilys Stimme war fest und er erkannte jetzt, dass das Glitzern in ihren Augen keine Tränen, sondern Wut war, „und da lagen sie am Boden. Wir haben sofort Professor Slughorn aus seinem Büro geholt und der ist losgerannt und hat die anderen Lehrer informiert. Und dann hab‘ ich das hier gefunden.“

Sie zog eine Pergamentrolle aus der Tasche, die offensichtlich Professor McGonagall auch noch nicht gesehen hatte. Mit zwei großen Schritten war sie neben Lily und nahm ihr das Pergament aus der Hand. Mit zusammengezogenen Augenbrauen flogen ihre Augen über die Worte, die darauf geschrieben standen. Ihre Lippen waren so dünn, dass es aussah, als hätte sie keine.

„Das hätten Sie mir sofort aushändigen sollen, Miss Evans.“

„Ich… Ich wollte es nicht vor allen tun“, gab Lily zu und machte eine Geste zur Tür. „Es war mit Wachs über die Köpfe der beiden an die Wand geklebt. Wie ein Pamphlet.“

„Ich muss mit Professor Dumbledore sprechen. Gehen Sie jetzt in Ihre Gemeinschaftsräume und zählen Sie nach, ob Ihre Häuser vollständig sind. Wenn nicht, senden Sie einen Geist zu mir. Wenn wir Sie brauchen, werden wir einen zu Ihnen schicken. Und bitte, schüren Sie keine Gerüchte. Am Morgen wird es eine Ansprache an alle Schüler in der Großen Halle geben. Das ist alles.“ Sie nickte den vieren zu und schritt zur Tür. Und obwohl sie noch hundert Fragen hatten, blieb ihnen nichts anders übrig, als zu gehen.

Im Korridor beugte sich gerade Professor Fawley mit einer großen Messinglupe über das Gesicht eines der Jungen. Die Lehrer hatten die Dung-Säcke entfernt und jetzt sah Remus, dass die Augen der beiden Ravenclaws weit aufgerissen waren. Sie hatten keine Iris. Es waren kleine weiße Kugeln ohne auch nur einen Funken von Menschlichkeit.

Der Anblick erschütterte ihn dermaßen, dass er das Gespräch der anderen nur wie durch Wasser hörte. Vor ihm schwebten die leeren Augen, als würden sie ihn im Geiste verfolgen. Als Andrew sich im fünften Stock in Richtung Ravenclaw-Turm verabschiedete, tauchte Remus erstmals aus seiner Trance auf. Erst jetzt stellte er fest, dass Erica weinte, mit allem drum und dran.

„K-könnt ihr kurz auf mich warten?“, fragte sie hicksend, als sie an einer Mädchentoilette vorbeikamen. „Ich will nicht so im Gemeinschaftsraum ankommen.“

„Natürlich“, sagte Lily und als Erica hinter der Holztür verschwunden war, fragte sie Remus umgehend: „Was denkst du? Du hast noch gar nichts gesagt.“

„Ich, ähm… Ich glaub, ich bin gerade ein bisschen überfordert. Was stand in der Pergamentrolle?“

„Hast du überhaupt zugehört?“, fragte Lily und ihre Miene schwamm zwischen verärgert und belustigt.

„Ich glaube nicht.“

„Das war wie ein Flugblatt oder Manifest. «Der Dunkle Lord wird triumphieren! Wenn ihr klug seid, schließt ihr euch jetzt den Todessern an, bevor es zu spät ist. Wer dem Dunklen Lord schmäht, wird nicht verschont. Nehmt euch diese Schlammblüter zum Beispiel.» Und darüber war ein Dunkles Mal gekritzelt.“

In Remus‘ Ohren rauschte es. Er hatte von verschwindenden Zauberern und Hexen gehört, von Unwettern, Bränden, Explosionen, die die Muggel sich allesamt nicht erklären konnte. Er hatte gelesen von verlassenen Häusern, Zauberern, die von Querschlägern zwischen Auroren und Todessern getötet worden waren, und von ermordeten Hexen, die sich geweigert hatten, auf die dunkle Seite zu wechseln. Aber das hier, das wirkte so persönlich. Jemand hatte diese beiden Kinder ausgewählt, um sie zu bestrafen, nur weil sie aus Muggelfamilien kamen. Nur, weil jemand entschieden hatte, dass sie nichts wert sein sollten.

„Meinst du, es könnte ein Schüler gewesen sein?“, fragte er. Erica schien ziemlich lange zu brauchen, und für den Moment war er froh, denn so hatten sie mehr Zeit alleine.

„Nur jemand, der schon mächtige schwarze Magie beherrscht. Also entweder ein älterer Schüler oder jemand, der sich darauf konzentriert und richtig geübt hat. Irgendwo muss die Person es ja gelernt haben.“

Remus fielen prompt mehrere Jungen ein, die ihm diesbezüglich wahrscheinlich schienen. Ganz vorne mit dabei war Severus Snape, der bekannt dafür war, mit dem Zauberstab talentiert zu sein. Zum Beispiel hatte er bereits ungesagtes Verwünschen gemeistert – etwas, das sie normalerweise erst im nächsten Schuljahr begannen.

„Und… hast du einen Verdacht?“, fragte Remus vorsichtig. Er wollte Lily nicht ausgerechnet auf Snape stoßen, der doch (warum auch immer) ihr Freund war, wenn es auch Kandidaten wie Mulciber gab.

„Einen abstruser als den anderen. Aber denkst du nicht, es könnte auch ein Lehrer gewesen sein?“ Sie verzog schmerzlich das Gesicht. Der Gedanke schien ihr Sorgen zu bereiten.

„Möglich. Aber dann… dann hätten wir wirklich ein Problem.“

„Ja…“

Sie beide verfielen in Schweigen, bis Remus sich durchrang, zu sagen, was er ihm schon die ganze Zeit unter den Nägeln brannte: „Lily… Tut mir leid. Ich habe bisher überhaupt nicht mit dir über diese ganzen Sachen geredet. Wie geht es dir?“

Sie sah Remus an und ihr Gesicht zeigte eine Mischung aus Enttäuschung und Missmut.

„Also… ich weiß nicht. Auch wenn ich schon fast fünf Jahre hier bin, es fühlt sich alles immer noch irgendwie surreal an. Und manchmal habe ich das Gefühl, ich habe immer noch nicht verstanden, was eigentlich vor sich geht und warum. Vielleicht weil ich es auch einfach nicht verstehen will. Ich meine, in der anderen Welt gibt es auch immer wieder Menschen, die glauben, sie wären besser als andere. Aber das hier… Remus, die Leute töten sie!“ Sie starrte ihn an mit diesem Feuer, das er schon kannte. Und dann trat ein anderer, weicherer Ausdruck in ihre grünen Augen. „Und Remus… Wir haben sehr wohl darüber geredet. Erinnerst du dich nicht? Als es darum ging, dass deine Freunde immerzu auf Severus rumhacken?“

Es fühlte sich an, als fiele ein kalter Stein in Remus‘ Magen.

„Ja… Ja, stimmt. Nur nicht so… konkret.“

„Genau.“

Wieder schwiegen sie einen Moment und Remus hörte das Rauschen eines Wasserhahns aus dem Mädchenklo.

„Meine Freundin Eliza hat mir erzählt, dass ihre beiden Freundinnen nicht zurück zu Schule gekommen sind, weil sie mit ihren Eltern verschwunden sind.“

„WAS?“, fragte Remus laut und schämte sich im nächsten Moment, als er seine eigene Stimme durch die verlassenen Korridore hallen hörte.

„Ja. Adelaide Ashe und Marisha Cross. Eliza sagt, die Eltern von Cross waren Todesser, aber irgendwas muss passiert sein. Sie sind angeblich über Weihnachten in den Urlaub gefahren und einfach nicht wieder aufgetaucht. Das Haus ist verlassen, ohne Spuren von einem Kampf. Und bei Cross…“, Lilys Gesicht war blass. „Sie hat mit ihrer Mutter allein gelebt und die hat man vor ein paar Wochen tot in einem Wald bei Huddersfield gefunden. Aber Marisha nicht.“

Remus hatte den Eindruck, ihm würden gleich die Beine nachgeben. Warum hatte er davon bisher nichts gehört? Warum hatte er geglaubt, dass Slytherins in diesem Krieg nichts zu befürchten hatten?

„Und… und Eliza ist jetzt das einzige Mädchen in diesem Jahrgang?“

„Genau. Es gab sowieso schon nur drei Slytherin-Mädchen… und jetzt ist sie völlig alleine. Und verängstigt.“

„Verstehe…“ Remus schüttelte den Kopf und musste an das denken, was Sirius über die Carrows gesagt hatte.

„Aber sie hat vermutlich nichts zu befürchten, oder?“

„Wieso?“ Lily machte ein argwöhnisches Gesicht.

„Sie ist Reinblüterin und die Carrows sind doch… auf seiner Seite, oder?“

„Nur, weil jemand zu einer Familie gehört, heißt das nicht, dass man auch so denkt“, sagte Lily verbissen. „Ich dachte, du bist auch mit Sirius Black befreundet?“

Remus war drauf und dran zu antworten, dass Sirius ja auch nicht ohne Grund nach Gryffindor gekommen war, aber er wusste, dass das ein schwaches Argument war.

„Ja… Du hast recht. Ich glaube, ich versuche mir das nur schön zu reden. Das ist alles so grauenvoll, das muss aufhören… Wir müssen irgendwas tun.“ Er machte ein grimmiges Gesicht, dann warf er einen Blick auf Lily. „Kann ich irgendetwas für dich tun?“

„Remus, danke. Aber ich wüsste nicht was, ehrlich gesagt. Vielleicht versuchen wir einfach erstmal, rauszufinden, was die mit den beiden Ravenclaws gemacht haben. Die Lehrer sind sicherlich dran, aber wir sollten die Augen und Ohren offenhalten, vielleicht hört man ja irgendwas… Hast du ihre Augen gesehen?“ Lilys Stimme wurde zum Ende hin ein wenig schrill.

„Ja. Ja, hab‘ ich.“ Eine erneute Gänsehaut deutete sich auf Remus‘ Armen an.

„Meinst du, wenn wir die richtige Person finden, hört es auf? Oder gibt es noch mehr?“

„Gute Frage… Aber ehrlich gesagt wäre es schon unwahrscheinlich, wenn unter hunderten von Schülern und Lehrern nur eine einzige Person zu Du-weißt-schon-wem hält, oder?“

„Ja…“

„Hast du… Angst?“

„Ich weiß nicht… irgendwie schon, aber irgendwie… wie gesagt, erscheint mir das alles, als wär‘ es ein böser Traum. Als könnte das eigentlich gar nicht wirklich passieren. Weil es einfach keinen Sinn ergibt!“ Sie warf frustriert die Hände in die Luft und hätte Lily einen Zauberstab gehalten, hätte er sicherlich Funken gestoben.

„Verstehe… Wie du sagst. Wir müssen einfach die Augen und Ohren offenhalten, oder?“

„Auf jeden Fall.“

„Und wenn du reden willst…“ Remus ließ die Worte auslaufen, weil er es zwar unbedingt anbieten, sich aber auch nicht aufdrängen wollte – immerhin hatte Lily viel bessere Freunde als ihn.

„Danke, Remus.“ Sie lächelte ihn an und dann kam Erica aus dem Mädchenklo. Sie hatte offensichtlich ihr Gesicht gewaschen, denn ihr Haaransatz war nass.

„Gehen wir?“, sagte sie mit betont beschwingter Stimme und sie machten sich auf in den Gryffindor-Turm.

Im Gemeinschaftsraum herrschte eine Mischung aus Grabesstimmung auf der einen Seite und wildem Tatendrang auf der anderen. Nicht nur einmal hörte Remus, wie jemand etwas sagte wie „Wir gehen jetzt da runter und schnappen ihn uns!“

Natürlich bestürmten die Gryffindors ihn und die anderen Vertrauensschüler, und auch James, Sirius und Peter wollten sofort wissen, was passiert war. Doch er hielt sie hin, mit dem Hinweis, später oben allein zu sprechen, und kümmerte sich erst einmal um ein paar verstörte Zweitklässler, die mit Bertram Rowe und Casper Dunn in einem Jahrgang waren.

„Vielleicht sollten wir nun alle so langsam zu Bett gehen“, sagte Remus laut in den Raum hinein, als die Uhr bereits nach Mitternacht zeigte und ohnehin alles gesagt schien. Seine drei Freunde standen sofort auf, obwohl keiner von ihnen sonderlich müde aussah. Einige andere Gryffindors folgten Remus‘ Vorschlag, doch in erster Linie war er froh, endlich mit James, Sirius und Peter allein im Schlafsaal zu sein.

Kaum saßen sie umgezogen auf ihren Himmelbetten, erzählte Remus ihnen alles so detailliert wie möglich und fügte auch an, was Lily ihm erzählt hatte.

„Das muss ja ein Slytherin gewesen sein“, sagte James sofort und Sirius nickte düster. „Das mit Ashe und Cross wundert mich. Wieso haben wir nichts davon gehört?“

„Naja“, setzte Remus ärgerlich an, „die Slytherins geben wohl kaum öffentlich damit an, dass Todesser unter ihnen sind, und erzählen es nicht überall im Schloss rum. Und Sirius fährt nicht mehr nach Hause, also hört er es auch nicht von außen. Und ob du das mit deinen Eltern beim Tee beredest…“

Er war wütend, dass sie nicht schon früher viel intensiver über diese Themen gesprochen hatten. Er war wütend, dass sie die Augen zumachen konnte, wenn sie wollten. Er war wütend, dass sie nicht gezwungen waren, sich mit dem Krieg zu beschäftigen und sich wegducken konnten, wenn sie nur wollten. Er wollte das nicht mehr. Er wollte handeln.

„Was glaubt ihr, wer es war?“, fragte Peter und zupfte an seinem Kopfkissen herum.

Sie sprachen alle gleichzeitig: „Snape“, sagte James. „Regulus“, sagte Sirius. „Snape“, sagte Remus.

Alle drei wandten sich an Sirius und starrten ihn an.

„Ist das dein Ernst?“, fragte Remus und hatte das dringende Bedürfnis, sich neben Sirius aufs Bett zu setzen und seine Hand zu halten.

Sirius zuckte die Schultern. „Ich würd’s ihm zutrauen, wenn ich wüsste, dass er ausreichend zaubern kann. Überlegt doch mal, wie versessen er auf diesen verfluchten Ring ist! Und wenn es sowas wie Poster von Du-weißt-schon-wem gäbe, dann hätte er bestimmt welche in seinem Zimmer. Als ich letzten Sommer zuhause war, hab‘ ich gesehen, dass er Zeitungsartikel über ihn sammelt.“

Die anderen drei musterten Sirius schweigend, der ein Gesicht zog, als müsste er sich übergeben. Remus‘ Verlangen, bei ihm zu sein, war jetzt fast unerträglich stark.

„Aber das ist schon unwahrscheinlich…“, murmelte James. „Er ist dreizehn. Und das ist eher das Werk eines Erwachsenen.“

„Das vermutet zumindest Dumbledore.“

„Und was Dumbledore vermutet, ist in der Regel richtig.“

Für einen Moment hingen sie alle ihren Gedanken nach. Dann sagte Remus: „Wir müssen was tun.“

„Was meinst du?“, fragte Peter, während James und Sirius mit Nachdruck „Ja“ sagten.

„Also ich jedenfalls kann nicht mehr weggucken. Wenn jemand was gegen Muggel oder Muggelstämmige sagt, werd‘ ich auf jeden Fall nicht mehr weghören. Oder wegsehen. Oder so tun, als wäre das nicht meine Angelegenheit. Und ich versuche, rauszufinden, wer das mit Bertram und Casper war. Allein schon für Lily.“

Die drei nickten und James besonders überzeugt.

„Wie wollen wir das machen?“, fragte er und kratzte sich am Kinn.

„Am besten wäre es natürlich, diejenigen auszufragen, die wissen, wer es war. Und wie. Ich hoffe, dass die Lehrer den Fluch irgendwie umdrehen können, wenn sie wissen, was es ist. Aber wie kriegen wir raus, wer etwas weiß?“

„Ich denke mal, wir müssen einfach rumfragen und gucken, welche Gerüchte sich wiederholen oder so…“, mutmaße Sirius und legte sich rücklings aufs Bett.

Privileg und Pflicht - Mai 1976 (4/6)

„Sag mal, wenn es wirklich Regulus wäre, was würdest du dann tun?“, fragte Remus und strich Sirius durch die Haare. Sie hatten nicht mehr viele Gelegenheiten, sich nah zu sein, seit Peter und James wieder da waren, deswegen war ihm dieser kurze Moment der Zweisamkeit besonders viel wert.

Sie hatten den anderen beiden gesagt, sie würden sich um Remus‘ Zaubertrankprobleme kümmern und da James den Gestank, den Remus‘ Tränke in der Regel von sich gaben, zum Würgen fand, war er sofort bereit gewesen, stattdessen Peter mit Schwebezaubern zu helfen. Nur wussten sie nicht, dass Remus all seine Zaubertrankzutaten bereits auswendig konnte. Die Prüfung war in zehn Tagen.

„Pff… keine Ahnung. Es einem Lehrer sagen, denke ich.“ Sirius drückte seinen Kopf in Remus‘ Handfläche und schloss die Augen, wie ein Hund, der das Kraulen hinter dem Ohr genoss.

„Ja…“, sagte Remus und war irgendwie erleichtert. Auch wenn Sirius ihm keinen Grund gab, das zu glauben, hatte er befürchtet, dass irgendwelche brüderlichen Bande ihn doch davon abhalten könnten, Regulus auszuliefern. Aber es war egal, wer verantwortlich war – man musste ihn stoppen.

Sie hatten es sich in einem leeren Klassenzimmer im Astronomieturm bequem gemacht, das sie bei ihren Streifzügen durch das Schloss entdeckt hatten. Es war offensichtlich, dass es seit Jahren nicht genutzt worden war, denn es war voll mit umgedrehten, alten Schreibpulten, Kisten mit abgebrochenen Federkielen und halbleeren Reinigungsmitteln. Über allem lag eine dicke Staubschicht.

Zwischen den alten Möbelstücken hatte Remus Stoffbahnen gespannt, die nun wie ein Zelt über ihnen hingen. Den Boden hatte sie mit einem dicken Teppich, einigen Decken und Kissen ausgepolstert. Beleuchtet wurde das Ganze von kleinen, kalten Flämmchen, die Sirius mit einem Zauber unter die Stoffbahnen hatte schweben lassen. Es war kitschig, aber es war ihrs.

Außerdem passten sie tunlichst auf, dass sie nie Gegenstände zurückließen, die ihre Identität verrieten. Wenn Filch oder ein Lehrer doch eines Tages diesen Ort finden sollte, dann war zumindest nicht klar, welches verknallte Pärchen sich hier heimlich eingerichtet hatte.

„Ehrlich gesagt glaube ich aber nicht, dass er es ist. Er hat nicht mal erkannt, dass der Ring gefälscht war, erinnerst du dich? Er hat einfach nichts drauf.“ Sirius schüttelte seine Schulter aus, danach legte Remus sich erneu in seinen Arm. Sie starrten an ihr Zeltdach.

„Vermutlich. Und was denkst du – Snape?“

„Der könnte es zumindest, glaube ich. Ich meine, der steckt doch bis über beide Ohren in den dunklen Künsten, völlig egal, was Evans sich einbildet.“

„Ja. Und sie hat das auch schon gemerkt, sie ist da nicht völlig blind.“

Sirius antwortete nicht, sondern küsste Remus an die Schläfe.

„Meinst du, James hat eine Chance bei ihr?“

„Ich glaube nicht“, sagte Remus mit mitleidigem Lachen.

„Der Arme.“

Die letzte Woche hatten die vier damit verbracht, im Unterricht darauf zu horchen, ob jemand Vermutungen ob der verletzten Ravenclaws anstellte, und zuzuschlagen, sobald jemand etwas Abwertendes über Muggel oder Muggelstämmige sagte. So hatte Sirius den Hufflepuff-Kapitän Harvey Calhoun mit einem kräftigen Levicorpus erwischt, nachdem der gesagt hatte, es sei eigentlich auch verdächtig, wie viele Muggelstämmige in letzter Zeit nach Hogwarts gekommen seien.

James hatte sich offen mit Simon Snyde angelegt und sie waren beide mit heftigen blauen Flecken davongekommen, gerade, bevor Professor Vektor den Arithmantik-Klassenraum betreten hatte.

Und Remus hatte sich einen weniger kritischen Weg gesucht. Er zog einfach allen, die in Muggelkunde oder anderen Fächern freche Fragen bezüglich der Fähigkeiten oder Intelligenz von Muggelstämmigen stellten, rigoros Hauspunkte ab, auch seinem eigenen Haus. Seit er erst darauf achtete, hatte er den Eindruck, das ganze Schloss sei voll von Feindseligkeit gegenüber Muggeln und Muggelstämmigen. Es war zum Heulen.

„Weißt du, was das einzig Gute an der Sache wäre, wenn Snape wirklich hinter dem Fluch und dem Flugblatt steckt?“, fragte Sirius plötzlich.

„Was?“ Dass du ihm eine reinhauen kannst, ohne eine weitere Begründung zu brauchen?

„Dann ist Lily Evans auf jeden Fall in Sicherheit. Er steht auf sie.“

„Stimmt…“, murmelte Remus. Aber ihm ging es eben nicht nur um Lily, weil sie seine Freundin war. Es ging um alle Muggelstämmigen, es ging ums Prinzip. „Wir müssen es einfach rausfinden.“

 

Am nächsten Abend war wieder Vollmond, doch inzwischen war Mai und die Nächte entsprechend kürzer geworden. Ein Grund, warum Remus den Sommer liebte.

Mit den anderen dreien hatte er sich abgesprochen – sie schworen nach wie vor, ihn in der Hütte besuchen und dann mit ihm auf die Ländereien gehen zu wollen, und er war ihnen dankbar. Mit ihnen an seiner Seite war die Vorfreude auf Vollmond , für die er sich beinahe schämte, jeden Monat stärker geworden.

Bertram Rowe und Casper Dunn lagen seit dem Abend, an dem sie angegriffen worden waren, in einem abgeschirmten Teil des Krankenflügels. Als Remus mit Madam Pomfrey seinen üblichen Tee trank, konnte er seinen Blick einfach nicht von den weißen Vorhängen abwenden, hinter denen sie lagen.

Daraufhin sagte sie mit spitzer Stimme: „Sie liegen einfach ohne Bewusstsein wach. Sie atmen und die Reflexe reagieren ganz normal. Aber nichts kann sie aufwecken und diese Augen… Ich frage mich, was sie wohl sehen. Ich stehe mit Heilern aus dem St. Mungo’s in Kontakt, aber der Schulleiter möchte den Vorfall verständlicherweise nicht an die große Glocke hängen. Und Professor Fawley hat bislang kein Gegenmittel für die armen Beiden empfehlen können. Ich frage mich, was diese Hexe den ganzen Tag treibt…“

Madam Pomfrey schüttelte missmutig den Kopf und Remus konnte ihr insgeheim nur zustimmen, auch wenn er sich wunderte, dass sie schlecht über eine Kollegin sprach. Auch er hatte nie den Eindruck gehabt, dass die alte, teilweise wie von einem anderen Stern wirkende Hexe eine kompetente Lehrerin abgab. Das Meiste, was er und seine Freunde heute konnten, hatten sie sich selbst beigebracht und auch nur, weil Sirius und James in den Ferien Zeit hatten, nützliche Zauber zu üben. Ihre Eltern ließen ihnen alles Magische durchgehen. Und Remus hatte die Bücher praktisch auswendig gelernt.

„Gehen wir hinunter?“, fragte Madam Pomfrey. Endlich krochen die Schatten durch die Fenster in den Krankenflügel.

Noch auf dem Treppenabsatz hinter dem Eichenportal hielt Remus jäh inne. Unweit von ihnen, im Gras, stand Severus Snape in seinem wehenden schwarzen Umhang, mit seinen wehenden schwarzen Haaren, wie eine Fledermaus im Halbdunkel. Er hatte seinen Zauberstab gezückt und Remus‘ Hand flog bereits zu dem seinen. Madam Pomfrey schaute Snape mit scharfen Augen an.

„Sie sollten zurück ins Schloss gehen. Es ist schon längst Zeit, in die Gemeinschaftsräume zurückzukehren.“

„Natürlich“, antwortete Snape mit leiser, schnarrender Stimme. Seine schwarzen Augen schienen Remus zu durchleuchten. Gerade, als er etwas sagen wollte, fügte Snape mit einem höhnischen Unterton hinzu: „Dabei ist die Luft viel zu schön, um nach drinnen zu gehen, nicht wahr? Ein Vollmondspaziergang wäre doch viel schöner.“ Snape schritt an ihnen vorbei, ein boshaftes Grinsen auf den Lippen, und verschwand im Schloss.

Remus bemühte sich, sich nichts anmerken zu lassen, doch sein Blut rauschte. Er hatte keine Chance, die anderen zu warnen, dass Snape auf der Lauer lag oder irgendetwas anderes plante. Remus konnte Madam Pomfrey nur einen guten Abend wünschen und dann im Tunnel unter der Peitschenden Weide verschwinden.

Mit wummerndem Herzen lief Remus in der Heulenden Hütte auf und ab. Wenn Snape etwas ausgeheckt hatte, um die anderen in die Falle zu locken, dann musste er sie warnen. Aber er konnte hier nicht raus, die Gefahr war viel zu groß, dass er den Moment, zu dem der Vollmond am höchsten stand, falsch abpasste und er sich draußen in einen ausgewachsenen, blutrünstigen Werwolf verwandelte.

Und dann begann das Knirschen. Er versuchte, dagegen anzukämpfen, mit purer Willenskraft die Verwandlung zu stoppen oder wenigstens hinaus zu zögern, doch er wusste nicht einmal, wofür. Zehn Minuten oder zwei Stunden änderten nichts an der Situation, dass die anderen drei womöglich Snape in die Arme liefen. Der Verräter, der Feigling! War das die Rache dafür, dass die vier es sich auf die Fahnen geschrieben hatten, die Muggelstämmigen vor Snape und seinen bösartigen Freunden zu schützen?

Mit unverhohlener Missgunst musterten die gelben Augen des Werwolfs den Hirsch, den Hund und die Ratte. Er traute ihnen nicht, doch die beiden großen Tiere waren durchaus in der Lage, ihn zu verletzten, wenn sie nur wollten, darum griff er sie nicht sofort an. Vor allem das Geweih des Hirsches verhieß nichts Gutes…

Der Hund bellte und das Geräusch brachte etwas im Inneren des Werwolfs zum Klingen. Remus brach durch und atmete tief ein, als er die Kontrolle über den muskulösen Körper erlangte. Er strahlte die anderen drei mit einem Blick des Wiedererkennens an. Sie ließen ein kollektives Seufzen hören und warfen sich erleichterte Blicke zu. Remus grinste.

Es funktionierte, es funktionierte immer noch! Warum hatte er daran gezweifelt?

Er taperte in die Küche, darauf bedacht, dass die anderen ihm folgten. Hier hielten sie sich fast nie auf, darum war die Staubschicht am Boden nahezu unversehrt. James lugte über Remus‘ Schulter, Peter hatte sich zwischen seinen großen Pfoten hindurchgeschoben und Sirius linste um die Ecke durch den Türrahmen.

Remus malte mit seiner krallenbesetzten Klaue einen ungelenken Buchstaben in den Staub. Sirius hob unverkennbar die Augenbrauen, also schrieb Remus vier weitere krakelige Lettern in den Staub und dann fügte er ein Fragezeichen hinzu: Snape?

James dunkle Augen musterten ihn fragend und auch Sirius zuckte die Schultern. Remus nickte mit dem Kopf in Richtung Schloss, doch das änderte auch nichts an den Reaktionen der anderen.

Gut… Vielleicht hatte Snape sich nur über Remus lustig machen wollen?

Sirius nickte zum Tunnelzugang und nach einem tiefen Atemzug ergab sich Remus. Peter kletterte an seinem Bein hoch und setzte sich zwischen seine Schultern, dann trabten die drei Großen durch den Tunnel in Richtung der Ländereien.

James lief voraus, in der Mitte Remus und Sirius hintendrein, der, wann immer Remus zögerte, ihn mit dem Kopf vorwärtsschob. So sehr er auch nervte, Remus genoss die Berührungen in dem dunklen Tunnel. Einmal blieb er stehen und drehte den Kopf nach hinten, sodass Sirius seine Schnauze an ihn drückte. Irgendwie schien es in diesen Körpern leichter, einander nah zu sein.

