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Meeressturm

von

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Wieder und wieder

Mein Herz ist vor Angst verknotet. Gebannt starre ich auf die Zimmertür, hunderte Gedanken im Kopf, wer gleich hereinkommen wird. Keiner davon sieht eine schmale junge Frau voraus, die in ihrem weißen Arztkittel fast seriös aussieht. Bis auf die zartrosa gefärbten Haare, die sie zu einem lockeren Dutt hochgesteckt trägt. Ansonsten verrät nichts ihre Zugehörigkeit zum Kapitol, kein ausfallendes Make-up oder verrückte Kleidung.

Ihr Blick trifft meinen und sie lächelt. „Ah, gut, du bist wach.“

Stumm sehe ich sie an, unfähig ihrer Freundlichkeit zu trauen. Schließlich liege ich gefesselt in einem fensterlosen Raum, nachdem sie mir wer-weiß-was in den Arm gejagt haben.

Die junge Ärztin – sie kann nicht viel älter sein als ich – zückt eine kleine Taschenlampe und leuchtet damit ohne Vorwarnung in meine Augen.

„Gut“, murmelt sie, „sieht aus, als wäre alles in Ordnung.“ Sie steckt das Lämpchen wieder weg. „Schön, ich schicke dir gleich Tia herbei, sie wird sich um dich kümmern, solange du bei uns bist. Mir wurde gesagt ihr kennt euch schon?“

Ich versuche, mich daran zu erinnern, warum mir der Name so bekannt vorkommt. Eine Erinnerung will sich aber nicht aus dem Nebel lösen, deshalb zucke ich mit den Schultern.

Unbeirrt lächelt die Frau. „Na, sonst wirst du sie gleich kennenlernen“ Sie zwinkert mir zu, ehe sie wippenden Schrittes das Zimmer verlässt.

Erleichtert sinke ich auf das Kissen. Erst jetzt spüre ich, dass meine Hände die ganze Zeit über zu Fäusten geballt waren. In der unheimlichen Stille dieses Gefängnisses wünsche ich mir fast Shine zurück, nur um nicht alleine zu sein.

Lange warte ich nicht, denn kurz danach öffnet sich die Tür schon wieder. Meine neue Besucherin ist weit weniger zurückhaltend als die Erste. Von ihrem himmelblauen Haar, über ihre farblich passende Bluse bis hin zu den silbernen Schuhen ist sie gekleidet wie eine Eskorte. Und in dem Moment trifft mich die Erkenntnis. Ich kenne sie tatsächlich!

Die Erinnerung an die „emotionale Beraterin“, wie sie sich selber nannte, habe ich in die hinterste Ecke meines Kopfs verbannt. Bis eben. Mit vor Angst klopfendem Herzen starre ich die Frau an, die mich nach dem Sieg in den Hungerspielen jeden Tag mit Fragen zu dem Erlebten folterte, nur um sich dann eifrig Notizen zu den darauffolgenden Zusammenbrüchen zu machen. Ihr liebliches Lächeln passt so gar nicht zu dem, was ich mit ihr verbinde.

„Hallo Annie. Ich hoffe, du hast mich noch nicht vergessen?“ Sie lacht albern. „Ich hatte gehofft, dich nicht wiedersehen zu müssen, aber manche unserer Sieger brauchen eben besondere Zuwendung. Falls du dich wirklich nicht erinnerst – Ich bin Tia, deine emotionale Beraterin!“ Da ich nichts sage, fährt sie fort. „Du erinnerst dich vielleicht nicht, aber nach Edys Tod hast du einen... Ausfall gehabt. Zu deinem Schutz – und dem der anderen – bist du jetzt hier in unserer Station für Verhaltentherapie.“

Es stimmt nicht, was sie sagt. Ich erinnere mich an alles, an Catos Grinsen, Edys Blut und jeden Schrei, der meine Kehle verlassen hat. Trotzdem sage ich es ihr nicht. Es geht sie nichts an, beschließe ich.

„Keine Sorge, wir sind Spezialisten. Präsident Snow höchstpersönlich hat die Order gegeben, dass dir nur die beste Behandlung zuteilwird. Du wirst schon sehen, bald bist du wieder auf den Beinen.“

Bei dem Klang von Snows Namen werde ich hellhörig. Wenn sogar er seine Finger im Spiel hat, ist es schlimmer als befürchtet. Meine Gedanken gleiten zu Finnick. Ich hoffe inständig, dass es wenigstens ihm gutgeht.

