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Abyss

von

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Endeavor

Es ist merkwürdig, wie schnell die Zeit vergangen ist. Manchmal hat er das Gefühl, die Ereignisse haben sich überschlagen. Nicht nur bei dem jungen Mann, der ausnahmsweise mal nicht auf der Bühne steht, sondern eine der Sitzecken in Anspruch genommen hat. Pinky, Gale Force und Mic sitzen bei ihm und er hört Mics lautes Organ bis zur Bar, während er ein paar Gläser abtrocknet.

Heute ist Hawks‘ Abschied. Niemand im Club kann das so richtig glauben, trotzdem der Blonde immer gesagt hat, dass er nicht ewig hier arbeiten wird. Aizawa findet das grundsätzlich vernünftig – niemand sollte sein ganzes Leben lang strippen. Hawks ist ein kluger Kopf und er wird seinen Weg als Polizist machen. Dennoch…wird er hier fehlen. Mit seinem heiteren Gemüt, den frechen Sprüchen und seiner Energie, die den ein oder anderen positiv beeinflusst hat. Er will sie zwar ab und an besuchen kommen, aber es wird nicht dasselbe sein und möglicherweise sollten Polizisten nicht in Strip-Clubs gesehen werden. Zumal es besser ist, wenn sich Hawks komplett auf seine Ausbildung konzentriert.

Er sieht zu, wie Mic Hawks auf die Schulter klopft und ihm dann ein Geschenk in Regenbogenpapier überreicht. Kitschig. Und klischeehaft schwul – was Hawks jedoch gut zu finden scheint, so wie seine Augen strahlen. Es sind neue Kopfhörer. Die neusten auf dem Markt – und vermutlich ein teures Werbegeschenk, da Mic durch seine eigene Radiosendung einen gewissen Bekanntheitsgrad genießt. Pinky will sie direkt auch mal aufsetzen und Gale Force brüllt jetzt auch noch durch den Club, was selbst die Musik nicht ganz eindämmen kann. Sie wechseln sich ab, damit sich jeder vernünftig verabschieden und mit Hawks ein paar Drinks nehmen kann. Miruko sitzt scheinbar schon auf heißen Kohlen, so wie sie immer wieder von der Bühne herübersieht. Die zwei haben seit dem ersten Tag eine gewisse Rivalität untereinander, doch Aizawa weiß, dass sie einander ebenso schätzen.

„Ich bin hier!!“

Aizawa zuckt zusammen, als ihm seitlich ins Ohr gebrüllt wird und er in Toshinoris wie immer von dunklen Schatten umrahmte, tiefblaue Augen sieht. Er trägt seinen senfgelben Anzug mit der blauen Krawatte und seine Haare stehen noch mehr ab als sonst.

„Ich hoffe, ich bin nicht zu spät?! Das Geschenk habe ich, keine Sorge, aber der Verkehr war furchtbar und als ich-“

„Trink erstmal was.“

Er unterbricht sein keuchendes Gestammel trocken, während er ihm ein Glas Wasser zuschiebt.

„Und nein. Wir wechseln uns ohnehin ab. Midnight übernimmt die Bar gleich für mich.“

„Gut, gut…dann bin ich beruhigt.“

Toshinori grinst ihn mit seinem typischen Grinsen an, das sein hageres Gesicht noch hagerer aussehen lässt. Dann beugt er sich zu ihm vor und drückt ihm einen Kuss auf die Wange.

„Und übrigens…hallo.“

Aizawas rechte Braue zuckt leicht bei dem keuschen Wangenkuss; als wären sie zwei Teenager unter Erwachsenen, die sich zu benehmen haben. An sich spricht nichts dagegen, Toshinori an seiner Krawatte zu packen und ihm zu zeigen, wie man sich begrüßt, wenn man seit einem halben Jahr zusammen ist, aber er kann damit bis zum Feierabend warten. Wenn er etwas von Toshinori gelernt hat, dann dass Slow Motion ein sehr ausdehnbarer Begriff ist.

