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Die letzte Hoffnung

von

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9. Stimmen aus der Vergangenheit

Mit gesenktem Blick blieb Shen stehen. Er konnte nicht fassen, dass er das irgendwann mal tun würde. Langsam hob er wieder den Kopf und schaute auf die große Steinwand, die vor ihm hochragte. Eigentlich hatte er nie etwas für diesen Ort übriggehabt. Im Gegenteil. Er hatte ihn regelrecht verabscheut. Er hatte sich in der Familie schon immer wie ein Ausgestoßener gefühlt, warum sollte er sich dann für die Geschichte seiner Verwandtschaft interessieren? Doch wenn er die ganze Wahrheit erfahren wollte, dann musste er selbst hierherkommen, um nach handfesten Beweisen für die Existenz eines Bruders zu finden.

Er befand sich nahe des Gongmen Palastes, den er einst zerstört und der wieder aufgebaut worden war. Aus dem Stadtarchiv konnte er sich keine Aufzeichnungen erhoffen, weil Lord Xiang bei seinem Überfall auf die Stadt vor ein paar Jahren fast alles verbrannt hatte. Doch die Familienkammer hatte er zum Glück nicht geplündert. Dafür war sie zu gut versteckt. Sogar der Öffnungsmechanismus war solange nicht auffindbar, solange man nicht wusste, wo er sich befand. Der weiße Pfau ging an der Wand entlang, bis er auf ein Mauern-Relief stieß, dass die Form eines Pfaues besaß. Dort drückte er auf einen bestimmten Stein im Mauerwerk. Im nächsten Moment rückte die Steinwand mit einem lauten Ächzen zur Seite und gab den Weg zu einem großen, dunklen Gang frei.

Shen nahm die mitgebrachte Laterne in den Flügel und ging in den Tunnel hinein, der abgesenkt nach unten führte. Shens Schritte verlangsamten sich. Die Wände waren hier kahl und trostlos. Erst gegen Ende des Ganges begann sich das Bild zu verändern. Auf den Steinen tauchten gemalte und gemeißelte kleine Pfauenfiguren auf. Eigentlich waren es nur Pfauenherren mit offenem Pfauenrad, die mit verschiedenen Farben bemalt worden waren. Endlich hatte der weiße Pfau das Ende des Tunnels erreicht. Dort stellte er die Laterne ab und betrachtete mit einer Spur von Ehrfurcht eine andere Steinwand. Hier war ein besonders großer Pfau abgebildet. Er war dreimal so groß wie Shen, hatte sein Pfauenrad geöffnet und sein Blick war nach unten gerichtet, als würde er sehen wollen, wer sich zutritt in den Raum verschaffen wollte. Shen hatte nie nachgefragt, wen das darstellen sollte. Vermutlich ein Urvater von ihm. Der Pfau wollte nicht noch mehr Zeit verschwenden und holte eine Pfauenfeder hervor, die er sich zuvor hat rausreißen müssen. Und das aus einem bestimmten Grund. Mit der langen Pfauenfeder in den Flügeln ging er zu einem langen flachen Stein, der an der Seite im Fußboden verborgen lag. Dort legte er die Feder ab, denn der Mechanismus wurde erst ab einem bestimmten Gewicht einer Pfauenfeder ausgelöst. Es entstand ein knackendes Geräusch hinter der Mauer. Der Öffnungsmechanismus war entriegelt. Shen zählte an der Wand ein paar Pfauenfiguren und drückte auf eine bestimmten bemalten Pfauenfigur auf dem Stein. Dieser bewirkte, dass die große Steinplatte sich hob und den Raum dahinter freigab. Shen nahm wieder die Laterne zur Hand und begab sich in das Archiv seiner Vorfahren. Der Raum dahinter war unermesslich groß. An den Wänden hingen gemalte Bilder, der einstigen Familien und Herrscher. Eines davon erregte ungewollt sofort seine Aufmerksamkeit. Er hielt die Laterne höher und schaute in die gemalten Gesichter seiner Eltern auf dem Familienportrait.