Remus roch die frische Luft, noch bevor sie den Tunnel verließen. Und als er den Kopf hinausstreckte, war das Gefühl überwältigend. Die Nacht war lebendig, die Luft war noch angenehm warm und er konnte die langen Beine richtig ausstrecken. Sie verschafften sich einen Überblick – die Ländereien lagen verlassen da. Seit dem Angriff auf die beiden Zweitklässler gab es so gut wie keine Schüler mehr, die sich nach Einbruch der Dunkelheit draußen herumtrieben. Früher war das anders gewesen, da hatte Remus gelegentlich auf seinen Kontrollgängen jemanden erwischt und mit einer Verwarnung davonkommen lassen.

Sirius nickte hinüber zum Wald und die vier setzten sich in Bewegung, nachdem Peter den Knoten an der Peitschenden Weide gedrückt und ihnen den Weg freigemacht hatte. Das Laub knisterte unter Remus‘ Pfoten, die Äste über ihren Köpfen rauschten und das Mondlicht strahlte so intensiv, dass der Wald ihm taghell vorkam – was auch an seinen Wolfsaugen liegen mochte.

Die Meilen schmolzen unter ihnen nur so dahin. Sie durchstreiften den Wald auf eine ganz andere Art und Weise als je zuvor. In dieser Form, in der die heimischen Tiere und Tierwesen sie nicht als Menschen erkannten, hatten sie Zugang zu Bereichen im Wald, in die sie sich sonst nicht getraut hätten. Remus war sich sogar sicher, dass er einen Augenblick lang ein weiß strahlendes Einhorn gesehen hatte, bevor es wieder zwischen den dunklen Stämmen verschwunden war.

Auch ihre Kommunikation schien mit jeder Minute besser zu werden. Körpersprache und Gesichtsausdrücke ersetzten fast alles, was sie an Sprache benötigten. Natürlich war das keine Unterhaltung über ihre Mitschüler, über den Krieg oder die Prüfungen, aber Remus genoss es, sich zur Abwechslung voll und ganz auf den Moment zu konzentrieren.

Sie trabten hinunter zum See und machten es sich unter ihrer üblichen Birke gemütlich. Das Gras duftete wunderbar und Remus warf sich begeistert auf den Rücken. Sirius sprang sogar ins Wasser und weil er so laut kläffte, dass Remus sich Sorgen machte, jemand könnte auf sie aufmerksam werden, folgten er und James ihm. Das Wasser fühlte sich unerwartet warm an, als er losschwamm, und Remus spürte, wie sein Fell um ihn herumwogte, vor allem am Hals. Peter sprang von seinen Schultern und pflügte durch das Wasser, als hätte er nie etwas anderes getan. Sie planschten eine Weile, doch dann sah Remus, dass der Vollmond langsam zu verblassen begann. Er deutete mit der Schnauze zum Himmel und unwillig gaben James und Sirius nach. Remus, Peter und Sirius schüttelten ihr Fell aus, sobald sie aus dem Wasser traten, nur James hatte mit der Handhabe seiner feinen Glieder ein wenig mehr Probleme.

Die drei eskortierten Remus hinauf zur Peitschenden Weide und hinein in den Tunnel. Nach zwei Dritteln drehten Remus‘ Freunde um und ließen ihn die letzten Schritte allein gehen. Je weiter er von ihnen entfernt war, desto mehr fühlte er, wie der Werwolf in seinem Inneren sich gegen seinen Willen warf wie gegen unsichtbare Gitterstäbe. Remus kämpfte mit all der Kraft, die die letzten Stunden ihm verliehen hatten, bis, nach einer gefühlten Ewigkeit, endlich die Rückverwandlung einsetzte.

Privileg und Pflicht - Mai 1976 (5/6)

Es war bereits nach vier Uhr und die Sonne sollte jeden Moment aufgehen, als Remus völlig ausgelaugt zum Gemeinschaftsraum hineinschlurfte. Zu seiner Überraschung war das Turmzimmer jedoch nicht verlassen; Sirius, James und Peter saßen an ihrem üblichen Tisch. Auch sie sahen übernächtigt aus und hatten dunkle Schatten unter den Augen. Doch in einem weiteren der knuddeligen Sessel entdeckte Remus einen roten Hinterkopf. Wie es aussah, tranken seine Freunde Tee mit Lily Evans.

„Ah, da bist du ja!“, rief Sirius laut bei Remus‘ Anblick. „Wie war deine Sondermission von Dumbledore? Erfolgreich, hoffe ich?“

Remus starrte ihn an, als hätte Sirius den Verstand verloren, doch bis Lily sich zu ihm umgedreht hatte, hatte er seine Miene entsprechend angepasst. James und Peter rissen vielsagend hinter Lily die Augen auf und nickten verbissen.

„Ah, ja, ähm, lief alles super!“

Lily musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen und obwohl sie grün waren und nicht schwarz, hatte er das gleiche Gefühl wie noch vorhin unter Snapes Blick. „Was war das für eine Mission, Remus?“

Die drei Jungs in ihrem Rücken schüttelte heftig die Köpfe. Sirius fuhr sich sogar mit der Hand horizontal über den Hals und hielt sich dann selbst den Mund zu.

„Daaa….rüber darf ich leider nicht reden. Entschuldige.“ Remus setzte eine zerknirschte Miene auf, während er näherkam. „Was macht ihr denn alle hier schon so früh?“

„Wir“, sagte Lily betont ruhig und stand aus ihrem Sessel auf, „haben hier auf dich gewartet. Denn diese drei habe ich vor etwa einer Stunde im Treppenhaus unten im dritten Stock gefunden, sind herumgeschlichen, als gehörte ihnen das Schloss.“

James und Sirius grinsten in ihrem Rücken und Peter zuckte ein wenig hilflos mit den Schultern.

„Das Dumme war…“, sagte Lily und jetzt trat ein geradezu bedrohlicher Tonfall in ihre Stimme, „im gleichen Moment ist auch Filch aufgetaucht, mit dieser Katze.“

„Oh“, sagte Remus.

„Ja. Oh. Er war natürlich nicht sonderlich begeistert davon, dass vier Schüler mitten in der Nacht aus den Betten sind. In Zeiten wie diesen. Und vor allem nicht, wenn einer von diesen vieren wegen anderer Vergehen, wie er das nennt, sowieso schon bei ihm von der Decke baumeln sollte…“ Lily warf Sirius einen vielsagenden Blick zu, dem das überhebliche Grinsen verging. „Das war also eine ziemlich haarige Situation, du verstehst… Wie gut, dass ich also zufällig da war und Filch zeigen konnte, dass ich als Vertrauensschülerin selbst angehalten bin, diese Rumtreiber aufzugreifen und zu Professor McGonagall zu bringen. Seltsamerweise hatte er auf einen Schlag noch viel schlechtere Laune.“ Remus sah, dass sie es zu unterdrücken suchte, aber ihre Mundwinkel zuckten. Als Lily weitersprach, wurde ihr Ton mit jedem Wort amüsierter. „Wir sind dann also zu viert wieder nach oben und völlig überraschend war Professor McGonagall nicht hier im Gemeinschaftsraum, als wir ankamen. Also habe ich die drei gebeten, mir doch mal zu erklären, warum sie da draußen rumgeschlichen sind, damit ich die Gefahr einschätzen kann, die von ihnen ausgeht, und warum ich nicht zu Professor McGonagall gehen sollte. Und dann kamen sie mit der Geschichte von deiner Geheimmission für Dumbledore.“ Lily zog die Augenbraue hoch. „Also? Was war hier los?“

Remus war noch nicht so weit. „Das heißt, du bist für sie in die Bresche gesprungen?“, fragte er ungläubig. „Warum?“

„Ja, das frage ich mich langsam auch, nachdem ich den Eindruck habe, dass man mich hier sowieso nur anlügt.“

„Ich– ich war wirklich für Dumbledore unterwegs. Ich, äh, sollte die Ländereien im Blick behalten. Wegen Dunn und Rowe.“

„Die Ländereien? Seit wann gehen wir denn davon aus, dass der Angreifer von draußen kam? Im Übrigen ist es doch fast unmöglich, unbemerkt auf das Gelände zu kommen. Verkauf mich nicht für blöd.“ Gerade als Remus argumentieren wollte, fügte Lily hinzu: „Und selbst wenn es so wäre, warum weiß ich dann nichts davon? Sollten das dann nicht alle Vertrauensschüler machen?“

„So weit hat man mir das nicht erklärt. Ich sollte einfach nur über die Ländereien laufen und schauen, ob irgendwas Ungewöhnliches vor sich geht.“

„Du meinst, etwas Ungewöhnliches wie drei Fünftklässler, die zufällig deine besten Freunde sind?“

„Evans, ich hab‘ doch schon gesagt, dass er nichts davon wusste“, warf James beschwichtigend ein.

Remus machte jetzt ein aufrichtig verwirrtes Gesicht: „Wovon wusste?“

„Naja…“, meldete sich jetzt Sirius mit einem fast überzeugend betretenen Tonfall, „wir haben versucht, dir nachzuschleichen. Dachten, wir können rausfinden, was Dumbledore dir aufgetragen hat. Aber Evans hat uns erwischt.“

„A-achso“, gab Remus zurück und nickte, „ja, äh, geschieht euch recht.“ Er fand zunehmend in seine Rolle. „Ihr hättet einfach im Bett bleiben sollen!“

Lily musterte sie alle vier mit misstrauischen Augen, dann schluckte sie ein Gähnen runter. „Ihr könnt echt froh sein, dass ich als erstes eine Freistunde habe. Sonst hätte ich jetzt viel schlechtere Laune.“ Sie ging zur Tür, hinter der die Treppe zum Mädchen-Schlafsaal lag.

„Danke Lily“, sagte Remus und schenkte ihr ein aufrichtiges Lächeln.

„Ja, danke, Evans!“, rief James ihr ein wenig zu laut nach, aber Lily war schon halb verschwunden und machte nur eine lässige Handbewegung.

„Wisst ihr was, ich glaube, sie mag mich.“

Privileg und Pflicht - Mai 1976 (6/6)

Später beim Mittagessen fasste sich Remus schließlich ein Herz. Den ganzen Vormittag hatte er schon wie auf heißen Kohlen gesessen, seit er festgestellt hatte, wie schlecht das Ergebnis seiner Schrumpflösung war, die er vor ein paar Tagen angesetzt hatte. Er stand von seinem Platz neben Sirius auf, warf Peter und James einen vielsagenden Blick zu und ging ein paar Schritte den Gryffindor-Tisch hinunter.

„Lily?“, fragte er, als er bei ihr und ihren Freundinnen angekommen war. „Kann ich dich was fragen?“

„Klar, schieß los“, sagte sie und schaute ihn mit diesen freimütigen grünen Augen an. Sie hatte ihr Mittagessen bereits beendet und ein offenes Buch auf ihren inzwischen wieder blanken Goldteller gelegt.

„Würdest du vielleicht mit mir… für Zaubertränke lernen?“ Er machte ein tölpeliges Gesicht, von dem er hoffte, dass es Mitleid erregte, und hörte, wie Sirius einige Plätze weiter laut in seine Rosmarin-Kartoffeln prustete.

„Wobei brauchst du denn Hilfe?“, fragte Lily und drehte sich jetzt ganz auf ihrer Bank um. Mary Macdonald musterte Remus interessiert.

„Ach… ich weiß gar nicht genau, wo ich anfangen soll. Wenn’s nur um Zutaten geht, ist alles ganz okay. Aber ich kriege es einfach nicht hin, Rezepte richtig umzusetzen.“

„Du meinst, du bist unkonzentriert?“ Verwundert hob Lily die Augenbrauen. „Jeder kann doch einfach ein Rezept befolgen.“

Mary Macdonald kicherte leise, verstummte aber, als Remus sie beleidigt ansah. „Ich weiß nicht genau, woran es liegt! Aber vielleicht kriege ich’s ja raus, wenn du mir hilfst.“

„Okay. Wir haben doch nachher die Freistunde nach Verwandlung. Wir können runter in die Kerker gehen und gucken, ob ein Braukeller frei ist.“

„Gerne“, seufzte Remus dankbar. „Ich bin dir was schuldig.“

„Das bist du sowieso“, sagte Lily und grinste frech. Mary Macdonald musterte Remus misstrauisch, dessen Mundwinkel kurz zuckten. Dann ging er zurück zu den anderen.

„Das wird schon, Moony“, sagte Sirius zu ihm und klatschte ihm hart auf den Rücken, ohne sein Lachen zu verstecken. „Aber es wäre schon fair von dir, James mitzunehmen. Schau, ich glaube, wenn du jetzt ein Pergament an sein Gesicht hältst, geht es vor Neid direkt in Flammen auf.“
 

Nach der Stunde bei Professor McGonagall rannte Remus hinauf in den Schlafsaal, schulterte dort seinen Kessel, seine Zutaten und seine Zaubertrank-Notizen, und begab sich hinunter in die Kerker. Obwohl draußen sommerliches Wetter Einzug gehalten hatte, war es hier unten noch immer modrig und klamm. Er konnte die Kerker nicht sonderlich leiden und seit er Rowe und Dunn an der Wand hatte liegen sehen, verbrachte er hier normalerweise so wenig Zeit wie nur irgend möglich. Es war, als verfolgten ihn diese farblosen Augen.

Remus traf Lily im Zaubertränke-Korridor. Offenbar wartete sie bereits auf ihn.

„Hier können wir rein“, sagte sie und deutete auf eine Tür. „Das Klassenzimmer ist leer und Slughorn hat mir schon vor Ewigkeiten erlaubt, es zu benutzen.“

„Natürlich hat er das“, kommentierte Remus trocken. „Der wunderbaren Miss Evans kann er doch nichts abschlagen!“

Sie zog eine Grimasse und stieß die Tür auf, hinter der sie bereits eine Feuerstelle für Kessel entzündet hatte.

„Bist du viel hier unten?“, fragte er, während sein Blick über die kahlen Steinwände fuhr. Lily zuckte mit den Schultern.

„Ich mag Zaubertränke. Schon seit der ersten Klasse. Irgendwie habe ich das Gefühl, das ist etwas, das ich von Anfang an wirklich gut konnte. Es ist ein bisschen wie Kochen und das kannte ich von zuhause… Früher habe ich gerne mit meiner Schwester gekocht…“

„Verstehe“, sagte Remus und setzte sich neben der Feuerstelle an ein Pult.

„Severus und ich haben hier schon alles Mögliche an Tränken ausprobiert. Er ist wirklich unglaublich gut, weißt du. Er schreibt auch seine eigenen Rezepte.“

„Seid ihr deswegen befreundet?“, rutschte es Remus heraus und er schalt sich im nächsten Moment dafür, weil er hören konnte, wie es geklungen hatte.

Lily sah aus, als habe sie Magenschmerzen. „Auch. Wir haben früher in der gleichen Gegend gewohnt und er war der Erste, der mir je etwas von Hogwarts und überhaupt Zauberei und so weiter erzählt hat. Es gab keine anderen magischen Menschen in der Umgebung und ich denke mal, da war es kein Wunder, dass wir beste Freunde wurden.“

„Darf ich was sagen?“

„Du willst wissen, wieso ich immer noch mit ihm befreundet bin?“

„Nun…“, sagte Remus etwas perplex. „Ja, irgendwie schon.“

„Da bist du nicht der Erste. Manchmal frage ich mich das ehrlich gesagt auch.“ Sie stieß die Luft aus und setzte sich auf Remus‘ Pult. Ihre Füße baumelten in der Luft. „Ich weiß nicht, ob ich früher nur nicht gemerkt habe, dass er so ist, oder ob er sich wirklich verändert hat. Er hat mir zum Beispiel neulich erzählt, dass er Filch auf deine Freunde ansetzen will, damit Sirius Black von der Schule fliegt. Aber ich fand das nicht fair – nur weil er einen Freund… also, weil er bei Vollmond auf den Fluren rumlungert.“ Remus starrte sie an, doch Lily fuhr fort, als sei nichts gewesen. „Das ist das eine. Aber manchmal finde ich Severus‘ Humor einfach nur noch ekelhaft. Mulciber, dieser Slytherin aus der Siebten, ist ein Freund von ihm und er wollte Mary neulich zum Spaß häuten. Häuten, Remus! Zum Spaß!“ Lily schüttelte sich angewidert und Remus sah, wie sie etwas errötete. Er konnte nicht sagen, ob es vor Wut war oder vor Scham.

„Deine Freunde sind allerdings auch nicht immer das Gelbe vom Ei“, fügte sie jetzt etwas spitz hinzu und Remus machte innerlich das Häkchen bei «Scham». „Dir nachts hinterherschleichen und so weiter…“

„Ja, sie sind ziemlich verrückt…“, gestand Remus ohne jede Lüge. „Aber sie sind die besten Freunde, die ich je hatte.“

Lily nickte, als wüsste sie, was er meinte, und vielleicht tat sie das ja auch.

„Kann ich dich noch was fragen?“

Sie schaute ihn auffordernd an.

„Glaubst du, Snape hat was mit Bertram und Casper zu tun?“

„N-“, setzte Lily an und er erwartete bereits, dass sie es vehement abstritt, doch dann seufzte sie: „Nun, ich hoffe es einfach nicht. Wenn doch… Ich… ich weiß nicht, was ich tun würde. Aber seine Freunde und er… manchmal habe ich den Eindruck, sie wären gerne Todesser, wenn sie nur könnten.“ Es schauderte sie. „Vermutlich denkst du, ich bin wahnsinnig, mich mit ihm abzugeben.“

„Nein. Nein, tue ich nicht, auch wenn ich’s wirklich nicht verstehe.“ Er schaute sie direkt an und Lily lächelte traurig.

„Ich nehme an, wir haben alle unsere Fehler, oder?“

„Das auf jeden Fall“, gab Remus bestimmt zurück. „Ich sollte auch viel mehr Rückgrat zeigen. In der letzten Zeit habe ich es versucht – und ich habe manchmal den Eindruck, es hat auch was gebracht – aber trotzdem ist es viel zu wenig.“

„Es hat was gebracht“, sagte Lily. „Ehrlich gesagt habe ich deine drei kleinen Kumpanen auch nur deswegen laufen lassen. Weil ich mitgekriegt hab, wie ihr euch einsetzt.“

„Danke noch mal“, sagte Remus und in ihm flatterte sein Herz. Sie kamen dem eigentlichen Thema schon wieder viel zu nahe.

„Und ich, ich kann nicht loslassen“, sagte Lily mit belegter Stimme. Dann murmelte sie: „Ich verstehe nicht, wie Sirius das macht. Mit seinem Bruder.“

Remus zuckte unwillkürlich. Damit hatte er nicht gerechnet. Wieviel wusste Lily Evans über die Blacks? Und wieviel über die beiden Söhne in Hogwarts?

„Ich glaube, das ist einfach eine sehr, sehr lange Geschichte der Enttäuschung…“, sagte er ausweichend. „Und Sirius ist jetzt nicht gerade der Typ, der etwas auf sich sitzen lässt. Er schießt dann einfach zurück.“

„Vielleicht bräuchte ich auch mal einen großen Knall, verstehst du, damit ich endlich loslasse…“

„Tja, ich nehme an, das könnte schon helfen, ja. Trotzdem schrecklich, was dieser Krieg aus Familien und Freunden macht.“ Remus starrte verbissen auf das Holzpult. „Nein. Was Du-weißt-schon-wer aus den Leuten macht. Er ist es. Ich meine, ich würde für Sirius, James und Peter meine Hand ins Feuer legen. Wirklich.“ Er atmete tief ein. „Ich würde sterben für sie. Aber wer sonst kann sowas schon von sich sagen?“

„Nicht viele“, pflichtete Lily ihm bei, offenbar beeindruckt von der Tiefe seiner Gefühle. „Du-weißt-schon-wer hat es geschafft, dass die Leute einander nicht mehr vertrauen. Das hat Dumbledore doch auch in seiner Rede gesagt. Dass wir nicht aufhören dürfen, einander zu vertrauen, auch wenn der Täter vermutlich im Schloss ist.“

„Ja… Er ist ziemlich weise, oder?“

„Auf jeden Fall“, lachte Lily. „Insofern versteh ich schon, dass du nichts auf die drei kommen lässt. Aber Potter ist und bleibt ein Widerling. Verhext Leute, nur, weil er es kann. Als hätte er ein Recht dazu.“ Sie schüttelte ratlos den Kopf.

Jetzt war es an Remus, eine Grimasse zu ziehen. Der arme James stand offensichtlich auf verlorenem Posten.

„Sollen wir anfangen?“

„Ja! Gerne. Ich weiß nur nicht wo, wie gesagt…“

„Okay. Hmm... Ich meine, du hast es immerhin bis hierher geschafft, du bist also kein völliger Anfänger, oder? Aber neulich ist mir aufgefallen, dass du zum Beispiel den Schöpflöffel so komisch hältst und darum das Rühren bei dir immer eher ein Oval wird als ein Kreis… Hier, schau mal…“

 

Auch am Tag darauf, einem Samstag, trafen Remus und Lily sich wieder im Kerker. Mit wenigen Handgriffen hatte er schon viel an seiner Braukunst verändert, was ihm zuvor nie aufgefallen war. Lily war eine etwas ungeduldige Lehrerin, aber sie hatte genug für Remus übrig, ihm immer wieder zu zeigen, was er anders machen sollte. „Ist ehrlich gesagt auch kein Wunder, wenn du das alles nicht so richtig mitgekriegt hast“, sagte Lily abfällig. „Slughorn ignoriert alle, die ihn nicht interessieren. Und wenn er dich erstmal aussortiert hat, hilft er dir auch nicht, irgendwelche Fehler zu korrigieren. Er ist eine ganz schöne Kröte.“

Immer wieder hatten sie ihre Lernerei unterbrochen und stattdessen über den Krieg und die Todesser und den noch immer nicht gefassten Täter im Schloss gesprochen. Und Remus hatte versprochen, sich bei Lily zu revanchieren, indem er sie in Pflege magischer Geschöpfe unterstützte. Lily sagte, es fiel ihr schwer, über ihren Schatten zu springen und dunkle Kreaturen zu studieren, vor denen sie sich eigentlich nur fürchtete: „Das sind alles diese Monster, die in Muggelmärchen vorkommen. Und ich hatte als Kind schon richtig Angst vor Märchen! Mir jetzt vor Augen zu halten, wie echt diese Biester alle sind, und noch mehr blutrünstige Details hinzuzufügen… nein danke! Thestrale, Seeungeheuer, Rumpelstielzchen – das ist bestimmt eine Rotkappe gewesen…“

„Aber bist du sicher, dass du von magischen Geschöpfen redest und nicht den dunklen Kreaturen, die in Verteidigung gegen die dunklen Künste dran kommen?“ Remus runzelte die Stirn.

„Mal so, mal so“, sagte Lily. „Todesfeen, Vampire… kommen doch sonst auch nur in Horrorgeschichten und Fabeln vor.“

„So wie der große böse Wolf, der sprechen kann und kleine Kinder frisst“, fügte Remus mit einem Stich im Herzen hinzu. Er wusste selbst nicht recht, wieso er das Thema wieder anschnitt.

„Genau…“, sagte Lily und beugte sich über den blubbernden Kessel. „Wobei wir doch eigentlich alle wissen, dass Werwölfe ganz normale Menschen sind, solange sie sich nicht verwandeln, oder?“

„Ach, öhm, meinst du?“, fragte Remus mit einer Stimme, die eine Spur zu hoch war. Er war froh, dass Lily gerade prüfend ihr köchelndes Euphorie-Elixier aus dem Kessel schöpfte und zurückplätschern ließ.

„Ja, oder? Professor Fawley hat ein paar Mal gesagt, dass keinerlei Gefahr von einem Werwolf ausgeht, solange nicht Vollmond ist.“

„Ach ja. Stimmt wohl…“

Lily hob den Kopf und schaute ihn durchdringend an. Etwas in Remus vibrierte. Dann sagte sie lächelnd: „Wir müssen noch mal Holz nachlegen, ich glaube, die Temperatur ist etwas zu niedrig.“

Macht kommt von machen - Juni 1976 (1/9)

„Das lief doch ganz solide“, sagte James, als sie am Montag in der folgenden Woche beim Mittagessen saßen. Sie hatten gerade ihre schriftliche Zaubertrank-Prüfung hinter sich gebracht. James zerstrubbelte sich seine schwarzen Haare und schielte zu Lily Evans, die einige Plätze weiter neben ihren Freundinnen saß und schon wieder über einem Buch brütete. Sie beachtete ihn nicht.

Selbst Remus war ganz guter Dinge ob seiner Prüfung, denn für das schriftliche Verfahren hatte er zumindest alles auswendig lernen und niederschreiben können. Und mit Lilys kurzfristiger Nachhilfe hatte er nun die Hoffnung, durchaus annehmbar durch die praktische Prüfung am Nachmittag zu kommen. Ein großer Braumeister würde wohl nie aus ihm werden, aber man lernte ja nun einmal auch nicht für das Leben.

Drei Tage später, nachdem die Fünftklässler auch noch ihre Prüfungen für Zauberkunst, Pflege magischer Geschöpfe und Kräuterkunde abgelegt hatten, stand nachts das Examen für Astronomie an. Es war das einzige Fach, das Remus nicht belegte, sodass er bei Einbruch der Dunkelheit allein im Schlafsaal zurückblieb und zur Abwechslung einmal die Stille genießen konnte.

Er war froh über einen freien Abend, denn so langsam merkte er, dass das Pensum ihm an die Substanz ging. Doch da ihm als nächstes Muggelkunde und Zaubereigeschichte ins Haus standen, machte er sich nicht allzu große Sorgen. Das war nicht viel mehr als stumpfes Auswendiglernen und das fiel ihm leicht. Danach fehlten nur noch Verteidigung gegen die dunklen Künste und Verwandlung. Und auch in diesen beiden Fächern war Remus wirklich gut.

Er streckte sich auf dem Himmelbett aus und massierte sich den Nacken. Er hatte endlich angefangen, das Buch, das Lily ihm geschenkt hatte, zu lesen – seit Remus Geburtstag gehabt hatte, war so viel passiert… – doch es gelang ihm nicht recht, sich auf den Roman zu konzentrieren.

Es war irgendwie zu still. Er fühlte sich, als liefen unter seiner Haut hunderte Ameisen. Er hatte Tatendrang.

Remus' Blick fiel auf Sirius' Schnitzerei auf seinem Nachttisch und ein leichtes Lächeln schlich sich auf seine Züge. Die vier hölzernen Figuren schienen ihm verschwörerisch zu zu grinsen. Kurzentschlossen holte Remus ein gewisses Pergamentstück, das er seit Beginn der Prüfungen praktisch gar nicht mehr angesehen hatte, aus der Nachttischschublade. James und Sirius hatten es schon vor zwei Wochen mit einem Bann belegt, der es vor unwissenden Augen schützen sollte. Jetzt musste Remus eine komplizierte, verschlungene Bewegung mit dem Zauberstab machen, um die Tintenlinien erscheinen zu lassen. Seiner Meinung nach war dieser Zauber noch durchaus verbesserungswürdig.

Er faltete die obere Ecke der Karte so weit um, bis das Pergament fast nur noch halb so groß war wie ursprünglich, doch das war kein Problem: Der Grundriss des Astronomie-Turms ganz oben war ohnehin relativ schmal. Dort mussten Sirius, James und Peter jetzt sitzen und zeichneten vermutlich die Positionen von Merkur, Venus und Mars ein, oder was auch immer man in Astronomie genau tat. Aber Remus konnte nichts davon sehen… Sie waren mit dem Aufspüren von Menschen immer noch nicht vorwärtsgekommen. Er runzelte die Stirn.

Remus wiederholte die komplizierte Zauberstabbewegung, nur diesmal rückwärts, und löschte die Karte, bevor er sie in die Hosentasche steckte. Dann stand er auf. Er ging hinüber zu James‘ Bett, öffnete den Schrankkoffer und holte den silbrigen Stoffumhang heraus. Als er ihn sich zur Sicherheit um die Schultern legte, verschwand sein gesamter Körper bis auf seinen Kopf. Der Tarnumhang funktionierte also noch einwandfrei… Remus nahm ihn wieder ab, kontrollierte aber, ob sein Vertrauensschülerabzeichen deutlich zu sehen war, und stopfte den Umhang möglichst flach unter seinen abgewetzten Pullover. Nur für den Fall der Fälle.

Dann verließ er den Schlafsaal, durchschritt den Gemeinschaftsraum und sprang aus dem Portraitloch.

Die Bibliothek lag still und dunkel dar. Es wirkte nicht so, als wäre jemand da, nicht einmal Madam Pince. Das Mondlicht leuchtete schwach durch die Buntglasfenster und tauchte die Bücherregale in geisterhaftes Licht. Es war unheimlich.

Stell dich nicht so an, dachte Remus streng und straffte die Schultern, Du hast schon ganz andere Horrorgeschichten erlebt.

