Zum Inhalt der Seite

the smile that shines through the abyss

Rin x Tohru
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

the smile that shines through the abyss

„Willst du sie nicht neben Yukis Beet vergraben?“

Skeptisch musterte sie den Rücken vor sich, beobachtete die im Wind sanft schaukelnden Haare und senkte den Blick erst, als ihr ein mittlerweile vertrautes Lächeln über die Schulter hinweg geschenkt wurde.

Manchmal war dieses Lächeln unerträglich und tat mehr weh als Akitos Worte, mehr als Harus letzte Umarmung, die sich Rin nicht erlaubte zu vergessen, weil sie diesen Schmerz verdiente – er würde nie so groß sein, wie die klaffende Wunde, die sie in seinem Herzen hinterlassen hatte. Aus diesem Grund fühlte sich das sanfte Lächeln wie etwas an, auf das sie keinen Anspruch hatte. Es war wie die aufgehende Sonne, die einen blendete und Rin konnte trotzdem nichts anderes tun, als sich ihr wie eine lichtbedürftige Blume zuzuwenden.

„Meinst du, das wäre ein passender Ort?“, erkundigte sich Tohru heiter. Lebhaft setzte sie einen Fuß vor den anderen, tiefer in den Wald hinein, der Shigures Haus effektiv vom Rest der Stadt abschirmte.

„Hast du dort in der Nähe nicht dein Zelt aufgebaut?“

Für einen Sekundenbruchteil wurden Tohrus Bewegungen zögerlicher. Einem ungeschulten Auge wären sie niemals aufgefallen, doch Rin sah den unsicheren Schritt, sah die sich kurz anspannenden Schultern.

„Das habe ich“, bestätigte Tohru, als sie ihre gewohnte, fröhliche Stimme wiederfand.

„Es wäre ein Ort, den wir uns leicht merken können“, erklärte Rin ihren Gedankengang, woraufhin Tohru verständnisvoll nickte.

„Das stimmt, aber…“ Sie blieb stehen, drehte sich um und wirkte fast schon ein wenig verlegen, als sie die kleine Schatulle, die sie in den Händen hielt, gegen ihr Herz drückte. „Wäre es nicht schön, wenn es ein Ort wäre, der nur uns beiden bekannt ist?“

Rins Augen weiteten sich überrascht. Wieder einmal überrumpelte Tohru sie mit ihrer offenen Art, mit ihrem reinen Herzen. Wie konnte jemand, der so naiv war, auch so weise sein?

„Wieso?“, fragte sie leise, spürte wie der Knoten in ihrer Brust sich abwechselnd lockerte und enger schnürte. Es war eine egoistische Frage, eine, die nicht gestellt werden musste, weil Rin die Antwort kannte – aber sie wollte sie aus Tohrus Mund hören.

„Weil das hier unser Geheimnis ist, Isuzu-san. Diesen Moment teilen nur wir. Er sollte also besonders und einzigartig sein“, beantwortete Tohru ihre Frage, als wäre all dies selbstverständlich.

Rin ging hastig an ihr vorbei und überholte sie, um nicht länger dem Blick voller Zuneigung ausgesetzt zu sein. Sie war ohnehin bereits süchtig danach, genauso wie nach der Wärme, die von Tohru ausging und die nichts mit ihrer Körpertemperatur zu tun hatte. Es war erbärmlich, wie schnell man sich an die guten Dinge im Leben gewöhnte, obwohl Rin besser wusste als die meisten, wie zerbrechlich und unsicher sie waren. Tohru war nur ein weiteres Beispiel dafür, denn schon bald würde auch sie Rin verlassen. Nicht für immer, aber lange genug, um eine Leere zurückzulassen, die nicht gefüllt werden konnte.

„Komm schon, was trödelst du so?“, animierte sie Tohru ungeduldig zum Weitergehen und ignorierte die Worte, die sie selbst eingefordert hatte, geflissentlich. Rin verschloss sie jedoch sorgfältig hinter den Mauern in ihrem Herzen, wo sich alles befand, das sie glücklich machte und sie deshalb verletzen konnte.

„Ich komme!“, rief Tohru fröhlich und eilte ihr hinterher.

Es dauerte eine ganze halbe Stunde, bis sie einen Ort fanden, der ihrem Vorhaben gerecht wurde. Wenn dieser Moment etwas Besonderes sein sollte, dann gab sich Rin nicht mit dem erstbesten Baum, Gebüsch oder Stein zufrieden. Die Stelle musste perfekt sein.

„Es ist wirklich schön hier“, murmelte Tohru ehrfürchtig, als würde sie die Ruhe, die zwischen den Bäumen herrschte, nicht stören wollen. Etwas abseits vom Pfad hatten sie eine kleine Lichtung gefunden, die vom Abendlicht geflutet wurde und die in den tanzenden Schatten der Blätter lebendig wirkte.

„Isuzu-san“, winkte Tohru Rin zu sich, als sie sich auf den Boden kniete und die Schaufel zur Hand nahm, die vermutlich Yuki ihr geliehen hatte. Rin setzte sich automatisch in Bewegung und nahm neben Tohru Platz. Gemeinsam begannen sie, ein kleines Loch zu buddeln, was bei der trockenen, staubigen Erde kein leichtes Unterfangen war. Als es tief genug war, öffnete Tohru die kleine Schatulle, die sie dabei hatte.

„Ich verspreche, dass ich nicht hinschauen werde“, gelobte Tohru mit viel zu ernster und nervöser Stimme und Rins Mundwinkel hoben sich, allerdings erst, als Tohru beide Hände vor die Augen legte und nichts mehr sah. Rin betrachtete ihr Profil einen Moment lang – die vor Aufregung geröteten Wangen, die feinen Haarsträhnen, die an ihrem Hals klebten, weil die sommerlichen Temperaturen sie nicht verschonten. Erst, als sie sich alles eingeprägt hatte, griff sie nach der kleinen Truhe, legte sie auf ihrem Schoß ab und holte vorsichtig den Gegenstand aus ihrer Tasche heraus, den sie für diesen Tag aufgehoben hatte. Damals hatte Rin noch nicht gewusst, dass sie ihn eines Tages hierfür verwenden würde, aber als Tohru ihr von ihrer Idee, eine Zeitkapsel zu vergraben, erzählt hatte, hatte Rin nur daran denken können.