Shen verzog verbittert den Schnabel. „Seht mich doch nicht so an!“, zischte er, als wären die Bilder lebendig. „Ihr habt doch selber Schuld!“ Er seufzte. „Warum rede ich eigentlich mit euch? Ihr redet doch auch nicht mit mir.“

Er sah sich hastig um, nur um sich zu vergewissern, dass ihn niemand beobachtete. Dann wischte er sich die Tränen aus dem Gesicht. Er hasste es als erwachsener Mann zu weinen.

Er wandte sich von dem Bild ab und ging an den hohen Holzregalen vorbei, die vollgestopft waren mit Schriftrollen. Egal ob Geburtsurkunden, oder allerlei Aufzeichnungen, alles hatte mit seiner Familie zu tun. Shen stimmte dies für einen Moment nachdenklich. Streng genommen musste er diese Aufzeichnungstradition fortführen. Er beschloss später darüber noch mal mit der Wahrsagerin zu reden. Still suchte er die Fächer ab. Da hier nur die Aufzeichnungen von seiner Familie gelagert wurden, musste er nicht lange suchen. Seit dem Tod seiner Eltern war nichts mehr vorgefallen, was in Verbindung mit seiner Familie stand. Er war der letzte seiner Eltern. Oder zumindest so dachte er noch vor kurzem, aber dennoch hatte sich danach keiner seiner entfernten Verwandten mehr gezeigt. Aus welchem Grund auch immer. Nicht mal Freunde. Manchmal fragte sich Shen, ob seine Eltern überhaupt Freunde gehabt hatten. Er erinnerte sich nur wage an Besuche von anderen, aber dies waren nur Bekanntschaften für einen Augenblick gewesen, die er anschließend sehr schnell wieder vergessen hatte, oder sogar vergessen wollte. Obwohl… Shen geriet erneut ins Grübeln. An feste Freunde konnte er sich vielleicht nicht erinnern, wohl aber an Auseinandersetzungen. Er wusste es noch genau, weil er seinen Vater noch nie handgreiflich gesehen hatte. Bis auf eine einzige Begebenheit. Da war er gerade… Shen legte die Stirn in Falten. Wie alt wer er da gewesen? Es musste unter 10 Jahre noch gewesen sein. Oder sogar unter 5 Jahre? Jedenfalls erinnerte er sich noch daran, wie sein Vater einmal im Hinterhof sich mit einem anderen Pfau geprügelt hatte. Shen hatte in diesem Augenblick aus dem Fenster gesehen. Sein Vater rangelte mit dem anderen Pfau auf dem Boden. Im nächsten Moment kam dann seine Mutter angelaufen und hatte versucht seinen Vater von dem anderen Pfau wegzuziehen. Nachdem sie es endlich geschafft hatte, hatten sich die zwei Pfaue danach nur noch angeschrien.

„Wir haben uns nichts mehr zu sagen!“, schrie Lord Liang den anderen Pfau an.

„Nein, absolut nichts mehr!“, keifte der andere Pfau gekränkt zurück. „Verkriech du dich nur mit deinem Kung-Fu und deiner feinen Familie hier! Obwohl, dein Sohn sieht auch nicht gerade besser aus…“

Ab diesen Moment hatte Shen nicht mir zuhören wollen. Er ist danach einfach abgehauen. Er hatte seinen Vater nur noch im Hintergrund etwas fluchen hören. Danach wusste Shen nichts mehr, nur dass er diesen Pfau danach seitdem nie mehr wiedergesehen hatte. Er konnte sich nicht mehr ganz genau an die Farbe von diesem Pfau erinnern. War sie grün, oder blau? Nein, vielleicht sogar mit gelben Flecken? Shen schüttelte den Kopf. Das war doch im Moment unwichtig. Dieses ganze Familienzeug um ihn herum, schien ihn so zu beeinflussen, dass sogar sein Geist in der Vergangenheit grub. Dabei wollte er nur eine einzige Vergangenheit erfahren.

