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Meeressturm

von

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Machtlos

„Edy wir sehen uns bald wieder, versprochen!“

Die letzten Worte von Cordelia, bevor sie zur Arena gebracht wurde, gehen mir nicht mehr aus dem Kopf. Wie ein Echo hallen sie durch meine Gedanken, als wir Mentoren längst auf einer Tribüne am Korso sitzen und die Eröffnung der 74. Hungerspiele erwarten. Auf der großen Leinwand über der breiten Straße läuft ein Countdown. Nur wenige Minuten, bis die Sendung beginnt. Ich denke an unsere Tribute, die jetzt in den gefliesten Räumen unterhalb der Arena warten. Ist es wirklich schon so weit? Es kommt mir vor wie gestern, dass wir im Trainingscenter angekommen sind. Und gleichzeitig habe ich das Gefühl, Cordelia und Edy ewig zu kennen. Ich wollte es nicht, aber sie sind mir ans Herz gewachsen. Wie Pon.

Die Tribüne ist randvoll mit Mentoren, Stylisten und Gästen des Kapitols. Hinter den Absperrungen drängen sich hunderte Bürger, ausgestattet mit Fähnchen und Spielzeugwaffen. Von überall sind Kameras auf uns gerichtet, um die Reaktionen auf das Blutbad einzufangen. Obwohl die Sommersonne uns wärmt, durchläuft mich alleine beim Gedanken daran ein eisiger Schauer. Meine Finger klammern sich fester an die kleine Handtasche mit der einzelnen Morfixspritze.

„Für alle Fälle“, wie Cece gesagt hat. Am liebsten würde ich es jetzt schon nehmen, denn mein Herz schlägt so schnell, dass ich glaube, es zerreißt mich. Der Anblick der Mentoren aus Distrikt sechs in der Reihe vor uns erinnert allerdings an die Gefahren des Medikaments. Wenigstens sitze ich neben Floogs, dessen Anwesenheit ein bisschen beruhigt. Lieber wäre mir Finnick, doch den hat Cece ans andere Ende der Sitzreihe verfrachtet. Ob bewusst oder nicht kann ich nicht sagen. Vielleicht will er es so? Seit er heute früh wieder im Trainingscenter aufgetaucht ist, haben wir kein Wort miteinander gewechselt.

Selbst jetzt sieht er nicht zu mir herüber, sondern plaudert mit Beetee, der neben ihm sitzt. Seine Haare glänzen bronzen in der Sonne, als er lachend den Kopf in den Nacken wirft, und ich fühle einen Stich in meinem Magen. Liegt es an Titania Creed? Der Gedanke kommt unvorbereitet. Schließlich ist sie seine neuste Verpflichtung. Ich schelte mich sofort für diese Überlegung.

Nein, rede ich mir gut zu, du weißt, wie sehr er diese Menschen hasst. Es ist nur eine Rolle, die er spielt – spielen muss. Doch der Zweifel nagt weiter im Herz. Warum nur hat er dich heute nicht einmal angesehen? So unmittelbar habe die Reihen an Liebschaften nie zuvor gesehen und es fällt mir schwer, die ungewollten Bilder zu vergessen.

Egoistischerweise wünschte ich, dass Finnick von Cece gefordert hätte neben mir zu sitzen, damit er meine die Hand hält, anstelle von Floogs. Der versucht zumindest sein Bestes, indem er und Amber mich auf die verrücktesten Outfits der Zuschauer um uns herum aufmerksam machen. Dankbar lächle ich ihnen zu.

Auf einer Bühne unterhalb der Leinwand beziehen mittlerweile Caesar Flickerman und Claudius Templesmith Stellung. Ausnahmsweise kommentieren sie nicht aus dem Studio, sondern unter freiem Himmel. Rechts und links davon werden in Echtzeit die Wettquoten und Vitalfunktionen der Tribute angezeigt. Hinter Edys Namen sehe ich, wie sein Puls rast. Damit ist er nicht alleine, selbst die Karrieros sind unruhig. Bei ihnen ist es wahrscheinlich Vorfreude.

„Meine Damen und Herren, es ist soweit!“ Caesars verstärkte Stimme schallt über den Platz. „Machen Sie sich bereit, wir fangen jeden Moment an!“ Das Publikum bricht in Jubelschreie aus. Grinsend nimmt das Moderatorenduo den Applaus auf.

Ein Angestellter des Fernsehsenders gibt uns ein Handzeichen, dann werden die Kameras eingeschaltet und wir sind live.

„Guten Morgen Panem“, brüllt Caesar, „ich heiße Sie herzlich willkommen zur Eröffnungszeremonie der 74. alljährlichen Hungerspiele! Wieder ist ein Jahr um und das spannendste Event des Jahres steht an! Von heute an wird sich das Schicksal unserer 24 Tribute entscheiden. Wer wird leben, wer sterben?“

Die Zuschauer aus dem Kapitol wedeln wie wild mit ihren Fähnchen, auf denen die Siegel ihres favorisierten Distrikts prangen. Einige haben sogar Plakate mit den Gesichtern ihrer Lieblinge und Sprüchen wie „Möge das Glück stets mit Distrikt eins sein“ oder „Katniss und Peeta für immer“ angefertigt. Ich zähle erstaunlich viele Fans der beiden Tribute aus Zwölf. Auf den Schultern eines großgewachsenen Mannes sitzt sogar ein Mädchen, keine zehn Jahre alt, das ein offenbar selbstgemachtes Flammenkleid trägt. Aber es gibt auch Unterstützung für Cordelia und Edy. Roans lächerliche Paradenoutfits scheinen einigen im Kapitol so gut gefallen zu haben, dass sie die Kronen unserer Tribute nachgebastelt haben. Mich beschleicht das Gefühl, dass sie alle nur zum Spaß und Verkleiden hergekommen sind. Ob überhaupt einer von ihnen realisiert, dass in wenigen Minuten die Leben von ein paar Kindern für immer beendet werden?

Bevor es richtig losgeht, stellen die Moderatoren ein letztes Mal die Tribute vor und Highlights von der Ernte bis zu den gestrigen Interviews werden gezeigt. Gänsehaut erfasst mich, als ich erneut zuschaue, wie Cordelia und Edy sich freiwillig melden. Ihre stolzen Gesichter scheinen weit in der Vergangenheit zu liegen.

„Also dann, wer von ihnen will die neue Arena sehen?“ Lautes Geschrei beantwortet Caesars Frage. Lachend sieht er Claudius an. „Also, was meinst du, sollen wir es enthüllen?“

„Wir?“, fragt dieser zurück. „Nein, ich denke“, er zieht ein rotes Tuch von einem Podest zwischen den Moderatoren, auf dem ein überdimensionierter goldener Knopf prangt, „ich denke die Ehre gebührt Präsident Snow.“

Im Grunde ist es jedes Jahr das gleiche Geplänkel, ob man auf dem Festplatz in Distrikt vier zusieht oder live vor Ort. Trotzdem bin ich angespannt wie nie. Auf die Worte von Claudius Templesmith hin fährt ein einzelner Wagen mit dem Staatsoberhaupt vor. Galant winkt er in Richtung der Zuschauer. Der Blick, mit dem er die Tribüne streift, spricht allerdings nicht von Freude.

„Vielen Dank, Claudius“, bedankt er sich und tritt hinter das Podest mit dem Knopf. „Lassen sie mich vorher nur einige Worte an das Publikum richten.“ Es folgt die übliche Rede, die uns Distrikten jegliche Schuld am Krieg und den Hungerspielen gibt. Ein weiteres Mal erinnert er daran, dass die 24 Tribute eine ewige Warnung sind. Am Ende seiner Drohrede angekommen legt Snow seine Hand fast schon zärtlich auf den Knopf. „Nun denn, lassen sie uns sehen was meine fleißigen Spielemacher sich für dieses Jahr ausgedacht haben.“

Der Countdown auf der Leinwand verblasst und nur Schwärze bleibt zurück. Stille senkt sich über den Platz. Er drückt den Schalter. Einen Moment lang glaube ich, dass nichts passiert, doch dann wird mir klar, dass langsam die Sonne in der Arena aufgeht. Zunächst ist es nur ein blasser Lichtstreif im Inneren der Kuppel, aber allmählich erreichen die ersten Strahlen das Füllhorn. Von da ergießt sich das Licht über eine flache Grasebene mit 24 leeren Sockeln. Kräftige Laubbäume taucht aus dem Dunkel auf, ein großer See und dahinter ein wogendes Feld. Alles scheint Frieden zu versprechen. Leider wird sich das schnell ändern.

Wir bekommen einen Kameraflug durch die Arena zu sehen. Einen Wald wie diesen habe ich noch nie gesehen. Riesige Bäume mit ausladendem Geäst stehen dicht an dicht, sodass an manchen Stellen kaum Licht den Boden erreicht. Kleinere Wasserläufe bieten reichlich Gelegenheit, um Durst zu stillen, und immer wieder huschen Wildtiere durchs Bild. Kein Vergleich zu meiner Arena mit ihrer trockenen Steppe und den kargen Bergen oder Rivens verschneiter Ruinenstadt. Nicht unbedingt vorteilhaft für unsere Tribute, aber auch nicht von Nachteil. Im Grunde ein neutrales Gelände. Der See scheint tief zu sein, vielleicht könnten die Beiden das nutzen, überlege ich.

„Okay, das ist gut“, höre ich Amber murmeln. „Besser als die verdammte Eiswüste. In dem See leben hoffentlich Fische.“

„Wunderschön, nicht wahr?“, durchbricht Caesar die andächtige Stille. „Präsident Snow, sie haben eindeutig fähige Spielmacher ausgewählt. Diese Arena ist eine Pracht!“ Wir müssen alle auf ein Zeichen hin applaudieren, ehe die Moderatoren den ersten Eindruck des Geländes besprechen.

„Aufregend, sehr aufregend! Ich bin gespannt, wie die Tribute darauf reagieren werden. Und das ist auch schon das Stichwort, denn in diesem Moment begeben sie sich auf die Startplätze!“ Caesar strahlt wie ein Fischer, der einen besonders fetten Thunfisch gefangen hat.

Der Countdown wird wieder eingeblendet. Zwei Minuten. In schneller Abfolge sehen wir von oben in die Glasröhren, in denen die Tribute darauf warten in die Arena zu fahren. Ich kann mich nicht entscheiden, ob ich hinsehen soll, oder nicht. Das Schlucken fällt mir schwer, so trocken ist der Mund. Eine Hand legt sich beruhigend auf meine und ich sehe Floogs an, der mir zulächelt.

„Alles wird gut“, flüstert er. Ich schenke ihm keinen Glauben.

Die Röhren werden an die Oberfläche gefahren. 24 Kinder erblicken jetzt zum ersten Mal die Arena. Manche starren mit offenem Mund auf die Landschaft, aber andere haben nur Augen für die Waffen. Und dann ist da Edy, der sich verzweifelt im Ring der Tribute nach Cordelia umsieht. Diese hat ihren Blick fest auf Cato geheftet, der ihr genau gegenüber steht. Zwischen ihnen liegt das Füllhorn mit seinen glänzenden Schwertern, Speeren und Messern, die uns nun in Großaufnahme gezeigt werden.

„Fünf“, zählt der Countdown laut herunter.

„Vier.“ Unermessliche Angst packt mich.

„Drei.“ Wie gelähmt sitze ich da.

„Zwei.“ Ich schließe die Augen.

„Eins.“ Meine Hände drücken sich auf die Ohren.

„Die 74. alljährlichen Hungerspiele sind eröffnet!“ Der Schrei von Caesar Flickerman ist so laut, dass ich ihn trotz der Fäuste auf den Ohrmuscheln höre.

Keuchend beuge ich mich vor, denn ohne Vorwarnung ist mein Kopf erfüllt mit Schreien. Renn fort, drängen sie. Du musst fliehen! „Nein, ich darf nicht“, entkommt mir ein Stöhnen, „ich bin kein Tribut. Ich bin kein Tribut. Ich bin kein Tribut!“

Die Spritze! Hektisch reiße ich mit einer Hand die Tasche auf und greife blindlings nach dem Morfix. In diesem Moment höre ich einen Schrei, gefolgt von einem qualvollen Würgen und dann – ein Jubelschrei. Handtasche und Phiole entgleiten mir. Floogs bückt sich schnell und hebt das Beruhigungsmittel auf. Schützend schiebt er sich vor die Kameras und greift meinen zitternden Arm. Ich wünsche so, stärker zu sein, doch die Stimmen der Vergangenheit drohen, mich zu ersticken. Den Schmerz vom Einstich fühle ich kaum. Erst, als ein dämpfendes Tuch jegliche Erinnerungen verhüllt, dringen wieder Empfindungen durch meine Panik.

Erleichtert atme ich ein und aus. Der Horror aber ist nicht vorbei. Einige Tribute haben das Füllhorn erreicht. Sofort bereue ich es, den Blick gehoben zu haben, denn auf der Leinwand sehe ich das eben noch grüne Gras, bedeckt von tiefrotem Blut. Die ersten Opfer des Blutbads liegen reglos am Boden. Schnell schaue ich hinüber auf die Liste. Vier ... nein fünf sind tot. Aber Cordelia und Edy leben!

Ich kralle mich an Floogs Arm fest, wie eine Ertrinkende an der rettenden Planke. Alle Mentoren um uns herum starren unbewegt auf das Geschehen, in Gedanken sicherlich bei ihren eigenen Tributen. Die Schreie im Kopf sind jetzt leiser, dafür dröhnen die Geräusche des Blutbads umso lauter. Mein Magen macht einen Satz, als wir in Großaufnahme sehen, wie Clove einen Jungen mit einem gezielten Messerwurf tötet. Eben noch war seine Hand um einen Rucksack geschlungen, den auch Katniss ergriffen hat, jetzt liegt er schon mit starrem Blick im Gras. Dem Flammenmädchen gelingt die Flucht.

„Das ist das Ende von Distrikt neun“, brüllt Caesar, „ein frühes Aus, wie schade!“ Ich glaube ihm keine Sekunde lang.

Zum Glück habe ich nichts gegessen, sonst würde sämtlicher Mageninhalt in der Reihe vor mir landen. So steigt nur der saure Geschmack von Galle in meiner Kehle hoch. Die Übertragung wird jetzt in viele kleine Kacheln aufgeteilt, eine eigene Perspektive für jeden Tribut. Die Ersten fliehen vom Füllhorn hinein in den Wald mit dem Wenigen, was sie erbeutet haben. Waffen hat keiner von ihnen.

Cordelia hingegen steht an der Seite der Karrieros, einen Speer in der Hand. Sie verteidigen ihr Revier, strecken diejenigen nieder, die so mutig – oder dumm – sind und sich vorwagen. Wie das Mädchen aus Distrikt zehn, die sich von hinten an das Füllhorn anpirscht. Ehe ich blinzeln kann, ist Cordelia über ihr. Der Speer durchbohrt das schmächtige Kind glatt. Binnen eines Wimpernschlags erlischt das Licht in den Augen der Tributin, bevor ihr lebloser Körper auf dem Boden aufschlägt. Aber Cordelia bemerkt das nicht mehr, denn sie hat sich längst abgewendet, um einem anderen Feind entgegenzutreten. In ihrem Blick ist nicht eine Sekunde des Zögerns zu erkennen. Ich sehe fort.

Wie gebannt beobachte ich stattdessen Edy, der ebenfalls das Füllhorn erreicht hat. Im blutigen Chaos rollt er sich von einer Vorratskiste zur nächsten, geschickt den älteren Tributen ausweichend. Cato, der in seiner Nähe auf den Jungen aus Distrikt sechs einsticht, bemerkt nicht, wie er auf allen vieren in das Horn kriecht. Wohl aber die Moderatoren.

„Oh oh, Claudius, sieht aus, als hätte jemand die Verteidigung unseres Freiwilligenbündnisses unterwandert! Der kleine Edy schleicht sich doch tatsächlich ins Füllhorn. Eigentlich hätte er auch bei diesem Bündnis dabei sein müssen, meinst du nicht?“

Zielsicher greift Edy nach einem großen Messer und reißt es von der Wand.

„Er hätte sicherlich das Zeug dazu, also können wir nur Vermutungen anstellen, warum er sich entschieden hat alleine zu kämpfen. Ich glaube ja, dass er noch einige Überraschungen für uns parat hat, Caesar.“

Edy schiebt sich das Messer in den Gürtel. Seine Augen gleiten über die Reihe an unberührten Waffen im hintersten Teil des Füllhorns. Er wirft einen Blick zu den Karrieros, die sich vor der Öffnung verteilt haben und die letzten Nachzügler zusammentreiben. Mit einem grimmigen Gesichtsausdruck zwängt er sich auf die größeren Schwerter zu.

„Und das war es mit Distrikt sechs, beide Tribute sind raus“, johlt Caesar so laut, dass ich zusammen zucke.

Die Augen lasse ich allerdings nicht von Edy. Der Speer fällt wie in Zeitlupe, Sekunden bevor er selber seinen Fehler registriert. Klirrend schlägt der lange Metallschaft gegen eine Vorratskiste. Seine Hände zittern, als er hastig den Schnürsenkel befreit, der sich an der Spitze verfangen und die Waffe aus der Halterung gezogen hat. Floogs neben mir stöhnt auf. Doch Edy gibt sein Vorhaben nicht auf, sondern robbt zur Rückwand des Füllhorns. Ein triumphierendes Lächeln streicht über sein Gesicht, kaum, dass er nach einem Schwert greift.

Es geschieht alles ganz schnell. Plötzlich steht Cato hinter ihm. Edys Augen weiten sich, sobald er den riesigen Karriero sieht und das Blut, das von seiner Klinge tropft. Dieses Mal kann ich ihn nicht beschützen. Der Tribut grinst breit und erhebt die Waffe. Panisch krabbelt Edy rückwärts, den Blick auf Cordelia gerichtet. Er öffnet den Mund zu einem Schrei in genau dem Moment, da ihn Catos Schlag trifft. Seine letzten Worte verlassen nie die Kehle und er sackt blutüberströmt zusammen.

Mir scheint, dass die Welt in tausend Scherben zerfällt. Das Morfix hält es nicht auf. Ich suche den Blick von Floogs, ein Spiegel meines Entsetzens. Dem älteren Mentoren weicht jede Farbe aus dem Gesicht. Er greift nach mir, um mich in eine Umarmung ziehen, aber ich schlage seine Hände panisch weg. Ich sehe kaum etwas, alles verschwindet hinter einem Tränenschleier. Hilflos kämpfe ich darum zu atmen, denn Hals und Herz sind wie zugeschnürt. Schmerzen schießen durch die Brust und zwingen mich vorneüber. Als ich Galle hoch würge, fühle ich das Ersticken nahen. Alles endet. Eiserne Hände packen meine Oberarme, zerren an mir, doch ich reagiere nicht.

„Lasst sie in Ruhe“, schreit jemand, „unser Tribut ist gerade gestorben! Natürlich ist sie verzweifelt!“ Finnick, erkenne ich.

Hustend übergebe ich mich erneut und bleibe dann vornübergebeugt sitzen. Selbst, als die eisernen Hände mir eine Nadel schmerzhaft in den Arm stechen, unternehme ich nichts. Um uns herum ist Geschrei. Etwas passiert mit mir, aber ich bringe keine Kraft auf, nicht einmal um mich zu wehren. Ich habe das Gefühl, dass mein Blut gefriert und eine unfassbare Trägheit schleicht sich durch die Adern bis in den Kopf. Neblige Finger greifen nach den Gedanken. Man hat mir etwas injiziert, das sicher kein Morfix ist, doch bevor ich diese Überlegung erfasse bedeckt der schwere Nebel alles und lässt nichts als Gleichgültigkeit zurück. Ich will schlafen, wäre da nicht der Trubel um mich herum.

Feste Griffe packen meine Oberarme und ich werde auf die Beine gezogen. Sie sind weich wie Wackelpudding. Mir entweicht ein Kichern, während sie sich weigern, ihr eigenes Gewicht zu tragen. Die Friedenswächter zu beiden Seiten ziehen mich unsanft höher.

„Huch, halten sie gut fest“, bringe ich zwischen dem Glucksen hervor, „meine Beine mögen mich nicht mehr.“ Schon beim Sprechen merke ich, dass auch die Zunge nicht mehr ihren Befehlen folgt. Ein lustiges Gefühl, finde ich und kichere unweigerlich erneut.

Die beiden Soldaten tragen mich schweigend fort. Durch die dumpfe Watte, die meine Sinne verhüllt, höre ich, wie uns jemand etwas hinterherruft, verstehe aber nichts, weder die Worte, noch warum die Leute so wütend sind. Wo bin ich überhaupt? Der Gedanke hält sich nicht lange, da fallen mir schon die Augen zu. Glücklich versinke ich in der wattig weichen Gleichgültigkeit, die mich erfüllt.
 

Da ist Licht. Wie durch eine angelehnte Tür hindurch scheint es in mein dämmerndes Bewusstsein. Von wo kommt es? Ich habe das Gefühl, unter schweren Decken begraben zu sein. Etwas hält mich zurück, aber die Neugier ist stärker. Mit aller Kraft kämpfe ich gegen den Nebel, der mein Inneres vom Licht trennt. Stimmen flüstern mir zu, dass ich umdrehen soll. Sie locken mit dem Versprechen auf traumlosen Schlaf, in dem jegliche Sorgen verschwinden. Ich erinnere nicht, welche Ängste mich erfüllen. Dennoch wird das Gefühl deutlicher, etwas vergessen zu haben.

Ist es wichtig? Keine Ahnung. Der Schlaf erscheint wieder so verführerisch und nur mit Mühe ringe ich den Drang nieder. Meine Augenlider wiegen tonnenschwer, als ich sie langsam öffne. Mit voller Wucht blendet das gleißend helle Licht mich. Für einen Moment sehe ich nichts außer weißer Endlosigkeit. Dann wird der Gedankennebel von den Lichtstrahlen zerrissen. Erinnerungen fluten in einem reißenden Strom in den Kopf zurück. Auf meiner Brust scheint ein Gewicht zu liegen, das mir den Atem nimmt. Jegliche Leichtigkeit ist verschwunden und im schonungslosen Licht aus der Neonröhre über mir erkenne ich die Welt wieder in voller Grässlichkeit.

Überwältigt liege ich da, an die weiß verputzte Decke starrend. Gedanken an einen Ort wie diesen tauchen auf. Damals, nach den Hungerspielen, war ich das erste Mal hier. Ein Krankenzimmer. Oder ist es dieselbe Situation? Vielleicht belügt mein Gedächtnis mich? Ich suche die Wahrheit, kann aber nicht sagen, was passiert ist. Wie ich hierhergekommen bin. Doch dann dringt eine einzelne Erinnerung aus der Flut an Bildern und Wortfetzen hervor. Ein kleiner Junge mit blonden Locken, den ich schon wieder nicht gerettet habe. Das Erste, was ich richtig erinnere, ist der tote Edy. Unser Tribut. Die Ernüchterung sinkt langsam ein. Er ist tot, obwohl ich ihm versprochen habe, ihn zu beschützen. Ich habe meine Hungerspiele vor Jahren gewonnen, aber es hat sich nichts geändert. Das Kapitol hat mich fest im Griff und mir wieder einen geliebten Menschen genommen.

Ich will die Hand heben, um die aufkommenden Tränen fortzuwischen, doch da ist ein Widerstand. Verwundert wende ich den Blick von der Zimmerdecke ab. Ein karger Raum, in Weiß und Grau gehalten, gelangt in mein Blickfeld. Neben dem Bett, in dem ich liege, stehen ein einzelner Stuhl und irgendein Gerät mit blinkenden Lichtern sowie unheilvoll aussehenden Schläuchen. Keine Anzeichen, dass außer mir noch jemand hier ist.

Meine Hand ruht auf dem Bett und ich versuche erneut, sie zu bewegen. Ein breiter Riemen am Handgelenk hält sie zurück. Ungläubig starre ich darauf, rüttle wieder. Ohne Erfolg. Mehr als wenige Zentimeter Spielraum bleiben mir nicht. Rasch hebe ich die linke Hand, doch hier genau das Gleiche. Man hat mich gefesselt! Die Erkenntnis vertreibt die Trauer um Edy aus meinen Gedanken.

Zuerst überlege ich, laut zu schreien. Aber die Chance, dass es jemand hört, ist wohl gering, der schweren Tür nach zu schließen. Und selbst wenn, wen würde das Geschrei anlocken? Friedenswächter? Die werden mir sicherlich nicht helfen. Ich prüfe, ob ich mich aufsetzen kann, erkenne jedoch, dass auch über der Brust ein breiter Riemen gespannt ist, genauso wie bei den Beinen. Offenbar bin ich dazu verdammt wie ein Fisch auf dem Trockenen zu liegen und darauf zu warten, dass mich jemand erlöst.

So weit es mir möglich ist, hebe ich den Kopf. Mein Gefängnis hat nicht ein Fenster, nur eine Tür gegenüber vom Bett. Sie hat keine Klinke oder Knauf. Ansonsten entdecke ich nur eine Kamera in der Zimmerecke, an der ein rotes Licht leuchtet. Gut, dann wissen sie, dass ich wach bin. Ich sinke zurück ins Kissen und schließe die Augen, alleine mit meiner Angst. Vermutlich ist es nur der Nachwirkung des Mittels, das sie mir gespritzt haben, zu verdanken, dass ich nicht davon überwältigt werde.

In der Stille erinnere ich mich an die letzten Ereignisse des Tages zurück. Morgens haben wir das Frühstück in gedrückter Atmosphäre zu uns genommen. Kaum einer brachte etwas herunter. Selbst Ceces ewig frohes Geplapper war leiser als sonst. Finnick sah müde aus. Wenn er merkte, dass ich ihn ansah, wandte er den Blick ab. Niemand verlor ein Wort darüber, dass er gestern nicht mit den Anderen von der Party wieder kam. Ich schwieg ebenfalls, obwohl ich mich am liebsten in seinen Armen verkrochen hätte, damit er mir die Angst vor der Eröffnungsfeier nimmt.

Anschließend begleiteten wir die Tribute zum Hovercraft, mit dem sie zur Arena flogen. Ein letztes Mal schloss ich Edy und Cordelia in die Arme. Die Angst in ihren Gesichtern erinnere ich deutlich und wie Cordelia versprach die Karrieros für Edy zu verlassen, sobald möglich. Das kleine Flämmchen der Hoffnung, das ihre Worte in mir entzündeten, ist von dem Wissen ausgelöscht, dass er nicht einmal das Blutbad überlebt hat.

„Schon komisch, nicht wahr?“ Ich öffne die Augen. Auf dem freien Stuhl neben dem Bett sitzt Shine, in die weißen Kleider einer Ärztin gehüllt. Sie hält ein Klemmbrett, wie es die Doktoren in Distrikt vier bei sich tragen. Anstatt mich anzusehen, kritzelt sie darauf herum, aber ich kann nicht erkennen, was sie schreibt. Sie erinnert sehr an ihre ältere Schwester Glista, nur fehlen ihr jegliches Mitgefühl oder Sanftheit, die diese hat.

„Immer wieder überrascht einen der Tod, obwohl man doch meinen sollte, dass man sich nach all den Jahren daran gewöhnt hat.“ Ihre Hand hält kurz inne und sie lächelt mich an, was mir einen Schauer über den Rücken jagt. „Mein eigener Tod hat mich schließlich auch überrascht.“ Ich wende den Blick ab und schließe wieder die Augen.

„Warum nur habe ich das Gefühl, dass du dich nicht freust, mich zu sehen?“ Kurzes Kichern. „Wäre Victoria dir lieber? Ich kann gerne mit ihr den Platz tauschen.“

„Lass mich in Ruhe“, sage ich. „Ihr beide.“ Trotzdem erwacht die Furcht davor, dass eine rachsüchtige Victoria hier auftauchen könnte, an einem Ort, wo ich mich nicht wehren kann, nicht fliehen kann. Shine war schon immer die Umgänglichere der beiden. Wenn man das überhaupt so sagen kann.

„Ich dachte mir, ich leiste dir Gesellschaft, wo du so ganz alleine bist. Bevor dich die Einsamkeit in den Wahnsinn treibt.“ Sie lacht laut über ihren eigenen Witz.

„Danke, aber ich bin schon verrückt.“

„Oh, daran zweifle ich nicht, aber es gibt noch ganz andere Arten, den Verstand zu verlieren. Bis man alles vergisst, was einem wichtig ist, wer man ist oder... wen man liebt.“

Verstohlen sehe ich wieder hinüber zu Shine, die mich wissend betrachtet. „Das werde ich nicht.“

„Glaubst du wirklich, dass du das bestimmen kannst? Dich überwältigen doch so schon jedes Mal die Erinnerungen und zwingen dich zu schreien.“ Auch jetzt droht ein Schrei in meiner Kehle emporzusteigen, aber ich schlucke ihn herunter.

„Finnick sagt mir jedes Mal, was real ist, oder nicht. Er ist mein Anker“, halte ich mit zittriger Stimme dagegen.

„Und was, wenn er verschwindet? Dich nicht mehr beschützen will?“

Ich schüttle den Kopf. „Das wird nicht passieren.“

„Und doch ist er jetzt nicht hier.“

Angestrengt hole ich tief Luft, in dem Versuch, mich zu beruhigen. Vor meinem inneren Auge sehe ich wieder wie Finnick Titania Creed umarmt. Aber dann erinnere ich genauso, wie er die Friedenswächter angeschrien hat, voller Wut und Sorge. „Weil er nicht kann“, gebe ich zu. Das Kapitol würde nie zulassen, dass er an meine Seite eilt, wo er doch der begehrteste Junggeselle sein muss.

Siedend heiß fällt mir ein, dass jedes Wort, was ich sage, mitgehört wird. Ich starre zu der Kamera, an der noch immer das rote Licht blinkt. Habe ich gerade all unsere Vorsicht zu Nichte gemacht? Angsterfüllt verkrampfen alle Muskeln. Was wird das Kapitol aus diesen Worten schließen? Werden sie es als das Stammeln einer Verrückten abtun? Ich hoffe es.

Shine folgt meinem Blick. „Du solltest auf deine Geheimnisse besser acht geben. Nicht nur er beschützt dich, du musst auch ihn beschützen. Und gib bloß nicht mir die Schuld!“ Stumm schüttle ich den Kopf, fest entschlossen, dass mir kein weiteres Wort über die Lippen kommt.

Die Vision meiner einstigen Erzfeindin lächelt, als könne sie die Gedanken lesen. Was nur Sinn macht, denn sie lebt ja in mir drinnen. „Vielleicht sollten wir lieber von etwas anderem reden? Zum Beispiel den Spielen?“

Natürlich, die Hungerspiele. Für eine Weile habe ich sie beinahe vergessen. Was ist in der Zwischenzeit alles passiert? Wie viel Zeit ist überhaupt vergangen, seit man mich weggesperrt hat? Lebt Cordelia noch? Sie ist jetzt schließlich unsere einzige Hoffnung. Und, hinter all diesen Sorgen verborgen, überlege ich kurzzeitig, ob die Tribute aus Distrikt zwölf leben. Ich weiß nur, dass Katniss vom Füllhorn fliehen konnte, mit dem Rucksack als Beute, den sie dem toten Jungen aus Neun entrissen hat.

Shine sitzt ruhig da und beobachtet mich. „Ich weiß auch nicht mehr als du“, sagt sie mit einem Schulterzucken.

„Vielleicht sind die Spiele ja schon vorbei“, überlege ich hoffnungsvoll. Was immer ihr Ausgang wäre, wenigstens würde es bedeuten, dass ich nach Hause darf. Sie können mich ja nicht auf ewig hier festhalten. Je länger ich daran denke, desto stärker wird die Hoffnung, dass es wahr ist. Nachhause fahren und vergessen klingt traumhaft.

„Vergessen? Ich glaube nicht, dass sie das zulassen. Die Spiele gehen weiter, Jahr für Jahr, für Jahr... so wie du mich nicht loswirst, wirst du den Tod nicht loswerden. Und jedes Jahr musst du deinen Liebsten gehen lassen, in dem Wissen, was hier passieren wird. Kannst du das vergessen?“ Shines Lippen verziehen sich zu dem grausamen Grinsen, das sie schon bei der Jagd in der Arena trug. „Irgendwann wird es euch zerreißen, so wie die Piranhas mich zerrissen haben, ein Stückchen nach dem anderen, bis nichts mehr übrig blieb, das meine Familie hätte beerdigen können. Und alles ist wieder deine Schuld.“ Ihre Worte hängen in der Luft wie ein giftiges Gas.

„Nein“, flüstere ich hilflos. Meine Hände sind zu Fäusten geballt und ich reiße an den Fesseln, doch sie geben kein Stück nach. Ich drücke den Kopf zurück in das Kissen und verschließe die Augen fest in dem Wunsch, dass Shine verschwinden wird.

„Habe ich dir je erzählt wie schmerzhaft mein Tod war?“

Reglos liege ich da und zwinge mich keine Reaktion zu zeigen. Auf dem Gang draußen werden Schritte laut. Jemand kommt, aber ist es die Rettung oder sind es wieder die Friedenswächter mit den eisernen Händen? Ich reiße die Augen auf und starre in Richtung der verschlossenen Tür. Kurzzeitig bin ich versucht zu schreien.

„Sieht so aus, als wenn du Besuch bekommst.“ Shine lächelt mich noch einmal an. Binnen eines Wimpernschlags ist jede Spur von ihr verschwunden – bis auf die Angst in meinem Herzen.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: irish_shamrock
2021-04-17T12:25:44+00:00 17.04.2021 14:25
Hallo Coronet,

wieder hast du deinen Lesern ein Kapitel geboten, das viele Emotionen hinterlässt.
Der arme Edy, der ausgerechnet von Kato ermordet wird. Es ist mehr als verständlich, dass Annie, angesichts dieser Vorkommnisse, in eine Panikattacke verfällt. Es ist schwer zu sagen, ob sie mit Finnick an ihrer Seite mehr Kontrolle gehabt hätte.
Nichtsdestotrotz gefiel es mir, wie du den Beginn der Hungerspiele beschrieben hast.
Und dann ist da auch noch Shine, die Annie weiterhin quält und deren Schatten Annie wohl nie wirklich loswerden kann.
Ich freue mich aufs nächste Kapitel.

Liebe Grüße,
irish C:
Antwort von:  Coronet
29.04.2021 17:29
Liebe irish,

ich freue mich sehr, wieder von dir zu lesen!
Es freut mich, dass dir dieser doch recht "beobachtungslastige" Anfang der Hungerspiele gefallen hat. Ich finde es immer schwer, ein spannendes Kapitel zu schreiben, wenn mein Perspektiv-Charakter dazu gezwungen ist, nur zuzusehen, aber man will ja auch wissen, was in der Arena so passiert, was Katniss nicht mitbekommen hat. Manchmal würd ich allerdings zugegeben gerne mal was aus der Perspektive der Tribute schreiben, haha ^^;
Ja, ob Shine jemals verschwinden wird ist fraglich...

Liebe Grüße
Coro


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