„Ich bin fertig“, teilte sie Tohru mit, als sie die Truhe, die nun etwas von ihr enthielt, wieder zuklappte.

„Jetzt bin ich dran!“ Mit freudiger Aufregung strahlte Tohru Rin an, die abermals froh war, den Blick abwenden zu dürfen. Sie verzichtete jedoch darauf, sich die Augen abzuschirmen, weshalb sie aus den Augenwinkeln sah, wie Tohru sich Mühe gab, nicht ins Innere der Schatulle zu linsen, während sie ihren eigenen Gegenstand hineinlegte.

Rin wünschte sich auf einmal, sie würde hinsehen. Der Gedanke, dass Tohru erst irgendwann, an einem unbestimmten Zeitpunkt in der Zukunft, erfahren würde, was Rin darin versteckt hatte, drückte unangenehm gegen ihre Brust. Es fühlte sich an, als würde sie einen Teil ihres Herzens in diesem Loch in der Erde zurücklassen und die Angst davor, dass er für immer dort bleiben musste, unentdeckt und vergessen, überwältigte sie. Rins Finger krallten sich in den Stoff ihres Rocks.

„Alles in Ordnung?“, fragte Tohru besorgt. Natürlich tat sie das. Rin kannte niemanden anderen, der so gut darin war, die kleinsten Gefühlsregungen zu erkennen und richtig zu deuten. Oder war sie nur so schlecht darin geworden, sie erfolgreich zu verschleiern?

„Wann werden wir die Zeitkapsel wieder ausbuddeln?“, stellte Rin eine Gegenfrage, die jedoch all ihre angestaute Unsicherheit enthielt. Sie griff nach dem Kästchen, legte es in das Loch und begann, es mit bloßen Händen mit Erde zu bedecken.

Zarte Finger legten sich plötzlich auf ihren Handrücken und Rin erstarrte mitten in der Bewegung. Sie sah auf und blickte in die warmen Augen, die sie wohlwollend ansahen. Sie waren beruhigend wie das Gefühl, endlich zu Hause angekommen zu sein und nervenaufreibend, wie ein Gewitter im Sommer. Widersprüchliche Gefühle zerrten an Rins Gedanken, lenkten sie auf hoffnungsvolle Pfade und wieder zurück in dunkle Gassen.

„So bald wie möglich“, versprach Tohru, Rins schmutzige Hand sanft umfassend.

So unbestimmt diese Zeit auch war – Tohru log nicht. An diesen Fakt klammerte sich Rin, ihren wahren Wunsch hinter einem stoischen Blick versteckend. Es stand ihr nicht zu, Tohru hier festzuhalten, egal wie wenig es ihr gefiel, dieses tollpatschige Mädchen nicht länger vor Gefahren beschützen zu können.

Behutsam streichelten Tohrus Finger über Rins Hand und der Kloß in Rins Hals wuchs.

„Ich brauche keinen Trost“, presste sie mit rauer Stimme hervor und runzelte beinahe anklagend die Stirn. Tohru lächelte abermals und streckte wortlos die Hand aus, um sachte über Rins Wange zu fahren. Die feuchte Spur, die zurückblieb, ließ Rin erschrocken erstarren. Weinte sie? Schwitzte sie? Sie würde es nie erfahren, denn Tohru zog ihre Hand wieder zurück und sagte nichts dazu, ließ Rin verwirrt zurück, aber gleichzeitig mit dem Gefühl, wortlos verstanden zu werden. Die Erklärungen, die sie nicht geben wollte, akzeptierte Tohru stets, ohne sie jemals gehört zu haben.

„Lass uns eine Karte zeichnen, damit wir den Ort beim nächsten Mal wiederfinden, ja?“

Als Rin aufsah, kam es ihr vor, als würden auch Tohrus Augen wässrig funkeln.
 

♘✹
 

Die angenehme Luft der Sommernacht streichelte ihre blasse Haut, während das von der Sonne erhitzte Holz unter ihren Schenkeln noch daran erinnerte, dass es seit Tagen nicht mehr geregnet hatte.

Das zerknitterte Stück Papier raschelte in ihren Händen, als sie es fester an sich drückte. Es sah mitgenommen aus, doch die darauf gezeichneten Linien und das dicke Kreuz, welches die Stelle markierte, an der die Zeitkapsel begraben war, waren immer noch problemlos erkennbar. Es war beinahe lächerlich, wie oft Rin diese winzige, provisorische Karte – Schatzkarte, hatte Tohru kichernd gesagt – über die letzten zwei Jahre in die Hand genommen hatte. Grundlos, einfach nur um sie anzustarren und sich die Stelle zwischen den Bäumen in Erinnerung zu rufen. Rin hatte dies so oft getan, dass sie die Karte nicht einmal mehr bräuchte, um sie zu finden.

„Ich dachte mir schon, dass ich dich hier antreffe“, erklang eine ruhige, tiefe Stimme hinter ihr, die Rins Herz nach all der Zeit immer noch in Aufruhr versetzte – wenn auch nicht mehr aus denselben Gründen wie früher.

Rin antwortete nicht, sondern starrte stattdessen weiter in den wolkenlosen Himmel, der von ein paar spärlichen Sternen geschmückt wurde. Ihr Schweigen schreckte Haru jedoch nicht ab, denn er setzte sich neben sie auf die Veranda, die Hände locker in den Hosentaschen vergraben.

„Du wolltest vor allen anderen da sein, hab ich Recht?“, fragte er und egal, wie oft Rin versuchte, seine Tonlage in ihre Einzelteile zu zerlegen – sie konnte nicht einschätzen, ob dies eine Anklage oder eine bloße Feststellung war. So gutmütig, wie Haru war, war es vermutlich Letzteres.

„Rin“, sprach Haru sie nachdrücklich an, was sie schlussendlich dazu veranlasste, ihm den Blick zuzuwenden. Er musterte sie einen Moment abschätzend, dann zupfte ein kurzes Lächeln an seinen Mundwinkeln.

„Ich bin erleichtert“, fuhr er fort, sich nicht davon abschrecken lassend, dass er praktisch einen Monolog führte.

„Erleichtert?“, hakte Rin nach einer Weile doch nach und war sich ziemlich sicher, dass Haru sie absichtlich mit seinen Worten provoziert hatte. Es war Rin egal, da ihre Neugier stärker war.