Mit einem Scharren zieht Tia sich Shines Stuhl heran. Nervös mustere ich sie. Was wird sie mir jetzt antun? Mich unter Drogen setze, bis ich alles vergesse?

„Da die Spiele laufen und du Mentorin bist, haben wir leider nicht allzu viel Zeit. Es tut mir leid, aber die Zeiten der sanften Methode sind vorbei. Wir müssen uns deinen Ängsten stellen.“

Während sie spricht, zieht sie ein kleines Gerät hervor. Auf einen Knopfdruck hin erwacht die Wand gegenüber meines Betts sprichwörtlich zum Leben. Es stellt sich heraus, dass sie in Wirklichkeit eine geschickt verborgene Leinwand ist. Wo bis eben vermeintlich weißer Putz war, sehe ich jetzt Caesar Flickerman und Claudius Templesmith in ihrem Studio.

Ich presse die Lippen fest aufeinander. Wird sie nun enthüllen, was geschehen ist, solange ich ohnmächtig war?

„Claudius, heute war ein wundervoller Tag, nicht wahr? Wir haben die 74. Hungerspiele eröffnet und ich kann nur sagen, es war ein Fest! Falls sie die Eröffnung nicht sehen konnten, verzagen sie nicht, wir haben hier eine Zusammenstellung der Highlights, extra für Sie!“

Anscheinend sind die Spiele längst nicht vorbei. Wieder erblicke ich die unberührte Arena mit den 24 Tributen auf ihren Sockeln. Obwohl ich weiß, was kommt, versteifen meine Muskeln sich. Von der Seite her betrachtet die Ärztin mich prüfend und pausiert dann die Aufnahme.

„Gemeinsam werden wir die bisherigen Geschehnisse der Spiele durchgehen, Stück für Stück. Sobald du eine Attacke hast, werden wir einen Gegenimpuls schicken.“

Wenn möglich beiße ich die Zähne noch fester zusammen. Von mir soll sie kein Wort hören. Das scheint sie ohnehin nicht zu interessieren, denn sie fährt ungerührt damit fort, mir kleine Metallplättchen an Schläfen und Handgelenk zu kleben. Ich betrachte sie skeptisch, aber mir wird nicht erklärt, wozu sie dienen. Zum Schluss zwingt sie mir ein merkwürdiges Gummistück in den Mund, das meine Zunge nach unten drückt, egal wie sehr ich dagegen drücke.

„Gut, dann legen wir los.“ Ihre Stimme klingt so fröhlich, als wollten wir zu einem Picknick losziehen.

Erneut zählt der Countdown runter. Drei, zwei, eins. Kurzzeitig bin ich versucht, einfach die Augen zu schließen. Dann fällt mir ein, dass sie mich dafür vermutlich bestrafen würde und ich lasse es bleiben.

Alles wiederholt sich. Das Flammenmädchen und der Junge aus Distrikt neun, die um einen Rucksack kämpfen. Cordelia, die der Tributin aus Zehn den Speer in die Brust rammt. Zu wissen, was passieren wird, macht es nicht weniger schlimm. Mein Herz schlägt so schnell, wie in der Arena, auf der Flucht vor den Karrieros. Ich warte nur auf den Moment, wo es geschieht.

Anders, als bei der Liveübertragung, werden in diesem Zusammenschnitt nicht sämtliche Perspektiven gezeigt, sondern nur die aufregenden Ereignisse. Bei der Eröffnungsfeier habe ich längst nicht alles mitbekommen, wie sich herausstellt.

Der Junge aus Distrikt drei zum Beispiel versteckt sich hinter einem Stapel Kisten und Peeta aus Zwölf läuft ebenfalls nicht vom Füllhorn weg. Er rennt nach vorne, zu den Waffen. Auf halber Strecke kollidiert er mit dem Mädchen aus Distrikt sieben und fast glaube ich, dass er sterben wird.

Mit bloßen Fäusten schlägt sie auf ihn ein. Den Atem angehalten verfolge ich, wie er sie niederringt, doch es gelingt ihr, ihm eine Platzwunde an der Stirn zu verschaffen, bevor er ihr den Arm auf den Rücken dreht und sie, zu meiner Verwunderung, liegen lässt. Er zieht ein Messer aus dem Rucksack, den sie bei sich trägt, und rennt weiter vor zum Füllhorn, während rechts und links die Tribute von den Karrieros niedergemetzelt werden.

Cato, der Fleißigste von allen, schlitzt Kehlen auf, sticht in Herzen und schlägt Köpfe ein. Er lässt gerade erst von seinem letzten Opfer ab – dem Jungen aus Sechs, sein Blut tropft noch von der Schwertklinge – da fokussieren sich die Kameras auf Edy, der den Speer aus der Halterung gerissen hat.