Vielleicht ist es genau das, was ihn an dem Mann reizt; dass er die Dinge ganz anders angeht als die meisten anderen Männer – Aizawa selbst eingeschlossen. Eigentlich ist er ziemlich faul, was das Zwischenmenschliche angeht – und er kann nicht zählen, wie oft ihn die Leute schon gefragt haben, warum er Barkeeper geworden ist. So genau weiß er das selbst nicht. Inzwischen mag er die Kollegen und es ist anstrengend, sich etwas Neues zu suchen. Zumal Kan und er diesen Deal haben; er beschützt draußen, Aizawa drinnen.
 

Wie auch immer, Toshinoris Art reizt ihn. Hat sie von Anfang an und tut sie noch immer. Wenn er ihm widerspricht, tut er das auf eine Weise, die so furchtbar höflich ist, dass es einen Nerv bei ihm trifft. Die ersten Dates (ja, sie haben Dates mit Essen Gehen und dem ganzen Drumherum gehabt) sind anstrengend gewesen. Weil Toshinori ein Talent dafür hat, einem das Gefühl zu geben, dass man eine tolle Person ist. Das ist es aber auch gewesen. Kein Kuss, keine Andeutungen. Aizawa bewundert im Nachhinein seine starke Beherrschung, die dafür gesorgt hat, dass ihm erst nach Date Nummer fünf der Kragen geplatzt ist.

Normale Menschen hätten sich wohl in den Laken gewälzt – Toshinori hat ihn auf die Stirn geküsst und mit einem Lächeln gemeint, dass er kein Typ für bedeutungslosen Sex ist. Dass er ihn noch näher kennenlernen will, eben weil er ihn sehr gern hat. Aizawa hat ihm eine verpassen und davon stürmen wollen, doch stattdessen hat er ein finsteres „Von mir aus“ geknurrt und sich noch bei drei weiteren Dates in Geduld üben müssen, bis sie einen Schritt weiter gegangen sind. Gut, das Warten hat sich im Endeffekt gelohnt, aber hart ist es trotzdem gewesen.

Vielleicht ist das die Rache dafür gewesen, dass er ihn bei ihrer ersten Begegnung so abfällig behandelt hat. Vielleicht ist Toshinori einfach so ein Typ, denn scheinbar hat er jahrelang denselben Partner gehabt. Er ist zweifellos eine treue Seele und vielleicht hat er ihn nur testen wollen. Was es auch gewesen ist, Aizawa ist froh darüber, dass sie sich getroffen haben und drangeblieben sind.

Er hat sich selten so geborgen bei jemandem gefühlt, wie er es mittlerweile tut. Toshinori scheint generell so ein Typ zu sein, der gerne und viel gibt. Er kocht für sie beide. Er holt ihn oft von der Arbeit ab, weil er weiß, dass Aizawa weder Auto noch Führerschein hat. Und na ja…in anderen Bereichen gibt er ebenfalls viel.

Außerdem scheint er ihn zu durchschauen, was für viele Menschen gar nicht so einfach ist. Mic und Midnight liegen ihm ständig in den Ohren, dass er es nicht verkacken soll, weil Toshinori in ihren Augen ein Heiliger ist…und weil man scheinbar viel Geduld haben muss, wenn man mit Aizawa zusammen ist. Wessen Freunde sind die eigentlich?
 

„Ich freue mich für ihn. Er wird sicher ein hervorragender Polizist!“, kommt es euphorisch von Toshinori. „Er hat das Herz am rechten Fleck und ist so ein zielstrebiger, junger Mann!“

Womit er Recht hat. Aizawa erinnert sich noch daran, wie er vor ein paar Jahren im Club angefangen hat. Schon damals hat er ein Selbstbewusstsein ausgestrahlt, das die meisten vermutlich darüber hinwegtäuscht, dass es ihm nicht immer gut geht. Aizawa weiß nicht, was ihm passiert ist, und er hat auch nie gefragt, aber er ist nicht blind. Auch wenn ihn seine Freunde für einen unsensiblen Klotz halten, verfügt er über eine gute Menschenkenntnis.