„Dass deine Gefühle sich nicht verändert haben“, erklärte Haru so nonchalant, dass Rin im ersten Moment wütend wurde. Im zweiten registrierte sie, dass sie auf sich selbst wütend war, nicht auf ihn. Diese Erkenntnis drückte den stets unter ihrer Haut pochenden Schmerz an die Oberfläche. Die Beine anwinkelnd, zog sie diese in einer schützenden Geste an ihren Körper.

„Haru…“, murmelte Rin unsicher. Gab es überhaupt noch etwas zu sagen, das sie nicht schon längst gesagt hatte? Sie hatte sich unzählige Male entschuldigt, unzählige Male in seinen Armen geweint und hatte doch nichts daran ändern können, dass ihr Leben von dem abgewichen war, was sie geplant hatte.

„Ich meine es so, wie ich gesagt habe, Rin. Ich bin aufrichtig erleichtert“, versuchte Haru ihren Gedankengang zu korrigieren, noch bevor Rin überhaupt etwas sagen konnte. Verdattert starrte sie ihn an.

„Wieso, möchtest du wissen?“, fuhr er fort, die Frage auf ihrem Gesicht ablesend. „Nun, ganz einfach. Das heißt nämlich, dass du dich nicht aufgegeben hast. Dass du immer noch Hoffnung hast. Aber, Rin…“

Haru wandte sich ihr im Schneidersitz zu, die Hand aufmunternd auf ihrer schmalen Schulter ablegend. Auch jetzt noch empfand Rin diese Berührung als tröstend.

„Findest du nicht, dass du deine Gefühle lange genug eingesperrt hast?“ Sanft, unterstützend und gleichzeitig nachdrücklich waren Harus Worte, sein Blick durchbohrte ihre Wange und Rin konnte nicht anders, als entnervt den Kopf zur Seite zu drehen.

„Ich habe sie nicht eingesperrt, du weißt von ihnen“, erwiderte Rin trotzig.

„Du weißt, was ich meine“, gab Haru nicht auf und drückte ihre Schulter. Rin ging davon aus, dass er noch etwas sagen wollte, aber sie irrte sich. Haru ließ behutsam von ihr ab und stand auf. Ob er nichts davon beim Namen nennen konnte, weil er sich nicht damit abfinden konnte, oder nahm er schon wieder Rücksicht auf sie? Egal, was es war, es störte Rin und zähneknirschend wirbelte sie herum.

„Haru!“, rief sie, als er gerade nach der Schiebetür griff, die ins Innere von Shigures Haus führte. „Es ist… schwer. Es ist kompliziert. Es ist nicht so einfach, wie du es dir vorstellst.“

Haru zögerte einen Moment, doch dann kehrte er noch einmal um und ging vor Rin in die Hocke.

„Du und ich… wir waren kompliziert. Wir waren schwer und alles andere als einfach. Aber wir sprechen hier von Honda Tohru.“

Rin riss die Augen auf, starrte Haru an, dessen Gesichtszüge sich nicht veränderten, obwohl er Tohrus Namen ausgesprochen hatte. Er blieb ruhig und wirkte fast ein wenig belustigt.

„Hat sie dich jemals nicht akzeptiert? Hat sie deine Gefühle jemals ausgelacht oder sie nicht ernst genommen?“ Haru stellte diese Fragen mit Absicht, da alle von ihnen rhetorisch waren. Rins Herzschlag beschleunigte, während ihr Blick sich nicht auf einen Punkt fokussieren konnte, weil ihre Gedanken sich überschlugen.

„Siehst du“, schloss Haru mit einem Lächeln ab. „Wenn du deine Chance nicht ergreifst, werde ich es vielleicht tun.“ Er erhob sich und Rin ließ ihn ziehen, nicht einmal nachhakend, ob er sie oder Tohru gemeint hatte – es spielte keine Rolle, da seine Worte nicht ernst gemeint waren. Vor ihrem inneren Auge sah Rin noch immer den Ausdruck auf Harus Gesicht, der nicht einer Person gehörte, die vor Eifersucht umkam. Nein, er hatte einer Person gehört, die mit etwas abgeschlossen hatte, womöglich ein wenig bitter und nicht ohne tiefe Narben, aber unwiderruflich und endgültig.

„Danke, Haru“, murmelte sie in die stille Nacht hinein.
 

♘✹
 

„Hast du es ihr gesagt?“

Sich gegen den Türrahmen lehnend, versperrte Rin ihm den Weg und betrachtete ihn mit einem eindringlichen Blick. Es ging sie nichts an, aber aus irgendeinem Grund musste sie seine Antwort hören. Sie brauchte sie, um etwas in ihrem Inneren zu beruhigen und zu bändigen, das wie eine Kletterpflanze einen Weg an die Oberfläche suchte. Noch ein wenig und es würde ihr im Hals stecken bleiben, sie endgültig erwürgen – schon jetzt war es schwer, vernünftig zu atmen, was jedoch nichts mit ihrer Kränklichkeit zu tun hatte.

Abwägend legte Yuki den Kopf schief. So direkt er manchmal auch sein konnte – er plauderte nicht grundlos aus dem Nähkästchen. Seine Skepsis wich jedoch nach einer Weile aus seinem Gesicht. Wieso, war für Rin nicht nachvollziehbar, denn sie achtete penibel darauf, die Beweggründe ihrer Frage nicht durch ihre Mimik zu verraten.

„Das habe ich“, bestätigte er und nun fiel Rin auch auf, wie… leicht er wirkte. Als hätte er endlich eine unheimlich schwere Last abgelegt. Als könnte er wieder atmen – etwas, wonach sie sich verzweifelt sehnte. Eifersucht keimte in ihr auf.

„Du solltest es auch versuchen“, schlug er vor und Rin konnte nicht verhindern, dass sie zusammenzuckte. Seine Aussage war vage genug, dass die Interpretation offen blieb, aber Rin spürte dennoch, wie die Luft um sie herum wieder dünner wurde.

„Was hast du gesagt?“ Es war leichter, Yuki mit Fragen zu löchern, statt sich mit der Vorstellung auseinanderzusetzen, seinen Ratschlag in die Tat umzusetzen. „Vielleicht dient es mir ja als Inspiration.“ Barsch, trocken, abwertend – Rins Tonlage hätte Haru nicht überzeugt und Tohru verletzt, aber Yuki ließ sich davon nicht aus der Bahn werfen.