Er hob den Zauberstab, entzündete ihn mit Lumos und lief auf leisen Sohlen weiter. Die ungefähre Richtung, in die er wollte, kannte Remus. So oft schon hatte er für Zauberkunst irgendwelche nützlichen kleinen Zauber nachgeschlagen. Und wenn Flitwick ihm nicht half, dann half Remus sich eben selbst: Bei einem Regal, das mit «Herumschnüffelei» gekennzeichnet war, hielt er inne. Das klang doch genau richtig.

Er musterte die alten Buchrücken und blies hie und da Staub von den verblichenen Aufdrucken. Wer hören will, muss fühlen und 100 Gründe, deinem Nachbarn nicht zu trauen von Aurelia Cabbage sowie Misstrauisch wie ein Knarl von Lurch Scamander ließ Remus links liegen, doch dann zog Verteidigung von Haus und Hof – Eine Schritt-für-Schritt-Anleitung seine Aufmerksamkeit auf sich. Er zog den schweren, staubigen Band aus dem Regal und trug ihn zu einem nahegelegenen Arbeitsplatz hinüber. Als er das Buch aufschlug, musste Remus ein Husten unterdrücken.

Das Inhaltsverzeichnis nannte ihm allerlei nützliche Zauber, um das eigene Zuhause in eine magische Festung zu verwandeln (Fidelius, Repello Muggeltum, …), aber auch widerliche Vorschläge wurden unterbreitet: Eine besonders bösartige Variante des Schildzaubers war Protego Diabolico, das ein blaues Feuer um das Gebäude heraufbeschwor, um sämtliche Eindringlinge bei lebendigem Leib zu verbrennen. Er verzog angewidert das Gesicht und wollte das Buch gerade wieder schließen, als sein Blick auf die Kapitelüberschrift Feinde aufspüren fiel.

Remus schlug die entsprechende Seite auf und entdeckte nach den ersten zehn Seiten endlich, was er suchte: Homenum Revelio. Er las die Beschreibung der Zauberstabbewegung aufmerksam durch, schaute aus Erfahrung nach, ob es eine Fußnote gab, die schreckliche Nebenwirkungen ins Kleingedruckte verschoben hatten (nein), und dann sah er seinen Zauberstab auffordernd an.

Homenum revelio!“, flüsterte Remus. Es fühlte sich an, als wäre sein Herzschlag plötzlich ganz laut geworden. Als könnte er, wie eine Fledermaus, das Echo, das sein Herz erzeugte, auffangen und orten. Und zu Remus‘ großem Entsetzen war da etwas, das das Signal zurückwarf.

Mit aufgerissenen Augen musterte Remus den Zugang zur Verbotenen Abteilung. Irgendjemand musste direkt hinter dem ersten Regal stehen. Stehen oder sitzen. Er schluckte hart und flüsterte seinem Zauberstab auf der Stelle Nox zu. Das bläuliche Licht an seiner Zauberstabspitze erlosch und Remus zog sich in den Schatten eines Regals zurück, bevor er den Tarnumhang unter seinem Pullover hervorzog und ihn sich überwarf.

Inzwischen war das Gefühl des Echolots verschwunden, aber er war sich immer noch ganz sicher, dass er die Anwesenheit eines Menschen gespürt hatte. Ob es wohl Madam Pince war? Oder vielleicht Filch?

Remus war nicht sonderlich erpicht darauf, von einem der Erwachsenen mitten in der Nacht in der Bibliothek erwischt zu werden, Vertrauensschüler hin oder her. Doch gleichzeitig war da auch die Neugier. Er hatte nicht den Eindruck, dass Filch oder Madam Pince sich im Dunkeln verstecken würden. Gerade die Bibliothekarin hatte doch überhaupt keinen Grund zur Heimlichtuerei und würde sicherlich Licht anmachen.

Mit zittrigem Gefühl in der Magengegend schlich Remus vorwärts. Als er die Kordel, die die Verbotene Abteilung vom Rest der Bibliothek trennte, erreichte, hob er den Zauberstab auf Augenhöhe und flüsterte, so leise er konnte, noch einmal: „Homenum Revelio.“

Die menschliche Silhouette war noch immer da. Jetzt war Remus sich sicher, dass sie an einem Pult saß, über ein Buch oder etwas anderes gebeugt. Und es war die Figur eines Mannes. Damit fiel Madam Pince mit ihrer korsettbewährten Taille schon mal aus dem Raster.

Remus hob vorsichtig einen Fuß und setzte ihn lautlos über die Kordel. Dann folgte der zweite Fuß, immer in der Hoffnung, kein Geräusch zu machen und die versteckte Person nicht aufzuschrecken. Er lauschte intensiv, doch Remus hörte keinen Mucks, also schlich er auf das Ende des Regals zu, das er nur noch umrunden musste, um den Mann zu sehen.

Die Ecke, in der er saß, war stockdunkel. Hierher fiel aufgrund der dicht beieinanderstehenden Regale kein Mondlicht mehr und weder hatte er eine der funzeligen Tischlampen angeschaltet, noch war sein Zauberstab erleuchtet. Remus runzelte die Stirn und die Vorahnung von Gefahr durchschoss ihn wie Hitze. Er ging zwei weitere Schritte vor, dann konnte er den Mann erkennen.

Helles, schulterlanges Haar bedeckte das Gesicht, das mit einer Wange auf einem aufgeschlagenen Buch lag. Der Mann war offensichtlich ein älterer Schüler. Und er war vollkommen regungslos. Panik schoss in Remus hoch, doch dann konnte er das unverkennbare Geräusch von schlafendem Atem hören. Eine Woge der Erleichterung durchflutete ihn – für einen Moment hatte er Angst gehabt, einer Leiche gegenüberzustehen.

Was sollte er jetzt tun? Ihn einfach weiterschlafen lassen? Dann war fast garantiert, dass Filch ihn noch vor Ende der Nacht aufgabelte. Schließlich rückte Remus lautlos zur Seite, um den kürzesten Weg hinaus aus der Bibliothek freizumachen. Dann zog er sich den Tarnumhang vom Gesicht, nur vom Gesicht, und pustete dem Jungen in die Haare. Sobald er sich regte, beeilte sich Remus, sich wieder vollständig zu bedecken und kein Geräusch mehr von sich zu geben.

Der Junge hob den Kopf und stöhnte, als er seinen Nacken streckte. Es war David Alinac.

Remus war drauf und dran, sich selbst an die Stirn zu schlagen, weil er ihn nicht sofort erkannt hatte – er wusste doch, dass der ehrgeizige Ravenclaw beinahe rund um die Uhr für seine Semesterarbeit büffelte. Remus hatte ihn vor der Zauberkunst-Prüfung mit Professor Flitwick darüber sprechen hören, dass er sich mit seinen UTZen auf eine Stelle im Ministerium bewerben wollte.

Alinac schauet sich mit verwirrter Miene um, zog seinen Zauberstab, ließ ihn wortlos aufleuchten und warf einige Pergamentrollen und ein zugedrehtes Tintenfass in seine Schultasche. Dann schulterte er sie, schlug das Buch auf der Tischplatte zu und machte sich mit schnellen Schritten davon. Remus lächelte zufrieden.

Gerade, als der Lichtschein von Alinacs Zauberstab zwischen dem letzten Regal hindurchflackerte, fiel Remus‘ Blick auf den Titel des Buches, das Alinac zurückgelassen hatte:

Gar böse Zauberey

Macht kommt von machen - Juni 1976 (2/9)

„Das passt alles zusammen“, sagte James grimmig. Sie saßen auf ihren Betten im Schlafsaal. Nur Sirius setzte sich neben Remus, als der seine Erzählung beendete.

„Ja“, pflichtete Sirius James bei. „Ich habe mich schon die ganze Zeit gewundert, warum Slytherins buchstäblich neben ihrer Haustür einen Mord – naja, nicht ganz, aber fast – begehen würden. Nicht gerade listig, oder?“

„Schon –“, setzte Remus an.

James ließ ihn nicht ausreden: „Und Alinac ist ein Ravenclaw. Der wusste vermutlich als einer der Ersten, dass die beiden Jungs Muggelstämmige sind.“

„Ja, aber –“

„Und er ist klug genug, es den Slytherins in die Schuhe zu schieben“, warf Sirius wieder ein.

„Und wie wir alle wissen, werden nicht nur Slytherins zu schwarzen Magiern, oder? Über Weihnachten haben die Auroren doch zum Beispiel Cybele Lovegood festgenommen. Das stand dick in der Zeitung. «Erster Erfolg des neuen Zaubereiministers Harold Minchum.» Die war eine Hufflepuff und sitzt jetzt für Mord in Askaban.“ James sah düster in die Runde. „Nur weil niemand von uns sich das vorstellen kann, heißt das nicht, dass es nicht auch Hufflepuffs, Gryffindors und Ravenclaws gibt, die heimlich glauben, dass Muggel und Muggelstämmige nichts wert sind. Mit dem richtigen Anreiz kann ich mir gut vorstellen, dass welche überlaufen. Oder schon immer auf der dunklen Seite standen.“

Remus nickte so betreten, dass Sirius ihm einen Arm um die Schulter legte. Er lehnte sich kurz in die Berührung, dann sagte Remus: „Trotzdem haben wir keinen Beweis.“

„Schon. Aber brauchen wir denn einen?“, fragte Peter, der nervös an seiner Socke herumzog. „Wir könnten doch einfach den Lehrern sagen, was du gesehen hast, und dann behalten sie ihn im Auge.“

„Du willst das den Lehrern überlassen?“, gab James mit leicht fassungslosem Blick zurück.

„Also…“, murmelte Peter, aber Sirius überrollte ihn bereits:

„Wir sollten Alinac beschatten. Moony kann ja jetzt Leute aufdecken“, er drückte Remus‘ Schulter, dann ließ er ihn los, „wir haben den Tarnumhang, sind zu viert… Wurmschwanz könnte sogar als Ratte spionieren.“ Seine grauen Augen leuchteten. „Wir könnten ihn erwischen.“

„Aber wir haben noch Prüfungen. Und dann ist das Schuljahr fast zu Ende.“

„Müssen wir ihn eben schnell erwischen.“

„Das müssen wir sowieso. Wir können doch nicht riskieren, dass er noch irgendjemand anderes angreift“, warf James ein.

„Wenn er es denn überhaupt war.“

„Ja, Moony, wenn er es überhaupt war.“ James rollte die Augen. „Genau das rauszufinden, ist doch das Ziel, oder?“

Remus musste an Lily denken und dann sagte er mit fester Stimme: „Ja.“

 

Am nächsten Morgen teilten die vier sich auf. Während Remus zu seiner Muggelkunde-Prüfung ging und James und Sirius Arithmantik absolvierten, sollte Peter sich verwandeln und in der Verbotenen Abteilung nachsehen, ob das Buch noch da war. Es war schade, dass Alinac es in der Nacht zugeschlagen hatte, aber sie hatten die leise Hoffnung, dass sie anhand dessen, wie die Seiten fielen, doch noch herausfinden konnten, was er gelesen hatte.

Alinac selbst zu überwachen, war unnötig: Er saß mit Sirius und James in der Prüfung („Natürlich hat er nicht Muggelkunde belegt…“) und machte keinerlei Anstalten, irgendjemanden anzugreifen.

„Hat nur die ganze Zeit wie ein Wahnsinniger drauflosgeschrieben“, spottete James beim Mittagessen, „als würde viel Text auch viele Punkte bedeuten…“

Peter reckte immer wieder nervös den Hals, um den Ravenclaw-Tisch im Blick zu behalten.

„Und, hast du was rausgefunden?“, fragte James ihn leise.

„N-nicht wirklich. Das Buch war ziemlich schwer… Ich hab’s nicht sofort aufgekriegt.“

„Du hast dich aber schon zurückverwandelt, oder?“, murmelte Sirius trocken.

„J-ja, irgendwann schon“, antwortete Peter flüsternd und wurde ein wenig rot um die spitze Nase. „Aber auch dann – das Buch hat geheult, als ich es angefasst habe, und dann musste ich mich beeilen. Madam Pince kam angerauscht und hat es wieder ins Regal gestellt. Das Einzige, was ich vorher noch gesehen habe, war der Kapiteltitel: «Opfer-Rituale».“

Sirius zog die Nase kraus, was Remus noch nie gesehen hatte. Auch wenn der Anlass widerwärtig war, der Anblick war irgendwie niedlich.

„Er steht auf“, sagte James plötzlich. Remus und Sirius fuhren herum, um Alinac nach zu starren.

„Ich geh schon“, erklärte Sirius. James drückte ihm unter dem Tisch das Bündel Tarnumhang in die Hand und dann lief Sirius eiligen Schrittes hinaus.

„Was machen wir eigentlich, wenn wir ihn bei irgendwas erwischen? Wir können ihn ja schlecht dabei filmen. Und dann haben wir wieder keinen Beweis.“

„Was meinst du, «filmen»?“, fragte James und musterte Remus neugierig.

„Das ist wie fotografieren, nur dass das Bild sich bewegt.“

„Also… fotografieren?“, fragte James und zog eine Augenbraue hoch.

„Ähm. Ja.“ Remus winkte ab. „Ich meine nur – wie beweisen wir irgendwas?“

James schien auch noch nicht so weit gedacht zu haben. „Gucken wir doch erstmal, was wir entdecken…“

„Ja. Okay.“ Doch Remus ließ der Gedanke nicht los. Was war es denn, bei dem sie Alinac erwischen wollten? Beim Lesen von grauenvollen Büchern? Zu unkonkret. Beim Verhexen von Schülern am helllichten Tag? Zu unwahrscheinlich. Beim Versuch, das Dunkle Mal an den Himmel zu brennen? Zu unrealistisch…

Remus war für den Nachmittag eingeteilt, Kontrollgänge zu machen, da es draußen schüttete und die von den Prüfungen ganz nervösen Schüler größtenteils im Schloss blieben. Doch das hielt ihn nicht davon ab, sich weitere Gedanken über Alinac zu machen. Er streifte vom Erdgeschoss hinauf bis in den vierten Stock und wieder hinunter. Hier und da ermahnte er jüngere Schüler, auf den Gängen nicht zu zaubern, doch wenn sie es weiterhin taten, sobald er sich umgedreht hatte, ignorierte er sie. Im zweiten Stock gab es ein großes Klassenzimmer, in dem die Erstklässler ihre Zauber üben durften. Gelegentlich kam Remus vorbei, um nachzusehen, ob sich bereits einer mit einem schiefgegangenen Flipendo die Zähne ausgeschlagen hatte. Doch die meiste Zeit lief er nur herum und hing seinen Gedanken nach.

Alinac war ihm zwar immer aufgeblasen vorgekommen, und ehrgeizig, aber nie bösartig. Nun gut, als Oliver Smith und Mathilda Miller das Schulsprecher-Paar geworden waren und er nicht, hatte er schon gezeigt, wie missgünstig er war, weil er keine Macht bekommen hatte. Aber Remus konnte sich nicht daran erinnern, dass er jemals seine Verachtung für Muggelstämmige oder seine Verehrung für Du-weißt-schon-wen geäußert hatte. Naja… vielleicht war er dafür einfach zu klug.

Remus lief gerade am Wandbehang, der hinunter in die Eingangshalle führte, vorbei, als er ein seltsames Geräusch hörte. Er runzelte die Stirn. Es klang, als würde Stoff zerreißen.

Da war es wieder.

Mit verengten Augen ging er zum Wandbehang und hob ihn an. Die Treppe nach unten war leer und auch, als er seinen erleuchteten Zauberstab hob, war nichts auszumachen. Stattdessen hörte er wieder das Geräusch. Er ließ den staubigen Wandteppich los und fixierte eine Holztür im Korridor. Es kam von dort. Remus legte ein Ohr an die Tür und lauschte. Diesmal war es ganz deutlich, das Geräusch von zerreißendem Textil. Er kannte es nur zu gut von den Jahren, in denen er während seiner Verwandlung noch seine Kleidung getragen hatte…

Remus löschte seinen Zauberstab und legte die Hand auf den angelaufenen Türknauf. Er wusste, dass hinter dieser Tür ein großer Abstellraum war. Leise drückte er die Tür auf.

Die Vorhänge waren zugezogen und der Raum war spärlich erleuchtet, doch Remus sah sofort, dass ein langhaariger Junge seinen Zauberstab durch die Luft schwang wie eine Peitsche. Er stand mit dem Rücken zur Tür und es schien, als hätte er Remus nicht bemerkt. Überall auf dem Boden lagen kleine weiße Federn verstreut.

Wann immer der Junge den Zauberstab bewegte, zischte etwas durch die Luft, obwohl er kein Wort sagte. Dann sah Remus das, worauf der Junge zielte. Im ersten Moment dachte er, es wäre ein Kind. Doch dann wurde ihm klar: Es war nur ein alter Umhang, ausgestopft mit Kissen, die auf einen Stuhl gestapelt worden waren. Dort, wo die Schultern sein sollten, war ein Polster gegen die dahinterliegende Steinwand gelehnt. Der Junge hatte ihm die Kapuze aufgesetzt, sodass deutlich war, wo der Kopf sein sollte.

Wieder peitschte der Zauberstab wortlos durch die Luft und mit einem lauten Ratschen erschien ein tiefer Schnitt auf der Brust des Ziels. Federn aus dem zerfetzten Kissen stoben auf und segelten lautlos zu Boden. Remus gefror das Blut in den Adern. Wäre das ein echter Mensch, hätte der Junge ihm eine Wunde zugefügt wie von einem Schwert. Der Junge trat ein paar Schritte vor und richtete den Kissenstapel wieder an. Remus erkannte die fettigen Haare und die lange Hakennase.

Auf das Kissen unter der Kapuze war mit Tinte eine Brille gezeichnet.

 

Remus hastete mit donnerndem Herzen hinauf zum Gemeinschaftsraum und erzählte James und Peter, was er gesehen hatte. James‘ Gesicht war blank wie eine leere Tafel, doch Peter fing beinah augenblicklich an zu zittern.

„Was war das für ein Zauber?“, fragte James schließlich.

„Ich weiß es nicht. Snape spricht ja nicht, wenn er zaubert. Aber das war was Böses. Ich hab‘ es gespürt. Er wollte jemandem wehtun.“ Remus hatte unterschlagen, dass der Kissenstapel ausgesehen hatte wie James. Weder wollte er seinem Freund Angst machen, noch, und das schien ihm wahrscheinlicher, wollte er ihm einen Grund geben, direkt nach unten zu stiefeln und Snape in Stücke zu hexen und damit von der Schule zu fliegen.

Remus musste sich ablenken. Da Sirius noch immer nicht wieder aufgetaucht war, machte er sich im Schlafsaal wieder daran, an der Karte zu arbeiten. Zunächst schlug er in Lehrbuch der Zaubersprüche – Band 6 nach, wie er Objekte mit dauerhaften Zaubern belegen und so aus gewöhnlichen Gegenständen magische Artefakte machen konnte. Dann setzte Remus sich im Schneidersitz auf den Fußboden, das gelbliche Pergament vor ihm auf den Holzdielen.

Peter schaute ihm interessiert zu, als er den Zauberstab hob, während James nur aus dem Fenster zum Quidditch-Feld hinüberstarrte. Dadurch, dass Madam Hooch dieses Jahr früh auf Heilurlaub hatte fahren müssen (im frühen Herbst war sie von einem Klatscher böse an der Schläfe getroffen worden und seit daher nicht ganz die Alte gewesen), war die Saison zusammengerafft und das Finale bereits im April ausgetragen worden. Inzwischen hatte James seit knapp zwei Monaten kein Spiel mehr gemacht. Er schien ein wenig zu leiden, oder nachzudenken.

Remus fasste die Karte fest in den Blick und konzentrierte sich darauf, was sie als Ergebnis seines Zaubers tun sollte, nicht, was sie sein sollte. Dann murmelte er „Homeni Revelii“ und führte die Zauberstabbewegung so aus, dass das Ziel eindeutig das Pergament war.

Peter sog geräuschvoll die Luft ein und daraufhin kam James herüber, um einen Blick auf die Karte zu werfen. Die feinen Grundrisse aus Tintenlinien waren auf einmal gefüllt mit hunderten kleinen schwarzen Punkten. Ab und zu wuselte ein Punkt von einem Ort zum anderen, durchschritt Türen und Korridore, schlüpfte Treppen hinauf und Geheimgänge entlang. James pfiff leise durch die Zähne: „Hübsch, Moony.“

Und jetzt sah Remus auch, was das Beste an dem Ganzen war (wenn ein einzelner Klecks sich bewegte, war es besonders deutlich): Jeder einzelne Punkt war versehen mit dem winzigen Namen derjenigen Person, die er verkörperte, geschrieben in einer krakeligen Handschrift – Remus‘ Federkiel-Handschrift. „Deine Sauklaue kann man zwar kaum lesen, aber das sollte ausreichen“, grinste James. „Guckt mal hier, Tatze!“

Und tatsächlich. Remus sah, wie ein winziger schwarzer Punkt mit der Beschriftung «Sirius Black» langsam in einem verlassenen Korridor auf und ab lief. Er befand sich im Westflügel des Schlosses. Am Ende führte eine schmale Wendeltreppe hinauf in einen Turm, den Ravenclaw-Turm. Oben im kreisrunden Gemeinschaftsraum der Ravenclaws (sie hatten ihn vorerst so eingezeichnet, wie sie ihn sich vorstellten, denn sie waren noch nicht dort gewesen) tummelten sich dutzende Punkte und Namen.

„Könnt ihr Alinac sehen?“, fragte Remus und hob die Karte vom Boden an, um sie sich mit zusammengekniffenen Augen näher ans Gesicht zu halten. „Ach ja, da ist er!“

Und als hätte David Alinac ihn gehört, bewegte sein kleiner Punkt sich zur Tür des Gemeinschaftsraums, trat hinaus und begann, die Wendeltreppe hinabzusteigen. Als er Sirius‘ Korridor erreichte, hielt Sirius‘ Punkt in seinem Herumgetigere inne und drückte sich an die Wand. Im nächsten Moment begann er, Alinac zu verfolgen.

„Das ist wirklich der Wahnsinn“, murmelte James. Sie beobachteten, wie Sirius Alinac durch drei Stockwerke nachschlich, dann durch den Geheimgang hinter dem Wandbehang, und schließlich durch die Eingangshalle bis nach draußen. Auf den Ländereien blieben sie erst stehen, als sie den Waldrand erreicht hatten.

„Was machen die da?“, fragte James erstaunt. „Es schüttet immer noch!“

„Sirius trägt sicher den Umhang. Alinac muss denken, er wäre allein.“

„Ja, aber da? Da ist doch nichts. In der Gegend musste ich mal Büsche entgnomen, weil Hagrid ein neues Kürbisbeet anlegen wollte. Da ist dann aber nie was draus geworden, sinnlosestes Nachsitzen überhaupt…“

„Schaut mal!“, sagte Peter und deutete weg von Sirius und Alinac. Stattdessen verfolgten sie, wie soeben Severus Snape und Regulus Black durch die Kerkertür aufgetaucht waren und sich nun durch die Eingangshalle in Richtung Eichenportal bewegten.

„Ihr glaubt doch nicht…“

„Finden wir’s raus“, sagte James entschlossen, sprang auf und zückte seinen Zauberstab.

Die drei nahmen die Beine in die Hand, während Remus die Karte sicher in der Innentasche seines fadenscheinigen Umhangs verstaute.

„Ach, wartet mal!“, sagte James, als sie bereits unten im zweiten Stock waren.

„Tatze?“, flüsterte James im Laufschritt in den Taschenspiegel, den er hervorgezogen hatte. „Tatze!“

Es dauerte einen Moment, dann hörten sie Sirius‘ Stimme aus James‘ Spiegel kommen. „Krone?“

Remus sah von der Seite her ein graues Auge in der Spiegelung.

„Snape und dein Bruder kommen. Wir glauben, dass sie sich mit Alinac treffen wollen. Wir kommen auch. Wir schleichen zwischen den Bäumen lang, sonst sehen sie uns. Komm zu diesem Baumstumpf mit den Pilzen, den wir neulich gesehen haben!“

„Okay, aber woher –“

„Erzählen wir dir gleich.“

Als Remus, Peter und James den Waldrand erreichten, waren sie bereits durchnässt. Alinac, Snape und Regulus Black standen zusammengedrängt im Regen und diskutierten miteinander. Snape klebte das lange nasse Haar am Kopf. Remus beobachtete, wie Regulus immer wieder Blicke über die Schulter warf und eindeutig wie jemand aussah, er nicht beobachtet werden wollte. Er verengte die Augen.

Im nächsten Moment zog Sirius neben ihm den Tarnumhang vom Kopf und Remus zuckte erschrocken zusammen. Sirius grinste, sagte aber nichts. Seine Haare waren von der Feuchtigkeit aufgewirbelt.

„Hast du mitgekriegt, worüber sie reden?“, fragte James mit leiser Stimme.

„Ich bin mir nicht ganz sicher. Aber es klang danach, als würden sie einen Ort suchen.“

„Okay…“ Remus runzelte die Stirn. Von hier konnten sie nicht hören, was die drei besprachen, aber als sie sich plötzlich in Bewegung setzten, schoben die vier Gryffindors sich tiefer zwischen die dicht stehenden Bäume.

Alinac, Snape und Regulus liefen ein Stück am Waldrand entlang, dann traten auch sie zwischen die Bäume und verschwanden beinahe augenblicklich im Halbdunkel. Remus und die anderen schlichen auf leisen Sohlen vorwärts. Zwischen den engstehenden Bäumen war der Boden fast trocken.

Sie folgten den dreien einige Minuten lang, bis sie auf eine kleine Lichtung hinaustraten. Hier war ein riesiger Baum umgestürzt und hatte ein Loch im dichten Blätterdach hinterlassen. Der Wurzelballen lag auf der Seite, mit abgebrochenen Wurzeln, die in die Höhe zeigten. Die Gryffindors versteckten sich dahinter, sodass das tote Holz wie eine Wand zwischen ihnen und den anderen dreien aufragte.

Sirius legte den Zeigefinger an die Lippen, warf sich den Tarnumhang wieder über (James zuckte unwillkürlich) und stahl sich weiter vorwärts. Überall lag trockenes Laub und auch, wenn man Sirius nicht sehen konnte, konnte man ihn dennoch hören.

„Was war das?“, hörte Remus Regulus laut fragen.

„Das hier ist ein Wald. Glaubst du etwa, wir wären alleine?“, schnarrte Snape als Antwort, dann wandte er sich offenbar Alinac zu. „Also? Ist dir dieser Ort genehm?“ Seine Stimme war gedehnt, gelangweilt.

„Er wird ausreichen, denke ich…“, gab Alinac ebenso herablassend zurück.

„Wie schnell kannst du fertig sein?“, fragte Regulus, als wartete er schon seit Wochen darauf, diese Frage stellen zu können.

„Das hängt davon ab, wie schnell –“

Snape schnalzte mit der Zunge. „Das will ich gar nicht wissen. Lasst mich raus aus eurem Spiel.“

Remus hörte, wie sich Fußschritte über den Waldboden bewegten. Er war sich nicht sicher, ob es Snape war, der sich verziehen wollte, oder Sirius, der näher heranschlich.

„Ich sag euch, irgendwas ist da!“, rief Regulus mit seiner Kinderstimme und dann murmelte er: „Lumos.“

Remus lauschte angestrengt, aber es war kein Laut zu hören. Dann, nach und nach, bewegten sich zögerliche Schritte in ihre Richtung. Alarmiert starrte er James und Peter an. Ihm schlug das Herz bis zum Hals.

Geistesgegenwärtig zückte James den Zauberstab, doch Remus schüttelte vehement den Kopf. Wenn sie sich durch Zauber verrieten, würden sie nie herausbekommen, worum es hier ging.

Mit einer ruckartigen Bewegung deutete er auf Peter. Der zuckte zusammen, als hätte er ihn geschlagen. Remus sah ihn auffordernd an und James, dem ein Licht aufzugehen schien, nickte aufgeregt. Auf der anderen Seite der Wurzeln trat Regulus näher.

Peter schloss mit angestrengtem Gesichtsausdruck die Augen, schmolz zu seiner Rattenform zusammen, dann raschelte er durch das Laub um die Wurzeln herum und zeigte sich den drei anderen.

„Ach, nur eine Ratte“, sagte Alinac abfällig, auch wenn Remus sich sicher war, ein erleichtertes Seufzen zwischen seinen Worten zu hören. Remus hob mit spitzen Fingern Peters zurückgelassene Kleidung auf.

„Na gut…“ Der Lichtschein, der leicht über den Wurzelstamm hinweggestrahlt hatte, entfernte sich wieder. Dennoch zog jetzt auch Remus seinen Zauberstab. Nur für alle Fälle.

„Nun“, schnarrte Snape lustlos, „wenn ihr mich nicht mehr braucht, gehe ich jetzt. Macht, was ihr wollt.“

„O-okay“, gab Regulus zurück.