Endlich hatte er gefunden, wonach er gesucht hatte. Er zog eine Rolle, die das besagte Jahr beinhaltete. Schnell entrollte er sie bis er die Stelle gefunden hatte. Mit leiser Stimme las er vor: „Zur Zeit von Lord Liang und Lady Ai, wurde ihnen ein zweiter Sohn geboren von weißer Gestalt…“ Shen überflog den Text. Vielleicht gab es auch etwas, was die alte Ziege ihm nicht gesagt hatte. Doch auch in dieser Aufzeichnung blieb das Ergebnis dasselbe. „… und war nie mehr gesehen worden“, schloss der Bericht ab. Shen durchlas noch die restlichen Aufzeichnungen über seinen Vater, und über seine Beerdigung. Aber selbst bis in die letzte Zeile wurde sein Bruder nie mehr wieder erwähnt.

Enttäuscht schlug er mit der befiederten Faust auf das Pergament. Wenigstens hatte er jetzt den Beweis, dass alles wirklich passiert war. Seufzend packte er die Buchrolle wieder weg und nahm die Laterne wieder zur Hand und verließ das Archiv. Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren, sodass er Sorge hatte, das Schiff nach Japan zu verpassen.
 

Das Haus der alten Ziege lag nicht allzu weit vom Palast entfernt. Etwas außer Puste kam Shen dort an. Die Ziege war gerade dabei den Flur mit einem Besen auszufegen, als sie ihn mit einem Lächeln empfing. „Wenn man Monatelang nicht im Haus war, dann sammelt sich so viel Staub an“, schmunzelte sie. „Mein Großneffe wird ja bald vorbeikommen. Dann kann er mir etwas besser helfen.“

„Ist das Schiff schon da?“, fragte Shen ohne auf ihre Putzangelegenheit einzugehen.

„Das Schiff legt erst in zwei Stunden ab“, antwortete sie bedächtig. „Du hast also noch genügend Zeit, um etwas zu Essen.“ Sie legte den Besen beiseite. „Und wie war es im Archiv gewesen? Hast du dich noch mal vergewissert, dass ich dir nichts vorenthalten habe?“

Shen hob die Augenbrauen. „Woher weißt du, dass ich im Archiv war?“

Sie strich ihm kurz über den Flügel. „Du hast Staub an den Federn.“ Sie lachte. „Komm rein.“

Damit verschwand sie ins Haus. Shen folgte ihr zögernd. Er war so gut wie nie da drinnen gewesen. Vor allem seit die Ziege in den Palast gezogen war, bewahrte sie nur allerlei Krimskrams in den Räumen auf. Prüfend sah Shen sich um. Hier und da strich er mit den Fingerfedern über ein Möbelstück und zerrieb den Staub dazwischen. Sie hatte recht. Hier war wirklich dringend mal ein Hausputz fällig. Sein Blick fiel auf ein gemaltes Bild, dass die Ziege in jüngeren Jahren und einen anderen Ziegenbock daneben zeigte.

„Wer ist das?“, fragte Shen neugierig.

Die Ziege hatte gerade einen Teekessel hervorgeholt und schaute in Shens Richtung. „Oh, ein Bild von mir und meinem Mann.“

Shen sah sie verdutzt an. „Du warst verheiratet?“

„Nur eineinhalb Jahre“, erklärte die Ziege und setzte den Teekessel auf. „Ich verlor ihn sehr früh. Danach hab ich nie wieder geheiratet.“

„Wirklich nicht?“

„Nein, Shen.“

„Warum nicht?“

Sie schwieg einen Augenblick. „Vielleicht weil ich nie mehr einen anderen Mann wie ihn getroffen hatte. Oder vielleicht hätte ich Schuldgefühle gehabt, wenn ich jemand anderen seinen Platz hät einnehmen lassen.“ Sie holte eine Schachtel mit Teeblättern hervor, hielt einen kurzen Moment inne, dann wanderte ihr Blick wieder zu Shen. „Könntest du dir vorstellen, dass jemand anderes Yin-Yus Platz einnehmen könnte?“