„Das ist etwas, das nur Tohru und mich angeht“, erwiderte er abwehrend und etwas Scharfes, Provozierendes schimmerte in seinen Augen. Rin starrte ihn an und versuchte zu verarbeiten, wie ungewohnt Tohrus Vorname aus seinem Mund klang. Wieder fraß sich Eifersucht säuerlich durch ihren Magen.

Yuki schob sich nonchalant an ihr vorbei, was Rin mit Verspätung bemerkte. Verzweifelt wirbelte sie herum und streckte ruckartig die Hand aus. Sie war sich sicher, dass sie ihm wehtun wollte, dass sie ihn schubsen wollte – aber ihre Finger krallten sich wie von selbst in seinen Ärmel, hielten ihn zurück, flehten ihn wortlos an, nicht zu gehen und ihre Frage zu beantworten.

Perplex blinzelte Yuki sie über seine Schulter hinweg an. Im ersten Augenblick befürchtete Rin, dass er sich losreißen würde, doch nach endlosen Sekunden entwich ihm schließlich ein resigniertes Seufzen.

„Ich habe sie wissen lassen, was für Gefühle sie in mir auslöst. Dass es ihre mütterliche Seite ist, die mir Kraft gegeben hat“, sprach Yuki leise und Rins Hand fiel von seinem Ärmel ab.

Er sah sie an, als wüsste sie, wovon er sprach und vor einiger Zeit wäre dies auch noch die Wahrheit gewesen, aber… seine Worte waren ihr plötzlich so fremd, dass Rin zutiefst erschrak. Sie fand sich in seiner Art der Dankbarkeit gegenüber Tohru nicht mehr wieder, obwohl sie vor nicht allzu langer Zeit noch weinend in Tohrus Armen gelegen hatte, mit denselben Empfindungen.

Fest presste Rin die Lippen aufeinander. Yuki konnte ihr nicht länger helfen, da sie vor einem Abgrund stand, der tiefer, gefährlicher, unberechenbarer war. Er erinnerte sie an Haru und doch war er anders – neu, überwältigend und schwindelerregend. Sie hatte Angst vor dem Fall, denn selbst wenn es sich um Tohru handelte, bezweifelte Rin, dass ein Sicherheitsnetz sie auffangen würde. Es war zu riskant und könnte sie alles kosten, was sie in ihrem armseligen Leben aufgebaut hatte.

Ihre Sicht war verschwommen, als sie den Kopf, der voller tonnenschwerer Gedanken war, senkte.

„Rin, weinst du?“, fragte Yuki überrascht. Ruckartig wandte Rin ihm den Rücken zu.

„Natürlich nicht“, erwiderte sie schroff und stampfte davon.

„Wirst du ihr sagen, dass du auch so empfindest?“, rief er ihr unsicher hinterher und Rin war froh, dass er ihr nicht folgte.

„Nein“, nuschelte sie und spürte, wie wackelig ihre Beine waren, als sie hinaus in den Garten trat. Rin versuchte, Sauerstoff in ihre Lungen zu bekommen, aber das leidige Gefühl einer dämmernden Ohnmacht wollte nicht verschwinden.

Vorsorglich ließ sich Rin auf dem Verandaboden nieder, ließ die langen, schwarzen Haare ihr Gesicht bedecken, während sie ihren Kopf zwischen die angewinkelten Knie steckte. Wieso passierte dies? Wieso war es auf einmal nicht mehr möglich, die brodelnden Gefühle und das schleichende Wissen darüber zu verdrängen oder zu ignorieren? Wieso konnte sie nicht einfach wieder umkehren, den Abgrund einfach Abgrund sein lassen und sich zurück in Harus sichere Umarmung flüchten?

Rin schluchzte leise, als die sich anbahnenden Tränen sich nicht mehr durch Willenskraft kontrollieren ließen. Vermutlich war genau dies das Problem – sie wünschte sich andere Arme, die sie warm umhüllten und in tröstende Sicherheit zogen. Zarte Hände, die über ihren Rücken streichelten und Haare, die ihre Wange kitzelten, weil sich ihre Gesichter nah waren. Sie wünschte sich die weiche Haut, die nach Sonnenstrahlen roch und die sanften Rundungen, die sich geschmeidig an ihren Körper drückten, wenn Tohru sie hielt.

Rin konnte ihr nicht sagen, dass sie ähnlich empfand wie Yuki. Dies wäre die größte Lüge ihres Lebens.
 

♘✹
 

Am nächsten Morgen saß Rin wieder auf den Holzstufen der Veranda. Der Himmel war wolkenlos und es versprach, ein weiterer, heißer Sommertag zu werden. Shigure hatte sie und Haru im Haus schlafen lassen und dieses würde im Laufe des Tages noch voller werden, denn Momiji, Hatori und Kisa hatten ebenfalls ihren Besuch angekündigt. Rin war sich sicher, dass noch ein paar andere sich ebenfalls blicken lassen würden und hoffte nur, dass Akito nicht auftauchte, obwohl sie sich denken konnte, dass Tohru nach ihr fragen würde. Tohrus Liebe kannte keine Grenzen und erreichte selbst die dunkelsten Orte – etwas, das Rin niemals ganz verstehen würde. Es erfüllte sie mit Furcht und dem selbstsüchtigen Wunsch, diese Liebe nur für sich zu haben. Nein, das stimmte nicht ganz – sie wollte eine besondere Form von Tohrus Zuneigung erfahren, eine, die auch Tohru mit ihrem großen Herzen nur für eine Person reservierte.

Rin hatte Gerüchte gehört. Gerüchte, die ihr unnötige Hoffnung gaben und die, gepaart mit Harus aufmunternden Worten, eine angespannte Unruhe in ihr auslösten. Nervös stand sie auf, lauschte in die Stille der sie umgebenden Natur hinein, bis…

Rin japste. Sie hatte nichts gehört und nichts gesehen, aber sie wusste es instinktiv. Ruckartig setzte sie sich in Bewegung und rannte los. Ihre Schuhe, die sie aus Bequemlichkeit ausgezogen hatte, blieben zurück und barfuß pirschte Rin den Pfad hinab. Sie war schnell – etwas, das sie stets auf ihr Tierkreiszeichen geschoben hatte, doch nun, da dieses keine Last mehr in ihrem Leben war, war dies kaum eine Erklärung mehr. Nein, Rin beeilte sich schlicht und einfach, weil ein innerer Antrieb es ihr diktierte.