Noch im gleichen Moment hörten sie, wie ruckartige Schritte und das Schleifen eines Umhangs leiser wurden. Für einen Moment war es still und Remus stellte sich vor, wie die zwei dort draußen sich ratlos ansahen, jetzt da ihr Vermittler verschwunden war.

„Bis wann brauchst du das Ergebnis?“, fragte Alinac schließlich.

„Auf jeden Fall vor Schuljahresende“, gab Regulus sofort zurück. Er klang ein wenig atemlos.

„Das ist kein Problem, solange du mir bringst, was ich brauche.“

„Aber wie soll ich das denn machen? Überall sind Lehrer, Vertrauenssch–“

„Das ist nicht mein Problem“, antwortete Alinac kalt. „Ohne deinen Beitrag kannst du es vergessen.“

„Na gut“, knurrte Regulus und plötzlich klang er viel mehr wie Sirius. „Ich finde schon jemanden.“

„Gut. Ich brauche danach noch mindestens zwei Tage, also reiz es nicht bis zum Ende aus.“

Regulus antwortete nicht.

„Wenn du nicht noch mehr zu sagen hast, gehe ich jetzt ins Trockene. Ich habe keine Lust, noch von diesem hirnlosen Hagrid im Wald erwischt zu werden.“ Alinac stieß verächtlich die Luft aus. „Auch wenn ich ihm gerne mal einen Fluch auf den Hals hetzen würde.“

„Ich glaube nicht, dass man Hagrid mit Flüchen viel anhaben kann“, gab Regulus kühl zurück. Remus war überrascht – er hatte bisher nicht den Eindruck gehabt, dass der kleine Junge den Älteren widersprechen würde.

„Ach so? Und warum glaubst du das?“

„Ist das nicht offensichtlich?“ Regulus stieß höhnisch die Luft aus. „Find’s doch selbst raus.“

Alinac gab eine Art Grollen von sich, dann machte er sich auf den Weg in Richtung Waldrand. Gerade, als Regulus ihm folgen wollte, gab es ein Rascheln und dann einen erstickten Schrei. Offenbar war er gestolpert. Alinac lachte ihn mit einem kreischenden Unterton aus.

Die beiden verzogen sich ohne weitere Worte. Erst nach über einer Minute traute Remus sich, wieder normal zu atmen.

„Ihr könnt rauskommen“, sagte Sirius. „Sie sind weg.“

„Hast du ihm ein Bein gestellt?“, fragte James grinsend und Sirius hob schmunzelnd die Hände, als wüsste er nicht, worum es ging. Sie hielten sich im Schutz der Bäume, um nicht noch weiter nass zu werden. Peter stand hinter einem Stamm weiter links von ihnen und lugte vorsichtig um die Ecke. Nur sein Gesicht leuchtete zwischen den Stämmen hervor.

„Ich sagte, sie sind weg. Du kannst rauskommen.“

„Oh!“, machte James, dann lachte er. „Remus, gib dem Armen doch mal seinen Umhang, damit er seinen Wurmschwanz verdecken kann.“

Sirius und Remus lachten auf, aber dann erbarmte Remus sich und reichte Peter seine nasse Kleidung.

„Also“, sagte Sirius, „was glaubt ihr, was genau sie vorhaben?“

„Ich bin mir nicht sicher. Aber nichts Gutes. Wofür bräuchte man sonst ein heimliches Treffen im Verbotenen Wald, auf einer abgelegenen Lichtung“, antwortete Remus.

„Davon können wir wohl ausgehen“, gab auch James zurück.

„Sollten wir es jetzt vielleicht einem Lehrer sagen?“, fragte Peter, während er sich seinen Umhang über den Kopf zog.

„Du spinnst wohl!“, rügte James ihn entschieden.

Remus holte die Karte heraus und schaute nach, wo sich die kleinen Punkte namens Regulus Black, Severus Snape und David Alinac befanden.

„Was ist das denn?“, fragte Sirius, der sich neben ihn stellte. Remus konnte den Duft seiner Haare riechen, als Sirius sich eine feuchte Strähne aus dem Gesicht strich.

„Ach das, das ist die Karte.“

Die Karte des Rumtreibers“, sagte James feierlich.

„Des was?“

„Findet ihr nicht, dass es passt?“ Er zuckte die Schultern. „Lily hat uns neulich so genannt… Und sie hat damit schon Recht, oder?“ Remus und Sirius vermieden tunlichst, sich anzusehen.

„Also dann: Die Karte des Rumtreibers. Ich hab‘ sie mit einem Aufspürzauber belegt. Wenn ich alles richtig gemacht habe –“

„– hast du, Moony!“, warf James ungeduldig ein.

„– zeigt sie jede einzelne Person auf dem Gelände, egal ob unsichtbar, verwandelt oder was auch immer. Sie lügt nie.“ Remus nickte ernst.

„Wow“, gab Sirius zurück und nahm ihm das Pergament ab. „Genial. Aber wieso steht da dann «Severus Snape» und nicht «Schniefelus»?“

Macht kommt von machen - Juni 1976 (3/9)

„Was könnte Regulus für Alinac suchen?“, fragte sich Remus laut, gefühlt zum hundertsten Mal. Seine Finger fummelten geistesabwesend an der Karte des Rumtreibers herum; Alinac hockte zwischen diversen anderen Ravenclaws in seinem Gemeinschaftsraum.

Sirius antwortete nicht. Sie saßen einander gegenüber im alten Klassenzimmer, unter ihrem Baldachin. Remus hatte als Alibi seinen Thriller mitgenommen, doch er war noch nicht dazu gekommen, auch nur eine einzige Zeile zu lesen. Nach wie vor – die Zeit mit Sirius allein verflog jedes Mal wieder, als belegte sie jemand mit einem Zauber.

Den Vormittag hatten sie frei, erst am Nachmittag stand die Prüfung in Zaubereigeschichte an. Und da keiner der vier mehr Lust gehabt hatte, noch irgendetwas für dieses unsägliche Fach zu tun, war James mit geschultertem Besen hinaus aufs Quidditch-Feld gestapft, war Peter ihm dankenswerterweise nachgestürmt, war Sirius mit Remus in ihr geheimes Turmzimmer verschwunden.

„Du gehst auch davon aus, dass Alinac die beiden Zweitklässler angegriffen hat, oder?“, fragte Remus zwischen ihren Lippen hindurch.

„Jup“, gab Sirius zurück und streckte den Daumen aus, um Remus‘ Narbe auf der rechten Wange nachzuzeichnen. Es war nicht unangenehm.

„Und du machst dir keine Sorgen, dass Regulus da auch mit drinstecken könnte?“

„Naja, was heißt «Sorgen»? Kann’s doch auch nicht ändern, wenn’s so ist. Und wenn, dann kann er von Glück sagen, dass ich noch keinen Beweis habe…“ Sirius knackte mit den Fingerknöcheln.

„Ich meine nur… Du würdest es dir gar nicht anders wünschen?“

„Mensch Moony, du weißt doch, wie es ist.“

„Ja. Schon. Ich denke nur die ganze Zeit… Ich hätte einfach gerne einen Bruder gehabt.“

„Aber nicht so einen.“ Sirius‘ Stimme hatte diesen harten Ton angenommen, den Remus schon kannte. Der sagte: Lass mich nicht darüber nachdenken, sonst könnte ich doch noch einknicken. Lass mich nicht sehnen, wenn ich doch nur enttäuscht werde.

„Nein. Vermutlich nicht.“

„Nein. Außerdem hab‘ ich ja euch. Das sind genug Brüder.“

„Ich hoffe ganz stark, du siehst mich nicht als Bruder“, gab Remus trocken zurück und zog sich eine Handbreit zurück.

Sirius bleckte mit kraus gezogener Nase die Zähne. „Du hast Recht. Vergiss, dass ich das gesagt habe.“ Dann küsste er Remus auf die Wange, weiter bis zum Ohr. Etwas in Remus vibrierte.

„Bald sind Ferien…“, sagte er und versuchte, das mulmige Gefühl im Magen zu bekämpfen, indem er sich auf das Gefühl von Sirius‘ Lippen konzentrierte. Die Aussicht darauf, dass sie zwei Monate lang getrennt wurden, drohte dieses Jahr noch schlimmer an als all die anderen zuvor.

„Ja…“ Sirius zeigte ein totes Grinsen. „Freust dich auch schon so auf zuhause?“

„Ich fahre nicht nach Hause“, gab Remus zurück und erst, als er es ausgesprochen hatte, merkte er, dass es stimmte.

„Aber… deine Eltern sind…“ Sirius zog den Kopf zurück und zuckte ein wenig ratlos die Schultern.

„Klar. Schon. Natürlich sind sie nicht so… so wie deine. Aber… trotzdem. Hogwarts ist der einzige Ort, an dem ich mir vorkomme wie ein normaler Mensch. Bei meinen Eltern dreht sich immer ununterbrochen alles um meine Lykanthropie. Und ich versteh ja, woher das kommt. All die Jahre mussten sie auf mich aufpassen und vorausplanen. Aber ich bin nicht mehr fünf und ich bin nicht mehr hilflos.“ Jetzt war es an Remus, die Achseln zu zucken. „Ich will nicht immer nur das sein.“

Sirius nickte ernst und mied für einen Moment Remus‘ Blick.

„Weißt du… Manchmal vergesse ich, dass du das überhaupt bist.“

„Oh, schön für dich“, murrte Remus und Sirius zuckte ob des kühlen Tonfalls.

„‘tschuldige. Weißt doch, was ich meine. Für mich bist du nicht… das. Sondern du. Du bist du. Und wenn wir einmal im Monat eine Nacht schlaflos verbringen, bin ich auch nicht gerade traurig.“

„Ich hoffe, nicht nur eine Nacht“, sagte Remus und kaum hatte er es ausgesprochen, schoss ihm die Hitze ins Gesicht.

Sirius starrte ihn an, mit einem Ausdruck der Überraschung und der Genugtuung in den Augen. „Darauf komme ich zurück.“

Remus wechselte das Thema. „Komm mich doch in den Ferien besuchen! Dann kommst du aus eurem Haus raus und… ich kann normaler sein. Meine Eltern wissen zwar immer noch nicht, dass ihr es wisst. Die würden vermutlich völlig ausflippen vor Sorge, dass ihr es jemandem erzählt. Aber vielleicht könntest du sie ja überzeugen, dass ich noch ein bisschen mehr bin als ein Werwolf. Sie sehen mich ja nie in Gesellschaft.“

„Und wir könnten Nächte durchmachen.“

„Hm“, sagte Remus mit einem gespielt desinteressierten Ton, „vielleicht.“

Sirius lehnte sich vor und küsste ihn auf die Lippen, so lange, bis Remus atemlos nach Luft schnappte und sein Kopf sich anfühlte, als sei er mit Zuckerwatte gefüllt. Kleine Sterne tanzten vor seinen Augen, ein willkommenes Ziehen durchflutete seinen Körper. Dann gab Remus sich einen Ruck und zog Sirius mit sich zu Boden, zwischen die Kissen und Decken. Wie von selbst fanden seine Finger den Spalt zwischen Sirius‘ Umhang, hinab und unter den Pullover in tiefstem Scharlachrot. Die Haut war warm und glatt und aufregend. Er spürte die Hüftknochen über Sirius‘ Hosenbund und die Rippen, als er hinauf fuhr Richtung Hals. Remus lehnte sich tiefer in den Kuss, griff mit der anderen Hand in Sirius‘ Haare, hörte ihn aufkeuchen. Das Geräusch sorgte dafür, dass Remus‘ Magen einen Satz machte und sein Blut zu pulsieren begann –

„Tatze!“ Wie erstarrt hielten die beiden in ihrer Haltung inne. „Tatze, meld dich!“

Sirius ließ Remus schwer atmend los und holte nach einem kurzen Blick durch den leeren Raum seinen Taschenspiegel hervor. Er achtete darauf, Remus nicht zu zeigen.

„Was denn?“, fragte er patzig, während James‘ braune Augen ihn musterten.

„Wie siehst du denn aus? Hast du auch auf ‘nem Besen gesessen?“

„Nee. Hab gepennt“, gab Sirius, ohne zu zögern, zurück. Dann fuhr er sich lässig durch die langen Haare.

„Ach ja?“, fragte James höhnisch zurück. „Wo denn? Ich bin nämlich im Schlafsaal und du nicht.“

Remus fühlte sich ertappt, doch Sirius zuckte nur grinsend und vielsagend mit den Augenbrauen.

„Autsch. Du wirst Cathrine Bright und Melinda Vanity und wie sie alle heißen noch das Herz brechen“, sagte James in amüsiertem Tonfall.

„Vielleicht, vielleicht auch nicht“, gähnte Sirius. „Ist nichts Ernstes.“

„Ist es doch nie.“

Remus fixierte Sirius.

„Also, warum störst du mich jetzt?“, fragte Sirius und setzte eine etwas interessierte Miene auf.

„Ich hab‘ mit Hailey Cattermole gesprochen. Und die mit Mary Macdonald. Offenbar läuft Regulus herum und versucht, herauszufinden, wer von den jüngeren Schülern muggelstämmig ist.“

Mit einem Schlag war Sirius‘ Gesicht ernst. Auch Remus setzte sich gerader hin.

„Du meinst, er versucht, jemanden für Alinac zu identifizieren?“

„Das wäre zumindest meine Theorie.“

„Okay... Das ist nicht gut.“

„Du bist scharfsinnig wie eh und je, alter Hund.“

„Danke. Hab‘ ich wohl von dir.“

„Okay. Also, weißt du, wo Moony steckt? Ich dachte, wir sollten uns treffen und mal schauen, was wir machen können.“

„Der büffelt bestimmt doch irgendwo für Binns. Aber zum Mittagessen kommt er sicherlich. Immerhin gibt’s donnerstags Schokoladenpudding", mutmaßte Sirius.

„Gut. Dann sehen wir uns in der Großen Halle. Wenn du ihn siehst, er soll die Karte mitbringen.“

„Die legt er doch sowieso kaum mehr aus der Hand. Echt wie festgewachsen.“

„Bist du eifersüchtig auf ein Stück Pergament, Tatze, alter Freund?“

„Immerhin nicht auf Severus Snape“, schoss Sirius hinterlistig zurück und da James ein dermaßen empörtes Gesicht machte, entschloss Sirius sich triumphierend, den Spiegel wieder tief in die Umhangtasche zu stecken.

Dann wandte er sich wieder an Remus. „Wo waren wir stehen geblieben?“

Macht kommt von machen - Juni 1976 (4/9)

Am Tag darauf standen die schriftlichen Prüfungen in Verteidigung gegen die dunklen Künste und Verwandlung an. Eigentlich machte Remus sich keine Gedanken, aber dennoch fühlte er sich besser, wenn er zur Sicherheit beide Schulbücher mit sich herumtrug, bis es so weit war.

„Es würd‘ mich nicht wundern, wenn er auf den Dingern schläft“, sagte Sirius kopfschüttelnd zu James und nickte zu Remus‘ kleinem Bücherstapel am Frühstückstisch hinüber.

„Der Arme“, sagte James mit gespieltem Mitleid. „Nicht, dass er sich noch den Nacken verrenkt.“ Er streckte die Hände aus und packte Remus‘ Schultern, kniff hinein, als wollte er sie dilettantisch massieren.

„Schon gut, vielen Dank auch“, gab Remus zurück.

„Och je, jetzt ist er auch noch muffig. Tu was, Tatze“, heulte James und versteckte sich hinter seinem bereits wieder blank geputzten Goldteller. Remus spiegelte sich darin und er wandte den Blick ab.

„Wird Zeit, dass wir anfangen können“, gähnte Sirius. „Mir wird schon langweilig, wenn ich nur daran denke, irgendwas aufzuzählen, und je länger wir warten, desto eher schlafe ich ein.“

„Du kommst wohl nicht so viel zum Schlafen aktuell, was?“, fragte James und ein spitzer Ton mischte sich in den Schalk.

In diesem Moment kam Professor McGonagall und verscheuchte die letzten Schüler aus der Großen Halle, damit sie für die Prüfung umgestaltete werden konnte. Die vier standen auf (Peter mit einem Gesicht, als hätte er Verstopfung) und traten in die Eingangshalle, wo sich auch schon die anderen Fünft- und Siebtklässler eingefunden hatten.

„Seht mal“, murmelte Remus seinen Freunden zu und deutete mit den Augen auf die Ecke neben der Marmortreppe. Eingefasst zwischen zwei Rüstungen stand Severus Snape an der Wand gelehnt, seine Hakennase über ein Pergament gebeugt.

„Alinac fehlt“, murmelte Sirius, nachdem er sich kurz umgesehen hatte.

Gerade wollte er noch etwas sagen, als ein Mädchen neben ihm auftauchte. Remus hatte sie schon mal gesehen, eine Ravenclaw aus ihrem Jahrgang namens Deidre Carter. Sie atmete tief ein, schaute Sirius an, drückte ihm einen Fetzen Pergament in die Hand und lächelte zittrig. Er grinste zurück und zwinkerte. Plötzlich strahlte sie wie ein Feuersalamander. Dann verschwand sie, geradezu schwebend, in eine hintere Ecke der Eingangshalle und tuschelte sofort mit zwei Freundinnen, die ihnen analysierende Blicke zuwarfen.

„Wie machst du das immer?“, fragte James stirnrunzelnd und zerstrubbelte sich das Haar. Er warf einen suchenden Blick durch die Eingangshalle.

„Ich mach gar nichts“, gab Sirius zurück und steckte den Zettel in die Umhangtasche, ohne ihn überhaupt anzusehen. Remus nickte stumm in sich hinein.

Drei Stunden später war alles vorbei.

„Hat dir Frage zehn gefallen, Moony?“, fragte Sirius, als sie in die Eingangshalle traten.

„Erste Sahne“, sagte Remus vergnügt. „«Nennen Sie fünf typische Merkmale eines Werwolfs.» Klasse Frage.“

„Meinst du, du hast alle Merkmale zusammengekriegt?“, fragte James in spöttisch besorgtem Ton.

„Ich denke schon“, gab Remus zurück, während sie sich zu der dichten Schar um das Schlossportal gesellten, die begierig hinausdrängte auf das sonnenbeschienene Gelände. Leiser fügte er an: „Erstens: Er sitzt auf meinem Stuhl. Zweitens: Er trägt meine Klamotten. Drittens: Sein Name ist Remus Lupin.“

Peter war der Einzige, der nicht lachte.

„Ich hab‘ die Schnauzenform, die Pupillen und die buschige Rute“, sagte er beklommen, „aber sonst ist mir nichts eingefallen –“

„Wie kann man nur so doof sein, Wurmschwanz!“, sagte James ungeduldig. „Da rennst du einmal im Monat mit einem Werwolf rum –“

„Schrei doch nicht so!“

Sie schlenderten zum See hinunter, der einladend glitzerte. Dennoch zog Remus Verwandlung – Die Zwischenstufen hervor. So sehr er sich auch bemühte, dieses Gefühl, das es nie vorbereitet genug war, ließ sich einfach nicht abstellen.

„Also, ich fand, diese Fragen waren im Grunde ein Witz“, hörte er Sirius sagen. „Würd‘ mich überraschen, wenn ich nicht mindestens ein Ohnegleichen dafür kriege.“ Remus schüttelte belustigt den Kopf.

„Mich auch“, sagte James. Im nächsten Moment sah Remus, wie er mit einem goldenen Schnatz spielte.

„Wo hast du den her?“

„Geklaut“, sagte James lässig. Peter schaute gebannt zu, wie er den Ball immer wieder los- und beinahe entkommen ließ, bevor er ihn wieder einfing. Sirius legte sich ins Gras, noch immer gähnend und Remus registrierte zufrieden, dass er Carters Zettel noch nicht wieder herausgeholt hatte.

„Steck ihn doch endlich mal weg“, sagte Sirius schließlich zu James, der immer ausladendere Gesten machte, in der Hoffnung, Lily Evans, die mit ihren Freundinnen am Wasser saß, zu beeindrucken. „Oder Wurmschwanz macht sich vor Aufregung noch nass.“

„Wenn's dich stört.“ James steckte den Schnatz weg, zog dabei aber ein mauliges Gesicht.

„Mir ist langweilig“, maulte jetzt auch Sirius. „Wenn doch nur Vollmond wäre...“

„Schön wär’s“, murrte Remus, ohne sein Buch wegzulegen oder auch nur aufzusehen. „Wir haben heute noch Verwandlung und wenn dir langweilig ist, kannst du mich ja abfragen. Hier…“ Remus steckte den Arm mit der richtigen Seite aus, ohne die leiseste Hoffnung, dass Sirius darauf einging.

Wie erwartet, schnaubte er nur: „Ich muss mir diesen Kram nicht ansehen, ich kann das alles.“

Remus war drauf und dran, zu antworten, dass er das wusste, doch dann sagte James in einem merkwürdigen Ton: „Das wird dich aufmuntern, Tatze. Schau mal, wer da ist...“

Alarmiert folgte Remus seinem Blick und auch die anderen beiden starrten in die Richtung.

„Bestens…“, murmelte Sirius mit einem überlegenen Grinsen. „Schniefelus.“

Nicht schon wieder, dachte Remus, doch nach dem, was er im Wald gesehen hatte, nach allem, was er über Snape gelernt hatte, nach der Erkenntnis, dass er sein Geheimnis an Regulus Black ausgeplaudert hatte, war er nicht erpicht, in irgendeiner Weise dazwischen zu gehen. Remus‘ Augenbrauen zogen sich etwas zusammen, doch anstatt sich die Szene anzusehen, blickte er stur zurück ins Buch. Es gab keinerlei Grund mehr, Snape zu schützen.

Sirius und James waren auf den Beinen.

„Alles klar, Schniefelus?“, rief James laut und es dauerte keine halbe Sekunde, da fügte er an: „Expelliarmus!

Remus hörten den Aufschlag eines Zauberstabs im Gras und Sirius‘ bellendes Lachen. Peter keuchte leise neben ihm.

Impedimenta!“, schallte Sirius‘ Stimme über das Gras, dann war da das Geräusch eines Körpers, der wuchtig am Boden aufschlug. Remus starrte auf das kleine «t» in einem Wort, das er nicht begriff.

Ringsumher hatten sich Schüler umgewandt und schauten zu. Manche waren aufgestanden und rückten langsam näher. Einige sahen argwöhnisch, andere belustigt aus.

Snape keuchte. Neben Remus erhob sich jetzt auch Peter und schlich um ihn herum, um freien Blick auf das Spektakel zu haben.

„Wie ist die Prüfung gelaufen, Schniefelus?“, fragte James gespielt interessiert.

„Ich hab‘ ihn beobachtet, der war mit der Nase auf dem Pergament“, feixte Sirius. „Werden richtige Fettflecken drauf sein, man wird kein Wort lesen können!“

Lachen. Lachen auch von anderen als Sirius, James und Peter.

„Ihr - wartet nur“, knurrte Snape atemlos. „Wartet nur!“

„Worauf denn?“ Sirius‘ Stimme war kalt, wie Remus es nur von seinem Gespräch mit Regulus kannte. „Was willst du machen, Schniefelus, deine Nase an uns abwischen?“

Snape fluchte leise vor sich hin. Doch er hatte keinen Zauberstab.

„Wasch dir den Mund! Ratzeputz!“ Auf James‘ Zauber hin erklang ein scheußliches Gurgeln und Würgen, das sich mit dem Blubbern von Seifenblasen mischte. Remus‘ Magen verkrampfte sich. Links neben dem kleinen «t» war ein «s».

„Lasst ihn IN RUHE!“, donnerte eine Stimme über die Wiese. Remus zuckte zusammen und er hob den Kopf.

„Alles klar, Evans?“, fragte James mit freundlichem, erwachsenem Ton, doch es war ganz eindeutig, das überhaupt gar nichts klar war: Lily stand da wie eine Monument, mitten im Gras, und rauchte geradezu vor Wut. Es fehlte nur noch, dass ihre Haare wie elektrisiert in die Luft stiegen. Remus konnte es ihr nicht verübeln, wusste sie doch all die Dinge nicht, die er wusste.

„Lasst ihn in Ruhe! Was hat er euch getan?“

Das war genau die richtige Frage, aber ehe Remus ihr ein Zeichen geben konnte, sagte James zögernd: „Nun… Es ist eher die Tatsache, dass er existiert, wenn du verstehst, was ich meine.“

Remus sah die Umstehenden lachen. Ihm war nie richtig aufgefallen, wie unbeliebt Snape war, zu sehr konzentrierte er sich immer nur auf sich.

„Du glaubst, du wärst lustig. Aber du bist nichts weiter als ein arroganter, lumpiger Quälgeist, Potter. Lass ihn in Ruhe!“

Kurz dachte Remus, dass damit die Sache gegessen sein würde, doch James schien den Verstand verloren zu haben: „Wenn du mit mir ausgehst, Evans? Komm schon... geh mit mir aus und ich richte nie wieder den Stab auf den ollen Schniefelus.“

„Mit dir würd‘ ich nicht ausgehen, selbst wenn ich nur die Wahl hätte zwischen dir und dem Riesenkraken«, antwortete Lily vernichtend.

„Na so ein Pech, Krone“, kommentierte Sirius und Remus hörte den Schalk aus seiner Stimme heraus.

„Oh.“

Im nächsten Moment blendete Remus ein helles Licht. Er kniff die Augen zusammen und als er sie wieder öffnete, war das Gras rund um James mit dunkelroten Tropfen bedeckt. Aus einer Wunde, die sich quer über sein Gesicht zog, schoss Blut. James drehte sich mit beflecktem Umhang und versteinerter Miene um, er ließ sich jedoch nicht anmerken, wie sehr die Wunde schmerzen musste. Mit dem Zucken seines Zauberstabs riss es Snape kopfüber in die Luft. Snapes Umhang klappte nach unten und entblößte seine Unterwäsche. Remus sah beschämt weg. Viele in der kleinen Schar der Umstehenden johlten, genauso wie James, Sirius und Peter.

„Lass ihn runter!“, forderte Lily, selbst ein Grinsen unterdrückend, und machte einen Schritt auf den blutenden James zu.

„Klar doch.“

Snape brach auf dem Boden zu einem ehrlosen Haufen Stoff zusammen.

Ehe er sich verteidigen konnte, bellte Sirius „Petrificus Totalus!“ und Snape kippte es, bewegungsunfähig wie ein Brett, erneut von den Füßen.

„LASST IHN IN RUHE!“ Lilys Stimme überschlug sich. Remus fühlte sich ohnmächtig, doch nicht so Lily Evans: Sie zog ihren Zauberstab und funkelte James an.

„Ah, Evans, zwing mich nicht, dich zu verhexen“, warnte der sie bedauernd.

„Dann nimm den Fluch von ihm weg!“

James befreite Snape mit einem Grabesseufzer: „Na bitte. Du hast Glück, dass Evans hier ist, Schniefelus –“

Snape rappelte sich auf und spuckte die Worte aus: „Ich brauch keine Hilfe von dreckigen kleinen Schlammblüterinnen wie der!“

James, Sirius und Remus zuckten zusammen. Ein Raunen ging durch die umstehenden Schüler, die sich unbehaglich ansahen. Eine kurze Stille entstand, dann brach Lily sie:

„Schön.“ Ihre Pupillen tanzten. „In Zukunft ist es mir egal. Und an deiner Stelle, Schniefelus, würde ich mir mal die Unterhose waschen!“

Remus wünschte sich, es würde einfach aufhören, die ganze Szene würde sich in Rauch auflösen, doch dies war echt. Sie waren wirklich hier. Das war keine Fernseh-Show, die im richtigen Moment abblendete.

„Entschuldige dich bei Evans!“, brüllte James und richtete den Zauberstab drohend auf Snape.

„Ich will nicht, dass du ihn zwingst sich zu entschuldigen! Du bist genau so schlimm wie er!“ Sie fixierte ihn mit einem kalten Blick, der Zug um den Mund so hart wie Stein.

„Was?! Ich würde dich NIE eine - Du-weißt-schon-was nennen!“

„Zerwuschelst dein Haar, weil du glaubst, es wirkt cool, wenn es aussieht, als ob du gerade vom Besen gestiegen wärst, gibst mit diesem blöden Schnatz an, gehst durch die Korridore und verhext jeden, der dich nervt, nur weil du‘s eben kannst - mich wundert‘s, dass dein Besen mit so einem Hornochsen wie dir drauf überhaupt abheben kann. Du machst mich KRANK!“

Sie hielt es nicht mehr aus, drehte sich mit wirbelndem Umhang um und stolzierte davon.

James starrte ihr nach, mit offenem Mund: „Evans! Hey, EVANS!“

Doch sie reagierte nicht.

„Was ist los mit ihr?“, fragte James mit überzogen desinteressiertem Tonfall, doch sein Gesicht sprach Bände.