Deswegen hat er gespürt, dass Todoroki Ärger machen wird. Er ist auch jetzt kein großer Fan von ihm und Freunde werden sie in diesem Leben garantiert nicht mehr, aber er reißt sich wegen Toshinori zusammen. Auch wenn die Information, dass die beiden vor Jahren eine Beziehung hatten, nicht gerade förderlich für eine positivere Einstellung gegenüber dem Rothaarigen ist.

„Das ist er“, erwidert er knapp auf die Worte, woraufhin Toshinori ihn warm anlächelt.

„Er wird dir fehlen, nicht wahr?“

„…er ist nicht aus der Welt“, gibt er schroff zurück.

„Das stimmt. Dennoch…er hat lange hier gearbeitet. Es ist in Ordnung, wenn du ihn vermisst.“

„Hn.“

Aizawa sagt nichts mehr darauf, weil der Blonde Recht hat, was er ihm aber nicht zugestehen will. Gefühle auszusprechen, ist nicht seine Art, und das weiß sein Freund.

„Wollte er nicht längst hier sein?“, wechselt er stattdessen das Thema und Toshinori sieht auf seine Uhr.

Er ist einer von diesen Menschen, die Uhren nicht tragen, weil sie protzen wollen oder gern Schmuck tragen, sondern weil sie altmodisch sind.

„Geben wir ihm noch ein paar Minuten“, antwortet er ihm. „Sonst rufe ich ihn gleich mal an…und sei bitte nett zu ihm.“

„Wenn er nett zu dir ist.“

Aizawa macht es mittlerweile wütender, wenn sich der Kerl seinem Freund gegenüber abfällig verhält. Ja, Toshinori kann sich wehren, wenn er will, da er aber oft zu höflich und verständnisvoll ist, tut er das nicht.

„Das wird er bestimmt sein.“

Toshinoris Lächeln ist strahlend wie die Sonne und es ist sogar für ihn schwer, da weiter missgelaunt zu sein. Dieser Mann macht ihn fertig.
 

Tatsächlich kommt Todoroki einige Minuten später mit gewohnt finsterer Miene in den Club und erfasst nur kurz Hawks, ehe er die Bar ansteuert. So wie die Augen des jungen Mannes aufblitzen, scheint er ihn sofort gesehen zu haben. Nun, Aizawa kann Todoroki nicht leiden, aber er erkennt an, dass die zwei sich wohl gegenseitig guttun. Wie sonst erklärt es sich, dass sich der Rothaarige therapieren lässt und seit einem halben Jahr trocken ist? Er trinkt wie Toshinori jedes Mal Wasser, wenn er herkommt.

Sein Freund hat ihm in groben Zügen erzählt, was damals bei dessen Familie vorgefallen ist. Der Sohn tot, die Frau hatte einen Nervenzusammenbruch. Angeblich wollen sie sich scheiden lassen, was Aizawa für Todoroki stark hofft. Immerhin vertraut Hawks ihm – und wenn er ihn unglücklich macht, wird er ihm das nicht durchgehen lassen.

„Du bist spät dran“, lautet Aizawas Begrüßung, als er ihm das Glas mit Wasser zuschiebt.

Todoroki funkelt ihn an.

„Ich hatte noch einen Termin. Hawks weiß das.“

„Ah“, macht Aizawa bloß, woraufhin Toshinori schief lächelt.

„Nun sind wir ja alle da und können ihm das Geschenk geben, nicht wahr?“, versucht er die Wogen zu glätten.

Wie auf Stichwort steht auch schon Midnight neben ihm. Breit grinsend stößt sie ihm mit dem Ellenbogen in die Seite und funkelt ihn durch ihre rote Brille an.

„Na los, geh schon! Ich habe hier alles im Griff!“

Aizawa brummt genervt, doch er sagt nichts weiter, sondern folgt den anderen beiden zum Tisch. Hawks trägt mittlerweile einen dunkelroten Hoodie mit der Aufschrift Dancing Queen über seinem Shirt – anscheinend Minas Geschenk für ihn. Die neuen Kopfhörer hängen um seinen Hals und mehrere Gutscheine für Kentucky Fried Chicken liegen auf dem Tisch. Miruko und Mic räumen das Feld, als sie sehen, dass sie dazu kommen, sodass mehr Platz in der Sitzecke ist, wobei Miruko ihm noch einmal durch die Haare wuschelt.

„Da seid ihr ja!“, kommt es freudig von Hawks, der nun noch zerrupfter als sonst aussieht. „Dachte schon, ihr versetzt mich!“

„…du wusstest, dass ich später komme, und scheinbar warst du ja in guter Gesellschaft“, erwidert Todoroki schroff wie immer.

„Eifersüchtig? Du weißt doch, keine Gesellschaft ist besser als deine, Liebling!“

„Du verletzt meine Gefühle, Hawks“, fügt Pinky schwer seufzend hinzu und kippt leicht gegen ihn.

„Sorry, Pinky, aber das Herz will, was das Herz w-“

„Mach dein Geschenk auf“, unterbricht Aizawa ihn und drückt ihm selbiges in die Hand.

Hawks muss schmunzeln, beginnt aber sofort damit, es aufzureißen.

„Dein Grumpy-Face wird mir fehlen, Aizawa“, meint er, während er das Captain America-Papier aufreißt. „Übrigens ist das Papier voll cool, Toshi!“

Toshinori lächelt ihn warm an und tatsächlich hat er es eingepackt. Nun, vermutlich hat Todoroki Hawks erzählt, was für ein Superheldenfan und vor allem vom Captain Toshinori ist. Aizawa muss an die Sammlung von Marvelfilmen denken und seufzt innerlich; er selbst hat nicht viel dafür übrig, aber er schaut sie trotzdem mit ihm. Wenn er ehrlich ist, mag er Venom.

„Oh…das…ist…ich meine…wow!“, hört er Hawks sagen und blickt auf.

Anscheinend gefällt es ihm wirklich, so gebannt, wie er sich das Foto anschaut. Ein Gruppenfoto. Von allen Mitgliedern des Clubs – es gibt niemanden, mit dem sich Hawks nicht versteht, also sollte es wohl passen. Auch diese Idee kommt von Toshinori und auch, wenn Aizawa Fotos nicht mag, ist er doch froh, auf ihn gehört zu haben. Eine Erinnerung an die Zeit mit ihnen allen.

„Danke, Leute! Das bekommt auf jeden Fall einen Ehrenplatz!“, meint Hawks und seine Augen glänzen.

„Vergiss dein zweites Geschenk nicht“, brummt Todoroki und deutet auf das kleinere Päckchen.

„Noch eins? Ihr müsst mich echt gernhaben!“

Er packt auch das kleine Paket aus, wobei er immer noch gerührt wirkt. Stripclubs mögen nicht den besten Ruf haben, aber für Hawks ist das hier wohl sowas wie ein Zuhause gewesen. Er hat sich zweifellos bei ihnen wohlgefühlt.

„Nicht euer Ernst…ihr seid echt…der bekommt auf jeden Fall auch einen Ehrenplatz!“

Der Blonde grinst breit und hält das kleine Polizeiauto hoch, damit sie es besser sehen können.

„Es freut mich, dass dir die Geschenke gefallen, Hawks-kun“, kommt es ehrlich von Toshinori. „Immerhin wirst du morgen einen neuen Weg bestreiten. Dabei wünschen wir dir viel Glück und Erfolg.“

„Aww, Toshi…“

„Und los wirst du uns trotzdem nicht, klar?! Nur weil du bald Bulle bist, brauchst du nicht denken, dass wir dich vom Haken lassen!“, fällt Pinky mit ein und stupst ihn in die Seite. „Wir kommen dich besuchen – und Aizawas Freund ist doch der beste Freund von deinem Freund. Ihr seht euch also auch weiterhin!“

„Ein Treffen zu viert klingt wirklich schön“, stimmt Toshinori ihr zu und Aizawa entgleist das Gesicht.