Der weiße Pfau schwieg und wich ihrem Blick aus. Vielleicht wollte er einfach nicht daran denken, dass Yin-Yu irgendwann nicht mehr in seiner Nähe sein würde. Für einen Moment blieb Shen schweigend in dieser Haltung stehen. Erst als er die Hufe der Ziege auf seinem Flügel spürte, taute er wieder auf. Sie sah ihn warm an. „Komm, trinken wir einen Tee.“

Sie zog ihn zu einen Stapel Kissen, wo sie Shen anwies sich hinzusetzen. Dort verharrte der weiße Pfau, bis sie mit einem Tablett und dem Tee zu ihm zurückkehrte.

Zuerst schwiegen sie, während sie den Tee einschenkte. Shen kam sich etwas unbeholfen vor. Er fühlte sich genötigt etwas zu sagen, und wusste jetzt nicht über was. Sie hätten jetzt Gelegenheit in Ruhe zu reden. Obwohl Shen nicht wüsste, worüber sie reden sollten. Dazu war es in den letzten Jahren selten dazugekommen. Schließlich rang er sich dazu durch ein Gespräch zu beginnen. „Du sagtest, du kanntest oder du hast meinen Bruder gesehen“, begann er.

Die Ziege, die ihm gegenüber Platz genommen hatte, nickte. „Ja.“

„Wie war er?“, wollte Shen wissen. „Hatte er… auch dasselbe Problem wie ich?“

Sie rührte in ihrer Teetasse. „Du meinst das Gefühl anders zu sein?“

„Beantworte mir einfach nur meine Frage.“

Die Ziege nippte kurz an ihrem heißen Tee und dachte nach. „Nun, wie ich schon sagte, er unterschied sich so gut wie gar nicht von dir. Nur eines war etwas anders…“

Shen beugte sich ihr vor. „Und was?“

„Nun, er war gut im Kung-Fu.“

Der weiße Pfau legte skeptisch den Kopf schief. „Besser als ich?“

Die Ziege hob die Augenbrauen. Shen war doch nie so gut im Kung-Fu gewesen. Zumindest nicht unter 5 Jahren. Aber sie wollte es nicht anprangern und führe ihre Erklärung in eine andere Richtung aus. „Er versuchte in allem gut zu sein. Egal ob im Alltag oder im Training. Genauso wie du, wurde auch er im Kung-Fu ausgebildet, so wie es seitdem Eintreffen der Meister, in den Tagen deines Vaters, Tradition ist. Aber ich merkte, dass er es nicht aus Liebe zum Kung-Fu tat. Er wollte einfach nur gut sein. Er wollte alles perfekt machen.“ Sie seufzte leise. „Vielleicht hatte er gehofft, dass deine Mutter ihn dann einmal länger als fünf Sekunden ansehen würde.“

Shen schwieg. Er wusste selber, wie sehr er die Anerkennung seiner Eltern wollte, aber auf diese Art und Weise hatte er es nie erfahren. „Hat mein Vater denn nie mehr über ihn gesprochen, nachdem er wieder nach Hause zurückgekehrt war?“, wollte er wissen.

Der Blick der Ziege wanderte kurz zur Zimmerdecke bevor sie antwortete. „Nun, er hatte wenig nach seiner Rückkehr gesprochen. Er war ziemlich schwach gewesen, obwohl er von der Kondition her noch recht rüstig war. Er war ja noch nicht mal ganz so alt gewesen. Es war von daher ein Schock für uns alle gewesen, als er so plötzlich verstorben war. Und dann noch sein Freund, der ihn noch bis Gongmen begleitet hatte. Ehrlich gesagt hab ich ihn nicht so sympathisch gefunden, obwohl er deinen Vater geholfen hatte wieder nach Hause zu kommen. Er hat sich sogar eigenhändig um die Beerdigung gekümmert, er hat sogar einen Arzt arrangiert. An seinen Leichnam wollte er mich nicht heranlassen…“ Sie sah Shen verlegen an. Sie war wieder vom Thema abgewichen. Sie schüttelte den Kopf. „Aber was solls. Was passiert ist, ist passiert. Jedenfalls hatte er kein einziges Wort mehr über deinen Bruder erwähnt. Er… er sagte mir nur…“