„Wenn ich so zwischen den Zeilen lese, Mann, würd‘ ich sagen, sie hält dich für ein bisschen eingebildet“, antwortete Sirius. Der Witz in seiner Stimme war erloschen.

„Na schön“, fluchte James, „schön –“

Noch einmal riss es Snape in die Höhe und er baumelte von seinem Fußgelenk herab. Remus sah nicht hin, wollte nichts sehen; er starrte Lily nach mit einem Gefühl, als müsste er sich übergeben.

„Wer will sehen, wie ich Schniefelus die Unterhose ausziehe?“

In Remus‘ Ohren rauschte es. Im nächsten Moment war er auf den Beinen, das Buch unter der Birke zurückgelassen. Doch er half nicht Snape, er hastete über die Wiese, immer Lily Evans nach.

Macht kommt von machen - Juni 1976 (5/9)

Er kam sich vor wie in einer Zeitschleife. All das hier hatte Remus schon einmal erlebt: Lily Evans nachrennen, nachdem seine Freunde auf Severus Snape losgegangen waren.

Am Ufer des Sees blieb Lily schließlich stehen. Sie starrte auf das Wasser hinaus, dann trat sie einen Kiesel hinein. Er flog unnatürlich weit – hundert, hundertfünfzig Fuß.

Sie hatten zwar etwas Entfernung zwischen sich und die anderen Schüler gebracht, aber anhand der Stimmen hinter sich konnte Remus abschätzen, dass sie sie nicht zur Gänze abgehängt hatten.

Lily drehte sich um, blickte ihn an und durchleuchtete ihn mit ihren grünen Augen. Dann kam sie ihm zuvor: „Remus, halt einfach den Mund. Es gibt nichts mehr zu sagen.“

„Ich– ich–“

Sie funkelte ihn an, dann, zu seinem Entsetzen, blinzelte sie Tränen weg.

„Vergiss es einfach. Ich dachte wirklich, du hättest es verstanden. Aber es sieht nicht danach aus.“

Remus rang die Hände, die rechte mit der Narbe auf dem Handrücken zitterte besonders.

„Lily…“

Sie schüttelte entschieden den Kopf.

„Snape… Er… er ist gefährlich.“

„Ich kann gut selbst auf mich aufpassen, vielen Dank auch.“

„Das meine ich nicht, ich meine…“ Ja, was eigentlich? Er war noch nie richtig gut darin gewesen, Ausreden zu erfinden. Normalerweise bemühte er sich darum, gar nicht erst in Situationen zu kommen, in denen er sie brauchte.

Völlig unvermittelt sagte Lily: „Ich hab‘ dich vorhin gehört. Nach der Prüfung. Was du gesagt hast über Werwolf-Merkmale.“

Remus spürte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich.

„Ich hatte es mir sowieso schon längst zusammengereimt. Und keine Angst, ich sag es niemandem. Aber ich dachte wirklich, du wüsstest, wie es ist, wenn man ohne Grund verachtet wird. Ich dachte wirklich, du wärst anders.“

Lilys Freundin Mary erreichte sie und schaute unbehaglich zwischen Remus und Lily hin und her.

„Lass uns gehen“, sagte Lily mit einem letzten Blick auf Remus. „Ich muss noch eine Eule schicken.“

Mary legte Lily einen Arm um die Hüfte und mit zusammengelehnten Köpfen machten die beiden Mädchen sich in Richtung Schloss davon.

„Ich will nur– ich meine nur, es gibt einen Grund!“, rief Remus ihnen nach, aber Lily ließ sich nicht anmerken, ob sie ihn gehört hatte. „Wegen Snape, es gibt einen Grund!“
 

„Wo warst du die ganze Zeit?“, fragte Sirius aufgebracht. „Ich dachte schon fast, du kommst nicht mehr!“

„Wir haben Prüfung. Natürlich komme ich“, sagte Remus kurz angebunden, ohne sich umzudrehen. Professor McGonagall teilte mit dem Zauberstab die Prüfungsfragen aus. Er saß am Pult vor Sirius, was den Vorteil hatte, ihn nicht ansehen zu müssen. Es war, als habe ein Windstoß durch Remus‘ Hirn gefegt. So zittrig und aufgewühlt er vor einer Stunde noch gewesen war, jetzt fühlte er sich stumpf und leer. Er wollte Sirius nicht sehen, er wollte ihn nicht hören, er wollte nur diese Prüfung hinter sich bringen. Er wollte weg von allem und wollte gleichzeitig nachhause.

Lily saß in der ersten Reihe und hatte ihren Kopf tief über das Pergament mit den Aufgaben gebeugt. Snape, vollständig angezogen, saß in der letzten Reihe und anstatt auf seine Prüfungsunterlagen zu schauen, war sein Blick an Lilys Hinterkopf geheftet. Remus hatte es sofort gesehen, als er die Große Halle betreten hatte.

„Ruhe jetzt“, sagte Professor McGonagall mit gebieterischem Tonfall, „Sie haben drei Stunden Zeit.“

Sie drehte ein großes Stundenglas auf dem Lehrertisch um und musterte die Schüler streng durch ihre quadratischen Brillengläser.

Remus richtete seinen Blick auf das Pergament.

1.a) Nennen Sie die Zauberformel für einen klassischen Verschwindezauber. 1.b) Erklären Sie, was es bedeutet, einen Gegenstand verschwinden zu lassen. Beziehen Sie sich dabei auf den Unterschied zwischen Sein und Nicht-Sein.

Wie erwartet hatte Remus kein Problem, die Frage zu verstehen, und kritzelte sofort drauf los. Es dauerte keine drei Zeilen, bis seine Hand um den Federkiel verkrampfte, doch er schenkte dem durchdringenden Schmerz keine Beachtung. Er hatte ihn verdient.

Die Zeit verging wie im Fluge. Als Remus bei der letzten Aufgabe angelangt war, blieben nur noch zwanzig Minuten. Immer wieder hatte er seine Hand ausschütteln müssen und mit jedem Buchstaben, den er schrieb, war seine Schrift unleserlicher geworden. Doch er war fertig geworden und hatte nun sogar Zeit, seine Antworten noch einmal zu überprüfen. Er ging alles von oben durch, fügte bei Frage 21 noch drei Sätze hinzu, strich bei 33 zwei Anmerkungen weg, von denen er feststellte, dass sie sich ohnehin nur wiederholten, dann nickte er bestimmt und legte das Pergament umgedreht auf den Tisch.

Zum ersten Mal realisierte Remus, dass der Raum erfüllt war vom Kratzen der Federn auf Pergament, vom Seufzen der Schüler und vom nervösen Schaben von Stuhlbeinen auf dem Hallenboden.

Remus fasste Lily Evans in den Blick. Sie saß noch genauso wie vor der Prüfung an ihrem Pult, den Kopf über das Pergament geneigt, tief in der Prüfung versunken. Remus spitzte die Ohren. Hinter ihm kratzte keine Feder mehr; offenbar war Sirius bereits fertig. Das überraschte ihn nicht, denn Sirius schrieb nie auch nur ein Wort zu viel. Wenn Sirius fand, dass seine Erklärung ausreichend war („Für jeden mit Grips jedenfalls.“), weigerte er sich, sich noch weitere Mühe zu machen. Und weil er meist richtig lag, war er damit bisher durchgekommen.

Remus widerstand dem Wunsch, sich umzudrehen. Irgendwie wollte er Sirius‘ Gesicht sehen, aber gleichzeitig war er auch zu wütend. Zu wütend auf sie, und auf sich. Also räumte er, statt sich umzuwenden, seine Schreibutensilien ein und massierte seine schmerzende Hand.

„Die Zeit ist vorbei. Bitte bleiben Sie sitzen, während ich Ihre Arbeiten einsammle.“ Professor McGonagall machte einen Schlenker mit ihrem Zauberstab und die Pergamente aller Schüler rollten sich zusammen und flogen mit leisem Rauschen auf sie zu. Sie stapelten sich feinsäuberlich auf dem Lehrertisch. „Sie können gehen.“

Remus schnappte sich seine Tasche und, ohne die anderen drei anzusehen, stürmte er aus der Halle. Er nahm die Abkürzung durch den Wandbehang, hastete die Treppen hinauf und ging im Gryffindor-Turm direkt in den Schlafsaal. Dann zog er sich um und schloss um sich die samtigen roten Vorhänge seines Himmelbetts. Er wollte niemanden sehen. Er wollte niemanden hören. Er wollte einfach nur, dass das Bild von Snapes nackten Beinen in Unterhose aus seinem Kopf verschwand, und Lilys Verachtung für ihn sich in Wohlgefallen auflöste. Er schämte sich in Grund und Boden, und gleichzeitig piepste die ganze Zeit eine Stimme in seinem Kopf: Aber er hat es schon auch verdient.

Es blieben noch sieben Tage, bis der Hogwarts-Express sie zurück in die Ferien bringen würden. Es blieb noch ein Vollmond (in fünf Tagen), bis er wieder bei seinen Eltern an dem winzigen Küchentisch sitzen, pappiges Brot essen und kalkiges Leitungswasser trinken würde. Nach dem Abendessen würde sich dann wieder die Wohnküche in sein behelfsmäßiges Schlafzimmer verwandeln, denn ihr improvisiertes kleines Haus hatte nur zwei Zimmer: die Wohnküche und das klitzekleine Schlafzimmer seiner Eltern. Und das alles seinetwegen.

Remus musste an die Nacht denken, in der er gebissen worden war. Er erinnerte sich kaum daran, sodass seine Gedanken wie immer augenblicklich zu dem Werwolf huschten, der damals durch sein Kinderzimmerfenster geklettert war wie ein tödlicher Schatten. Damals war es noch ein richtiges Zuhause gewesen, mit richtigen Fenstern im ersten Stock, und mit einem Kinderzimmer nur für ihn. Der Werwolf musste unvorstellbare Schmerzen gelitten haben, musste außer sich vor Hunger gewesen sein, hatte der Einladung des offenstehenden Fensters einfach nicht widerstehen können.

Remus rollte sich auf den Bauch und drückte sein Gesicht ins Kissen. Er wollte nicht nach Hause, wo auch ihn dieses Schicksal wieder zwei Monde lang erwartete. Er spürte, wie ihm die Tränen kamen, doch er blinzelte sie wütend weg.

Die Schlafsaaltür ging auf. „Moony?“, fragte Sirius. Drei Schritte über den Holzboden, ein leises Rascheln von Stoff. Noch ein paar Schritte. Dann das Gefühl von Gewicht auf Remus‘ Matratze.

„Moony, alles okay?“

Remus antwortete nicht. Er traute seiner Stimme nicht.

Sirius legte ihm eine Hand auf die Schulter und strich vorsichtig darüber.

„Ist es wegen Krone?“, fragte er. „Wegen Schn- Snape?“

Remus zuckte die Schultern. Er wollte nicht zugeben, dass er sich neben all der Wut und der Angst, dass Lily ihn hasste, nun auch noch selbst bemitleidete.

„Ist es okay, wenn ich hier sitzen bleibe?“

Remus nickte in sein Kissen. Er fühlte sich auf einen Schlag so einsam, dass Sirius‘ Nähe wie Balsam war. Sirius kletterte weiter aufs Bett und schloss die Vorhänge sorgfältig wieder. Dann legte er einen Arm um Remus und drückte sich an ihn. Remus seufzte zur Bestätigung und es tat gut, dass Sirius keine Erklärung von ihm erwartete.

Irgendwann hielt Remus es nicht mehr aus mit dem Gesicht im Kissen und drehte den Kopf zur Seite. Er schaute direkt in Sirius‘ Gesicht, dessen grauen Augen ihn aufmerksam musterten.

„Lily weiß es“, flüsterte Remus.

Offenbar konnte Sirius eins und eins zusammenzählen. Genauso leise antwortete er: „Woher? Von Snape?“

„Ich weiß es nicht. Sie sagt, sie konnte es sich schon länger denken. Und dann hat sie uns gehört nach der Verteidigungsprüfung.“

Sirius sagte nichts, aber er stieß die Luft aus. „Wir waren zuletzt auch nicht sonderlich vorsichtig, oder?“

Remus begann, Sirius‘ Wangenknochen zu mustern, um seinen Augen auszuweichen. „Ich schätze, nicht.“

Sirius rutschte ein Stück vor und lehnte seine Stirn an Remus‘. „Wie hat sie reagiert?“

„Sie hat mich verteidigt. Also, alle Werwölfe. Und versprochen, dass sie’s niemandem sagt. Aber… ich will sie nicht weiter provozieren.“

„Nicht dass sie ihre Meinung ändert, meinst du.“

„Mhm.“

Sirius nickte und so strichen ihre Stirnen aneinander.

„Und“, sagte Remus und hickste ein wenig dabei, „sie meinte nur, ich müsste doch eigentlich w-wissen, wie es ist, ungerechterweise verfolgt zu werden.“ Seine Lippe zitterte. „Und sie hat Recht! Wir sollten eigentlich nicht so auf Snape rumhacken. Nur, weil dir langweilig ist! Dass er darüber hinaus auch noch ein widerlicher Typ ist… Da hilft auch kein Levicorpus. Da müsste man was ganz Anderes tun.“

Sirius schwieg. Offenbar hatte er auch keine Lösung für dieses Dilemma.

„Das Schuljahr ist ja fast vorbei. Wir können ihnen einfach aus dem Weg gehen.“

„James Lily aus dem Weg gehen? Als ob.“ Remus‘ Augenbrauen zuckten.

„Naja… weiß nicht. Hat ihn ganz schön getroffen, was sie zu ihm gesagt hat. Dass er genauso schlimm ist wie Snape.“

„Okay…“ Darüber hatte Remus nicht nachgedacht. „Weißt du, dieser Zauber, den ich Snape hab üben sehen. Er hat ihn wirklich auf Krone angewendet. Deswegen hat Krones Gesicht so schrecklich geblutet.“

„Ja, hat ihn nur schlecht getroffen, denke ich.“ Sirius Stimme war hart. „Er hätte ihn umbringen können.“

„Ja… Habt ihr ihn heilen können?“

„Madam Pomfrey hat zumindest fürs Erste die Blutung gestillt. Sie meinte, sowas habe sie noch nie gesehen. Sie wollte natürlich wissen, was es war, aber Krone hat Snape nicht verraten.“ Sirius rollte die Augen, aber Remus war sich sicher, dass Sirius an James’ Stelle nicht weniger stolz reagiert hätte. „Wir müssen jetzt gucken, ob es heilt.“

„Sonst sieht er hinterher aus wie ich.“

„Nein“, sagte Sirius und verzog lässig das Gesicht. „Nicht so gut.“

Remus schnaubte, aber gab Sirius einen Kuss auf die Wange. Sirius grinste. Eine Pause entstand, in der sie nur die Nähe genossen.

„Schreibst du mir über den Sommer?“, fragte Remus irgendwann. „Ich will nicht zwei Monate alleine sein.“

„Natürlich“, antwortete Sirius sofort, mit einem Tonfall, als fiele er aus allen Wolken. „Was denkst du denn?“

„Ich… wollte nur sicher gehen“, murmelte er. Erst jetzt gestand Remus sich ein, dass in all dem Gefühlsdurcheinander gerade auch noch hochgekommen war, dass Sirius zu James gesagt hatte, es sei doch nichts Ernstes.

„Mach dir doch nicht solche bescheuerten Gedanken“, sagte Sirius sanft, küsste Remus auf die Stirn und zog den Arm um ihn etwas enger. „Ich gehe nirgendwohin.“

Macht kommt von machen - Juni 1976 (6/9)

Als Remus am nächsten Morgen aus dem Schlafsaal nach unten kam, spürte er gleich, dass etwas anders war als sonst. Die Erst- und Zweitklässler hatten einen großen Tisch Koboldsteine aufgebaut und der ganze Raum roch nach der Stinkflüssigkeit, die verspritzt wurde, wenn jemand verlor. Dennoch kreischten und gackerten sie nicht so laut wie normalerweise.

Hailey Cattermole und Mary Macdonald saßen in einer Ecke und unterhielten sich tuschelnd. Aus ihren Gesichtern war zu lesen, dass sie einerseits über etwas amüsiert waren, andererseits aber auch ernst. Abseits und allein lag James Potter auf einem Sofa und fing immer wieder den Schnatz ein, den er geklaut hatte. Sein Gesicht war gezeichnet von einem hässlichen Schnitt, der sich von der Schläfe quer über die Wange bis zur Nase zog. Vor dem Feuer baute Sirius Black ein Kartenhaus aus explodierenden Spielkarten, aber zeigte nicht sein übliches siegesgewisses Grinsen dabei, sondern starrte nur unbeweglich geradeaus. Peter Pettigrew hockte stumm daneben und las in einer Quidditch-Zeitung.

„Was ist hier los?“, fragte Remus, der sich zwischen Peter und Sirius in einen leeren Sessel setzte. „Warum sind alle so still?“

„Also. Hailey und Mary haben eben darüber geredet, dass Snape gestern Abend noch vor unserem Gemeinschaftsraum aufgetaucht ist und unbedingt mit Lily Evans reden wollte. Mary hat Lily irgendwann rausgeholt, denn Snape hat gedroht, sonst vor dem Portrait der fetten Dame zu übernachten. Das war, als du schon hoch gegangen warst, Moony. Lily ist dann kurz zu Snape hin und ich hab‘ gesehen, wie sie danach, also gestern Abend noch, auch noch wieder reingekommen ist. Aber sie hat sich nur ihren Umhang geschnappt und ist dann wieder abgezischt. Aber James hat jetzt eben heute Morgen mitgehört, dass Hailey glaubt, Lily habe sich die ganze Nacht mit einem Jungen rumgetrieben oder sowas. Sie war über Nacht jedenfalls nicht im Schlafsaal. Als James dann bei Hailey noch mal nachgefragt hat, welchen Jungen sie meint, hat sie nur geantwortet, das ginge eine narbige Kaulquappe wie ihn nichts an. Und dann ist er sauer geworden und hat rumgebrüllt. Guck, da ist noch das Loch im Teppich.“ Peter deutete mit dem Finger auf ein frisches Brandloch. Remus hob die Augenbrauen und musterte Sirius, doch der schaute ihn nicht an.

„Ich wollte gerade hoch gehen und dich fürs Frühstück wecken. Gehen wir runter?“

„Ja, gerne.“ Remus‘ Magen knurrte und er wusste, dass es einer der letzten Morgen sein würde, bevor er vor Vollmond wieder den Appetit verlor. Die drei standen auf und schauten James an. Auch wenn Remus sich sicher war, dass er sie wahrgenommen hatte, macht er keine Anstalten, ihnen zu folgen. Offensichtlich wollte er allein sein, also verließen sie ohne James den Gemeinschaftsraum.

„Wie kann Lily immer noch mit Snape rumhängen, nach dem was er zu ihr gestern gesagt hat?“, fragte Sirius unterwegs.

„Keine Ahnung“, pflichtete Peter ihm bei, „Vor allem weil er Krone fast umgebracht hat.“

Und auch Remus fiel es schwer, noch eine Entschuldigung zu finden. Nachdenklich setzten sie sich an den Gryffindor-Tisch, etwas abseits von den anderen, und begannen mit ihrem Frühstück.

„Keine Prüfungen mehr!“, versuchte Sirius, die Stimmung etwas aufzuhellen. „Und noch sechs freie Tage bis zur Rückfahrt! Und vier Tage bis…“ Er nickte vielsagend. Offenbar machte die Information, dass Lily sie neulich hatte reden hören, ihn aufmerksamer für seine Worte.

Remus nickte nachdenklich, während er sich mit dem Zauberstab ein Toastbrot toastete. Doch er war noch nicht bereit für Ferienlaune. Sein Blick fuhr am Gryffindor-Tisch auf und ab. „Hier ist Lily auch nicht.“

Sirius reckte den Hals und sah sich in der Halle um. „Und Schniefelus ist auch nicht da. Oh…“ Er wurde ganz still wie ein Hund, der etwas gewittert hatte. „Und Alinac auch nicht. Und – “

„– Regulus auch nicht“, beendete Remus den Satz für ihn.

Die drei verfielen in Schweigen.

„Das muss nichts heißen“, sagte Remus langsam.

„Nein…“, antwortete Sirius.

„Aber es ist auffällig…“

„Ja…“

„Hol doch mal die Karte raus, Moony“, flüsterte Peter, dem ein wenig Rührei im Mundwinkel klebte.

Remus und Sirius sahen ihn verdutzt an. „Gute Idee.“

Flink zog er das alte Stück Pergament hervor („Peter, du passt auf, dass niemand guckt!“). Remus setzte sich mit dem Rücken zum Lehrertisch, bevor er heimlich die komplizierte Zauberstabbewegung vollführte, die nötig war, um die Karte zu entschlüsseln.

Zwischen den goldenen Tellern und den Frühstückseiern beugten Sirius und Remus sich herunter, während Peter sich aufmerksam umsah. Die beiden begannen, den obersten Stock, der den Ravenclaw-Gemeinschaftsraum zeigte, abzusuchen, und arbeiteten sich dann systematisch nach unten vor.

„Da ist Snape“, flüsterte Sirius und deutete auf den Abstellraum, in dem Remus ihn den Schneidezauber hatte üben sehen. Snapes Punkt war allein. „Dann ist Evans schon mal nicht mit ihm zusammen.“

„Ja. Das ist schon mal gut. Denke ich.“

„Aber die anderen… Keine Spur.“

„Das gefällt mir nicht“, murmelte Remus.

„Mir auch nicht.“ Sirius faltete die Ecke der Karte so, dass die Kerker erschienen. Remus taxierte als Erstes den Slytherin-Gemeinschaftsraum, doch er konnte keinen Punkt namens Regulus Black erkennen.

Plötzlich fiel ihm etwas ein. Er ließ die Spitze seines Zauberstabs die Karte berühren und zog sie dann über die Oberfläche zur Seite. Die Tintenlinien unter ihr schoben sich entsprechend seiner Bewegung zur Seite, verschwanden aus dem Rand des Pergaments und nun waren die Ländereien ins Kartenfeld gerückt, die vorher außerhalb des Ausschnitts gelegen hatten. Remus schob den Kartenausschnitt so weit, bis er die kleine Lichtung im Wald sehen konnte.

„Nicht wirklich“, flüsterte Sirius. Dort, mitten auf der einsamen Lichtung, waren drei Punkte zu sehen: Lily Evans, David Alinac und Regulus Black.

„Habt ihr sie gefunden?“, fragte Peter und spähte mit einem Auge zur Karte.

„Ja…“, sagte Remus, der noch immer auf die Punkte starrte. Er konnte sich ausmalen, was da draußen im Wald passierte, aber er wollte sich gar nicht erlauben, es zu Ende zu denken. Auf einmal sah er wieder die leeren Augen von Bertram Rowe und Casper Dunn vor sich.

Sirius zog seinen Taschenspiegel aus dem Umhang. „Krone. Du musst kommen.“

James antwortete nicht.

„Hör auf zu schmollen, du Riesenrindvieh. Es geht um Evans.“

James‘ Brillengesicht tauchte im Spiegel auf. Es sah misstrauisch aus. „Versuchst du, mich auf den Arm zu nehmen?“

„Nein. Wenn die Karte nicht lügt –“

„– tut sie nicht“, knurrte Remus.

„– ist Evans mit Alinac und Regulus im Wald. Bei diesem Ort.“

„Ich bin unterwegs“, sagten James‘ geweitete Pupillen und sie verschwanden aus dem Spiegel. Remus, Sirius und Peter sahen sich an. Remus steckte die Karte unversiegelt in die Innentasche seines Umhangs, dann sprangen sie alle drei auf. Das Toast war vergessen.

„Seid ihr sicher?“, frage James atemlos, als sie sich auf dem Treppenabsatz draußen vor dem Eichenportal trafen.

„Ja“, sagte Remus mit einem neuerlichen Blick auf die Karte. Lilys Punkt hatte sich keinen Zoll bewegt, aber Alinac und Regulus waren ein wenig zum Rand der Lichtung gerückt, als würden sie miteinander tuscheln.

Die vier Gryffindors gingen im Laufschritt zum Waldrand hinunter. Hagrid stand nicht weit entfernt hinter seiner Hütte und schnitt mit einer gigantischen Schere gelbe Ringelblumen.

„Hey Remus, alles klar?“, rief er herüber, als er die vier bemerkte, doch Remus reckte nur den Daumen und sie drehten ab, um nicht Gefahr zu laufen, vollgequatscht zu werden. Nun mussten sie einen Umweg machen, um wieder an den richtigen Abschnitt des Waldes heranzukommen.

„Gut, dass wir uns hier auskennen“, murmelte Sirius ungeduldig, der kein bisschen außer Puste war, anders als Remus und Peter. James, vom ständigen Quidditch trainiert, trabte ebenfalls mit ruhiger Atmung neben ihnen her.

„Leute!“, keuchte Remus leise, als sie der Lichtung näherkamen. „Snape ist unterwegs.“

Augenblicklich drehten die anderen drei sich zu ihm um und er hielt ihnen die Karte hin. Unverkennbar war der Punkt namens Severus Snape auf dem Weg über die Ländereien.

„Das klingt nicht gut. Nicht nach gestern.“ James‘ Gesicht war angespannt.

„Nein…“, stimmte Remus zu.

Sie pirschten weiter. „Hast du den Tarnumhang dabei?“, fragte Sirius.

„Natürlich“, sagte James und zog ihn unter seinem Schulumhang hervor. „Den lasse ich nicht mehr im Schlafsaal, seit bei den Sechstklässlern dieses Besenpflegeset geklaut wurde.“

„Bitter“, kommentiere Sirius.

Die vier Freunde kamen der Lichtung näher und es war, als stellten sich Remus‘ Sinne allesamt auf Gefahr ein: Jedes Knacken kam ihm unnatürlich laut vor. Jeder kleine Sonnenstrahl, der es durch das dichte Blätterdach schaffte, war fast schon unangenehm hell. Und jeder sanfte Windstoß trieb ihm eine Gänsehaut über den Nacken. Sirius lief am weitesten vorne und Remus fragte sich, was in ihm vorging. Sollte Regulus Black wirklich etwas Furchtbares mit Lily Evans anstellen… was würde das bedeuten für James und Sirius?

Kurz bevor sie die Lichtung erreichten, zogen sie ihre Zauberstäbe. Langsam, um keinen Lärm zu machen, schlichen sie wieder hinter den Wurzelballen des umgestürzten Baums. Sirius reckte den Kopf, doch im Stehen war es praktisch unmöglich, über die gewaltigen Wurzeln hinwegzusehen. James sah sie stumm an, dann warf er sich den Tarnumhang über. Remus hörte, wie er einen Fuß auf eine zur Seite abstehende Wurzel setzte. Eine Weitere bog sich leicht unter James‘ Gewicht; er musste sich an ihr hinaufgezogen haben, damit er über den Ballen voll Erde und Dreck hinwegsehen konnte. Das Problem war nur, dass sie nun ihn nicht mehr sehen und so auch nicht auf ihn reagieren konnten.

Remus nickte Peter zu, der sich mit verkniffenem Gesicht in die graue Ratte verwandelte und um den Baum herumwuselte. Nun hatten sie zwei Späher, die zwar beide nicht ungesehen mit Remus und Sirius in Kontakt treten konnten, aber immerhin.

„Was machen wir jetzt?“, hauchte Remus Sirius beinah unhörbar ins Ohr.

Muffliato“, murmelte Sirius und deutete mit dem Zauberstab vage in die Richtung der Lichtung.

„Was ist das plötzlich für ein Summen?“, fragte Alinac mit scharfer Stimme.

„Ich weiß nicht“, antwortete Regulus. Die beiden waren tatsächlich auf der anderen Seite. „Ich kann nicht ausmachen, wo es herkommt.“

„Das war eben noch nicht da“, stieß Alinac genervt aus.

„Ich weiß.“ Regulus klang trotzig. „Dieser Wald ist nicht normal.“

„So kann ich nicht arbeiten!“

„Ich schau mich mal um.“

Regulus‘ Schritte knisterten über das tote Laub und dann durchs Unterholz. Da weder Peter noch James sich irgendwie bemerkbar machten, ging Remus davon aus, dass für Sirius und ihn keine Gefahr bestand. Dennoch zog Remus die Karte hervor und stellte fest, dass Regulus sich ein wenig von der Lichtung entfernt hatte, in die von ihnen entgegengesetzte Richtung.

Sirius hielt den Zauberstab so fest, dass seine Fingerspitzen genauso weiß wurden wie seine Lippen. Zwischen seinen Augenbrauen stand eine tiefe Falte.

Mit einem Mal tauchte James wieder neben ihnen auf.

„Was passiert da drüben?“, fragte Remus ihn leise. Er vertraute darauf, dass Sirius‘ Muffliato wirkte, selbst wenn er sein Ziel nicht ganz genau getroffen haben sollte.