Ich schaue direkt in die Augen eines Toten. Es ist das letzte Mal, dass ich sie sehen werde und der Blick in ihnen ist angsterfüllt. Ein Knoten schnürt mir die Kehle zu, obwohl ich am liebsten seinen Namen schreien möchte, ihn vor Cato warnen will.

Wie schon beim ersten Mal passiert alles rasend schnell. Der Karriero dreht sich um, stapft ins Füllhorn und erspäht Edy auf dem Boden. Mit einer brutalen Bewegung fährt sein Schwert herab.

In meinem Inneren entfesselt sich der Sturm von neuem. Trauer, Furcht und Wut wirbeln durch mich, rasen mir die Kehle hinauf und entladen sich in einem einzigen, langgestreckten Schrei, trotz des Gummistücks im Mund.

Als er endlich verklingt, liege ich schweißüberströmt da, das Rauschen von Blut in den Ohren. Die lächerliche Psychologin sitzt still an meinem Bett und betrachtet mich ausdruckslos.

Auf der Leinwand ist der Moment von Edys Tod eingefroren, eine zusammengesackte Gestalt mit rotblonden Locken in einem See aus Blut. Bei diesem Anblick versucht ein neuer Schrei aus mir hervorzubrechen, aber meine Stimmbänder versagen und mir entkommt nichts, außer eines jämmerlichen Krächzens.

„Annie, du wusstest, was passieren würde“, meldet sich Tia zu Wort, „und trotzdem schaffst du es nicht, diese Szene anzusehen. Was fühlst du, wenn du diese Szene siehst?“ Erwartungsvoll sieht sie mich an.

Ich wende den Kopf ab. Alles, ich empfinde einfach alles. Da ich keine Antwort hervorbringe, spult diese angebliche „emotionale Beraterin“ die Szene zurück. Wieder werde ich Zeugin von Catos Mord. Tränen strömen mir über die Wangen, denn mein Hals wird von den vielen Schreien wund. Es fühlt sich an, als müssten die Schreie mich von innen heraus zerreißen, da drückt die Ärztin erneut einen Knopf auf ihrer Fernbedienung.

Die Szene stoppt jedoch nicht. Gleißende Schmerzen schießen stattdessen durch meine Glieder und ich weiß nicht mehr, ob es Laute der Trauer oder Qual sind. Dafür sind die Metallplättchen also. Jeder Nerv steht in Flammen. Ich werfe mich gegen die Fesseln, ohne Erfolg.

„Lass deine Gefühl gehen!“, verlangt Tia herrisch.

Wieder lässt sie die Szene abspielen. Ein blitzendes Schwert und Edys Leben endet zum vierten Mal, auch wenn ich die Augen im letzten Moment fest verschließe. Derselbe Schmerz wie eben rast durch meinen Körper.

„Was empfindest du?“ Voller Ungeduld feuert sie die Worte auf mich ab und drückt im gleichen Atemzug schon den Wiederholungsknopf.

Das Geräusch von Edys Tod, ein merkwürdig feuchtes Reißen, klingelt mir in den Ohren. Ich will meine Hände auf sie drücken, doch die Fesseln schneiden nur schmerzhaft in die Gelenke ein. Frustriert schreie ich wieder, trotz der brennenden Kehle, die von Muschelsplittern erfüllt zu sein scheint. Aber dieser Schmerz ist nichts im Vergleich zu dem Feuer, das die Psychologin durch mich schickt.

Mir entgleitet die Kontrolle über meinen Körper und er bäumt sich verzweifelt auf, in dem Versuch, den Qualen zu entgehen. Vor meinen Augen explodieren rote Lichter.

FINNICK!“

Alles was ich will, ist seine Umarmung zu spüren. Er würde mich vor diesen Schmerzen retten.

Am Rande des Bewusstseins registriere ich einen kaum wahrnehmbaren Stich und dann greifen Nebelfinger wieder nach meinen Gedanken. Dieses Mal fühlt es sich nicht schön an, sondern wie ertrinken. Mit letzter Kraft wehre ich mich dagegen und schaffe es geradeso, nicht in die Wogen zu gleiten. Die Sicht verschwimmt und meine Zunge gleicht einem nassen Lappen, aber ich bin nicht ohnmächtig. Verschwitzt liege ich auf dem Rücken. Die Droge rast durch meine Adern und löscht das Feuer der Schmerzen aus.