Als sie die zierliche Gestalt erblickte, die den Hügel hinauf kletterte, blieb sie schlitternd stehen. Staub wirbelte auf und Erde hatte sich unter ihre Fußfingernagel gebohrt, doch davon merkte sie nichts. Viel zu beschäftigt waren ihre Augen damit, jedes einzelne Detail zu prüfen, als würde sie sichergehen müssen, dass es wirklich Tohru war.

Tohru, die ein blaues Sommerkleid und einen niedlichen Strohhut mit einer bunten Zierschleife trug. Tohru, deren Haut immer noch hell und rein war. Tohru, die ihre langen Haare zu zwei Zöpfen geflochten hatte und dadurch nicht wie eine Studentin aussah, sondern wie das kindische Mädchen von damals, das Rin bewiesen hatte, dass der erste Eindruck nicht immer ausschlaggebend war.

Als sich ihre Blicke trafen, erhellte ein aufgeregtes Strahlen Tohrus Gesicht.

„Isuzu-san!“, rief sie euphorisch und etwas in Rins Brust explodierte. Vielleicht war es der Knoten, der ihr seit Jahren lästig war, vielleicht aber auch nur eine berauschende Freude, die dafür sorgte, dass Rin alle Zweifel von sich abschüttelte.

Bevor Tohru auch nur einen weiteren Schritt tun konnte, überrumpelte Rin sie mit einer schwungvollen Umarmung. Sie kam sich beinahe lächerlich vor, die kleinen Gesten, die Tohru ihr hatte stets schenken wollen, früher so oft abgelehnt zu haben. Auch jetzt malte die Verlegenheit eine dezenten Röte auf ihre Haut, aber diese hielt sie nicht mehr davon ab, das zu tun, was sie wollte. Siehst du, Tohru, wollte sie sagen, ich bin fast frei.

Fast. Ein letztes Wort stand zwischen ihr und dem Abgrund, um den sie seit über zwei Jahren herumschlich.

„Isuzu-san… es ist so schön, dich zu sehen“, wisperte Tohru und legte ihre Hände behutsam an Rins Schulterblätter. Der warme Hauch von Tohrus Atem, der ihre Halsbeuge streifte, jagte Rin eine Gänsehaut über den Rücken. Sie widerstand dem Drang, den zierlichen Körper fester an sich zu drücken und schob Tohru stattdessen von sich weg, um ihr Gesicht zu mustern.

„Du hast dich nicht verändert“, stellte Rin fest und atmete geräuschvoll aus. Sie war schon lange nicht mehr so erleichtert gewesen.

„Du auch nicht“, erwiderte Tohru und lächelte breit.

Äußerlich mochte sie sich tatsächlich kaum verändert haben – sie trug immer noch mit Vorliebe schwarze, knappe Kleidung und ihre Haare waren wieder länger geworden, aber Rin wollte am liebsten trotzdem protestieren, denn seit sie Tohru getroffen hatte, hatte sich ihre gesamte Gefühlswelt verändert. Dies war jedoch weder etwas, das sich leicht erklären ließ, noch war dies der richtige Zeitpunkt dafür.

„Lass uns gehen“, beschloss Rin und packte Tohru am Handgelenk. Dabei kribbelten ihre Fingerspitzen, weil sie viel lieber Tohrus Hand berührt hätten, aber Rin musste nach der stürmischen Umarmung erst wieder ihren Mut sammeln. Sie war froh, dass Tohru die ungewohnte Geste nicht kommentierte.

„G-gehen? Zu den anderen?“, fragte Tohru verdattert und stolperte Rin hinterher, die trotz ihrer fehlenden Schuhe ein zügiges Tempo vorgab.

„Nein“, antwortete sie und hatte nicht einmal ein schlechtes Gewissen, dass sie das Wiedersehen der anderen mit Tohru hinauszögerte. In diesem Augenblick wollte sie mit Tohru allein sein, ihre Anwesenheit nach all der langen Zeit auskosten, bis sie sie mit den anderen teilen musste.

„Oh. Wohin gehen wir dann?“ Tohru wehrte sich nicht, was Rin ihr Vorhaben nur erleichterte. Gerne hätte Rin sich der Vorstellung hingegeben, dass Tohru ihr vertraute, aber die Wahrheit war, dass Tohru schlicht und einfach die Dinge so hinnahm, wie sie ihr in den Schoß fielen – diese Eigenschaft war einer der Gründe, weshalb Rin der Meinung war, dass sie Tohru beschützen musste. Vor den Absichten ihr nicht wohlgesonnener Menschen, aber auch vor ihr selbst.

„Kannst du dir das nicht denken?“, presste Rin ungeduldig hervor, während sie zielstrebig weiter marschierte. Tohru antwortete nicht, folgte ihr aber brav, bis sie endlose Minuten später die Lichtung erreichten, die Rins Puls beschleunigen ließ.

Sie blieb stehen und ließ Tohrus Arm los. Ohne Tohru anzusehen, fuhren Rins Finger in ihren Ausschnitt und sie zog das zerknitterte Papier heraus, welches sie, aufgrund fehlender Taschen in ihrem Minirock, in ihrem BH verstaut hatte.

„I-Isuzu-san!“, quietschte Tohru erschrocken und Rin durfte beobachten, wie ihre Wangen an Farbe annahmen und sie verlegen die Lippen aufeinanderpresste. Den penetranten Gedanken abschüttelnd, dass Tohrus Reaktion wirklich niedlich war, runzelte Rin die Stirn.

„Was?“, hakte sie nonchalant nach. Sie sah nicht, wo das Problem war, aber Tohru schien auch nicht willig zu sein, es ihr zu erklären, da sie nur energisch mit dem Kopf schüttelte, das Gesicht immer noch rot.

Auffordernd hielt Rin ihr die Karte entgegen. Tohru nahm sie vorsichtig entgegen, als wäre sie allein ein großer Schatz. Ihre Augen leuchteten auf, als sie das Papier erkannte, welches Tohru – im Gegensatz zu Rin – lange nicht mehr gesehen hatte.

„Du willst unsere Schatztruhe jetzt schon ausbuddeln?“, fragte Tohru erheitert. Rin blickte auf den Boden, um ihre Ungeduld mit einem Schulterzucken zu maskieren. Gestern oder vor einem Jahr wäre besser gewesen, aber selbst Rin musste zugeben, dass sie noch nicht bereit gewesen war. Jetzt war sie es.