„Lily sitzt mit dem Rücken an einem Baum, sie hat die Augen zu. Entweder, sie schläft oder sie ist ohnmächtig…“, sagte James. Die dritte Möglichkeit ließ er weg.

„Und was macht Alinac?“

„Er hat auf dem Boden einen Flecken vom Laub befreit. Da sind überall Runen. Und außerdem hat er rund um die Lichtung Fluchkerzen verteilt, wisst ihr? Diese Dinger, die Seelen einfangen und bannen sollen, wenn jemand in der Nähe…“ James brachte den Satz nicht zu Ende. Er war bleich im Gesicht.

„Gibt’s in der Nokturngasse“, fügte Sirius kurzatmig hinzu. „Meine Cousine hatte mal ihr ganzes Zimmer voll davon. Für den glücklichen Fall, dass jemand tot umfällt.“

James sah ihn verstimmt an. „Wenn die Kerzen nicht brennen, bedeutet das aber, dass Lily nicht…?“

„Richtig. Sie müssen bereits brennen, wenn die Seele sich… löst.“

Remus wurde mit einem Mal eiskalt. Der will Lily umbringen. Der will sie wirklich umbringen!

„Was ist hier los?“, schnarrte plötzlich Severus Snapes Stimme über die Lichtung.

„Severus…“, sagte Alinac mit dem Tonfall eines Ministers. „Wie schön, dich zu sehen. Dann hat dich mein Memo erreicht?“

„Dieses schlagseitige Ding von einem Papierflieger nennst du Memo?“, fragte Snape kalt. „Wir sind hier nicht im Zaubereiministerium.“

„Nein, sind wir nicht, nicht wahr?“, gab Alinac beflissen zurück. „Noch nicht, jedenfalls. Aber wenn der Dunkle Lord erstmal Zaubereiminister ist, sollte das nicht mehr lange dauern.“

Snape stieß ein herablassendes, freudloses Lachen aus. „Der Dunkle Lord hat kein Interesse an einem Schreibtischjob. Du hast noch viel zu lernen.“

Das Gespräch war zwar aufschlussreich, aber nichts sehen zu können, war eine Qual für Remus.

„Ich hab‘ eine Idee“, flüsterte Sirius. „Krone, gib Moony den Umhang und verwandel‘ dich. Ein Hirsch fällt hier nicht auf.“

„Und du?“

„Mich würde man auf den ersten Blick für einen Wolf halten.“ Sirius‘ Züge verschwammen und im nächsten Moment stand der bärenhaft große Hund neben Remus. James drückte Remus den Tarnumhang in die Hand und verwandelte sich ebenfalls. Den Kopf mit dem stattlichen Geweih neigte er in die eine Richtung, um Sirius dorthin zu schicken, dann sprang er selbst in die andere davon.

„Achso?“, knurrte Alinac währenddessen. „Und du weißt so viel besser Bescheid über die Ziele und Wünsche des Dunklen Lords? Scharwenzelst um Mulciber und Avery herum, nur weil sie Familienmitglieder haben, die das Mal tragen, aber bist selbst zu feige, etwas zu tun, etwas zu erreichen…“

Remus strich Sirius kurz über das Nackenfell, dann warf er sich den Tarnumhang über und schlich auf spitzen Zehen um den Wurzelballen herum. Sirius folgte James auf die andere Seite der Lichtung. Plötzlich war Remus allein.

„Nenn mich noch einmal einen F–“, drohte Snape, doch dann brach er mitten im Satz ab. Remus schaute zwischen den Bäumen hindurch, das mulmige Gefühl in seinem Magen wurde schlimmer; Severus Snape war in der Regel nicht so leicht aus dem Konzept zu bringen.

Snape schritt mit ruckartigen Schritten um die Runen am Boden herum, dann hockte er sich neben Lily Evans, die er erst in diesem Moment entdeckt haben musste. Er griff ihre leblose Hand und Remus hörte ihn murmeln: „Lily…“

Dann wirbelte Snape mit blankem Hass in den schwarzen Augen zu Alinac herum. Drohend kam er näher wie eine gigantische Fledermaus.

„Was hast du mit ihr gemacht?“, fauchte Snape, der offensichtlich dabei war, die Beherrschung zu verlieren. Der Zauberstab in seiner rechten Hand feuerte Funken. Einige Blätter segelten verkohlt zu Boden.

„Nun, ich dachte, ich tue dir einen Gefallen“, sagte Alinac mit aalglatter Stimme. „Du hast doch gestern selbst erst laut und deutlich gesagt, du willst mit der Schlammblüterin nichts mehr zu tun haben.“ Alinac hatte ebenfalls den Zauberstab gehoben wie ein wendiger Duellant. Aus seinen Augen sprühte die Machtgier. „Jetzt musst du es auch nicht mehr.“

Snape richtete den Zauberstab gerade auf Alinacs Brust, als zwischen den Bäumen Regulus Black auftauchte.

„Severus!“, rief Regulus, überrascht und erfreut zugleich. „Ich dachte, du wolltest nicht kommen!“

Snape ignorierte ihn. Remus sah, wie der Hass in seinen Augen loderte, aber auch etwas wie Panik stand auf seinem fahlen Gesicht. Und auch Remus selbst war starr vor Angst, als hätte jemand ihn mit einem mächtigen Zauber belegt.

Snape fing sich und sagte kalt: „Belebe sie. Sofort.“

Remus‘ Augenbrauen zuckten.

„Wieso sollte ich? Regulus‘ Ring ist noch nicht wieder der alte.“ Alinac lächelte bösartig, trat zu Regulus hinüber und legte ihm geradezu brüderlich einen Arm um die Schulter. Etwas in Remus wand sich bei dem Gedanken, dass Regulus sich nach einer solchen Geste sehnen musste. „Nicht wahr, Regulus? Severus hier wollte dir nicht helfen, deinen neuen Ring mit einem Fluch zu belegen. Und jetzt will er es dir schon wieder zunichtemachen.“

„Stimmt das, Severus?“, fragte Regulus und plötzlich trat eine Kälte und eine Autorität in seine Stimme, die Remus ihm nicht zugetraut hatte. Es war gruselig, denn Regulus sah immer noch aus wie ein Kind.

Remus hob zur Sicherheit den Zauberstab, doch er wusste gar nicht, wen er zuerst angreifen sollte, würde es nötig werden. Er mustere die Szenerie abwägend und sein Blick fiel auf Regulus‘ Hand. Dort hing der gleiche schwere Silberring mit dem Wappen der Blacks wie der, den Sirius‘ ihm im Herbst gezeigt hatte. Es fühlte sich an, als wäre die Erinnerung aus einem anderen Leben.

„Weißt du, Severus“, sagte Alinac und begann, den Zauberstab lässig zwischen den Fingern hin- und herzuwirbeln – offensichtlich betrachtete er Snape nicht mehr als Gefahr, „Regulus‘ Familie hat hervorragende Beziehungen ins Ministerium. Er wird seine Kontakte spielen lassen und mir nach Hogwarts einen angemessenen Job besorgen, vermutlich in der Abteilung zum Schutze der Muggel. Auch wenn ich bezweifle, dass sie dann noch so heißt.“ Alinac lachte und Remus stellten sich die Nackenhaare auf vor Ekel. „Was denkt ihr, wäre der bessere Name? «Abteilung zur rechtmäßigen Herrschaft über die Muggel»?“

Immerhin sorgte Regulus‘ Lachen dafür, dass wieder Leben in Remus‘ erstarrten Körper kam. Er schlich um die Lichtung herum und versuchte, so wenig trockenes Laub zu berühren wie möglich.

„Im Gegenzug belege ich Regulus‘ neuen Ring mit einem Fluch, damit er dem alten, den er einmal hatte, wieder gleichkommt. Nur, weil dein Blutsverräter-Bruder ihn dir weggenommen hat, sollte ein so wichtiges Artefakt einer reinblütigen Familie wie der Blacks nicht vom Antlitz der Zaubereigeschichte verschwinden, richtig? Wenn wir hier fertig sind, kannst du ihn wieder ganz selbstverständlich tragen. Deine Eltern werden keinen Unterschied bemerken.“ Er lächelte Regulus in einer Weise an, die er wohl für gutmütig halten musste, dann fuhren Alinacs scharfen Augen wieder zu Snape hinüber. „Es muss doch niemand das Gesicht verlieren, nicht wahr, Severus? Und dafür brauchen wir nun einmal eine Seele, die wir in das Siegelwappen sperren können. Denkst du nicht, die Schlammblüterin wäre genau die Richtige dafür?“

„Lass deine Finger von ihr“, presste Snape zwischen den Zähnen hervor.

Remus hockte jetzt neben Lily und streckte zitternd die Hand nach ihr aus. Ihr Handgelenk war kalt, aber es hatte Puls. Er verbot sich ein erleichtertes Seufzen.

„Und du hältst es für klug, unter Dumbledores Nase einen Mord zu begehen?“, fragte Snape und sein Zauberstab zischte, doch Remus hatte den Eindruck, er wolle Alinac nur auf dem falschen Fuß erwischen; zwar war Snape ein hervorragender Duellant, doch Alinac ebenfalls. Nicht nur einmal war er Duellier-Champion im Schülerklub geworden, und dann gab es ja auch noch Regulus.

„Dumbledore wird hier schon bald gar nichts mehr zu melden haben“, sagte Alinac bissig.

In diesem Moment wünschte Remus sich nichts mehr, als ebenfalls schon ungesagte Zauber wirken zu können. Er hielt den Zauberstab direkt vor Lilys Brust und flüsterte den Zauber aus dem Heiler-Buch: „Enervate.“

Lily gab ein leises Seufzen von sich, dann blinzelte sie ihre grünen Augen auf. Natürlich konnte sie Remus unter dem Tarnumhang nicht sehen.

„Sev?“, fragte sie verschwommen, als erwache sie aus einem tiefen Schlaf. „Wo sind wir?“

Snape wirbelte zu ihr herum und Alinac hob fluchend den Zauberstab.

In diesem Moment passierten mehrere Dinge gleichzeitig. Ein Hirsch stob aus dem Unterholz und rammte sein Geweih, das er mit geneigtem Kopf nach vorne stieß, direkt in Alinacs Brust. Alinac wirbelte durch die Luft und krachte ins trockene Laub. Außerdem sprang ein riesenhafter schwarzer Hund Regulus Black an und stieß ihn zu Boden. Snape hastete zu Lily Evans, während Remus zwischen die Bäume sprang, damit sie sich nicht berührten.

Doch Lily war bereits selbst auf den Füßen. Remus sah, wie ihr Blick von den Fluchkerzen zu Snapes Gesicht huschte. Dann sah sie die Runen am Boden und ihre Pupillen weiteten sich.

„Was hast du getan?“, flüsterte sie.

Im Hintergrund nahm der Hirsch noch einmal Anlauf, um erneut auf Alinac loszugehen. Doch der hatte, ohne aufzustehen, bereits seinen Zauberstab nach vorne gestoßen und ein roter Blitz peitschte durch den Wald. Der Hirsch stoppte abrupt mit einem Geräusch wie ein Schrei.

Remus zischte „Diffindo!“ unter dem Tarnumhang hervor und ein großer Ast brach von dem Baum direkt über Alinac ab. Er traf ihn am Hinterkopf. Snape starrte an die Stelle, von der Remus‘ Stimme gekommen war.

Währenddessen wandte sich der Hirsch den am Boden rangelnden Regulus Black und dem Hund zu. Der bärenhafte Hund hatte sich in den Umhangsaum verbissen und schleuderte Regulus so sehr hin und her, dass er seinen Zauberstab fallen ließ. Der Hirsch preschte heran und trat mit einem wuchtigen Tritt auf den Stab. Das Holz ging mit dem Knall eines Gewehrs glatt entzwei.

Dann warfen der Hund und der Hirsch sich einen Blick zu und stürmten zwischen den Bäumen davon.

„W-was war das?“, fragte Snape und Remus hörte, wie er um Fassung rang. Remus zog sich noch weiter zwischen die Bäume zurück und umrundete die Lichtung in einem großen Bogen. Als er Lily wieder sehen konnte, hatte Snape seinen Zauberstab entzündet und leuchtete zwischen die Bäume, genau dorthin, wo Remus eben noch gestanden hatte.

Remus schlich hinter den Wurzelballen, kletterte auf eine der Wurzeln und beobachtete die Lichtung von oben.

„Was ist hier los, Severus?“, fragte Lily nun noch einmal, aber Remus sah in ihrem Gesicht, dass nichts, was Snape sagen konnte, ihre schlimmsten Befürchtungen beruhigen würden. Ihr Blick flackerte wieder über die Fluchkerzen, über die Runen, hinüber zu Alinac. Regulus Black rappelte sich gerade stöhnend auf die Knie, dann beugte er sich wie versteinert über seinen kaputten Zauberstab. Remus sah den nachgeahmten Ring der Blacks an seiner Hand blitzen, als er sie neben den Zauberstab abstützte.

Snape antwortete nicht.

„Wo ist mein Zauberstab?“, fragte Lily Snape kalt. „Gib mir meinen Zauberstab.“

„Ich hab‘ ihn nicht“, sagte Snape sofort. „Ich hab‘ hiermit nichts zu tun. Ich wusste nicht, was sie vorhatten –“

Lily ging mit mutigen, von Wut gestärkten Schritten auf Alinac zu, der mit blutigem Kopf am Boden lag, halb unter dem Ast begraben. Sie nahm ihm seinen Zauberstab weg, den er fallengelassen hatte. Remus sah, wie Lily erschauderte, als sie das Holz mit den Fingern umschloss.

Dann richtete sie den Zauberstab auf Severus Snape. Ihre Lippen bebten vor Zorn. „Ich lass mich nicht auf den Arm nehmen, Severus. Ich fass‘ es nicht, dass du immer noch glaubst, mich für dumm verkaufen zu können. Das hier ist ein Seelenfänger-Bannkreis. Ich bin nicht mehr das ahnungslose Muggelmädchen.“

„Ich wollte nicht… Ich hab‘ nicht…“, stammelte Snape. Er steckte seinen Zauberstab in seine Umhangtasche und hob beschwichtigend die Hände.

„Ich habe dir gestern schon gesagt, dass ich nichts mehr mit dir zu tun haben will. Du hast deinen Weg gewählt. Und bei Merlin, es ist ein erbärmlicher Weg.“

Und gerade, als sie mit dem unheimlichen Stab einen Zauber wirken wollte, verlor Lily das Gleichgewicht. Alinac hatte sie am Bein gepackt und zu Boden gerissen.

„Du nimmst einem Anhänger des Dunklen Lords, einem Zauberer, nicht seinen Zauberstab, Schlammblüterin!“, kreischte er und seine Stimme überschlug sich. Die beiden lagen am Boden, aber Alinac war größer und stärker und drückte seine Hände auf Lilys Hals. Sie gurgelte erstickt. Remus hörte bereits Huf- und Pfotengetrappel heranrauschen und war auch schon selbst dabei, einen Fluch zu wirken, als eine Ratte durch das Laub herangeraschelt kam. Alinac blickte sie für einen Moment verwundert an und das reichte, damit die Ratte ihm in den kleinen Finger beißen konnte. Alinac schrie durchdringend.

Lily riss sich augenblicklich von David Alinac los, sprang auf die Füße und trat ihm mit voller Wucht gegen die Brust. Er keuchte und hustete, währen die Ratte wieder im Unterholz verschwand.

„Ich erledige deinen verfluchten Lord im Alleingang!“, schrie Lily und trat noch einmal zu. „Und wenn es das Letzte ist, was ich tue!“

Macht kommt von machen - Juni 1976 (7/9)

Remus hatte Lily schnell aus den Augen verloren, nachdem sie mit Alinacs Zauberstab in der Hand Reißaus genommen hatte. Snape war ihr sofort nachgestürzt, doch weder Alinac noch Regulus Black schienen in der Lage, ihnen zu folgen. Alinac stöhnte vor Schmerz, Regulus Black starrte nach wie vor auf seinen zerstörten Zauberstab. Als sich im Schutze des Wurzelballens Sirius und Peter wieder zurückverwandelten und ihre Umhänge überwarfen, kletterte Remus von der Wurzel herunter und zog sich den Tarnumhang vom Kopf.

„Der Zauberstab war von unserem Uronkel. Meine Familie wird Regulus in Stücke reißen“, sagte Sirius, doch er sah nicht ganz so schadenfroh aus, wie er wohl gewollt hatte.

„Was machen wir jetzt?“, fragte Peter, der sich immer wieder mit dem Handrücken über den Mund wischte.

„Ich wette, Evans geht zu Dumbledore, also würde ich sagen: verschwinden“, murmelte Sirius.

„Aber die beiden da draußen dürfen nicht entkomm– “, sagte James gerade, als sie Regulus Blacks Stimme hörten.

„Das ist alles deine Schuld“, knurrte er kalt.

David Alinac lachte auf. „Meine Schuld? Wer ist hier derjenige, der sich von seinem Bruder nach Strich und Faden herumschubsen lässt? Der kein bisschen Zaubererehre zeigt und ihn in die Schranken weist?!“

Die vier Gryffindors warfen sich einen Blick zu. Sie schlichen zur Kante des Wurzelballens und lugten um die Ecke. Sie waren alle bewaffnet, während weder Alinac noch Regulus Black einen Zauberstab hatten. Dennoch deutete Remus auf den Tarnumhang, sodass James, der größte von ihnen, ihn ausbreitete und zumindest ihre Köpfe damit verdeckte. Es musste lächerlich aussehen, doch es war effektiv.

Regulus Black war aufgestanden. Ohne Waffe konnte er zwar nicht viel ausrichten, doch Alinac kauerte noch immer mit schmerzverzerrtem Gesicht am Boden. So ragte Regulus über ihm auf wie ein Richter.

„Du hast keine Ahnung von der Familie Black“, zischte er bedrohlich. „Du bist einfach nur ein machtgieriger kleiner Wurm! Ein Halbblut, das sich nach der Macht verzehrt. Aber die wirst du niemals bekommen, niemals! Der Dunkle Lord hat fähigere, reinere Gefolgsleute und du wirst immer nur in zweiter Reihe stehen wie ein dreckiger Halbling. Also glaub nicht, dir einbilden zu können, irgendetwas über Zaubererehre zu wissen!“

Remus hielt es nicht mehr aus. Er explodierte nahezu vor Wut. Den Zauberstab auf die Lichtung gerichtet, flüsterte er: „Incarcerus!

Feine mondhelle Seile schlängelten sich aus der Spitze seines Zauberstabs, überraschten Regulus Black von hinten und umschlangen ihn. Regulus schrie auf, doch es war zu spät: Seine Arme wurden an seine Seiten gedrückt und ehe er sich ausbalancieren konnte, zogen sie ihn zu Boden und an den Stamm eines Baumes, an den er gefesselt wurde. Ein zweites Paar Seile war über Alinac hergefallen und knoteten auch ihn an den nebenstehenden Baumstamm.

„Guter Schachzug“, murmelte Sirius gerade anerkennend, als Alinac wutentbrannt rief: „Wer war das!?“ Er starrte an die Ursprungsstelle der Seile, doch es war nichts zu sehen. „Wer ist da? Snape! Snape, komm raus, du mieser Feigling! Du Verräter!“

Doch er bekam keine Antwort. Die vier Freunde zogen sich in den Schatten des Wurzelballens zurück und sahen einander an.

James wirkte zur Sicherheit noch einmal einen neuen Muffliato.

„Lassen wir sie jetzt einfach hier sitzen?“, fragte Remus abwägend. „Vielleicht kommen irgendwelche Tiere und – “

„Kann man nur hoffen“, antwortete Sirius düster.

„Zeig mal die Karte“, sagte James und Remus holte ihr Pergament heraus.

„Seht mal, Dumbledore ist auf dem Weg“, sagte James und deutete auf den entsprechenden Punkt. „Lily muss ihn erreicht haben. Dann können wir’s wohl riskieren, die beiden hier zu lassen –“

„Schade“, warf Sirius ein.

„– und sie sollten uns nicht hier finden, wenn ihr mich fragt.“

„Das stimmt“, gab Remus zurück. Also machten sie sich auf den Weg zurück ins Schloss, indem sie einen großen Bogen um den Weg machten, den Dumbledores, Slughorns und Flitwicks Punkte auf der Karte einschlugen.

„Alinac hat nicht gesagt, ob er Rowe und Dunn angegriffen hat…“, sagte Remus, als sie bereits wieder den Korridor mit der Fetten Damen erreicht hatten. „Meint ihr, er war es?“

„Hundertprozentig“, gab Peter sofort zurück.

„Jep“, bestätigte auch James. „Wenn es klingt und singt wie ein Hippogreif, ist es höchst wahrscheinlich ein Hippogreif.“

„Ja. Vermutlich.“

„Glaub mir, Moony. Nicht alles ist immer so mysteriös wie in deinen Büchern. Die allermeisten bösen Menschen sind einfach böse, von Anfang bis Ende. Man will immer, dass sie für alles einen total guten Grund haben. Oder dass sie sich plötzlich umentscheiden. Und dass sich am Ende alles als großer Irrtum oder doppeltes Spiel herausstellt, aber so ist die Welt nicht. Nicht unsere.“

Peter nickte düster.

Sirius sagte nichts. Er schien, seit sie die Lichtung verlassen hatten, in Gedanken versunken zu sein und Remus konnte sich vorstellen, was in ihm vorging: Seine schlimmsten Befürchtungen bezüglich seines Bruders waren bestätigt worden. Regulus war auch einer von diesen bösen Menschen, von Anfang bis Ende. Gleichzeitig blühte ihm vermutlich eine entsetzliche Strafe, sobald er ohne den Zauberstab – und ohne den Ring – seiner Vorväter zu seiner Familie zurückkehrte. Und Sirius selbst würde währenddessen ebenfalls dort sein. Auch er musste für die Sommerferien in ihr Haus zurückkehren.

Macht kommt von machen - Juni 1976 (8/9)

Naturgemäß wusste am nächsten Tag das ganze Schloss Bescheid. Egal, wohin Remus kam, es gab kein anderes Gesprächsthema als David Alinac, der zuerst die beiden kleinen Ravenclaws angegriffen und dann versucht hatte, im Wald eine Muggelstämmige für ein schwarzmagisches Ritual zu opfern. Und wie zu erwarten war auch allen klar, dass Lily Evans, Regulus Black und Severus Snape dort gewesen waren. Snape wurde kurzzeitig für den rettenden Helden gehalten, was bei den Slytherins überhaupt nicht gut ankam. Offenbar hatte er die Sympathien einiger verspielt, indem er sich mutmaßlich für die Muggelstämmige eingesetzt hatte. Lily Evans auf der anderen Seite rauchte vor Wut, weil sie immer wieder als hilfloses Mädchen, das gerettet werden musste, dargestellt wurde. Dabei war sie, sobald sie nicht mehr ohnmächtig gehext worden war, sehr gut alleine in der Lage gewesen, Alinac zu verprügeln. Und Regulus Black hatte niemand mehr gesehen, seit er von Dumbledores Büro aus direkt in den Slytherin-Gemeinschaftsraum verschwunden war. Über ihn wurde ohnehin nur verhalten gesprochen – der Name Black hatte offenbar immer noch eine gewisse Bedrohlichkeit an sich, der sich die Schüler nicht aussetzen wollten.

Auch die vier Freunde redeten über den Tag verteilt immer wieder darüber, was sie gesehen und gehört hatten. Dann entwickelte sich immer ein harter Zug um Sirius‘ Mund, der Remus sagte, dass die Realität des Krieges draußen auch endlich bei ihm angekommen war. Das Einzige, was ihn aufzuheitern schien, war die Tatsache, dass drei Tage später der letzte Vollmond vor den Sommerferien anstand.

Jetzt, da sich die Angespanntheit rund um die verletzten Schüler gelegt hatte, fieberten sie geradezu darauf hin, als großes Finale ihres Schuljahrs. Als es endlich so weit war, verbrachten die Rumtreiber eine sternenklare Nacht auf den Ländereien, im Wald und am See. Sie streiften stundenlang herum und tollten wie junge Hunde durch das Gras. Selbst Remus hatte das Gefühl, die Realität für einen Moment vergessen zu können, obwohl er bei vollem Verstand blieb. Es sollte eine der schönsten Nächte seines Lebens bleiben.

Am frühen Morgen des Abreisetages entschieden die vier sich, noch ein letztes Mal über die Wiesen zu gehen, bevor der Zug fuhr. Sie setzten sich unter ihre Birke und Remus schlug die versiegelte, blanke Karte des Rumtreibers auf.

Ich schwöre feierlich“, sagte Remus, als die anderen drei sich ebenfalls um die Karte herum ins Gras gesetzt hatten, „dass ich ein Tunichtgut bin.“ Er berührte das Pergament mit der Zauberstabspitze und die Tintenlinien der Ländereien erschienen.

„Bist du überhaupt nicht“, sagte James kichernd, musterte aber trotzdem, wie die Linien sich ausbreiteten.

„Ich finde, das ist eine bessere Entschlüsselung als dieses Herumgehampel mit dem Zauberstab.“

„Finde ich auch“, sagte Peter mit erleichterten Augen.

„Und was machen wir, damit sie wieder weiß wird?“, fragte Sirius.

„Überleg dir was.“ Remus grinste. „Es funktioniert dann einfach wie ein Passwort.“

„Ich dachte, Passwörter wären unsicher“, murmelte James gespielt entrüstet. „Sind so nicht diese Halunken in den Slytherin-Gemeinschaftsraum eingebrochen?“

„Keine Ahnung, wovon du redest“, sagte Sirius scheinheilig, dann berührte er die Karte mit seiner Zauberstabspitze, so breit grinsend wie seit Wochen nicht: „Unheil angerichtet.

Die Karte wurde auf einen Schlag unleserlich. Sie lachten laut auf und versuchten es noch ein paar Mal mehr.

Dann wurde es langsam Zeit, zurück zum Schloss zu gehen (die Karte war gelöscht). Die Luft war warm und Remus fühlte sich leicht, auch wenn der Abschied immer näher rückte. Erst, als sie das Eichenportal sehen konnten, schlug seine Stimmung um.

Einsam und allein stand Regulus Black auf dem oberen Treppenabsatz. Er wartete ganz eindeutig auf sie.

„Verzieh dich“, knurrte Sirius ihn mit gezogenem Zauberstab an, als sie in Hörweite kamen.

„Nein“, gab Regulus zurück. „Du wirst mir jetzt zuhören.“

„Ach ja?“ Sirius baute sich vor ihm auf. „Hast du nicht schon genug Probleme?“

Regulus fixierte seinen Bruder mit verengten Augen. Dann sagte er mit sehr deutlicher Stimme: „Du gibst mir jetzt den Ring zurück.“

Sirius blickte verdutzt, dann fing er auf einen Schlag an zu lachen. „Du rennst immer noch diesem widerwärtigen Ding hinterher? Hast du denn gar nichts verstanden?“

„Ich glaube, du hast nichts verstanden“, sagte Regulus und sein Blick fuhr kurz über James, Peter und schließlich Remus. „Ich habe dir schon einmal gesagt, dass ich dein kleines pelziges Geheimnis kenne. Und glaub mir, es gibt nichts mehr, das mich daran hindern wird, es auszuplaudern, wenn du mir den Ring nicht zurückgibst.“

„Versuch’s doch“, zischte Sirius herausfordernd, doch Remus drehte sich dennoch der Magen um. Nur weil Lily positiv reagiert hatte, war das mit Sicherheit nicht der Fall bei all den anderen Menschen im Schloss. Er war drauf und dran, Sirius zurückzuhalten, doch Regulus ergriff nach einem tiefen Atemzug wieder das Wort:

„Gut. Wie du willst. Ich weiß schon seit Monaten, dass du ein Animagus bist. Du bist nicht sonderlich gut darin, Dinge zu verheimlichen, weißt du? Und glaub mir, ich habe dich im Wald auf dieser Lichtung erkannt. Keine Ahnung, wie du das mit den anderen Tieren gemacht hast, aber ich weiß, dass du dieser Hund warst.“ Ein wahnsinniger Funke sprang in Regulus‘ Augen hin und her. „Und wenn das rauskommst, dann gehst du direkt nach Askaban.“

Für einen Moment sahen die vier Freunde sich wie vom Donner gerührt an. Und zu Regulus großem Entsetzen begann Sirius erneut, herzhaft zu lachen. Selbst Remus musste ein wenig schmunzeln, als er die Tragweite von Regulus‘ Worten erkannte.