„Es... zerreißt mich“, bringe ich umständlich hervor.

„Wie bitte?“

„Wenn... ich es... sehe, zerreißt es...“ Die paar Worte kosten unendlich viel Mühe, auch wegen des Gummis auf der Zunge. „Es zerreißt mich... im Herzen.“ Ich glaube nicht, dass Tia das versteht. Aber wenn meine Antwort der einzige Weg aus dieser Qual ist, dann bleibt mir nichts anders als die Wahrheit.

„Tut dein Herz wirklich weh, oder rein gedanklich?“, fragt sie mit eifrigem Interesse.

„Beides.“

„Schön, schön“, höre ich sie murmeln, „das kriegen wir in den Griff. Alles eine Frage der Dosis. Jetzt sind die Schmerzen weg, nicht wahr?“

Ich horche in mich hinein und tatsächlich, alles verschwindet wieder hinter einer dicken Decke aus Gleichgültigkeit. Langsam nicke ich.

„Gut. Dann ruhe dich jetzt aus.“

Scharrend schiebt sie den Stuhl zurück. Ihre klappernden Absätze entfernen sich und die Tür fällt hinter ihr ins Schloss, genau in dem Moment, da ich in den Schlaf gleite. Dieses Mal ist er erfüllt von Albträumen.
 

Sobald ich erwache, steht Tia wieder an meinem Bett. Wie lange ich geschlafen habe, kann ich nicht sagen. Es können Stunden sein, oder nur Minuten. Zumindest trägt sie immer noch dieselbe Kleidung.

„Wunderbar, du bist wach, dann können wir ja weiter machen.“

Edys Tod wiederholt sich, wieder und wieder und wieder. Irgendwann nach dem achten Mal verliere ich den Faden und weiß nicht mehr, wie oft sie mich damit gequält hat. Meine Welt besteht ausschließlich aus Schreien und Schmerzen. Wenn es nicht länger erträglich ist, kommt die Erlösung in Form einer Spritze.

Von Mal zu Mal wird die Wirkung allerdings schwächer, bis die langersehnte Linderung ausbleibt und mich nur eine Woge der Trägheit lähmt. In meinem Kopf wummert der Schmerz, selbst wenn Tia die Metallplättchen nicht aktiviert. In einem scheint das Kapitol aber recht zu behalten - mit jedem Mal dränge ich die Gefühle weiter zurück. Die Schreie werden leiser und versiegen schließlich endgültig, aus Angst vor neuer Pein. Auch die Tränen trocknen schneller und mit ihnen verschwindet der Schmerz, bis er nicht mehr als ein kurzer Schock ist, der daran erinnert, was das Kapitol von mir erwartet.

Lautes Klappern neben mir lässt mich instinktiv zusammenzucken. Ich erwarte weitere Folter, aber sie bleibt aus. Stattdessen sehe ich eine strahlende Tia applaudieren. Ihre rasselnden Armreifen sind die Ursache des scheppernden Geräuschs.

„Sehr gut“, lobt sie.

Irritiert sehe ich sie an, bis mir klar wird, dass eben erneut Edys ablief. Nur, dass meine Wangen trocken geblieben sind und ich teilnahmslos hingesehen habe, erschöpft von den pausenlosen Schmerzen.

Die Bilder haben sich ohnehin in mir eingebrannt, mitsamt allen Details. Jede Sommersprosse auf Edys Gesicht, jeder Blutstropfen auf Catos Kleidung. Doch ich habe keine Kraft mehr, um zu reagieren. Anscheinend ist das meine Rettung.

„Fürs erste sind wir fertig“, verkündet die Psychologin.

Sobald sie weg ist, wird mir klar – es gibt etwas Schlimmeres als die Karrieros. Ja, sogar schlimmer als die Hungerspiele. Die Macht des Kapitols.

 

Die Nacht über – oder zumindest glaube ich, dass es Nacht ist – werde ich in Ruhe gelassen. In meinem Zimmer ist es stockdunkel, bis auf das rote Licht an der Kamera. Erst nach Stunden bekomme ich wieder Besuch, dieses Mal von der Ärztin mit den rosa Haaren. Bei ihrem Anblick atme ich erleichtert auf. Sie trägt ein Tablett in den Händen, auf dem eine dampfende Schüssel und ein Glas Wasser stehen. Ein himmlischer Geruch steigt davon auf und zum ersten Mal seit einer Ewigkeit fühle ich etwas anderes außer Schmerzen und Müdigkeit.

„Du bist bestimmt hungrig“, sagt sie mit dem gleichen sanften Lächeln wie bei unserer ersten Begegnung. „Ich dachte, ich bringe dir was aus der Kantine. Es gibt Besseres, aber es macht satt.“

Dankbar nicke ich. Die Furcht ihr gegenüber ist für den Moment besänftigt. Was könnte sie mir schon Schlimmeres antun als Tia?

Sie platziert das Tablett recht wacklig auf meinen Beinen und ich erkenne geradeso, dass Eintopf mit Gemüse in der Schüssel ist. Speichel sammelt sich an dem Gummistück im Mund, das ich bereits vergessen habe.

„Lass mich dir helfen.“ Die Frau nimmt mir das Stück ab und dann – mein Herz macht einen Hüpfer – löst sie die Fesseln an den Händen.

Am liebsten will ich gierig das Essen herunterschlingen, aber ich halte inne, aus Angst, dafür bestraft zu werden. Ich warte ab, was die Besucherin tut, doch sie setzt sich nur an mein Bett und sieht mich erwartungsvoll an.

„Magst du keine Suppe?“

Ich schüttle schnell den Kopf und greife mit zittriger Hand nach dem Löffel. Der erste Bissen schmeckt himmlisch. Fast so gut wie das Essen am Ende eines anstrengenden Tags auf hoher See.

„Oh wie unhöflich von mir“, sagt die Frau plötzlich, „ich hab mich noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Dr. Gaia Gaul, aber du kannst mich gerne Gaia nennen.“

Aus dem Augenwinkel betrachte ich sie und frage mich, ob sie ebenfalls Menschen foltert. Ihr herzförmiges Gesicht mit den strahlenden Augen wirkt zu freundlich dafür. Andererseits geben sich Leute wie Tia oder Cece auch immer fröhlich. Und sie arbeitet für das Kapitol.

„Ich arbeite erst seit kurzem hier, bin frisch von der Akademie“, plaudert sie vergnügt weiter, als würde mir das irgendwas sagen.

Stumm löffle ich die Suppe, bis nicht einmal die kleinste Pfütze übrig bleibt.

„Danke“, flüstere ich heiser. Zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit höre ich meine Stimme und erschrecke darüber, wie rau sie klingt.

„Kein Problem“, entgegnet Dr. Gaul, „du schlägst dich tapfer, habe ich gehört. Da hast du es dir verdient.“

Draußen auf dem Gang höre ich Schritte. Ob das Tia ist?

„Wann darf ich zurück?“, frage ich schnell.

Dr. Gauls Blick wandert an mir vorbei in Richtung Tür.

„Bald, wenn du dich weiter so gut schlägst.“ Ihre Stimme erscheint mir eine Spur höher als eben. „Entschuldige, aber ich muss dich jetzt wieder festmachen ... bevor deine Therapie weitergeht.“

Nur widerwillig lasse ich mich am Bett festketten. Nach der frischen Brühe schmeckt das Gummistück umso widerlicher. Enttäuscht sehe ich Dr. Gaul hinterher, die eilig aus dem Zimmer schlüpft. Erst jetzt, wo sie weg ist, fällt mir auf, dass das rote Licht an der Kamera nicht mehr leuchtet.
 

Es dauert eine Weile, bis Tia auftaucht. Mit meiner Vermutung, dass eine Nacht vergangen ist, liege ich wohl richtig, denn sie trägt jetzt ein hellgelbes Kleid. Sonst hat sich nichts geändert. Sie nimmt am Bett platz, zückt ihre Fernbedienung und die Leinwand erwacht.

Ich fürchte schon, erneut Edys Tod zu sehen, aber stattdessen zeigt sie mir eine andere Szene. Die Karrieros und Cordelia stehen vor den letzten Überlebenden des Blutbads am Füllhorn, die sie in ihrer Mitte zusammengetrieben haben – darunter auch Peeta, der übel zugerichtet aussieht. Aber er hält immer noch das Messer von dem Mädchen aus Sieben in der Faust, im Gegensatz zu den beiden Jungen neben ihm. Die sind vollkommen unbewaffnet. Ich ahne, dass die Karrieros sie nicht gehen lassen werden.

Mein Blick gleitet weiter zu Cordelia. Getroffen starre ich in ihr Gesicht. Ihre Augen sind gerötet und ich erinnere mich an ihr Versprechen gegenüber Edy. Die Freude, sie lebend zu sehen, verlischt angesichts ihres Schmerzes. Teilnahmslos sieht sie zu den Gefangenen, als würde nichts davon sie interessieren.

Cato allerdings hat den Ausdruck eines hungrigen Raubtiers, mit dem er die Tribute begutachtet, wie sie im Gras vor ihm knien. Nur Peeta nicht, der darf zumindest stehen. Macht er etwa gemeinsame Sache mit den Karrieros? Er scheint kein Gefangener zu sein, sonst hätte er nicht das Messer in der Hand. Aber warum? Was ist mit Katniss?

Cato mustert die Jungen der Reihe nach und dreht abwägend das Schwert in der Hand. Die Furcht vor dem Unbekannten erwacht in mir. Was wird gleich schreckliches geschehen? Es muss furchtbar sein, denn sonst würde Tia es mir nicht zeigen. In meinem Magen rumort es und ich bereue es, die Suppe gegessen zu haben.

„Ich kann mich nicht entscheiden, wen ich zuerst umbringen soll“, sagt er höhnisch. „Was meint ihr?“, wendet er sich an seine Truppe, „wem gebührt die Ehre?“

Auf den Lippen seiner Partnerin Clove zeichnet sich schon ein Lächeln ab, da schreit der Junge aus Distrikt drei auf.

„Bitte, ich kann euch helfen!“

„Du willst uns helfen?“ Die Blonde aus Distrikt eins bricht in Gelächter aus. „Womit? Du hast doch schon bei den Interviews fast geflennt.“

„Nein wirklich, ich kann – die Bomben! Ich kann die Bomben ausgraben, ich weiß, wie man das macht, ohne, dass sie explodieren!“

„Ja klar, als ob das geht.“ Abwertend kichern die Karrieros.

„Nein wirklich!“, beteuert der Junge. „Ich hab daheim in einer Fabrik gearbeitet wo wir sowas hergestellt haben.“

„Und was gibt uns die Sicherheit, dass du sie nicht einfach gegen uns verwendest? Wir haben Waffen, da brauchen wir keine Bomben.“ Clove schüttelt den Kopf.

Da geht Peeta dazwischen. „Denkt doch mal nach!“, fordert er aufgebracht. „Die Bomben sind in der Erde vergraben. Was, wenn sie an einer anderen Stelle wieder vergraben werden? Rund ums Füllhorn? Wenn jemand ins Lager einbrechen will dann –“, er deutet mit seinen Händen eine Explosion an, „eine Sorge weniger.“

Also macht er wirklich gemeinsame Sache mit den Karrieros. Die Erkenntnis liegt schwer in meinem Magen, wie ein Stein. Wozu die ganze Liebesgeschichte in den Interviews? Ist alles nur gelogen?

Cato hält inne und mustert den Jungen aus Drei mit neugewonnenem Interesse. „Geht das? Du gräbst sie aus und dann können wir sie wieder vergraben?“

Der schmächtige Tribut nickt heftig.

„Hm, nicht schlecht.“ Cato wendet sich an den zweiten Jungen. „Und du?“

Hilflos schaut der Angesprochene in die Runde. „I-ich... kann... kämpfen?“ Seine Stimme verklingt leise. Die Karrieros aus Eins und Zwei brechen in Gelächter aus.

„Ich glaube eher nicht.“ Mit einem breiten Grinsen im Gesicht sieht Cato sich in seiner Anhängerschaft um. Sein Blick kommt auf Peeta zur Ruhe.

„Mir fallen da zwei Leute ein, die sich noch ein bisschen mehr anstrengen könnten“, verkündet er. „Du“, er zeigt mit der Schwertspitze auf Peeta, „und du!“ Er deutet auf Cordelia. „Nur los, ich schenk ihn euch. Verdient euch euren Platz.“

Für einen Moment kreuzen sich Peetas und Cordelias Blicke. Keiner von beiden sieht willens aus, den Jungen zu töten. Im Hintergrund gucken sich die Tribute aus Eins kichernd an.

„Ich würd schon gern sehen, wie Loverboy jemandem den Garaus macht. Ich glaub, er hat’s gar nicht in sich.“

Cordelia wirft einen vernichtenden Blick in ihre Richtung und schnappt sich ihren Speer. Sie tritt vor den knienden Tribut, der am ganzen Leib zittert. Er ist so verängstigt, dass er nicht einmal versucht zu fliehen.

„Bitte“, wimmert er, ignoriert von allen.

Peeta beugt sich überflüssigerweise zu ihm herab und hält ihn an der Schulter fest. Trotz der Blutergüsse in seinem Gesicht erkenne ich, wie sehr ihm diese Situation zuwider ist.

Mein Körper versteift sich und obwohl Tia noch keinen Knopf gedrückt hat, fühle ich den Schmerz näherkommen.

„Nur, dass du es weißt, Cato“, sagt Cordelia kalt, „Zehn ging auf mein Konto.“

Ihr Speer fährt in den Leib des Jungen, direkt ins Herz. Der Kanonendonner ertönt, bevor sie ihn herausgezogen hat.

„Gern geschehen.“

Ein eisiger Schauder läuft meinen Rücken herab. Die Schreie aber halte ich diesmal mit fest zusammengebissenen Zähnen zurück. Nur ein paar einzelne Tränen laufen die Wangen hinab und der heiße Schmerz erinnert mich, dass ich stärker sein muss. Wenigstens lebt Cordelia, dieser Gedanke hilft.

Sie wirft ihre Haare über die Schulter und verschwindet zurück ins Füllhorn. Auf Catos Gesicht aber zeichnet sich dasselbe brutale Lächeln ab, dass er schon vor den Interviews hatte. Er wendet sich an Peeta.

„Tja Loverboy, deine Heldentat steht noch aus. Los, hilf Drei beim Ausbuddeln, dann machst du dich wenigstens nützlich. Aber pass auf deine Finger auf!“

Lachend ziehen sich die übrigen Karrieros zurück und beobachten aus sicherer Entfernung, wie Peeta und der Junge aus Distrikt drei sich an die Arbeit begeben, die Bomben rund um die 24 Podeste auszugraben.

Die Aufnahme kommt zu einem Stopp.

„Ich bin stolz auf dich, Annie. Es scheint, dass unsere erste Lektion schon gefruchtet hat.“ Die Psychologin klatscht aufgeregt in die Hände. „Oder ist der Tod des Jungen aus Distrikt fünf weniger schlimm?“

Hat sie mich das gerade wirklich gefragt? Ich schüttle den Kopf.

„Und doch bist du vermutlich erleichtert, dass Cordelia noch lebt?“

Ehrlich nicke ich. Tias Zähne blitzen bei ihrem Lächeln auf.

„Das ist die richtige Einstellung! Fokussiere dich darauf, nicht auf jene, die zu schwach zum Überleben sind! Nur dann kannst du zu einer besseren Mentorin werden.“

Sie tätschelt meinen Handrücken und trotz der Fesseln zucke ich zurück, so weit möglich. Zwischen ihren Augenbrauen zeichnet sich eine Falte ab, mehr lässt sie sich nicht anmerken.

„Kommen wir zur nächsten Szene.“

Anstelle des Füllhorns sehe ich die Karrieromeute, die durch den Wald streift. In der Arena ist es tiefe Nacht, doch Cato und der Junge aus Distrikt eins tragen jeder eine Fackel, die ihnen Licht spendet. Die anderen haben Taschenlampen dabei. Ihre gezückten Waffen zeigen – sie sind auf der Jagd.

In der Ferne scheint das Mädchen aus Eins etwas entdeckt zu haben, denn sie deutet aufgeregt zu einer Stelle zwischen den Bäumen. Dank eines geschickten Schnitts sehen wir Zuschauer, dass es sich um die Tributin aus Distrikt acht handelt, welche neben einem kleinen Lagerfeuer schläft.

Die Karrieros formen einen Halbkreis und nähern sich dem Lager, ohne sich Mühe zu geben, leise zu sein. Immerhin sind sie in der Überzahl. Als das Feuer in Sicht kommt, rennen sie los.

Ihr Opfer erwacht viel zu spät, da ist sie längst umstellt. In Panik fleht sie darum, verschont zu werden, aber ihre Worte stoßen auf taube Ohren. Innerlich stähle ich mich dafür, ihren Tod mit anzusehen. Hoffentlich machen sie kurzen Prozess. Hoffentlich ist es nicht wieder Cordelia. Ich will nicht, dass sie zu einer gewissenlosen Mörderin wird.

Der erste, der sie erreicht, ist der braunhaarige Junge aus Distrikt eins. Ich erinnere mich urplötzlich daran, ihn auf der Siegestour gesehen zu haben. Er hat es also wirklich geschafft. Wie erwartet packt er das Mädchen und rammt ihr sein Schwert in den Oberkörper. Mit einem Knacken bricht irgendein Knochen.

Mir ist speiübel. Ich konzentriere mich ganz auf dieses Gefühl, versuche, es im Zaum zu halten. Bloß nicht übergeben. Beim Anblick der klaffenden Wunde, unterlegt von dem Jubelschrei des Jungen, kann ich es nicht länger zurückhalten. Heftig würgend krümme ich mich. Tia entreißt mir das Mundstück, bevor ich ersticke, und ich erbreche geräuschvoll auf den Fußboden.

„Es ist noch nicht vorbei“, höre ich meine ärztliche Foltermeisterin sagen.

Verwirrt sehe ich zurück auf die Leinwand. Ist in der Nähe ein weiterer Tribut? Erst, als die Karrieros es aussprechen, fällt es auch mir auf.

Die Kanone hat nicht gedonnert. Das Mädchen aus Acht lebt noch. Zu meiner größten Überraschung ist es Peeta, der auf einmal sagt „Ich gehe zurück und erledige sie und dann nichts wie weiter!“

Falls ich dachte, es würde nicht schlimmer kommen, lag ich falsch. Ein neuerlicher Perspektivwechsel offenbart Katniss, hoch oben in einem Baumwipfel in einen Schlafsack gerollt, die alles mitangehört hat. Selbst im Dunkel der Nacht erkenne ich die Wut in ihrem Gesicht. Auch sie hat nichts von Peetas Seitenwechsel geahnt.

Der unterdessen, kehrt zu dem Lager der Tributin aus Acht zurück, die röchelnd in einer Blutlache auf dem Waldboden liegt. Er kniet sich neben sie. Ich keuche überrascht auf, denn er greift nach ihrer Hand.

„Es tut mir so leid“, wispert er kaum vernehmbar. „Du hast es gleich geschafft.“

Blut quillt aus ihrem Mund und sie sieht ihn an. Anstatt sie zu töten, hält er ihre Hand, bis das Licht in ihren Augen erlischt.

Der Schmerz macht mich darauf aufmerksam, dass ich heftig schluchze. Dieses Mal allerdings nicht wegen des toten Mädchens, sondern wegen Peeta, der, genau wie Edy, zu sanft für diese Spiele ist.

Tia betrachtet mich scharf. „Was ist an diesem Tod anders?“, fragt sie und klingt unverhohlen verwundert.

Ich schaffe es nicht, ehrlich zu sein. Sie würde es eh nicht verstehen. „Mehr Blut“, antworte ich schlicht.

Sie nickt und lässt mich das Ganze ein weiteres Mal ansehen. Jetzt bin ich vorbereitet und behalte meine Trauer wie durch ein Wunder in mir.

„Ausgezeichnet, dann können wir ja bald zum nächsten Thema übergehen“, verkündet sie vergnügt. „Fürs erste war das alles, was in der Arena passiert ist.“

„Kann ich nicht einfach ... gehen?“

„Nun, wir wollen nichts übereilen. Etwas Festigung scheint mir angebracht. Aber keine Sorge, ich weiß schon, wie wir das hinkriegen.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: irish_shamrock
2021-05-08T08:46:47+00:00 08.05.2021 10:46
Hallo Coronet,

du lässt die arme Annie ganz schön leiden, und beinahe hätte ich mich mit ihr um die Wette erbrochen. Tia ist ein teuflisches Miststück und scheint sich unverholen an dem Leid anderer zu weiden, nur wird es als "Therapie" deklariert.
Ich bin mir noch uneins, was Dr. Gaul (he he he ... wohl die Enkelin und ich hoffe weniger sadistisch) betrifft. Allerdings glaube ich, dass auch ihre vermeintliche Freundlichkeit nur Fassade ist.
Ich muss dich loben, denn du steckst so viel Herzblut in diese Geschichte und versuchst die Geschehnisse so anschaulich und wortreich zu beschreiben, dass das Lesen nicht langweilig wird.
Ich bin wirklich gespannt, was das nächste Kapitel zu bieten haben wird.

Bis dahin, ein schönes Wochenende dir und ganz liebe Grüße,
irish C:
Antwort von:  Coronet
13.05.2021 18:11
Liebe irish,

ja, ich fürchte diese Kapitel gehören zu den unschöneren in der Geschichte.
Hehe, bei Dr. Gaul konnte ich einfach nicht widerstehen! Ursprünglich hatte sie mal einen anderen Namen, aber ich kann es einfach nicht lassen, Anspielungen auf Panem X einzubringen. Da freue ich mich immer, wenn das auffällt :D Lädt ja auch geradezu zu Spekulationen über ihre Gesinnung ein.
Ich freue mich wirklich sehr über dein Lob! Die Geschichte ist in der Tat mein absolutes Herzensprojekt derzeit und jeder Kommentar von dir ist Balsam für die Seele :)

Viel Spaß dir beim Lesen von dem neuen Kapitel und auch schon einmal ein schönes Wochenende!
Coro


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