„In Ordnung“, kicherte Tohru. „Dann lass uns die Stelle suchen. Drei Schritte in die Richtung…“ Mit der Karte in der Hand, folgte Tohru ihren Anweisungen und sah lächerlich aus, wie sie nach links hüpfte, dann wieder ein paar Schritte geradeaus machte und schließlich einen Baum umrundete.

Rin hätte ihr den ganzen Tag dabei zusehen können.

„Ah! Ich habe sie gefunden!“, rief Tohru aufgeregt und glücklich, was Rin schnaufen ließ.

„So schwer war es nun wirklich nicht“, kommentierte sie und gesellte sich zu Tohru, die bereits auf dem Boden kniete. Tief hatten sie die Kiste nicht eingegraben, aber Rin konnte trotzdem nicht mit ansehen, wie Tohrus fragile Hände versuchten, die Erde zu durchbohren.

„Lass mich“, forderte sie und griff nach Tohrus Hand, um sie vom Buddeln abzuhalten. Der Moment erinnerte Rin an den Tag, an dem sie zum ersten Mal hierhergekommen waren, an dem sie ihre Erinnerungen hier zurückgelassen hatten, sicher und fernab aller Dinge, die sie stören könnten.

Wortlos machte sich Rin an die Arbeit, schob ihre Finger tief in die Erde, die Zentimeter unter der Oberfläche angenehm kühl war. Nach und nach hob sie eine Ladung Erde nach der anderen aus dem Loch im Boden, bis der Deckel der kleinen Truhe frei lag. Nun überließ sie Tohru den Vortritt, die sie strahlend herausholte. Behutsam stellte sie die schmutzige Schatulle auf dem Gras zwischen ihnen ab und kaute aufgeregt auf ihrer Lippe herum.

„Ich bin nervös, Isuzu-san“, gab Tohru zu, als wäre dies nicht völlig offensichtlich.

„Wieso? Es gibt keinen Grund, um nervös zu sein“, tat Rin ihre Worte unwirsch ab, fühlte aber gleichzeitig, dass ihr Mund trocken wurde. Sie hingegen hatte durchaus einen – einen triftigen sogar.

„Aber es ist so spannend! Und rührend!“, erklärte Tohru und faltete die staubigen Hände vor der Brust. „Wir sollten sie zusammen öffnen.“

Obwohl Rin sich diesen Augenblick herbeigesehnt hatte, zögerte sie. Die Zweifel wollte sich zurück in ihr Bewusstsein schleichen, streichelten nach Aufmerksamkeit verlangend ihren Körper, wie die hellgrünen Grashalme unter ihren nackten Beinen. Noch ein wenig und sie würden Rins Körper paralysieren.

Bevor dies geschehen konnte, nickte sie und richtete ihren Blick auf Tohrus Gesicht. Es war die beste Ablenkung, die es gab.

Rin legte ihre Hände auf den Deckel, Tohru tat es ihr gleich. Langsam hoben sie ihn an – es kam Rin beinahe unzeremoniell vor, als sie ihn auf den Boden legten und in das Innere der Kiste starrten.

Endlose Sekunden verstrichen, während Rin versuchte, das, was sie sah, zu verarbeiten. Tohru neben ihr begann zu kichern.

„Was für ein Zufall!“

„Ist es wirklich Zufall?“, hörte sich Rin sagen, aber ihre Stimme hörte sich fremd und bedeutungsschwer an.

Tohrus Belustigung verschwand, stattdessen legte sie den Kopf schief und lächelte ihr typisches Lächeln, das so viel und gar nichts bedeuten konnte. Rin wünschte sich, Tohru würde ihre Gedanken offen darlegen, statt immer nur zu lächeln. Es frustrierte sie unendlich, nicht zu wissen, was Tohru tatsächlich dachte, vor allem, wenn sie erneut mit einer höflichen Floskel antwortete.

„Nein, vermutlich nicht“, wisperte Tohru und überraschte Rin damit. Wieder wanderten beide ihrer Augenpaare zu dem Inhalt ihrer Zeitkapsel.

Rin holte beide Gegenstände vorsichtig heraus und merkte dabei, dass ihre Hände zitterten. Sie legte ihre Schätze auf ihrem Schoß ab und konnte keine einzige Frage formulieren, die ihr auf der Zunge lag. Der Grund dafür war einfach – das, was auf ihrem Schoß lag, war auf gewisse Weise bereits eine Antwort.

Es waren zwei identische Gegenstände – und jeder andere hätte sie als Müll bezeichnet, denn es waren zwei durchsichtige, leere Becher. Sie waren nicht neu, sondern wiesen Gebrauchspuren auf und waren beide sorgfältig gewaschen worden, bevor sie ihren Weg in die Truhe gefunden hatten.

Es waren zwei Becher, in denen sich einst Gelee befunden hatte – die einzige Speise, die Rin in der Lage gewesen war, im Krankenhaus zu sich zu nehmen und die Tohru ihr bei ihren Besuchen regelmäßig mitgebracht hatte. Wieso sie ihn in die kleine Kiste gelegt hatte, um ihn als Erinnerung aufzubewahren, lag auf der Hand. Er erinnerte sie an Tohru an all das, was sie für sie getan hatte. Allein die Tatsache, dass Rin ihn überhaupt aufgehoben hatte, zeugte davon, wie wichtig ihr diese Erinnerung war. Was Rin hingegen nicht verstand, waren Tohrus Gründe. Ratlos hob sie den Kopf.

„Ich verstehe nicht“, sagte Rin geradeheraus und die Tränen in Tohrus Augenwinkeln stürzten sie in nur noch größere Verwirrung. Im Gegensatz zu ihr, schien Tohru ganz genau zu verstehen.

„Wir haben anscheinend genau dasselbe gedacht, Isuzu-san“, murmelte Tohru glücklich, sich schniefend über die Augen wischend.

„Das bezweifle ich“, erwiderte Rin trocken, doch Tohru ließ sich schon lange nicht mehr von ihren schroffen Worten einschüchtern.

„Wolltest du damit nicht zeigen, wie viel dir unsere Beziehung bedeutet?“, fragte Tohru und Rin hasste, dass es sich wie eine rhetorische Frage anhörte. Gleichzeitig war sie dankbar dafür, denn so musste sie nicht darauf antworten.