Als Sirius sich wieder eingekriegt hatte, sagte er: „Okay, du nichtsnutziger Bengel. Der war gut. Du hast wirklich ein tolles Geheimnis entdeckt.“ Für einen Moment schaute Sirius in den blauen Himmel, dann sagte er: „Denken wir deinen großartigen Plan mal zu Ende: Du erzählst herum, dass ich angeblich ein Animagus bin. Wenn’s so wäre, ginge ich tatsächlich direkt nach Askaban. Und wer hat dann die Familienschande am Hals?“ Er legte den Kopf schief. „Ich bestimmt nicht. Ich bin dann nur der arme, talentierte, missverstandene Black, der völlig ungerechtfertigt vom Zaubereiministerium ins Gefängnis geworfen wird, dafür, dass man unsere großartige Familie beneidet. Das hat man doch immer schon, nicht wahr? Aber du, du bist dann derjenige, der der Familie in den Rücken gefallen ist. Du bist derjenige, der seinen Bruder den Behörden ausgeliefert hat. Du bist derjenige, der irgendwelche muggelliebenden Beamte auf einen Black gehetzt hast! So sehr sie mich auch allesamt verachten mögen, was sie noch viel mehr verachten, ist öffentliche Schande für die Familie! Und für die bist dann du verantwortlich.“ Sirius spuckte Regulus vor die Füße. „Viel Spaß damit. Wir sehen uns dann im Haus – falls sie dich jemals wieder aus dem Keller lassen.“

Macht kommt von machen - Juni 1976 (9/9)

Remus, Sirius, James und Peter hatten auf der Rückfahrt nach London ein Abteil für sich, wie jedes Jahr. Seit James und Sirius auf ihrer allerersten Fahrt mit Severus Snape in einem Abteil gesessen hatten, waren sie nicht mehr sonderlich scharf darauf, zu teilen. Und so hatten sie bereits als Erstklässler eine Strategie entwickelt: Sie nahmen stets das Abteil ganz am Ende des Zuges, dann warfen sie in den Gang eine Stinkbombe und imperturbierten ihre eigene Abteiltür. So kam der Gestank nicht hinein und die restlichen Schüler kamen gar nicht erst auf die Idee, zu schauen, ob in ihrem Abteil noch Platz war.

Zu Anfang der Fahrt ließen sie das Schuljahr Revue passieren, aber dann wandte sich das Gespräch doch schnell wieder Regulus Black und David Alinac zu. Wie sie inzwischen erfahren hatten, waren noch am Morgen nach den Geschehnissen im Wald zwei Ministeriumsbeamte nach Hogwarts gekommen und hatten, gemeinsam mit Dumbledore, David Alinac verhört. Daraufhin waren seine Eltern zur Schule bestellt worden und sie hatten ihn abgeholt. Offenbar hatten sie auch aus ihm herausgequetscht, welchen Fluch er auf die Zweitklässler gelegt hatte, und so war Madam Pomfrey endlich in der Lage gewesen, sie in die Gegenwart zurückzuholen.

„Er ist ganz klar von der Schule geflogen“, schlussfolgerte Peter.

„Das ist ja wohl auch das Mindeste“, sagte James und spielte mit seinem Schnatz, „Wenn ich die wäre, hätte ich ihn direkt weggesperrt. Ich meine, er wollte Lily umbringen.“ Inzwischen war seine Wunde im Gesicht vollständig verheilt und nichts deutete mehr darauf hin, dass er kurzzeitig ausgesehen hatte wie Remus. Professor Dumbledore hatte sich persönlich darum gekümmert, was Sirius, Remus und Peter ziemlich beeindruckend fanden.

„Das kann aber niemand beweisen, denke ich.“ Remus runzelte die Stirn.

„Und das obwohl sie Regulus als Zeugen haben“, knurrte Sirius angewidert. Er hatte sich über zwei Sitze ausgestreckt und lehnte mit dem Kopf an der Wand neben dem Fenster, die Füße unter Remus‘ Oberschenkel gesteckt. James und Peter saßen ihnen gegenüber auf der anderen Sitzbank, eine Tasche mit Süßigkeiten auf den mittleren Sitz zwischen sich gestellt. „Vermutlich kriegen sie nichts aus ihm raus. Meine Familie war schon immer gut darin, ihre Taten zu vertuschen.“

„Ich wundere mich sowieso, warum er nicht auch schon von der Schule geflogen ist…“, sagte James abfällig.

„Ach! Das habe ich heute Morgen auf dem Bahnsteig gehört!“, sagte Remus und schlug sich an die Stirn. „Das habe ich völlig vergessen! Dumbledore geht wohl davon aus, dass Regulus wegen dieses Rings so unter Druck stand, dass… naja, er nicht mehr so richtig zurechnungsfähig war.“

„Dumbledore ist ein alter Narr“, sagte Sirius kopfschüttelnd. „Nur weil er ein guter Mensch ist, glaubt er immer, alle anderen wären das auch. Aber ich sag euch, wenn Regulus es nur selbst gewusst hätte, wie er das mit dem Ring macht, hätte er das alles alleine in die Hand genommen. Lily war ihm völlig egal.“

„Er scheint Dumbledore aber auch nichts von deiner Verwandlung erzählt zu haben“, sagte James und wuschelte sich durch die Haare.

Sirius zuckte die Schultern. „Oder es ist interessiert Dumbledore einfach nicht. Ich hatte nie den Eindruck, dass er sonderlich viel Wert auf Regeln legt…“

„…jedenfalls nicht, solange sie niemandem schaden.“

„Ja, und das tun wir doch nicht, oder? Ich mein, im Gegenteil. Wir tun Moony doch nur einen Gefallen.“ Sirius grinste Remus an. Sein Herz machte einen Sprung und als James und Peter beide nicht hinsahen, drückte er ihm das Bein.

Sirius betrachtete ihn immer noch, als Remus sich bereits wieder abgewandt hatte.

Die Vier begannen, eine Partie Karten zu spielen, was mit Sirius‘ explodierendem Deck besonders nervenaufreibend war. Als Peter sich letztlich die Hand verbrannte, holte Remus eine Paste aus seiner Tasche: „Hier, tu das drauf. Hat Madam Pomfrey mir gegeben.“

Mit tränenden Augen schmierte Peter sich die Hand ein, die dadurch stark nach Eukalyptus roch, aber seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen nicht mehr so wehtat.

„Du hast echt was gelernt dieses Schuljahr, was?“, fragte Sirius. „Vielleicht solltest du Heiler werden.“

„Vielleicht!“, sagte Remus herausfordernd und zog eine Grimasse. Sie wussten alle, dass er keine Zukunft hatte wie die anderen.

„Habt ihr euch inzwischen was überlegt, was ihr machen wollt?“, fragte Peter und gab Remus die Salbe zurück.

„Auror“, gab James sofort zurück. Er guckte grimmig.

Sirius nickte zustimmend. „Schwarze Magier fangen, das wär’s doch, oder? Da weiß ich, wo ich anfange zu suchen.“

James grinste, während Peter sie mit großen Augen anstarrte.

„Da würde Moony sich sicherlich auch gut machen. Mad-Eye Moony! Im Rumschleichen hat er ja jetzt ausreichend Erfahrung…“

„Oh jaah“, sagte Remus gedehnt. „Bestimmt! Dann kann ich auch direkt bei mir anfangen.“

„Hä?“, machte Sirius und wirkte beleidigt. „Müssen wir das jetzt alles noch mal wieder durchkauen? Lykanthropen sind doch keine schwarzen Magier. Ich komm mir schon wieder vor wie bei den ZAGs!“ Er rollte die Augen, dann sah er Remus streng an. Und dass Sirius sich extra die Mühe gemacht hatte, dieses unnötig komplizierte Wort zu benutzen, besänftigte Remus schon.

Im Augenwinkel sah Remus, wie James in sich hineingrinste und versuchte, es mit einem besonders komplizierten Schnatz-Fang zu überspielen.

„Peter, was willst du nach der Schule machen?“, fragte Remus, um das Thema zu wechseln.

„Ich weiß immer noch nicht… Wer weiß schon, worauf man sich im Moment verlassen kann?“

„Wie wäre es mit einem guten alten Job im Büro gegen den Missbrauch der Magie? Du könntest Leuten hinterherjagen, die einfach ohne Registrierung Animagi werden“, schlug James feixend vor.

„Aber dann muss ich ja wirklich bei mir selbst anfangen“, sagte Peter und schüttelte verdutzt den Kopf.

James schlug seine Stirn gegen die Abteilwand und rief verzweifelt: „Accio Gripsschärfungs-Trank!“

Draußen wurden die Schatten bereits länger, als der Zug langsamer wurde und sie die Ausläufer Londons vor den Fenstern ausmachen konnten. Remus fühlte ein Ziehen in der Brust. Sie ließen ihre Koffer aus den Gepäckablagen schweben und mit geschäftiger Miene öffnete Sirius den seinen. Er zog den rot-goldenen Gryffindor-Schal heraus, den er normalerweise zu den Quidditch-Partien trug, und legte ihn sich lässig um den Hals.

„Ist es nicht ein bisschen warm für einen Schal?“, fragte James mit einem Nicken nach draußen.

„Glaub mir, wo ich hingehe, ist es eisig“, brummte Sirius. Remus musterte jedoch die Farben des Schals und war sich ganz sicher, dass der wahre Grund für Sirius‘ Kleiderwahl nicht die Temperatur war. Sie packten nebeneinanderstehend den Kram ein, den sie während der Zugfahrt benutzt hatten, und Sirius‘ Hand streifte auffällig oft Remus‘, wann immer sie nach etwas griffen, das auf der Sitzbank lag. Das Ziehen in Remus‘ Brust wurde stärker.

Als der Zug endlich hielt, schleppten die vier ihre Koffer auf den Bahnsteig hinaus. Dort herrschte das heillose Durcheinander von Schülern, Eltern, Tieren und Koffern. Doch nach einigem Umschauen entdeckten sie zunächst Peters Mutter, eine kleine hutzelige Hexe, die eine Art Halstuch trug, das Remus an ein Babylätzchen erinnerte. Peter winkte und dackelte mit ihr davon, offenbar zu beschämt, sich noch richtig zu verabschieden. Dann tauchten Mr. und Mrs. Potter in der Menge auf, zwei bereits ältere Herrschaften, die ihren Sohn und Sirius, den sie schon häufiger gesehen hatten, fest in die Arme schlossen. Dann begrüßten sie auch Remus freundlich.

„Bist du so weit, James?“, fragte Mr. Potter, und James umarmte sowohl Sirius als auch Remus lässig, bevor er mit seinen Eltern durch die Absperrung Richtung Bahnhof verschwand.

„Wo sind deine Eltern?“, fragte Remus. Die letzten Jahre war er häufig der Erste gewesen, der sich von den anderen getrennt hatte, denn seine Eltern waren eigentlich immer darauf bedacht, möglichst unauffällig und schnell von öffentlichen Orten zu verschwinden. Heute schienen sie sich ausnahmsweise Zeit zu lassen und das kam Remus gelegen.

„Meine Eltern kommen nicht“, prustete Sirius bei der Vorstellung. „Aber da ist Kreacher.“

Remus entglitten die Gesichtszüge, als er einen gebrechlich wirkenden Hauselfen entdeckte. Er war klein wie alle Hauselfen, aber hatte eine faltige Schweinenase und weißes Haar spross aus seinen Fledermausohren. Neben ihm stand mit unbeweglicher Miene bereits Regulus Black mit seinem Koffer. Als sie näherkamen, schaute er sich plötzlich interessiert den Fahrplan an der Wand an.

„Beeilung, Meister Sirius“, krächzte Kreacher ungeduldig, als sie nähertraten. Remus und Sirius würdigten Regulus keines Blickes. „Kreachers Herrin wartet bereits auf ihre Söhne.“

„Kann ich mir vorstellen“, höhnte Sirius kalt. „Sitzt auf ihrem knochigen Hintern und kann es kaum erwarten, jemanden zum Quälen ins Haus zu holen.“

„Meister Sirius ist ein undankbares Balg…“, murmelte Kreacher vernehmbar und Remus musterte Sirius, der eine Grimasse zog. Er richtete seinen Gryffindor-Schal, dann standen sie unschlüssig voreinander.

„Ich… werd‘ dann mal gehen.“ Sirius zögerte, dann nahm er Remus in den Arm und drückte ihn fest an sich. Es war nur ein kurzer Moment, aber für Remus fühlte er sich bedeutsam an. Remus drückte Sirius zurück und lehnte kurz seine Wange gegen dessen Schulter, schloss die Augen und nahm sich fest vor, das Gefühl und den Duft von Sirius‘ Haaren in sein Gedächtnis einzuschreiben. Er hätte ihn viel zu gerne geküsst.

„Schreibst du mir?“, flüsterte Remus stattdessen.

„Natürlich. Wie soll ich das sonst aushalten?“, flüsterte Sirius drängend zurück und presste seine Schläfe gegen Remus‘, wie ein Hund, der seine Schnauze rieb.

„Wir sehen uns bald.“

„Bald.“

Dann ließen sie sich los und mit einem unheimlichen Gefühl des Hungers sah Remus zu, wie Sirius Kreacher und Regulus hinterhertrottete. Kurz, bevor er durch die Absperrung trat, drehte Sirius sich noch einmal mit wehendem Gryffindor-Schal um, lächelte Remus an und reckte beide Daumen.

Ruhelose Ferien (1/10)

26. Juni 1976

 

Lieber Sirius,
 

ich hoffe, du bist heil in deinem Schlafzimmer angekommen – ich nehme an, woanders im Haus hältst du dich eher nicht auf, wenn du nicht gerade draußen herumstromerst. Ich versuche die ganze Zeit, mir vorzustellen, wie dein Zimmer wohl aussieht. Vielleicht hast du Lust, es mir zu beschreiben? Du sagtest mal, euer Haus wäre der Inbegriff eines Hauses schwarzer Magier. Aber dass auch dein Zimmer mit Skeletten gepflastert und voller unheimlicher Artefakte ist, will irgendwie nicht in meinen Kopf.

Ich liege jetzt die meiste Zeit in meinem behelfsmäßigen Schlafzimmer und starre an die Decke. Meine Eltern sind in ihrem Schlafzimmer und es ist alles sehr eng hier: Jeden Sommer macht mein Vater aus der Wohnküche meinen Schlafplatz. Das heißt, die Küchenbank und die Hocker schieben sich erst an die Seite und verwandeln sich dann in mein Bett. Sowas gibt’s bei den Muggeln auch, daher hatte meine Mutter ursprünglich die Idee. Außerdem lebe ich auch zuhause aus meinem Koffer: Der steht den ganzen Sommer über wie ein Schrank in der Ecke und ich nehme einzeln Sachen heraus, die sonst keinen Platz haben. Trotzdem habe ich deine Schnitzerei oben draufgestellt, so komme ich mir nicht ganz so weit weg vor. Ziemlich ärmlich alles, wenn ich ehrlich bin. Und ich will ehrlich mit dir sein, ich will mich nicht mehr verstecken. Du, James und Peter seid die ersten Menschen, bei denen ich das Gefühl habe, dass ich mich euch zeigen will. Vor allem dir. Deswegen bin ich auch immer so scharf darauf, alles über dich zu erfahren. Also, erzähl doch mal von deinem Zimmer!

Findest du es komisch, dass ich dir heute Abend noch einen Brief schreibe, obwohl wir uns eben erst verabschiedet haben? Ich hoffe nicht. Ich vermisse dich jetzt schon so wahnsinnig.
 

Alles Liebe,

Remus

Ruhelose Ferien (2/10)

29. Juni 1976

 

Lieber Sirius,
 

ich hoffe, es geht dir gut. Es fühlt sich so komisch an, zwei Tage nichts von dir gehört zu haben, wo wir doch normalerweise jeden Tag reden! Ich vermisse dich. Du hast in den letzten Monaten mein Leben so viel leichter und so viel schöner gemacht. Ich denke aktuell so viel an Hogwarts und an dich. Manchmal, wenn ich wach liege, kann ich das Schloss und die Ländereien und den Wald richtig vor mir sehen. Und dann bist du auch da und ich habe das Gefühl, ich müsste nur die Hand ausstrecken und könnte dich berühren. Aber das ist nur Fantasie.

Übrigens, du musst das mit der Zimmerbeschreibung nicht machen. Ich weiß ja, wie sehr du zu viel Schreiberei hasst. Und vielleicht fühlst du dich unwohl damit, das kann ich schon verstehen. Es war auch ein bisschen unsensibel von mir. Lass mich einfach hören, wie’s dir geht.
 

Alles Liebe,

Remus

 

P.S.: Der Wasserhahn in der Küche ist kaputtgegangen und tropft die ganze Zeit. Mum und Dad kriegen ihn nicht wieder hin, das heißt, er treibt mich jetzt jede Nacht in den Wahnsinn.
 

P.P.S.: Hier ist ein streunender Hund aufgetaucht. Ich habe ihn gefüttert, weshalb Dad völlig ausgerastet ist.

Ruhelose Ferien (3/10)

2. Juli 1976

 

Lieber Sirius,
 

langsam mache ich mir Sorgen. Geht es dir gut? Lassen deine Eltern dich in Ruhe? Bitte melde dich nur kurz, damit ich nicht wahnsinnig werde. Ich habe in der Zeitung nichts gefunden bezüglich der Blacks, aber man weiß ja nie, ob sie nicht etwas unter der Decke halten, nicht wahr?
 

Dein Remus

 

P.S.: Der Streuner kommt jetzt jeden Tag wieder.

Ruhelose Ferien (4/10)

4. Juli 1976

 

Sirius –
 

Ich mache mir echt Sorgen langsam. Das ist nicht witzig. Bitte melde dich einfach nur ganz kurz.

 

Remus
 

P.S.: James hat zu Anfang der Ferien geschrieben, dass er mit seinen Eltern Urlaub machen wird, deswegen kann ich ihn nicht erreichen. Ich hätte sonst natürlich schon längst gefragt, ob er was von dir gehört hat.

Ruhelose Ferien (5/10)

8. Juli 1976

 

Lieber Sirius –
 

ich habe die letzten Tage nachgedacht. Es gibt so viel, was ich dir sagen will. Langsam habe ich aber den Eindruck, dass du mich vielleicht ignorierst. Kann das sein? Habe ich was falsch gemacht? Hätte ich dich vor Kreacher vielleicht nicht umarmen sollen? Oder wenn einer meiner Briefe dir blöd aufgestoßen ist, sag es mir bitte einfach. Ich will nicht, dass irgendwas zwischen uns steht. Dafür bist du mir viel zu wichtig, auch als Freund.

Bitte lass mich etwas von dir hören.
 

Dein Remus

Ruhelose Ferien (6/10)

9. Juli 1976

 

Lieber Sirius –
 

vergiss meinen letzten Brief. Ich will dich nicht in die Ecke drängen, du bist mir nichts schuldig. Du musst dich nicht erklären. Melde dich einfach wieder dann, wenn dir danach ist, okay? Ich freu mich auf dich, egal wann. Und spätestens am 1. September.
 

Alles Liebe,

Remus

Ruhelose Ferien (7/10)

14. Juli 1976

 

Lieber Sirius,
 

Ich weiß nicht, wie ich das sagen soll, aber ich will nur, dass du weißt, dass, wenn du das willst, wir das alles vergessen können. Wir können das alles vergessen und wieder bei 0 anfangen. Wir können einfach wieder Freunde sein, alles kann wie früher sein. Bitte, Sirius. Ich will dich nicht verlieren. Dafür bist du mir viel zu wichtig. Bitte denk drüber nach. Bitte antworte mir.
 

Remus

Ruhelose Ferien (8/10)

19. Juli 1976
 

Lieber Sirius,
 

Ich wollte dir nur mitteilen, dass du keine Briefe mehr von mir ertragen musst. Ich habe dein Zeichen endlich verstanden. Entschuldige, dass ich dafür so lange gebraucht hab. Ich wünsche dir alles Gute.
 

Alles Beste,

Remus

Ruhelose Ferien (9/10)

23. Juli 1976

 

Sirius –
 

Entschuldige, dass ich dir doch noch mal schreibe. Ich wollte nur sagen: Vielleicht hast du von dem Werwolf-Angriff bei Norwich gestern Nacht gehört. Auch wenn du nichts mehr mit mir zu tun haben willst, wollte ich nur, dass du weißt, dass ich das nicht war.
 

Remus

Ruhelose Ferien (10/10)

„Remus!“, rief seine Mutter aus dem kleinen, wilden Vorgarten vor dem Haus, den sie im Sommer als Draußen-Wohnzimmer nutzten. „Du hast Post!“

Zuerst bewegte Remus sich nicht. Es war später Vormittag und wie eigentlich den ganzen Sommer über schon lag Remus in seinem Bett. Nicht, weil er plötzlich zum Langschläfer geworden war, sondern weil es der einzige Ort drinnen war, der ihm erlaubte, für sich zu sein. Solange er im Bett lag, respektierten seine Eltern, dass die Wohnküche sein Raum war. Und er wollte nicht, dass sie emsig hereinrauschten und beim Geschirrspülen mitbekamen, dass er schon wieder geheult hatte.

Er war so schwach.

Remus regte sich träge, dann fasste er sich mit der Hand aufs Gesicht. Die Haut war heiß und seine Augen brannten. Es fühlte sich an, als hätte er Fieber. Wenn er es genau betrachtete, war er von sich selbst überrascht. Er hatte nicht gewusst, dass Menschen in so wenigen Wochen so viele erbärmliche Tränen vergießen konnten. Er knüllte das platte, nasse Kopfkissen zusammen, rieb sich damit übers Gesicht und stopfte es dann in die Ecke zwischen Matratze und Wand. Er hatte inzwischen nicht einmal mehr das Gefühl, traurig zu sein; er war einfach nur noch müde und leer.

„Komme gleich“, antwortete er wie ferngesteuert.

Es dauerte noch fast eine halbe Stunde, bis Remus ausreichend Energie zusammengekratzt hatte, um vom Bett zu rutschen und sich etwas überzuziehen. Am tropfenden Wasserhahn wusch er sich das Gesicht ab und trank einen Schluck aus einem benutzten Glas von gestern. Seine Zunge war immer noch pelzig und schwer. Doch auch wenn er sich nicht gut fühlte, hatte er nun zumindest den Eindruck, vorzeigbarer auszusehen.

„Was denn?“, fragte Remus und setzte sich vor dem kleinen Haus in einen der klapprigen Gartenstühle unter dem Vorzelt. Er fühlte sich nicht kräftig genug, um zu stehen. Seine Mutter trug einen großen Sonnenhut, eine beschichtete Schürze und schnibbelte mit einer Gartenschere an der trockenen Hecke herum.

„Dir auch einen guten Morgen“, maßregelte sie ihn, ohne richtig hinzusehen, denn eine der Schlingpflanzen seines Vaters wehrte sich dagegen, beschnitten zu werden. „Da sind zwei Briefe für dich auf dem Tisch.“

Remus streckte die Hand aus und griff den oberen Umschlag vom staubig-schmierigen Plastiktisch. Der Brief war aus edlem Pergament und trug das Wappen von Hogwarts. Remus riss das Wachssiegel auf, ohne das leistete Interesse zu spüren.

ERGEBNIS DER ZAUBERGRAD-PRÜFUNGEN

Bestanden mit den Noten:

Ohnegleichen (O)

Erwartungen übertroffen (E)

Annehmbar (A)
 

Nicht bestanden mit den Noten:

Mies (M)

Schrecklich (S)

Troll (T)

REMUS JOHN LUPIN hat folgende Noten erlangt:

Astronomie: nicht teilgenommen

Pflege magischer Geschöpfe: O

Zauberkunst: O

Verteidigung gegen die dunklen Künste: O

Muggelkunde: O

Kräuterkunde: O

Geschichte der Zauberei: E

Zaubertränke: A

Verwandlung: O

 

Remus nahm die Noten flüchtig zur Kenntnis, einschließlich dessen, dass er Zaubertränke bestanden hatte, und legte den Brief dann wieder teilnahmslos auf den Tisch.

„Was ist es?“, fragte seine Mutter von hinter der Hecke. „Ich hab‘ das Schul-Siegel gesehen.“

„Mein Zeugnis“, gab Remus träge zurück. Er legte den Kopf in den Nacken und unterdrückte ein Gähnen.

„Und, wie ist es ausgefallen?“

„Gut.“

„Kann ich es mir ansehen?“, fragte sie und kam hinter dem Gebüsch hervor. Eine Schlingpflanze ringelte sich noch über ihre Schulter, aber sie schlug kräftig mit der Schere darauf, wie Remus‘ Vater es ihr gezeigt hatte.

„Klar...“

Sie kam herüber, zog ihre Gartenhandschuhe aus und überflog die Noten. Zweimal sah Remus, wie ihre Augen zu der Stelle hüpften, an der die krude Benotung erklärt wurde.

„Aber… Remus, das sieht doch super aus“, sagte sie verblüfft. Offenbar irritierte sie seine fehlende Euphorie.

„Ja, schon in Ordnung“, zuckte er die Schultern. Trotz Vorzelt stach ihm die Sonne in die Augen.

„Das müssen wir nachher direkt Dad zeigen.“ Seine Mutter machte ein aufforderndes Gesicht und Remus lächelte ebenfalls, weil es nun einmal von ihm erwartet wurde.

„Und der andere?“

„Ach ja.“

Remus streckte die Hand nach der Pergamentrolle aus, die nicht in einen Briefumschlag gestopft worden war. Es war keine Anschrift daran befestigt, aber jetzt erinnerte Remus sich dunkel, dass gestern Morgen oder so eine Eule an sein Fenster gepickt hatte. Er hatte sie ignoriert.

Remus rollte den Brief auf und erstarrte, als er die Handschrift erkannte. Oben rechts war klein das Datum von vorgestern hingekritzelt, so wie er es auch immer selbst tat.

 

10. August 1976

 

Lieber Moony,

Glaub mir, ich habe eine gute Ausrede für alles (sie ist noch besser als normalerweise). Kannst du am 13. August nach London kommen? Bitte.

 

Dann folgte eine Adresse, die nicht Grimmauldplatz Nr. 12 war. Aber es war eindeutig Sirius‘ Brief. Und er hatte unterschrieben mit „dein Sirius“. Remus konnte sich nicht losreißen von dem Anblick seines Namens.

„Was ist passiert?“, fragte seine Mutter. Sie musterte ihn nervös.

„N-nichts“, sagte Remus, ohne sie anzusehen, und stopfte die Pergamentrolle in seine Hosentasche. „Ich geh eine Runde spazieren.“

„Willst du nicht noch frühstücken?“ Sie sah besorgt aus. „Du hast doch noch gar nichts gegessen.“

„Hab‘ keinen Hunger“, gab er zurück, was eine Ausrede war, die sie wegen seines Zustandes in der Regel akzeptierte. Remus stand aus dem weichen Plastikstuhl auf, dann schlurfte er barfuß über die kleine, wilde Rasenfläche und verschwand in der verlassenen Camping-Siedlung.

 

Remus wusste gar nicht, wohin er gehen wollte, doch es war das erste Mal seit Wochen, dass er den Drang hatte, sich zu bewegen, überhaupt irgendetwas zu tun.

Remus zog mit der immer schwerer werdenden Pergamentrolle in der Tasche über die leeren, staubigen Wege und sank schließlich ratlos auf ein Mäuerchen am Lupinenring. Die Camping-Anlage war schon vor Jahren geschlossen worden. Remus‘ Mutter hatte einmal gesagt, ein Investor hätte sie als Geldanlage gekauft, aber dann nie etwas damit angefangen. Ihnen war es Recht: Hier gab es praktisch keine anderen Menschen und so hatten sie jeden Sommer, wenn Remus da war, ihre Ruhe. Die restliche Zeit waren seine Eltern in der Lage, ihr mobiles Haus hin- und her- zu transportieren, wo immer es für sie gerade günstig war.

Reglos saß er da, doch innerlich stritten sich Remus‘ Gefühle. Er hatte den Drang, das Pergament einfach in Flammen aufgehen zu lassen, und gleichzeitig wünschte er sich nichts mehr, als dass es nach Sirius roch. Remus hörte das protestierende Pochen seines Herzens in den Ohren.

Nach zehn Minuten allein auf dem verlassenen Weg überkam ihn ein neues Gefühl: Wut. Zum ersten Mal seit über einem Monat hörte er ein Wort von Sirius und der machte einen Witz. Einen Witz! Erkannte er den Ernst der Lage nicht? Erkannte er nicht, wie unfassbar Remus litt? Sirius hatte alle Versprechen gebrochen, die er Remus je gegeben hatte, und er hatte ihn verlassen. Sirius hatte das Schlimmste getan, was er hätte tun können.

Remus zitterte vor Wut, doch sie machte ihm auch Angst, darum versuchte er, sie niederzuringen. Wenn sie ihn von Sirius abgrenzte, bedeutete das, dass auch James und Peter sich würden entscheiden müssen. Nicht ohne Grund hatte Remus weder dem einen noch dem anderen etwas davon gesagt, wie Sirius ihn den Sommer über behandelt hatte. Er wollte es weder rechtfertigen, noch hatte er überhaupt die Kraft dazu gehabt. Doch wenn Remus‘ Wut jetzt einen Schlussstrich zog, blieb ihm nichts anderes übrig, als James und Peter einzuweihen.

Remus holte das Pergament hervor und noch bevor er es entfaltet hatte, richtete er sich plötzlich auf und sah sich um.

Ein komisches Prickeln im Nacken gab ihm das Gefühl, er würde beobachtet. Doch die Wege und die Camping-Hütten waren immer noch menschenleer.

Remus beugte sich wieder über Sirius‘ Brief, doch fast sofort stand er erneut auf, die Hand um das Schreiben zusammengeklammert. Er ahnte es eher, als dass er es hörte: Jemand oder etwas stand hinter ihm, im schmalen Durchgang zwischen dem Zaun und einem Carport. Er wirbelte herum und entdeckte den streunenden Hund, den er zu Anfang der Ferien mit Resten vom Abendessen gefüttert hatte, weil er einfach nicht anders gekonnt hatte. Er war schwarz und zottelig, aber kaum halb so groß wie Sirius‘ Animagus-Form. Der Hund neigte den Kopf und blinzelte. Wie von selbst streckte Remus die Hand aus und der Hund kam angetrabt, neigte sich vor und stupste seine Finger mit der Schnauze an. Remus kraulte ihn, wenig später kehrte er zurück nach Hause.

„Mum“, sagte er mit fester Stimme. „Ich muss morgen nach London. Geht das?“

„Morgen?“, fragte sie überrascht und sah vom Plastiktisch vor ihrer Hütte auf. Sie schälte gerade Karotten für das Mittagessen. „Wieso denn das?“

„Ein Freund braucht mich.“

„Das ist ganz schön plötzlich. Ich weiß nicht, ob Dad morgen Zeit hat, dich hinzubringen…“ Die Familie hatte kein Auto, da die Versicherung zu kostspielig war, und war darum die meiste Zeit abhängig von der Magie von Remus‘ Vater.

„Bitte.“ Remus schluckte, dann fiel sein Blick auf den Brief auf Hogwarts. „Als… Belohnung für mein Zeugnis?“

„Ich schaue, was ich machen kann“, sagte sie und ihr Blick wurde weich.

„Danke.“ Remus ging hinein in die Wohnküche, holte sich ein Messer aus der Schublade und setzte sich neben seine Mutter, um ihr beim Kleinschneiden der Wurzeln zu helfen.

„Dieser Freund ist dir wohl wichtig?“, fragte sie, ohne von den Karottenschalen aufzusehen.

„Ja. Sirius.“

„Ach ja, ihr geht in die gleiche Klasse?“

„Sozusagen. Er in meinem Jahrgang und im gleichen Haus. Gryffindor.“

„Und das Haus ist die Familie in Hogwarts, richtig? Dann musst du wohl gehen. Du kannst auch den Zug nehmen.“

Sie lächelte ihn an und er nickte dankbar.

 

Als Remus am nächsten Mittag bei der besagten Adresse ankam, wusste er nicht, worauf er achten sollte. Es war ein unauffälliges Londoner Gebäude mit mehreren Wohnungen, zu deren Haustür eine kleine Treppe führte. Nichts deutete auf Magie hin und auch als Remus sich zum Klingelschild beugte, konnte er keinen ihm bekannten Namen entdecken. Für einen Moment hatte er Angst, dass er auf den Arm genommen worden war. Er war genervt. Die Anreise war schon kompliziert genug gewesen (eine U-Bahn-Linie war gesperrt gewesen) und teuer obendrein.

Natürlich hatte Remus, entgegen seiner Wut und pflichtbewusst, wie er war, Sirius am Abend eine Eule zurückgesandt und ihm geschrieben, er würde kommen. Doch die Post war aktuell nicht sonderlich zuverlässig. In der Zeitung hieß es immer wieder, Vögel würden womöglich durch Todesser (oder das Ministerium, je nach dem, welche Zeitung man las) abgefangen. Remus wusste zwar nicht, wieso sich Todesser und Auroren für ihn interessieren sollten, doch bei Sirius war das womöglich etwas anders.

„Hi.“

Remus schreckte zusammen. Sirius stand hinter ihm auf der untersten Stufe vor dem Haus. Er trug eine dunkle Jeans und seine Lederjacke, für die es eigentlich zu warm war. Die langen, schwarzen Haare hatte er zu einem lockeren Zopf zusammengebunden.

„Hi!“, rief Remus strahlend und versuchte, sich gegen die unerwartete Freude in ihm zu wehren.

Sirius nahm die drei Stufen und fiel Remus, ohne zu fragen, um den Hals. Auf einmal war alles wieder da. Der Duft von Sirius‘ Haaren, des Gefühl von seinem Körper an Remus‘, die Nähe, die er im Inneren spürte. Doch Remus umarmte ihn nicht zurück.

„Du bist sauer“, sagte Sirius, als er sich von ihm löste.

Remus antwortete nicht, sondern wich seinem Blick aus.

„Komm rein. Dann können wir reden.“ Sirius öffnete die Haustür mit einem gewöhnlichen Muggelschlüssel. Sie liefen durch ein unauffälliges Treppenhaus hinauf bis unter das Dach. Als Sirius die Wohnungstür öffnete, wusste Remus noch immer nicht, worauf das hier hinauslief.

„Tja, ähm“, sagte Sirius, als er ihn in den Flur ließ, „willkommen in meiner neuen Wohnung.“

Remus glotzte ihn an.

„Deine Wohnung?“, fragte er mit einer Stimme, eine einen Ton zu hoch war.

„Jep.“ Sirius nickte ernst.

„Du hast deine eigene Wohnung?“, fragte Remus noch mal und sah sich um. Drei Türen gingen vom Flur ab. Es waren allesamt anonyme, weiße Muggeltüren.

„Genau. Komm rein, dann erzähl ich dir alles.“

Sirius führte ihn, ohne die Schuhe auszuziehen, in ein kleines Wohnzimmer, das beherrscht wurde von zwei massiven Dachschrägen. Vor den Dachfenstern hingen je ein roter und ein goldener Vorhang, die das Zimmer in warmes Licht tauchten. In der Mitte des Raums, wo man aufrecht stehen konnte, stand ein kleiner Tisch mit drei Stühlen, und in der Ecke unter der Dachschräge lud ein knuddeliges Sofa mit einem niedrigen Tischchen zum Hinfläzen ein. Über der Sofalehne hing Sirius‘ Gryffindor-Schal. Selbst Topfpflanzen und ein Bücherregal gab es, das neben einer weiteren Tür stand.

Alles in allem war die Wohnung komplett eingerichtet. Nicht einmal Lampenschirme fehlten unter der Decke. Remus blinzelte verwirrt und weil er nicht wusste, was er tun sollte, ging er auf das Bücherregal zu. Er entdeckte all ihre Schulbücher, aber auch noch ein paar andere Werke und einen Stapel Motorrad-Zeitschriften.

„Es ist nicht viel…“ Sirius zuckte mit den Schultern.

„Bist du verrückt?“ Remus schüttelte mit gerunzelter Stirn den Kopf. Allein das Wohnzimmer war vermutlich so groß wie die ganze Hütte seiner Eltern, auch wenn Sirius Recht hatte: Groß war es wirklich nicht.

„Kann ich dir was zu trinken anbieten?“, fragte Sirius und fiel in einen Gastgeber-Tonfall.

„Äh… gerne.“

Sirius strahlte und lief zurück in den Flur. Remus folgte ihm mit gewisser Neugier in eine winzige Küche mit Spüle, einem kleinen Herd und einem Tischchen mit zwei Klappstühlen. Sirius holte Kürbissaft aus einem kleinen Kühlschrank und zwei Gläser aus einem spärlich bestückten Hängeschrank und goss Remus ein Glas ein. Remus fiel auf, dass neben den beiden Kochplatten eine komplett leere und eine offene Flasche Feuerwhiskey standen. Er sagte nichts, nahm nur sein Glas und trank einen Schluck, ohne ihn zu schmecken.

Sie setzten sich auf die Küchenstühle. Draußen hörte Remus den Autoverkehr. Sirius in einer so nicht-magischen Umgebung zu sehen, machte ihm einen Knoten in den Kopf.

„W-was machst du hier?“, fragte Remus endlich, denn Sirius rückte nicht mit der Sprache heraus.

„Das hier“, sagte Sirius mit einem Seufzen, das nicht ganz zu dem Stolz in seinen Augen passen wollte, „ist das Ergebnis davon, dass ich von Zuhause abgehauen bist.“

Remus starrte ihn an. „Du bist abgehauen? Von deinen Eltern?“

„Jep.“

„Das“, sagte Remus verdutzt, „das ist…“ Er schüttelte den Kopf, dann überkam ihn endlich das passende Gefühl: „Das ist großartig!“ Er schlug vor Freude mit der Hand auf den Tisch und sein Glas schwappte über.

Sirius strahlte. Offenbar war er sich nicht sicher gewesen, was für eine Reaktion er hatte erwarten sollte.

„Wie hast du das gemacht?“, fragte Remus begierig und wischte den Saftfleck unauffällig mit seinem Ärmel weg.

„Mein Onkel Alphard hat mir schon vor Jahren ein bisschen Gold hinterlassen.“

Remus hob die Augenbrauen. Sirius räusperte sich beschämt:

„Also. Von vorne. Ich bin nach dem Schuljahr nach Hause gekommen und innerhalb von drei Tagen hab‘ ich gesagt, ich gehe, mir reicht‘s. Hab es einfach nicht mehr ausgehalten. Ich weiß, du hast meine Eltern nie kennengelernt und du kannst es dir nicht vorstellen –“

„Doch. Inzwischen kann ich das“, sagte Remus leise.

„– jedenfalls… Sie sind sie völlig ausgetickt, als Regulus ohne Zauberstab und ohne den Ring nach Hause gekommen ist. Erst haben sie sich zwei Tage lang an ihm abreagiert. Und als das erstmal genug war, wollten sie mit mir weitermachen. Erinnerst du den an den Brief von meiner Mutter? Eigentlich hätte ich ja das Haus gar nicht betreten sollen, also war ich schon auf alles gefasst, als wir ankamen. Aber offenbar war es ihnen lieber, mich zwei Tage in meinem Zimmer einzusperren, als vor dem Haus Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, weil sie mich an den Haaren über den Grimmauldplatz schleifen. Naja. Jedenfalls wollten sie dann auf mich losgehen, aber ich hatte mich von innen in meinem Zimmer verbarrikadiert. Und als sie die Tür aufgebrochen haben, hab‘ ich vor ihren Augen den Siegelring der Blacks in die Luft gesprengt. Bis zu dem Zeitpunkt dachten alle, ich hätte ihn schon gar nicht mehr gehabt, aber doch. Ich wollte ihnen ein Abschiedsgeschenk dalassen, sozusagen. Also, Bombarda. Sie sind völlig aufgeschmissen gewesen, da bin ich an ihnen vorbei und abgehauen. Ich hatte schon alle meine Sachen gepackt.“

„Aber… so kurz nach der Schule, das ist ja Wochen her... Wo bist du hin?“

„Zu James“, sagte Sirius.

Es fühlte sich an, als fiele ein Eisklumpen in Remus‘ Magen.

„Achso. Natürlich“, sagte er tonlos.

„Nein, du verstehst das nicht. Ich –“, sagte Sirius, als er Remus‘ Gesicht las.

„Was verstehe ich nicht? Du warst die ganze Zeit bei James? Bis du das hier zusammengebaut hast, wie auch immer?“ Er gestikulierte in den Raum.

„Ja, aber –“

„Und du bist nicht einmal auf die Idee gekommen, mir Bescheid zu sagen?“ Geschweige denn auf die Idee gekommen, zu mir zu kommen? Remus wollte eine dramatische Geste machen. Wollte aufspringen und toben und heulen. Aber er fühlte sich nur leer. Wieso stand er immer nur in zweiter Reihe?

„Ich hab‘ daran gedacht. Ich habe die ganze Zeit daran gedacht, aber –“

„– aber was? Du hattest keine Zeit, um zwanzig Sekunden lang eine Nachricht zu schreiben?“ Remus stieß abfällig die Luft aus.

„Nein! Ich hatte einfach Angst, dass sie die Eule abfangen und dann über die Potters herfallen, wenn sie rausfinden, wo ich bin!“

„Und James, James hätte nicht irgendwas sagen können?“ Remus schüttelte völlig fassungslos den Kopf. „Ich hab‘ gedacht, die hätten dich gefoltert, weißt du. Ich hab gedacht, sie hätten dich umgebracht. Ich hab‘ gedacht, du hasst mich und willst einfach nichts mehr mit mir zu tun haben! Ich dachte, du hast m-mich verlassen.“ Remus‘ Stimme war mitten im Satz eingebrochen und jetzt brannten seine Augen. Verdammt noch mal!

„Nein. Moony, nein. Niemals.“ Sirius schaute ihn erschüttert an. „Es tut mir leid, dass du das gedacht hast.“

„Dass ich das gedacht habe? Dass du das getan hast, hoffe ich!“ Remus bebte vor Wut. Der Saft in seinem Glas schwappte hin und her in seiner zitternden Hand. Sirius‘ graue Augen starrten ihn an.

„Du hättest mir antworten können. Wenigstens einmal.“ Remus Stimme war leise geworden und kaum mehr als ein Piepsen, als die vermaledeiten Tränen anfingen, überzusprudeln.

Mit ähnlich zittrigen Fingern nahm Sirius Remus‘ Hand. Sie fühlte sich kalt und schwitzig an, obwohl es draußen sehr warm war.

„Kreacher hat meine Briefe abgefangen“, sagte Sirius tonlos. „Hauselfen-Magie ist anders als von Zauberern. Auch wenn ich nicht mehr bei meinen Eltern wohne, scheint er immer noch zu finden, dass ich zur Familie gehöre und hat irgendwie die Eulen angezogen, nach Hause, sozusagen... Hat sich den Spaß daraus gemacht, meine Briefe zu sammeln und wie immer auf mein Bett am Grimmauldplatz zu legen. Ich hab‘ sie gerade erst alle bekommen. Es tut mir so leid.“

„Wie hast du sie da rausgekriegt?“, fragte Remus und wischte sich mit der freien Hand über das Gesicht.

„Mein Onkel Alphard war zu Besuch und ist zufällig auf die Briefe gestoßen, als er sich in mein Zimmer geschlichen hat. Er wollte wohl eigentlich sehen, was meine Sprengfalle angerichtet hat, aber das war schon alles wieder in Ordnung gebracht… Da haben sie dann auch erfahren, dass ich das Geld von ihm habe. Haben ihn natürlich sofort rausgeworfen. Er hat mir die Briefe gestern gebracht. Es tut mir so leid, Moony.“

„Warum hast du nicht einfach schon früher was gesagt? Du wohnst doch hier nicht erst seit gestern!“ Remus‘ Wut nahm plötzlich Überhand. Splitternd zerplatzte das Glas in seiner Hand und der orangefarbene Saft bespritzte Sirius‘ neue Küchenfliesen. Blut sickerte aus kleinen Schnitten in Remus‘ Unterarm. Sirius zuckte nicht einmal.

Remus stand auf und wandte sich ab, schaute stattdessen aus dem Fenster, das noch mit feinem Baustaub belegt war. Er verfluchte diese Wohnung und diese ganze Stadt. Und Sirius. Und die Blacks. Und sich selbst dafür, dass er geglaubt hatte, für Sirius eine Priorität zu sein. Es ist doch nie was Ernstes.

„Ich wollte, dass alles fertig ist, wenn du herkommst…“, sagte Sirius hinter ihm und er schien im gleichen Moment zu merken, was das für eine erbärmliche Antwort war. „Es tut mir so leid“, murmelte er schon wieder.

Remus kniff die Lippen zusammen und wünschte sich, er könnte schreien.

„Und was jetzt?“, fragte er patzig und fuhr herum. „Jetzt wohnst du hier bis Schulbeginn oder was?“

„Äh“, sagte Sirius, irritiert von dem plötzlichen Themenwechsel, „ja. Genau.“

„Das ist doch absurd. Du bist sechzehn. Du darfst noch nicht mal zaubern!“

„Deswegen ist das auch alles hier wie in einer Muggelwohnung. Guck mal, ich habe sogar einen Kühlschrank!“ Sein Kieksen erstarb, als Remus nicht lächelte.

„Du weißt echt nicht, was du mir angetan hast“, sagte Remus steif. „Ich hab‘ gedacht, wenn wir am 1. September im Hogwarts-Express sitzen, schaust du durch mich durch als wäre ich Luft. Oder noch Schlimmeres.“

„Das würde ich niemals tun“, sagte Sirius bestürzt.

„HAST DU ABER!“, schrie Remus plötzlich. Er ging die Hände ringend in die winzige Küche hinein. „Genau so hast du dich benommen! Und ich schwöre dir, wenn du das noch einmal machst, auch nur im Ansatz, ich rede nie wieder auch nur ein einziges Wort mit dir.“

Sirius schluckte, dann bildete sich aber ein hoffnungsvoller Funke auf seinem Gesicht: „Das heißt, wenn ich es nicht noch mal mache…?“

„Du bist so ein unfassbarer Troll“, stöhnte Remus und war wütend auf sich selbst, dass Sirius‘ Dreistigkeit ihn zum Schmunzeln brachte.

„Du kannst mich ruhig weiter anschreien. Aber willst du dabei den Rest der Wohnung sehen?“, fragte Sirius und zuckte ein wenig hilflos die Schultern. Offensichtlich hatte er seine Chance gewittert.

„Meinetwegen“, knurrte Remus, nahm sein Glas und stürzte es herunter. Jetzt erst merkte er, wie trocken sein Mund eigentlich war.

Sirius führte ihn zurück in den Flur und zeigte ihm ein kleines Badezimmer, das im aktuellen Stil gefliest war. Es war ziemlich nichtssagend, aber Remus dämmerte es so langsam, was diese Wohnung für Sirius bedeuten musste, als er sah, dass sein scharlachrotes Handtuch mit einem Gryffindor-Löwen bestickt war. Zuletzt schauten sie ins Schlafzimmer. Ein kleines Doppelbett, ein Nachttisch, eine Kommode und ein großes Poster von einem Motorrad – das machte Sirius‘ neue Freiheit aus.

„Hübsch“, kommentierte Remus spöttisch mit einem Nicken zum Motorrad.

„Eines Tages, ich prophezei‘ es dir.“ Sirius hob gewichtig den Finger.

Sie gingen zurück in den Flur und gerade, als Remus weiter zum Wohnzimmer durchgehen wollte, hörte er sich selbst sagen: „Ich will einen Feuerwhiskey.“

„Oh“, gab Sirius überrascht zurück, „okay.“

Er nahm ein neues Glas für Remus aus dem Schrank (Sirius tat so, als sähe er die Splitter auf Küchentisch und -boden nicht) und brachte sie und die Flasche mit ins Wohnzimmer, wo Remus sich auf das niedrige Sofa gesetzt hatte. Er blätterte in einer Motorrad-Zeitschrift.

„Ich werde nie verstehen, was du an den Dingern findest. Die Muggel bringen sich damit auf der Straße nur um.“

„Ein Grund mehr, sie zu fliegen“, antwortete Sirius und stellte Remus seinen Whiskey hin. Sie ließen die dickwandigen Wassergläser aneinandertocken, dann warf Remus den Kopf in den Nacken und stürzte das ganze Glas herunter. Sirius guckte verdutzt. „Meine Güte, Moony.“

„Nichts da, meine Güte. Gibt mir einen Zweiten.“

Sirius tat, wie ihm geheißen, und erst, als Remus auch den auf einen Schlag ausgetrunken hatte, seufzte er.

„Ich weiß nicht, was ich mit dir machen soll. Ich bin so unfassbar wütend auf dich. Mein ganzer Magen brennt.“

„Ich weiß nicht, ob das an der Wut liegt…“, antwortete Sirius und schielte auf den Feuerwhiskey. „Aber wenn doch, wäre es doch nicht das erste Mal…“ Ein Anflug von Hoffnung spiegelte sich auf seinem Gesicht.

„Doch. Das ist anders. Ich dachte… ich dachte wirklich…“

„Wie soll ich es wieder gutmachen?“, fragte Sirius und rückte ein bisschen näher an Remus heran. Er nahm seine Hand und drückte sie.

„Ich weiß nicht, ob du das überhaupt das kannst.“ Remus schluckte, er drückte die Hand nicht zurück. „Wirklich nicht. Du kannst dir nicht vorstellen, was für eine Panik ich hatte. Das hat meine Gefühle echt… abgetötet.“

„Sag sowas nicht“, flüsterte Sirius und mit einem Mal stand in seiner Stimme Angst.

„Es ist aber die Wahrheit.“ Remus sah Sirius weiterhin nicht an, sondern starrte nur auf sein leeres Glas. Gleichzeitig zog er aber auch seine Hand nicht weg. „Ich weiß nicht, ob ich dir das verzeihen kann, Sirius. Zwei Monate!

„Ich weiß.“

Es bildete sich eine Stille. Endlich rang Remus sich durch und schaute Sirius an.

„Lass es mich bitte versuchen“, bat Sirius sofort. Seine Stimme war belegt.

„Tu ich. Will ich. Ich weiß nur nicht, ob es geht. Ich muss mich auch schützen.“

„Das versteh ich. Lass es mich nur versuchen.“ Sirius seufzte und nahm seine Hand weg, um sie mit der anderen zu kneten. „Irgendwie…“, er schüttelte den Kopf und rote Flecken traten auf seine Wagen, „hatte ich die ganze Zeit gehofft, dass du mit mir hierherkommen würdest.“

„Um hier zu wohnen?“, fragte Remus mit einer Spur Entsetzen.

„Ähm… nein, als Besuch, sozusagen.“ Sirius fuhr sich nervös durch die Haare.

„So wie jetzt?“

„Nun… ja. Genau. Auch.“

„Was noch?“

„Du könntest natürlich auch einfach hierbleiben, bis wieder Schule ist. Das sind noch über drei Wochen. Wenn du das willst.“

„Meine ganzen Sachen sind noch zuhause.“

„Könnten wir ja holen… ich meine… ja, nur wenn du willst.“

„Ich…“ Remus zögerte, obwohl er schon längst spürte, dass er wollte. Er hatte nur Angst, dass zu all den Narben auf seinem Körper noch mehr Narben auf seinem Herzen dazukamen, wenn er Sirius vertraute. Schließlich sagte er: „Okay. Versuchen wir’s. Aber keine falschen Versprechen mehr.“

„Niemals.“

„Keine Kontaktabbrüche mehr.“

„Nur über meine Leiche…“

„…und falls du doch irgendwann mal in Askaban landest“, sagte Remus und schaute auf einmal spöttisch.

Sirius verschluckte sich an seinem Feuerwhiskey. „Ja. Na gut, dann könnte das auch passieren, ja.“ Er hustete mehr, als dass er lachte.

Doch Remus lachte auch. Dann lehnte er sich gegen Sirius und sog den Duft seiner Haare ein.

„Hab‘ dich vermisst, Moony.“

„Ich dich auch. Pass auf, dass ich das nie wieder tun muss.“

„Nie wieder. Versprochen. Diesmal wirklich.“

 


Nachwort zu diesem Kapitel:
Liebe Leute, ich hab gesehen, dass einige von euch die Fanfic favorisiert haben. Vielen Dank für das Vertrauen!
Ich habe mich in die Story und meine Sehnsucht nach Hogwarts ziemlich reingesteigert. Ich würde mich insofern ziemlich freuen, eure Gedanken dazu zu hören und wenn's nur ein Emoji ist :) Danke! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Hiermit findet unsere Geschichte ein "erstes" Ende. Und ein, ich würde mal sagen, einigermaßen Gutes. <3
Nur wer Herzschmerz mag, liest jetzt noch weiter ;) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Hiermit kommen wir zum endgültigen Ende der Fanfic. Vielen Dank für euer Interesse und eure Interaktionen! Ich freue mich über jede Einzelne. Ich hoffe, ihr habt den Ausflug zurück nach Hogwarts ebenso genossen wie ich.
Magische Grüße, behrami Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (43)
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Von:  Centranthusalba
2023-11-22T12:30:02+00:00 22.11.2023 13:30
Hallo behrami,
Ich wollte die Geschichte noch etwas sacken lassen, bevor ich dir hier ein finales Kommentar hinterlasse.
Danke, zunächst, für eine schöne, feine Hogwarts-Entführung. Das Setting inmitten des Schulalltags ist dir super gelungen. Ich hab tatsächlich wieder Lust bekommen, meine vergilbten HPs aus dem Regal zu holen.
Die „Beziehung“ der beiden war schön realistisch und behutsam. Ich finde es auch schön, dass selbst hier im letzten Kapitel kein „Ich liebe dich“ fällt. Dazu sind die zwei immer noch zu sehr am Anfang.
Und dann gabs ja schon irgendwie ein happy end 😅
Dein Sinn für Details hat mir auch sehr gefallen. Hier zum Beispiel bei Remus Zeugnis, dass seine Note in Geschichte nicht so dolle ausgefallen ist. Kein Wunder bei dem, was vor der Prüfung los war…
Das macht es alles so schön rund. 😊
Ich danke dir jedenfalls für eine unterhaltsame Zeit mit Remus und Sirius.
Antwort von:  behrami
22.11.2023 15:13
Hi Centranthusalba,
vielen Dank für deine Begleitung durch die Geschichte und deine Anmerkungen! Das hat mir wirklich jedes Mal wieder den Tag versüßt und mir echt auch gezeigt, dass ich mit meiner Sehnsucht nach Hogwarts nicht ganz alleine bin. Danke für deine lieben Worte und dein Mitfiebern. Wenn du zurück in die Bücher tauchen solltest, grüß mir Remus. <3
Von:  Centranthusalba
2023-11-19T19:40:00+00:00 19.11.2023 20:40
🤯🤯🤯🤯🤯🤯🤯🤯🤯🤯😭😭😭😭😭😭😢😢😢
Von:  Centranthusalba
2023-11-19T19:38:36+00:00 19.11.2023 20:38
🙈🙈🙈🙈🙈🙈🙈
Von:  Centranthusalba
2023-11-19T19:37:18+00:00 19.11.2023 20:37
Oh oh…. Ich ahne, in welche Richtung das geht…🥺🥺🥺
Von:  Centranthusalba
2023-11-15T17:06:28+00:00 15.11.2023 18:06
Ja wie??? Ende?! 🤯
Nix Ende hier! Dadadada ist noch gar nichts zu Ende. Meinetwegen noch Herzschmerz (mit einem Happy End hatte ich eh nicht gerechnet).
Mich wirst du nicht los! 😁
Von:  Centranthusalba
2023-11-14T13:14:14+00:00 14.11.2023 14:14
Ok, der war gut 😂
Regulus, Regulus… der ging daneben.
Bin gespannt, wie es in die Ferien geht.
Antwort von:  Centranthusalba
14.11.2023 15:40
Mir fällt gerade auf: Snape hat sich an sein Versprechen doch gehalten!😯
Antwort von:  behrami
15.11.2023 15:14
Hahaha, dumm gelaufen, kleiner Kerl...

Ja, hat er tatsächlich. Snape behält das Geheimnis, bis zum Ende von Harrys drittem Jahr, woraufhin Lupin dann als Lehrer kündigt
Von:  Centranthusalba
2023-11-12T22:17:29+00:00 12.11.2023 23:17
😱😱😱😱😱😱😱😱😱😱
Lily for president! 💪🏻 und Recht hat sie auch noch!

Ich fands toll, dass alle vier an der Rettung beteiligt waren, selbst Peter
Antwort von:  behrami
13.11.2023 12:23
Ja ey! Und wenn es das Letzte ist, was sie tut!

Das gefällt mir auch :) Und mir war wichtig, dass Lily auch selbst was tut.
Von:  Centranthusalba
2023-11-12T13:46:56+00:00 12.11.2023 14:46
Ayayay…. Das ist ja wirklich ein Gefühlchaos. 😱
Das hast du schön zusammengestrickt. Und auch schön, dass Remus auch mal sauer auf Sirius ist.
Von:  Centranthusalba
2023-11-11T20:25:30+00:00 11.11.2023 21:25
Oh oh oh…. 🙈🙈🙈🙈
Aber sehr gut eingefügt 👍🏻
Von:  Centranthusalba
2023-11-11T20:15:19+00:00 11.11.2023 21:15
Ja, ich finde auch, dass James hier ziemlich gestört hat. 😜

„Hast du auch auf ‘nem Besen gesessen?“ 😂😂😂😂😂😂😂😂😂😂😂😂😂😂😂😂😂😂😂😂😂😂😂😂😂

Dass mit den gemeinsamen Ferien finde ich übrigens gut. Die Idee kam mir auch schon so zwischen den Zeilen. Frage wäre, ob die beiden dann wirklich ungestört wären, oder ob Mutti Lupin nicht ständig ins Zimmer platzt und Kekse bringen will…😅


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