„Ein Doppeldate? Cool! Da sind wir dabei!“

„Sind wir nicht!“, zischt Todoroki seinen Freund an, welcher sich davon nicht beirren lässt und einen Arm um ihn schlingt.

„Hört nicht auf ihn! Das machen wir mal!“

„…einfach nein“, murrt Aizawa, auch wenn er nun mit Todoroki einer Meinung ist.

Leider ist Toshinori sehr hartnäckig, wenn er überzeugt von etwas ist, und so lächelt er ihn nur nachsichtig an und tätschelt seine Schulter.

„Ach was…das wird toll! Hawks-kun und ich planen das bei Gelegenheit.“

Was bedeutet, dass Todoroki und er nicht wirklich eine Wahl haben. Gott. Warum? Er sagt nichts weiter dazu, denn auch wenn er gegen ein Doppeldate ist, so hat er nichts dagegen, den Kontakt zu Hawks beizubehalten.

Er beobachtet, wie Pinky mit einfällt und die Idee weiter ausdehnt. Von Picknick im Park bis zu Escape-Rooms. Hawks und sie lachen laut los, während Todoroki finster dreinschaut. Dennoch entgeht Aizawa das leichte Zucken der Mundwinkel nicht, was wohl bedeutet, dass er nicht so schlecht gelaunt ist, wie es den Anschein macht. Vielleicht liegt das daran, dass Hawks lächelt. Nicht dieses vorgeschobene Lächeln, das er so oft gezeigt hat, auch wenn es ihm nicht gut geht.

Hawks‘ Freude ist echt, ebenso wie das Strahlen in seinem Gesicht. Aizawa sieht und hört ihnen beim Diskutieren und Witze Machen zu, lehnt sich dabei etwas an Toshinori, der den Arm um ihn legt und seine Schulter drückt.

Ja. Hawks wird seinen Weg schon machen.
 

Es ist spät, als sie den Club verlassen – und es dauert, bis sie endlich im Wagen sitzen. Obwohl Hawks ihnen versichert hat, dass er vorbeischauen und sich melden wird, haben ihn manche seiner Kollegen bestimmt dreimal umarmt. Auf der Rückbank liegen die Geschenke – viel mehr als er erwartet hat. Genau genommen kann er sich nicht erinnern, wann er jemals so viel Aufmerksamkeit dieser Art bekommen hat. Er weiß, dass dieses Gefühl, das nicht verdient zu haben, von früher herrührt. Deswegen versucht er, es zu verdrängen und sich stattdessen auf die positiven Gefühle zu konzentrieren. Sie haben sich wirklich Gedanken um ihn gemacht. Sie mögen ihn und werden ihn vermissen. Ein bisschen Wehmut ist schon dabei, denn er hat diesen Job gern gemacht. Er ist gern im Club gewesen. Allerdings freut er sich trotz aller Nervosität darauf, endlich den Weg zu gehen, den er schon immer gehen wollte. Ihm ist fast ein wenig schwindelig bei all diesen Gefühlen.

Als Enji nicht losfährt, wirft er ihm einen fragenden Blick zu; stimmt etwas nicht? Hoffen will er es nicht, immerhin läuft alles gerade fast schon zu gut.

Enji hat Wort gehalten und sogar eine Therapie begonnen. Er ist seit einem halben Jahr trocken und auch wenn es Hawks manchmal schwerfällt, sein gesundes Misstrauen zu ignorieren, ist er glücklich mit ihm. Die Sucht wird wohl immer ein sensibles Thema für ihn sein, aber es bringt nichts, sich ständig Sorgen zu machen. Er will Enji vertrauen und dieser gibt sich Mühe, das weiß er.

Seine Kinder sind seitdem nicht mehr vorbeigekommen. Dass dies Enji immer noch stark belastet, ist nicht von der Hand zu weisen. Aber gut, es sind 6 Monate vergangen, das ist nicht viel Zeit. Vielleicht sind sie irgendwann so weit und kommen noch mal auf ihren Vater zu. Vielleicht kann Enji irgendwann auf sie zugehen. Das wird sich zeigen.

Immerhin scheint die Scheidung voranzugehen. Rei will wohl ebenso mit der ganzen Geschichte abschließen, wie Enji es will. Es stört Hawks, dass sie sich vor einer Weile getroffen haben, doch er ist erwachsen genug, um daraus kein Drama zu machen. Die beiden sind sich einig, dass diese Ehe vorbei ist, und das ist alles, was Hawks wissen muss. Wie gesagt, er vertraut Enji.

Immerhin wohnen sie mittlerweile zusammen, da sollte das wohl eine Voraussetzung sein. Es läuft wirklich gut und Hawks fühlt sich zum ersten Mal annähernd sicher. Vielleicht, weil Enji ihn genauso braucht, wie er ihn. Diesmal ist alles anders als sonst.

Außerdem ist es ein gutes Omen, dass seine Eltern nicht wieder aufgetaucht sind. Ja, er hat nun eine neue Adresse, die sie hoffentlich nie erfahren werden, doch das letzte Mal, als sein Vater bei seiner alten Wohnung geklingelt hat, hat Enji die Tür geöffnet. Scheinbar hat ein muskelbepackter Hüne genug Eindruck gemacht, um ihn in die Flucht zu schlagen. Seitdem ist Funkstille und Hawks fühlt darüber nichts als Erleichterung. Seine Eltern sind nicht sein Problem. Er wird sich weder weiter von ihnen erpressen lassen, noch sich darum scheren, ob sie klarkommen. Er hat genug unter ihnen gelitten – und jetzt beginnt verdammt noch mal sein eigenes Leben. Das wird er sich nicht kaputtmachen lassen. Nie wieder.
 

„Was ist los?“, fragt er ruhig, als Enji weiterhin schweigt.

Hawks hat sich vorgenommen, dass er auf Rückfälle vorbereitet ist. Es ist dem Rothaarigen ernst mit ihm und seinen Versprechen, daran glaubt Hawks fest. Dennoch ist er nur ein Mensch. Fehler sind menschlich. Er möchte nur davon erfahren.

„Die Scheidungspapiere sind vorhin gekommen.“

Hawks braucht einen Moment, dann entweicht ihm der Atem, den er unweigerlich angehalten hat.

„Das ist…gut, oder nicht?“, zwingt er sich zu fragen, obwohl sein Herz rast.

Die Papiere sind da. Damit ist die Scheidung offiziell. Es wird einen Abschluss für Enji geben…und einen Neuanfang für sie beide.

„Ja. Das ist es“, erwidert Enji und sieht ihn nun doch an. „Es ist gut so. Für Rei und mich. Für uns alle…aber es kommt mir…unrealistisch vor.“

Hawks greift nach seiner großen Hand und drückt diese, wobei er ihn anblickt.

„Kann ich mir vorstellen. Es ist in Ordnung, so zu fühlen, wie du…deswegen fühlst.“

Enji zuckt mit den Schultern, entzieht ihm aber nicht die Hand. Ein paar Sekunden bleibt er still, sieht vor sich hin.

„…ich dachte, ich wäre erleichtert, aber irgendwie…ist es nur komisch. Versteh mich nicht falsch. Es ist das, was ich wollte…und immer noch will. Wegen uns. Wegen allem, aber…es fühlt sich komisch an.“

Hawks nickt und tatsächlich muss er sein Verständnis nicht heucheln. Rei und Enji haben so eine lange Geschichte mit Höhen und Tiefen…vermutlich sind diese widersprüchlichen Gefühle normal. Sie sind verheiratet gewesen. Haben sich geliebt. Dann ist alles zerbrochen und nun…ist es vorbei. Vielleicht sind sie irgendwann so weit, dass sie wieder miteinander sprechen können. Hawks glaubt Enji, wenn er sagt, dass da keine Gefühle mehr sind, die in die alte Richtung gehen. Aber die beiden haben ein Kind verloren. Möglicherweise kann es helfen, wenn sie irgendwann darüber reden können. Hawks weiß es nicht, aber es ist für ihn in Ordnung. Trotz Bedenken und Eifersucht wird er dies akzeptieren. Weil er Enji liebt und an diese Beziehung glaubt.
 

„…aber schon gut“, lenkt Enji plötzlich ein und winkt mit der anderen Hand ab. „Eigentlich…ich wollte…also, weil heute dein letzter Tag ist…wollte ich dir was geben.“

Hawks lässt zu, dass er ihre Hände loslässt, und lächelt schief.

„Dachte, du hast dich an den Geschenken von vorhin beteiligt?“, meint er, da er wirklich nichts erwartet hat.

„Ich habe das Foto mit Toshinori gemacht. Sonst nichts.“

Wie er das sagt, klingt es, als sei es tatsächlich nichts. Aber er hat sich mit den anderen über ihn Gedanken gemacht und das ist Hawks genug wert. Doch er sagt nichts dazu, sondern sieht neugierig zu, wie Enji eine längliche Schachtel aus der Manteltasche fischt.

„Hier.“

Hawks neigt den Kopf, während er die Schachtel behutsam öffnet – das Geschenkpapier aufzureißen, ist ihm nicht so schwergefallen. Gespannt nimmt er den Deckel ab und muss dann lächeln. Eine Uhr. Eine zweifellos sehr teure Uhr. Aus braunem Leder und mit einem glänzenden, dunkelroten Ziffernblatt. Hawks hat noch nie eine Uhr besessen, soweit er sich erinnert. Er trägt Ohrringe und Ketten…aber Uhren? Irgendwie hat das was von Erwachsenwerden.

„Dreh sie um.“

Hawks runzelt die Stirn, nimmt die Uhr aber aus der Schachtel und sieht auf die Rückseite. Er stutzt, hat das so nicht erwartet. Er muss schmunzeln, sucht dann wieder Enjis Blick, welcher tatsächlich etwas nervös wirkt.

„Also erstmal…sie ist wunderschön“, meint er, ehe er grinsen muss. „Aber die Gravur ist…ich meine, du weißt schon, dass ich dir nicht weglaufe, oder? Du musst nicht deinen Namen eingravieren, wie diese Typen, die ihren Freundinnen Ketten mit ihrem Namen schenken. Auch wenn das irgendwie süß ist. Wusste nicht, dass du so ein Romantiker bist, hehe…“

Enji starrt ihn an. Dann wird er so knallrot, wie es seine Haare sind, und Wut blitzt in seinen Augen auf.

„Das…das ist…rede nicht so einen Unsinn!“, blafft er ihn an, doch Hawks ist weiterhin amüsiert. „Das ist doch gar nicht der Grund!“

„Da steht Endeavor drauf.“

„Natürlich steht das da!“, knurrt Enji und verschränkt die Arme vor der Brust. „Aber nicht, weil ich…dich besitzen will oder so einen Scheiß. Es ist…Endeavor bedeutet Bestrebung. Sie haben mich damals so genannt, weil ich…ehrgeizig war. Weil ich alles zu erreichen versucht habe, was ich wollte. Auf deiner Uhr steht Endeavor, weil ich…mir das auch für dich wünsche. Dass du deine Ziele erreichst. Dass du nach dem Bestmöglichen strebst und erfolgreich wirst. Ich weiß, dass dir das wichtig ist und dass du das Zeug dazu hast und…egal, was passiert, ich werde dich dabei unterstützen.“

Hawks sieht ihn mit großen Augen an…und für einen Moment ist er nicht fähig, irgendetwas zu sagen. Die Worte bedeuten ihm so viel, dass er sprachlos ist – was sehr selten der Fall ist. Er weiß nicht, wie er damit umgehen soll, denn er ist es nicht gewöhnt, dass jemand so hinter ihm steht. Dass ihn jemand liebt. Dass Enji das tut, steht außer Frage. Bei all seinen eigenen Problemen vergisst er Hawks‘ Probleme nicht und ist für ihn da. Er hat seit Jahren nicht geheult, sich das irgendwann abgewöhnt…aber gerade ist er nahe dran.

„…Hawks?“

Vielleicht ist er etwas zu lange zur Salzsäule erstarrt.

„Ich…tut mir leid, ich bin nur…“

Scheiße. Seine Stimme zittert. Er muss sich zusammenreißen. Ist ja peinlich. Enji sieht ihn schon so seltsam an. Bevor das Ganze noch schlimmer wird, schlingt er einfach die Arme um Enjis breiten Nacken, auch wenn das im Auto etwas unbequem ist. Egal. Er drückt sich fest an ihn und atmet durch, während sich die Arme des anderen um ihn legen.

„…danke. Wirklich, ich meine…das ist ein tolles Geschenk. Du hast dir so viele Gedanken gemacht.“

Enji vergräbt die Nase in seinen Haaren und hält ihn einfach nur. Es ist schön. Er gibt ihm die Sicherheit, die ihm so oft im Leben gefehlt hat. Enji wird nicht weggehen.

„Komm. Wir fahren nach Hause“, brummt er ihm zu und Hawks muss lächeln, während da noch dieser Kloß in seinem Hals feststeckt. „Und lösen auf dem Weg die Gutscheine für diesen ungesunden Fraß ein…“

Hawks muss lachen, auch wenn seine Stimme noch etwas belegt ist.

„Klingt gut“, meint er, lässt ihn aber nicht los. „…gucken wir auch einen Film?“

„Machen wir.“

„Marvel?“

„Ja.“

„Und danach haben wir megamäßigen Sex?“

„…dafür müsstest du mich loslassen.“

„Fällt mir gerade schwer. Du darfst mir nicht so tolle Geschenke machen.“

„Gewöhn dich nicht dran.“

„Oi!“

Er muss grinsen und schmiegt das Gesicht noch mal fest gegen Enjis Hals, ehe er ihn dann aber doch freigibt. Während Enji losfährt, nimmt er die Uhr wieder an sich und streicht mit dem Daumen über die Gravur. Bestrebung. Und wie er danach streben wird, etwas zu erreichen. Nicht nur, was seine Ausbildung bei der Polizei angeht. Er will etwas aus seinem Leben machen…und glücklich sein. Mit Enji. Das, was sie haben, ist ihm wichtig. Sie haben es bis hierhin geschafft und er will nicht, dass es endet.

Schweigend legt er sich die Uhr an, ehe er die Hand auf Enjis breitem Oberschenkel platziert. Es dauert nicht lange, bis sich Enjis Finger um die seinen schließen. So, wie es sein muss.


Nachwort zu diesem Kapitel:
So, das wars.
Das letzte Kapitel bzw. der Epilog und das, obwohls keinen Prolog gab. o_o
Ich muss sagen, das Baby lag und liegt mir immer noch sehr am Herzen.
Weiß es noch, als wäre es gestern, als Lichtregen und ich diese FF zusammengesponnen haben, weil mir die ganzen Hawks Hoe/Stripper-FFs nicht gefielen und ich unbedingt was eigenes machen wollte.
Wichtig war mir, dass Hawks niemand ist, der gerettet werden muss.
Hawks ist hier so wie auch bei bnha jemand, der sich selbst retten kann und nicht die Jungfrau in Nöten ist.
Er hat eine innere Kraft, die Enji eben nicht hat. Mental ist er schwächer als Hawks und ich finde genau das macht die Beziehung so interessant.
Natürlich hat er Probleme und braucht irgendwo Halt...aber Enji braucht ihn halt dringender.
Ich hoffe, ich konnte das auch so rüberbringen und ihr habt dieses kleine Projekt mit seinen Höhen und Tiefen genossen.
Da ich schlecht loslassen kann, wird es bei Interesse bestimmt noch den ein oder anderen OS geben.
Es passte für mich nicht mehr in die FF, aber es kommen da sicher noch ein paar Puzzleteilchen. Vielleicht habt ihr ja auch Wünsche. :)
Vielen, vielen Dank noch mal an Lichtregen, die mich trotz Mama-sein immer unterstützt, inspiriert und jedes Kapitel fleißig gebetat hat. <3
Schaut gern in ihre FF rein: Dead End

Man sieht sich. :D

LG Komplett anzeigen

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