Shen verengte die Augen. „Was hat er gesagt?“

Sie schwenkte ihre Teetasse in den Hufen. „Nun, dass… falls du wieder zurückkehren solltest… dass ich dann ein Auge auf ihn haben sollte… damit dir nichts passiert.“

Die Augen des Pfaus weiteten sich vor Verwunderung. Die Ziege senkte den Blick. „Diese Aufgabe habe ich wohl nicht so gut erfüllt, nicht wahr?“

Sie sahen einander schweigend an. Schließlich wich sie seinem Blick aus und blies über ihren dampfenden Tee. Shen tat es ihr gleich und ließ den beruhigenden Duft der Teeblätter auf sich einwirken.
 

„Und du bist dir auch sicher, dass du ganz alleine dorthin fahren möchtest?“

Sie standen am Hafen und die Ziege ließ den einstigen Prinzen nur ungern gehen.

„Ich komm schon zurecht“, versicherte ihr Shen. „Wäre ja nicht mein erster Alleingang.“

„Aber selbst früher hattest du jemanden gehabt“, gab die Ziege zu bedenken. „Auch wenn es nur ein Wolfsrudel war.“

Shen seufzte schwer. Manchmal dachte er noch an das Wolfsrudel, oder zumindest eine neue Armee hinter sich stehen zu haben als eine Art Leibgarde. Er schüttelte den Kopf. Darüber konnte er sich immer noch später Gedanken machen.

„Ich muss los.“

Gerade als er auf das Schiff zulaufen wollte, hielt die Wahrsagerin ihm noch am Flügel fest.

„Ich wünsche dir viel Glück“, sagte sie. „Und iss immer gut, denk an deine Kräfte.“

Innerlich rollte Shen mit den Augen. Manchmal benahm sie sich schlimmer als eine Mutter. Endlich ließ sie langsam seinen Flügel los. Shen war erleichtert, als er endlich das Schiff bestieg und dieses ablegte.

Sie winkte ihm zu. Shen sah sich um, nur um sicher zu gehen, dass ihn niemand dabei zusah. Dann hob er kaum sichtbar den Flügel und winkte zurück, wenn auch mit ernstem Gesichtsausdruck. Es kam ihm etwas lächerlich vor sich wie ein kleines Kind zu verabschieden. Er war immer noch ein hoher Lord. Die alte Ziege nahm es ihm nicht übel. Sie blieb solange noch am Hafen stehen bis das Schiff nicht mehr zu sehen war.

Mit Wehmut suchte sie den Horizont ab. Es war genau wie damals. Traurig schloss sie die Augen. Auch damals, als der weiße Pfau die Stadt verlassen musste, hatte sie ihn noch lange nachgeschaut, bis er nicht mehr zu sehen gewesen war. Es hatte ihr weh getan, dass sie durch ihre Wahrsagung so ein Unglück über die Familie gebracht hatte. Hatte sie sich deswegen dazu verpflichtet gefühlt, mit Shens Vater zu reden und er sie im Gegenzug um einen Gefallen beteten hatte? Was hatte sein Vater als Letztes noch über seinen Sohn Shen gesagt? Nur kurz bevor er gestorben war?

„Wann immer es in deiner Macht steht“, sagte der blaue Pfau mit schwacher Stimme, „behüte meinen Sohn.“

Die alte Ziege senkte wehmütig den Blick. „Ich kann ihn nicht von seinem Vergehen freisprechen.“

Der blaue Pfau legte seine Flügel auf ihre Hufe und sah sie eindringlich an. „Es genügt schon, dass du ihm kein Leid zufügst. Tu es auch für meine Frau.“

Die Ziege verlagerte ihr Gewicht auf dem Gehstock, dass er sich nur so bog.

„Ach, Liang“, seufzte sie. „Ich wünschte, du könntest jetzt hier sein.“
 

Shen lehnte sich an die Reling und ließ seinen Blick über das offene Meer schweifen. Er war die Jahre so auf China fixiert gewesen, dass er nicht so darüber nachgedacht hatte, wie es wohl hinter den chinesischen Grenzen aussah. Es hatte ihn nie so weit hinausgezogen. Da gab es noch so viele anderen Länder, über die er bis jetzt nur in Geschichtsbüchern gelesen hatte. Und jetzt musste er ausgerechnet in die weite Welt hinaus, wo sein Bruder sich über all die Jahre versteckt gehalten hatte. Der Pfau stützte den Kopf auf die Flügel und stellte sich vor wie sein Bruder ihn wohl ansehen würde, wenn sie sich treffen würden. Seine Identität konnte er vor ihm ja nicht verschleiern. Sie waren fast gleichaussehende Zwillinge. Er würde sofort merken, mit wem er es zu tun hatte. Diese Vorstellung bereitete Shen etwas Bauchschmerzen. Was würde wohl passieren? Er prüfte seine Federmesser unter seinen Federn. Sogar sein Lanzenschwert hatte er mit an Bord genommen. Eigentlich wollte er sie nur ungern zum Einsatz kommen lassen, aber wenn Dao ihn eventuell keine andere Wahl mehr ließ…?

In diesem Moment ließ ihn ein Magenknurren aufhorchen. Augenblicklich hob Shen den Kopf. Das war doch…

Mit wachsamem Blick ging er an einer Reihe von Fässern vorbei. Und in einem davon drang ein dumpfes Gemurmel zu ihm hindurch.

Dem Pfau stieg der Zorn in die Federn. Blitzschnell packte er mit dem Fuß das Fass und trat dagegen. Das Fass rollte über das Deck und knallte gegen die Reling. Der Deckel sprang auf, woraufhin das Gesicht eines Pandas hervorschaute.

„Oh, Mann. In ein Fass zu steigen ist einfach, aber da wieder rauszukommen…“

Po war noch ganz schwindelig von dem Fassrollen. Mühsam versuchte er aus dem Holzfass sich rauszuwinden. Seine Arme bekam er noch frei, nur sein Bauch steckte fest.

Im nächsten Moment wurde das Fass nach oben gerissen und stand wieder gerade. Allerdings vor einem weißen wütend dreinschauenden Pfau.

Erschrocken zog Po den Kopf ein. „Ich glaube, ich geh doch wieder ins Fass runter.“

Vergeblich versuchte er seinen Bauch einzuziehen, doch ein Fluchtweg ins Versteck war im Moment unmöglich.

Shen ballte die Fäuste. Irgendwann würde er diesen Panda noch umbringen!

„Ich verlange, dass du sofort von hier runtersteigst!“, befahl Shen laut.

„Da runter?“ Po schaute über die Reling. „Aber Shen, wir schippern mitten auf dem Meer… AH!!!!!“

Shen verpasste ihm einen Tritt und Po klatschte mitsamt Fass ins Wasser. Prustend kam der Panda wieder an die Oberfläche. „Hey, Shen! Shen! Du kannst mich noch nicht einfach hier unten lassen!“

„Die Strömung wird dich schon wieder nach China transportieren“, antwortete der Pfau halbherzig. „Und hoffentlich auch weit genug weg von mir.“

Das Schiff fuhr weiter und nahm von dem Panda im Fass keine Notiz. „Hey, Shen, du kannst mich doch nicht einfach ohne richtiges Schiff auf dem Meer treiben lassen. SHEN!“

Doch der Pfau stellte sich taub und hob den Schnabel in den Wind. „Diesmal nicht – Panda.“

Enttäuscht gab Po das Rufen auf. Das Schiff war fast an ihm vorbei. Mühsam paddelte der Panda darauf zu und konnte sich gerade noch an das Heck festklammern.

„Oh, Mann“, murmelte Po und hielt sich den Mund zu. „Hoffentlich werde ich nicht seekrank.“

Für den Rest der Fahrt schweig der Panda, während das Schiff sich mehr und mehr dem Land der aufgehenden Sonne näherte.



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