„Ich bin so froh, Isuzu-san in meinem Leben zu haben und mit dem Becher wollte ich mich auch daran erinnern, dass dies nicht immer so war. So vergesse ich nie, dankbar dafür zu sein.“

Tohru gluckste und breitete die Arme in einer einladenden Geste aus. Rin wollte ablehnen, wollte ihr deutlich machen, dass sie nicht bemuttert werden wollte, aber ehe sie sich versah, ließ sie sich von Tohrus sanfter Umarmung einlullen. Rin schloss die Augen und vergrub ihre Nase in dem nach süßen Blumen duftendem Haar.

Sie war auch dankbar. Sie würde auch niemals vergessen, wie sehr Tohru ihr Leben verändert hatte. Sie sprach es nicht aus, aber dennoch hörte sie Tohru leise in ihr Ohr murmeln:

„Ich weiß.“
 

Nachdem sie die Gelee-Becher wieder in der Schatulle verstaut und die Erde zurück an ihren rechtmäßigen Platz geschoben hatten, setzte sich Rin in den Schatten der Bäume, sich dabei gegen einen Baumstamm lehnend. Tohru nahm ihren Hut vom Kopf und nahm neben ihr Platz.

„Möchtest du unseren Schatz wieder einbuddeln?“, fragte sie.

Rin schüttelte den Kopf. Etwas, das sie nun nicht mehr verstecken musste, sollte nicht zurück in die Dunkelheit, das wäre zu grausam.

„In Ordnung. Dann nehmen wir ihn mit“, beschloss Tohru fröhlich.

„Du? Oder ich?“, fragte Rin unverblümt, woraufhin sie beobachten durfte, wie Tohrus Heiterkeit von ihrem Gesicht gewischt wurde.

Sie war nicht gut darin, Dinge in sanfte Worte zu fassen. Es war auch nie etwas gewesen, das Tohru von ihr verlangt hätte, doch in diesem Moment spürte Rin einen schuldbewussten Stich im Herzen.

„Ich dachte, dass wir vielleicht beide…“ Der Rest von Tohrus Aussage ging in einem undeutlichen Nuscheln unter, aber sie reichte aus, um Rin überrumpelt den Atem anhalten zu lassen. Zog sie voreilige Schlüsse, oder hatte Tohru tatsächlich vor…?

„Du meinst, jede nimmt einen Becher mit?“ Rin kam sich herzlos vor, in einer offenen Wunde herumzustochern, doch sie konnte sich nicht davon abhalten. Auch damals, als sie sich von Herzen gewünscht hatte, dass Tohru und Kyo ihre Beziehung beendeten, damit Tohru bei ihr bleiben konnte, waren ihre egoistischen Triebe stärker gewesen. Genau aus diesem Grund hatte Rin weder Haru noch Tohru verdient – und doch ließ sie beide in ihr Leben, ohne Rücksicht auf Verluste.

Tohru schüttelte zögernd den Kopf und ein angespanntes Schweigen legte sich über sie. Rin hielt diesem Stand, aber sie ahnte, dass Tohru eher früher als später nachgeben würde. Und sie irrte sich nicht.

„Ich denke darüber nach, zurückzukehren.“ Es war nicht mehr als ein Wispern, so leise wie der Windhauch, der die Blätter um sie herum rascheln ließ und doch tönten diese Worte wie eine Sirene in Rins Ohren.

Die Welt blieb für einen Sekundenbruchteil stehen und Rin war sich sicher, noch nie im Leben derart flüssige, heiße Euphorie unter ihrer Haut gespürt zu haben – eine alles einnehmende Aufregung, die ihr mehr Kraft gab, als alle Medikamente und Tage im Krankenhaus es jemals getan hatten. Ein gesunder, rosa Schimmer legte sich über ihre Wangen, als sie Tohru wie einen Geist anstarrte.

„Tu es“, sprudelte es aus Rin heraus, bevor sie darüber nachdenken konnte. Tohru lupfte die Mundwinkel, doch das Lächeln blieb dieses Mal nicht haften.

„Es stimmt also“, fuhr Rin fort, als sie dies bemerkte, nicht länger um das Thema herumschleichend. Ein riesiger Teil von ihr war froh und konnte dieses Gefühl nicht bändigen, selbst wenn sie es gewollt hätte. Der andere, winzige hingegen… war fuchsteufelswild. Diese Gefühlsregung spiegelte sich auch auf ihrem Gesicht wider, als sie die Stirn in Falten legte und die Nase kräuselte.

„Er hat dich nicht verdient“, schnaufte Rin.

„Ah, Isuzu-san, es ist nicht so –“, wollte Tohru ansetzen, doch Rin ließ sie nicht. Sie erlaubte ihr nicht, den Schmerz darüber herunterzuspielen. Stattdessen packte Rin ihren dünnen Arm und zog sie ruckartig zu sich. Erschrocken darüber, quietschte Tohru auf und landete unbeholfen mit dem Oberkörper auf Rins Schoß – also genau da, wo Rin beabsichtigt hatte.

„I-Isuzu-san?“, japste Tohru unsicher, doch als sie versuchte, sich aufzurichten, kam Rins Hand behutsam auf ihrem Kopf zum Liegen. Dies ließ Tohru innehalten. Rin wollte keinen Trost, doch es war an der Zeit, um welchen zurückzugeben. Sanft strichen ihre Finger über Tohrus Haarschopf, wobei Rin mit dem Gedanken spielte, die Haargummis ihrer Zöpfe zu lösen und die komplette, geschmeidige Länge von Tohrus Haaren unter ihren Fingerkuppen zu spüren. Sie entschied sich jedoch dagegen, als Tohru ihre Geste annahm und ihre Wange sich gegen Rins nackten Oberschenkel schmiegte. Es war in Ordnung, so wie es war.

„Es ist nicht so schlimm, wie du glaubst, Isuzu-san“, flüsterte Tohru besänftigend. „Aber ich bin froh, dass du mir helfen möchtest. Das bedeutet mir eine Menge.“

Rins Hand fuhr bis zu Tohrus Schulterblättern hinab und wanderte anschließend wieder nach oben, streichelnd und beruhigend.

„Meine Mutter sagte auch immer, dass manche Dinge im Leben nicht so laufen, wie man es sich vorstellt“, fuhr Tohru fort. Sie berief sich nicht zum ersten Mal auf die Worte ihrer Mutter und Rin fragte sich, was Tohrus Mutter von ihr gedacht hätte. Es sollte für sie keine Rolle spielen, aber seit sie sich ihrer Gefühle bewusst war, tauchten diese dummen Gedanken viel zu oft in ihrem Kopf auf.

„Und natürlich hat sie recht. Aber, weißt du, Isuzu-san… ich fühle mich nicht anders als vor zwei Jahren. Ich bin gesund, habe eine wundervolle Beziehung geführt und fühle mich auch jetzt nicht weniger geliebt als damals.“ Tohru drehte sich auf die Seite, um zu Rin hinauf zu schielen, ein sentimentaler Ausdruck in ihren Augen.

„Das liegt daran, dass du geliebt wirst, Dummkopf.“

Kurz weiteten sich Tohrus Augen, ehe sie sich mit Tränen füllten.

„Von dir?“, fragte sie wispernd, was Rins Körper völlig erstarren ließ. Die Hand in Tohrus Haar hielt inne. Sie starrte in die braunen, voller Hoffnung schimmernden Augen und stand dem Abgrund wieder gegenüber – nackt, festgenagelt und ohne Möglichkeit, zu flüchten. Tohrus Gewicht hielt sie wortwörtlich davon ab.

Hitze floss durch Rins Körper, ihr Herz überschlug sich und sie kratzte hartnäckig sämtlichen Mut zusammen, den sie für diesen Augenblick gesammelt hatte.

„Ja“, erwiderte sie. Ein simples Wort, gesprochen mit fester, wenn auch zitternder Stimme – und Rin kam sich vor, als würde sie fallen. Entgegen all ihrer Befürchtungen, war dies kein schlimmes Gefühl. Es war merkwürdig befreiend, sich von aller Kontrolle loszulösen und einmal im Leben keine Angst zu haben. Rins Körper entspannte sich und das Lächeln, mit welchem Tohru sie so oft gerettet hatte, erschien nun auf ihren eigenen Lippen. Warm, glücklich, aufrichtig.

Tohru blinzelte und die Tränen fielen von ihren Wimpern, benetzten ihre Wangen, doch es flossen keine neuen. Stattdessen begann Tohru zu strahlen.

„Ich bin so glücklich, Isuzu-san“, presste sie hervor und setzte sich vorsichtig auf. Rin bedauerte, dass sich Tohru von ihr löste, aber es überraschte sie, dass sie nicht auf Abstand ging. Tohru saß so nah bei ihr, dass sie noch immer ihr Fruchtshampoo riechen konnte.

„Wirklich?“, murmelte Rin hohl, nur um irgendetwas zu sagen, doch sie konnte ihren Blick nicht davon abhalten, sich von Tohrus Augen zu lösen und zu ihren Lippen hinabzuwandern. Es war unmöglich, dies diskret zu tun und ihre Intentionen zu verstecken, weshalb es sie auch nicht wunderte, als Tohru den Mund öffnete und ein niedliches, nervöses Geräusch von sich gab.

Die Luft um sie herum war so schwer, dass Rin den Druck regelrecht auf der Haut spüren konnte, doch zum ersten Mal seit langer Zeit konnte sie frei atmen. Nichts drückte gegen ihre Brust, ihr Kopf war wie leergefegt. Mit einer Leichtigkeit, die sie an Yukis Zustand nach seinem Gespräch mit Tohru erinnerte, beugte sich Rin vor. Es kam ihr vor, als würde Tohrus Kopf ihr zögerlich, aber auffordernd entgegenkommen, aber vielleicht waren dies auch nur die Hirngespinste ihres benebelten Verstandes.

Als sich ihre Lippen berührten, hoben sich Tohrus Mundwinkel minimal und Rin wurde schwindelig, weil sie niemals gedacht hätte, dieses Lächeln jemals schmecken zu können. Ihre Augenlider flatterten zu und ihre Hand fand ihren Weg an Tohrus Hinterkopf, als sie den Druck ihrer Lippen gierig verstärkte. Sie wollte dieses Lächeln verschlingen, es für immer in sich aufnehmen.

Tohru lehnte sich dem Kuss empfangend entgegen und stützte sich sanft auf Rins Schultern ab. Das Gewicht von Tohrus geflochtenen Haaren lag auf Rins Schlüsselbein und ein paar vereinzelte, lose Strähnen kitzelten ihr Dekolleté.

Es war besser, als sie sich in den einsamen Nächten ausgemalt hatte. Es war einfacher und unbeschwerlicher, als ihre Angst ihr hatte weismachen wollen. Tohrus Lippen waren weich und süß und die Einzigen, die Rin küssen wollte.

Vorsichtig und viel zu schnell löste sich Tohru von ihr, doch als Rin die Augen öffnete, war ihr Gesicht immer noch weniger Zentimeter von ihrem entfernt. Tohrus Atem rasselte, steifte ihre feuchten Lippen und sie ließ sich von dem Funkeln in ihren Augen mitreißen.

„I-ich musste nur Luft schnappen!“, erklärte Tohru peinlich berührt das abrupte Ende ihres Kusses. Verdutzt blinzelte Rin sie an, ehe sie prustend den Kopf abwandte und die Hand vor den Mund hielt, um das Gelächter zurückzuhalten.

„W-wa…? Isuzu-san! Ich habe wirklich nur –“, stammelte Tohru und gestikulierte wild mit den Händen.

Um den Moment, den sie sich so lange herbeigesehnt hatte, nicht zu ruinieren, schloss Rin energisch die Arme um Tohru und drückte sie fest an ihren Körper. Schweigend umarmte sie Tohru, bis diese sich unsicher anspannte.

„Isuzu-san? Willst du… das in unserer Schatzkiste vergraben?“, fragte Tohru und Rin lockerte ihren Griff. Sie horchte tief in sich hinein, wobei dies kaum mehr nötig war – Rin war gesprungen, war gefallen und aufgefangen worden. Es gab keinen Grund mehr, um sich vor der Welt zu verstecken.

„Nein“, erwiderte sie erneut einsilbig, doch dieses Mal zitterte ihre Stimme nicht.

„Ich auch nicht“, flüsterte Tohru. „Und eine Karte brauchen wir auch nicht.“

Rin stimmte ihr nickend zu. Tohru und ihr Lächeln würde sie immer und überall finden.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück