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Irritation

Prequel zu Anziehung
von

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Irritation
 

Wie bringt man einen Toshiya aus dem Konzept oder auch die Kunst des Anstarrens.
 

Ein Seufzen kommt über meine Lippen und ich lasse den Kopf auf meine Unterarme sinken, die auf dem Tisch ruhen. Meine Augen fallen erschöpft zu. Die späte Frühlingssonne blendet mich selbst durch die geschlossenen Lider, weshalb ich ein Stück auf der Tischplatte nach links rutsche, um dem Lichtstrahl zu entkommen, der sich durch die Jalousie gemogelt hat und mich nun versucht, am Einschlafen zu hindern.

Der Tag hat mich geschafft. Sowohl geistig als auch körperlich. Okay, nicht nur dieser Tag, sondern generell die vergangenen Wochen. Während die Stimmen der anderen aus dem angrenzenden Raum zu mir herüberschallen, versuche ich ein wenig zur Ruhe zu kommen.

Es sind die letzten Fotoaufnahmen für heute, meine sind seit einer halben Stunde im Kasten. Als Vollprofi, der ich nun mal bin – ohne eingebildet zu sein, versteht sich – brauche ich für Promofotos mittlerweile nicht mehr allzu lange. So kann ich mich wenigstens jetzt ein paar Minuten meiner Erschöpfung hingeben, die mich schon den ganzen Tag begleitet. Die letzte Zeit voller Konzerte, Interviews und Werbetermine schlaucht irgendwann selbst den hartgesottensten Rocker.

Dass sich jemand nähert und neben mir stehen bleibt, registriere ich nur am Rande meines Bewusstseins. Zu sehr hat mich meine Schläfrigkeit in einen sanften, geistigen Nebel gehüllt. Langsam dämmere ich weg.

Die Hand, die durch das kurze Haar in meinem Nacken streicht, bemerke ich kaum mehr.
 

Das Krachen einer zuschlagenden Tür lässt mich zusammenzucken. Müde blinzelnd sehe ich auf und entdecke Kaoru, der schmunzelnd vor mir steht und mich mustert.

„Na, ausgeschlafen?“

Ich versuche ein Gähnen zu unterdrücken, was mir allerdings mehr schlecht als recht gelingt und mit einem belustigten Schnauben kommentiert wird.

„Aufgehört.“

Mein Nacken knackt laut, als ich mein Kinn auf die Unterarme stütze.

„Sind wir endlich fertig?“

„Ja“, antwortet Kaoru und sieht kurz zur Seite. Träge folge ich seinem Blick und stelle überrascht fest, dass Die nur wenige Schritte entfernt auf dem Sofa sitzt und unsere recht einsilbige Konversation verfolgt. Unwillkürlich frage ich mich, wie lange er da schon sitzt. Allzu lange kann es nicht sein, denn eigentlich ist er immer der Erste, der einen von uns unsanft aus dem Schlaf reißt und sich dabei köstlich amüsiert. Doch heute ziert nicht einmal ein spöttisches Grinsen sein Gesicht. Mit unbeweglicher Miene sitzt er da und schaut schweigend zu uns.
 

„Kyo ist soeben los“, reißt mich Kaorus Stimme aus meinen Gedanken und zieht damit meine Aufmerksamkeit zurück auf sich. „Und Shinya packt auch gerade seine Sachen zusammen. Also wenn ihr wollt, könnt ihr gehen.“

Ich richte mich auf, strecke mich ausgiebig, bevor ich mich vom Stuhl erhebe.

„Danke. Ich ziehe mich mal um, dann bin ich weg.“

„Geht klar. Wir sehen uns übermorgen. Ich kläre nur noch ein paar Dinge mit dem Fotografen.“

Und schon ist Kaoru im Nachbarraum verschwunden. Immer beschäftigt, der Gute.

Ich begebe mich gemächlich zu meinen Sachen, die in der Ecke auf einem der Schminktische verstreut liegen. Das Hemd vom Fotoshooting stopfe ich rücksichtslos in meine Tasche, ehe ich beginne nach meinem Shirt zu kramen. Dass es ausgerechnet schwarz ist und dadurch völlig mit dem Inneren meiner Tasche verschmilzt, ist leider wenig hilfreich. Nach etwas Durchwühlen meines Hab und Guts fördere ich schließlich das Gesuchte zutage.

Während ich mich anziehe, fällt mein Blick auf mein Spiegelbild und ich halte inne. Ein unzufriedenes Seufzen kommt über meine Lippen. Meine Augenringe waren auch schon mal unauffälliger, da bringt der beste Concealer nichts. Mittlerweile lassen sich die kräftezehrenden, letzten Wochen einfach nicht mehr überschminken. Wenigstens haben wir morgen frei und ich kann versuchen, einen Teil des verlorenen Schlafs nachholen. Obwohl ... vorher wäre sicher noch das ein oder andere Feierabendbier drin.
 

So über meinen weiteren Tagesplan sinnierend weckt etwas anderes im Spiegel meine Aufmerksamkeit. Die.

Unser langhaariger Gitarrist sitzt immer noch unverändert auf dem Sofa und schaut zu mir. Nein, er schaut nicht nur, er starrt mich geradezu an, was mich fragend die Stirn runzeln lässt. Was ist denn mit dem los? Will er nicht auch langsam aufbrechen?

Dass ich ihn nun ebenfalls durch den Spiegel betrachte, scheint er nicht einmal zu bemerken. Er reagiert überhaupt nicht und wirkt, als wäre er in seiner Gedankenwelt gefangen.

Ich beschließe in den Angriffsmodus überzugehen, um ihn aus der Reserve zu locken. Dieser schweigsame, zu einer Statue mutierte Die wird mir allmählich unheimlich. Das geht doch nicht.

Ruckartig drehe ich mich um und fixiere ihn, wobei ich mich gleichzeitig an die Tischkante lehne und mir übertrieben lasziv über das Oberteil streiche.

„Na? Genug gesehen, was dir gefällt?“, kommt es süffisant über meine Lippen.

Doch statt, wie ich erwartet hatte, spielerisch auf meinen recht oberflächlichen Flirt einzugehen, bekomme ich im ersten Moment nur verwirrt blinzelnde Augen als Reaktion. Dann springt er auf und stürmt, schneller als ich reagieren kann und mit einem gemurmelten „Bis dann“, aus dem Raum.

Mir bleibt nichts anderes übrig, als dem Flüchtigen verblüfft hinterher zu starren.

Was hat Die denn gestochen?
 

~*~
 

Mit einem befreienden Stöhnen lasse ich meinen Kopf gegen die raue Mauer in meinem Rücken sinken und atme tief durch. Die letzten Wellen meines Orgasmus fließen durch meinen Körper, doch allmählich beruhigt sich mein Puls wieder. Ein entspanntes Schmunzeln ziert mein Gesicht, als ich die Augen öffne und in den nachtschwarzen Himmel über mir blicke. So eine schnelle Nummer im Freien hat schon ihre Reize, wie ich zum wiederholten Mal feststelle. Ich würde fast behaupten, dabei am lichtverschmutzten Himmel der Stadt Sterne gesehen zu haben – aber vielleicht kamen die Sterne auch woanders her. Amüsiert und zufrieden stoße ich die Luft durch die Nase aus. Da hatte sich das Ausgehen heute Abend wenigstens gelohnt.
 

Aus den Augenwinkeln bemerke ich, wie sich der Andere vor mir von seinen Knien erhebt, mit dem Ärmel über den Mund wischt und mich dabei lobheischend angrinst.

Als ich nichts sage und ihn nur unter halbgeschlossenen Lidern heraus anschaue, nähert er sich weiter, stützt seine Arme neben meinem Kopf an der steinernen Wand ab und raunt gegen meine Lippen: „War ich gut?“

Was ist das denn für eine plumpe Frage? Okay, eigentlich wollten wir ja auch keine tiefgründige Konversation betreiben. Dennoch… Ich rolle mit den Augen, was er zum Glück nicht sehen kann, da ich gleichzeitig den Kopf von ihm abwende, um seiner aufdringlichen Nähe und der Gefahr, die von seinen Lippen ausgeht, ein Stück weit zu entkommen.

Sex, körperliche Nähe, kurzweilige Affären sind soweit völlig in Ordnung für mich, nur küssen lasse ich mich nie von Fremden. Soweit kommt‘s noch! Da bin ich durchaus eigen. Denn Küssen hat für mich immer etwas mit Gefühlen zu tun und diesen besonderen Stellenwert nehmen meine sexuellen Intermezzi definitiv nicht ein.
 

Meinem Gegenüber scheint mein Schweigen Antwort genug zu sein, er versucht auch nicht sich meinen Lippen erneut zu nähern, sondern schenkt seine Aufmerksamkeit lieber meinem Hals, dem er sich so ausführlich widmet, dass es sicher Spuren hinterlassen wird. Das wiederum stört mich nicht, denn ich hatte meinen Spaß, dann kann er sich wenigstens für ein paar Tage auf meiner Haut verewigen.

„Du bist echt heiß.“ Eine Hand fährt über mein offenes Hemd nach unten, bis zu meinem immer noch unbedeckten Schritt und verweilt dort. „Können wir das bald wiederholen?“

Ich schnaube belustigt, während ich meinerseits nun mit der Hand den fremden Finger abwärts folge und sie vorsichtig von meinem Intimbereich pflücke. Einen Augenblick lang schmiege ich mich an den Oberkörper des Anderen und flüstere schließlich in sein Ohr: „Nein… aber es war nett mit dir.“
 

Dann drücke ich ihn grinsend von mir, betrachte noch kurz seinen gleichermaßen verwirrten wie beleidigten Gesichtsausdruck, ehe ich unter seinem Arm hindurch tauche und mich mit provokant langsamen Schritten entferne. Dabei schließe ich meine Hose, richte Hemd und Jacke und verschwinde um die Ecke, den Unbekannten in der unbeleuchteten Gasse zurücklassend.

Ja, solche Abende mit Barbesuch und anschließend ungezwungenem Spaß haben schon was für sich, wie ich finde.
 

~*~
 

Ich spüre, wie ein kühler Finger über meinen Hals streicht und auf dem dunklen Fleck, der ihn seit annähernd zwei Tagen ziert, liegen bleibt.

„Wo hast du dich denn gestoßen?“ Der eindeutig zweideutige Ton in Kyos Stimme lässt mich grinsend von meinem Handy aufsehen und in den Spiegel zu unserem Sänger blicken. Dieser steht hinter mir und zieht vielsagend eine seiner nicht vorhandenen Augenbrauen nach oben.

„Hm… wenn du so fragst… Es gibt einige sehr dunkle Ecken in der Stadt, die die ein oder andere Stolperfalle für mich bereitgehalten haben.“

Ich höre Shinyas verhaltenes Kichern im Hintergrund, während ich Kyo einen anzüglichen Blick zuwerfe und mir über die Lippen lecke.

„Du könntest dich übrigens hier noch verewigen.“ Dabei deute ich dreist auf die andere Seite meines Halses. „Dann sieht es gleichmäßiger aus.“

Für meine recht flache Bemerkung kassiere ich einen Klaps auf den Hinterkopf und ein Augenrollen von Kyo.

„Quatsch nicht, mach lieber dein Halsband drum, damit man das ‚Zeugnis‘ deines Hobbys wenigstens nicht sieht“, brummt er und drückt mir das schwarze Stück Stoff, das beim heutigen Konzert meinen Hals schmücken wird, von hinten gegen die Brust.

„Außerdem könnte so ein schmales Etwas mein Zeichen auf dir definitiv nicht verdecken“, fügt Kyo frech grinsend hinzu, ehe er sich schwungvoll abwendet und Shinya damit zum Lachen bringt, der unsere Konversation an der Wand lehnend verfolgt hat.

„Pfff, Angeber“, murmle ich vor mich hin, während ich das Band umlege.

„Habt ihr es jetzt mal?“ Kaorus ungeduldige Stimme, die vom Gang hereindringt, unterbindet jedes weitere Gespräch. „Wir müssen langsam raus auf die Bühne!“

Immer dieser Stress... Seufzend erhebe ich mich und strecke meinen Rücken durch. Dabei bemerke ich Die, der schräg hinter mir auf der Couch sitzt und sich, wie mir jetzt erst auffällt, die vergangenen Minuten ungewöhnlich still verhalten hat, obwohl er sich vorhin noch recht aktiv an unserer Unterhaltung beteiligt hatte. Irritiert runzle ich die Stirn ein wenig. Diese neuerdings öfter auftretende Schweigsamkeit passt nicht zu Die, so wende ich mich ihm offen zu und schaue ihn fragend an.

Der Blick, den er mir daraufhin zuwirft, bringt mich ins Stocken und ich blinzle verdutzt. Er wirkt irgendwie verärgert und angefressen. Ich kann es nicht ganz deuten.

„Die…?“

Einen Augenaufschlag später ist der düstere Gesichtsausdruck vom Gesicht unseres Gitarristen verschwunden. Er steht auf und geht zielstrebig zur Tür, wo er sich aber noch einmal mit einem schiefen Grinsen zu mir umdreht.

„Komm schon, Toshiya. Wurzeln schlagen kannst du später.“

Und fort ist er.

Wo kam der Stimmungswechsel denn jetzt her? Oder habe ich mir das nur eingebildet?

Immer noch stirnrunzelnd sehe ich zu Shinya, der auf mich wartet.

„Ich habe das Gefühl, Die war gerade noch sauer auf mich.“

Ein Schmunzeln schleicht über Shinyas Lippen.

„Nein, ich glaube nicht, dass er sauer war.“

Er stößt sich von der Wand ab und schreitet in seinem typisch federnden Schritt zur Tür. Leise, amüsierte Worte dringen an mein Ohr: „Vielleicht ist er ja einfach nur eifersüchtig.“
 

~*~
 

Oh Mann, wie nervig. Auch wenn Shinya diesen Satz wohl nur als Scherz meinte, haben sich diese Worte seit gestern in meinem Hinterkopf festgehakt und lassen mich nicht los. Ständig muss ich über sie nachdenken. Wieso sollte Die eifersüchtig sein?

Ich bin von Natur aus ein recht neugieriger Mensch und mein Hirn gibt meist keine Ruhe, bis es nähere Details erfährt, aber muss es sich gerade mit dieser Aussage derart intensiv beschäftigen? Die soll eifersüchtig sein? Quatsch! Und wenn überhaupt, auf wen oder was?
 

Beim heutigen Auftritt wirkte bisher alles normal, von schlechter Laune keine Spur. Wir spielten wie gewohnt unsere Songs und brachten die Halle zum Brodeln. Die und ich performten sogar einige Parts gemeinsam Seite an Seite und heizten damit den Fans natürlich ordentlich ein.

Ihre ‚Encore‘-Rufe hallen sogar bis nach hinten in den Backstagebereich. Dieser Singsang sorgt für Euphorie in mir, während ich mir gut gelaunt mit dem Handtuch den Schweiß vom Gesicht wische und einen Schluck aus der Wasserflasche nehme, ehe ich mich in einen Sessel plumpsen lasse und die Augen schließe. Der Hauptteil ist echt super gelaufen und die aufgekratzte Unruhe in mir will mich sofort wieder Richtung Bühne locken. Aber ein paar Minuten zum Durchatmen gönnen wir uns bis zur Zugabe noch.
 

Mit einem Mal macht sich ein seltsames Gefühl in mir breit. Meine Nackenhärchen stellen sich auf, als würde mich jemand beobachten. Verwirrt öffne ich die Augen und schaue suchend auf.

Die. Schon wieder. Er mustert mich unverwandt, starrt regelrecht, was mir einen Schauer über den Rücken jagt. Habe ich etwas im Gesicht? Fragend erwidere ich seinen Blick.

Er erhebt sich von seinem Stuhl und kommt mit bedächtig langsamen Schritten auf mich zu, bis er direkt vor mir stehen bleibt. Mit überrascht aufgerissenen Augen verfolge ich, wie er seine Hand ausstreckt und mir damit über den Hals fährt. Eine Gänsehaut folgt seinen Fingern.

„Dein Band ist verrutscht.“

Er tritt zurück, der Hautkontakt bricht und Sekunden später ist Die aus dem Raum verschwunden. Die Gänsehaut bleibt zurück. Was war das denn? Irgendwie… seltsam.

Ich drehe mich zu Kyo, der sich gerade hochkonzentriert am Spiegel eine der weißen Kontaktlinsen vom Auge abnimmt.

„Sag mal, kommt dir Die in letzter Zeit nicht auch komisch vor?“

Ein beängstigender Blick aus zwei extrem verschiedenfarbigen Augen trifft mich und lässt mich zusammenzucken.

„Nö... vielleicht hat er gerade nur ein besonderes Interesse an dir entwickelt.“

„Wah, Kyo!“, übergehe ich das Gesagte und drücke mich gespielt ängstlich tiefer in das Polster. „Mach die Kontaktlinse raus. Das ist ja gruslig!“

Kyos Mund verzieht sich zu einem gemeinen Grinsen, während er sich im Spiegel betrachtet.

„Dann sollte ich es wohl so lassen.“

Ich stöhne auf. „Bloß nicht!“
 

~*~
 

Sicher war Kyos Satz über Dies mögliches Interesse an mir nur so dahingesagt, allerdings gehen mir diese Worte nicht mehr aus dem Sinn. Seit zwei Wochen geistern sie durch meine Gedanken und bereiten mir Kopfzerbrechen. War Die denn wirklich an mir interessiert und wenn ja, wie genau?

In den letzten Tagen hatte ich versucht ihn unauffällig zu beobachten, um mir einen Reim auf sein Verhalten zu machen. Aber außer einem gedankenverlorenen Blick oder dem intensiven Anstarren ist mir bisher nichts anderes Verdächtiges aufgefallen, wobei das ja schon reicht. Früher hat er das doch auch nicht getan! Mittlerweile erzeugt dieses dunkle Augenpaar sogar ein Prickeln auf meiner Haut und macht mich damit dezent nervös.
 

Was hat sich verändert, dass ich plötzlich im Fokus seiner Aufmerksamkeit gelandet zu sein scheine?
 

Ach, es ist zum Haare raufen! Genervt über mich selbst und meine Überlegungen lehne ich den Kopf zurück und kneife frustriert die Augen zusammen. So muss ich wenigstens nicht den verärgerten Gesichtsausdruck unserer Visagistin ertragen, die seit einer Viertelstunde versucht, mich trotz meines Rumgezappels bühnenschick zu bekommen. Ich mache es ihr wirklich nicht leicht, so unruhig wie ich bin. Auf eventuelle Nachfrage könnte ich meine Unruhe wenigstens damit rechtfertigen, dass heute das vorletzte Konzert der Tour stattfindet und wir uns dann erst einmal ein paar Monate Pause voneinander gönnen. Doch keiner fragt und ich versuche mich mit tiefem Ein- und Ausatmen zur Ruhe zu zwingen. Oh Mann! Ich kann mich gerade selbst nicht leiden, da ich mich nicht mehr verstehe und wiedererkenne. Und daran ist nur Die schuld! Warum muss er mich auch so aus dem Konzept bringen? Je mehr ich über ihn nachdenke, desto unsicherer werde ich und das passt mir ganz und gar nicht.
 

Mittlerweile hat es unsere Visagistin mit mir aufgegeben und ihre Arbeit für beendet erklärt, um sich nun über Kaorus Haare herzumachen. Unser Leader erleichtert ihr die Arbeit im Gegensatz zu mir deutlich, da er schweigend über irgendwelchen Notizen brütet.

Ich lasse mich auf das Sofa fallen und schließe die Augen. Irgendwie macht mich das alles momentan echt fertig. Es soll aufhören.

Ein zaghafte Berührung holt mich kurzzeitig aus diesem unsäglichen Gedankenkarussell. Shinya, der neben mir sitzt, streicht beruhigend über meinen Arm, er merkt wohl, wie aufgewühlt ich bin.  Sein Einfühlungsvermögen lässt ich leicht lächeln. Es ist schön zu wissen, dass sich wenigstens einer um mich sorgt, auch wenn seine Geste nicht die erhoffte Entspannung und Stille in meinem Kopf bringt.
 

Eigentlich würde ich sonst die Konfrontation oder wenigstens ein klärendes Gespräch mit Die suchen, wenn mich etwas stört. Aber irgendwie habe ich es bisher nicht gewagt, da ich mir nicht sicher bin, ob ich in die Situation nicht einfach zu viel hineininterpretiere. Ich will mich nicht lächerlich machen. Kyo und Shinya haben mir da nichtsahnend einen Floh ins Ohr gesetzt und mein fantasiereiches Hirn macht sich einen Spaß daraus, hingebungsvoll und detailreich jedes Wort oder jede Handlung Dies auf die Goldwaage zu legen und zu analysieren. Das nervt. Ich will das nicht! Wieso kann es nicht so einfach und unbeschwert sein wie früher, ohne dass mir diese Blicke Gänsehaut am ganzen Körper bescheren, so wie jetzt? Denn Dies Aufmerksamkeit ruht erneut auf mir, wie ich durch meine halbgeschlossenen Lider entdecke. Mein Herz macht einen kleinen Satz.
 

Ich bin es gewohnt angeschaut zu werden, auch schon mal intensiver, was der Job eben mit sich bringt. Prinzipiell habe ich kein Problem damit, lege es sogar mit meinen Outfits und meinem Verhalten darauf an. Doch was ich nicht gewohnt bin, ist derart direkt und fast schon hungrig von einem meiner besten Freunde angestarrt zu werden. Es fröstelt mich. Shinyas Hand auf meinem Arm hält kurz inne, ehe sie weiter besänftigend darüberstreicht.
 

Ich glaube, Die merkt nicht mal, was er in mir auslöst, denn als ich meine Augen gänzlich öffne und unsere Blicke sich begegnen, zuckt er ertappt zusammen und widmet sich mit neuem Interesse seinem Smartphone.
 

Ich seufze lautlos auf. Das Ganze schafft mich.

„Shinya? Ist es schlimm, dass Die mich nervös macht?“, frage ich leise.

Shinya stockt für einen Moment und wirft mir einen undefinierbaren Seitenblick zu.

„Nein, ist es nicht.“

Ein Schmunzeln liegt auf seinen Lippen, während ich wieder in meinen Überlegungen versinke.
 

~*~
 

Das Geräusch eines vorbeifahrenden Autos holt mich aus meinen unruhigen Träumen. Ich seufze und wälze mich im Bett auf die andere Seite. Meine Augenlider sind schwer, mein Blick schärft sich nur langsam. Im Zimmer ist es dunkel, doch das Stück Himmel, das die nicht komplett zugezogenen Vorhänge freigeben, verfärbt sich allmählich von Dunkelblau in ein sanftes Orange. Morgengrauen – die perfekte Zeit zum Gehen.
 

Ich werfe einen Blick über die Schulter und entdecke einen schemenhaften, schmalen Körper hinter mir. Mit dem nach und nach wacher werdenden Denkvermögen meinerseits kehrt auch die Erinnerung an den gestrigen Abend zurück. Große, dunkle Augen gepaart mit einem hohen Lachen tauchen in meinem derzeit leicht umnachteten Geist auf. Ah ja. Der Club. Die Mischung aus Alkohol, Musik, offenem Interesse und sehnsüchtiger Lust lullte mich ein und brachte mich wieder mal in fremde Betten. Aber das, was in der Nacht Vergnügen und einen gewissen Kick in mir auslöste, berührt jetzt bei nüchterner Betrachtung nichts mehr in mir. Meine Augen wandern flüchtig über den nackten Körper der Fremden, doch gefühlsmäßig bleibt es kalt in mir.
 

Vorsichtig richte ich mich auf und lehne mich an das Kopfteil des Bettes. Mein Blick schweift abermals zum heller werdenden Himmel. Ein paar Minuten habe ich noch, ehe ich verschwinden sollte, um anstrengende Morgengespräche zu vermeiden. Erschöpft reibe ich mir über das Gesicht. Ich bin so müde. In den letzten Wochen hielt eine innere Unruhe erholsamen Schlaf von mir fern.
 

Zwei Monate Funkstille.

Okay, das stimmt nicht ganz, denn ab und zu habe ich mit Kaoru telefoniert und mich mit Shinya getroffen. Kyo meldete sich zwischendurch ein paar Mal, allerdings ist er mit Sukekiyo schwer beschäftigt. Obwohl ich mich auf die Auszeit gefreut hatte, besonders um in meinem Kopf Ordnung zu schaffen, macht sich aktuell eine gewisse Wehmut in mir breit. Ich vermisse die Arbeit, die Auftritte und generell fehlen mir die anderen.

Ein Kurzurlaub bei meiner Familie, um mich ein wenig umsorgen zu lassen und die Fotoshootings für mein Kleidungslabel haben nicht genügend Ablenkung gebracht, um mein Hirn davon abzuhalten, in fantasiereiche und hoffnungsvolle Träumereien zu verfallen. Ebenso wenig hilfreich im Kampf gegen das inzwischen dauerhaft anhaltende Kribbeln in meinem Bauch war ein Konzertmitschnitt gewesen, auf den ich vor einigen Tagen im Internet gestoßen bin.

Einer der Hauptakteure auf der Bühne hatte mein selbstsüchtiges Herz ein Mal mehr in Aufruhr versetzt und mich erneut ins Wanken gebracht. Decays waren auf Tour und der Grund meiner Unausgeglichenheit daher so in Arbeit vergraben, dass sich unser Kontakt nur auf sehr vereinzelte Nachrichten beschränkt hatte. Die Bilder des Konzerts ließen ihn in diesem Moment für mich wieder greifbar werden. Und dabei hatte ich wirklich gehofft, dass sich in den Monaten Pause eine gewisse Klarheit in mir breit machen und mich erden würde, aber nichts dergleichen war bisher geschehen. Im Gegenteil.
 

Mittlerweile bin ich mir ziemlich sicher, dass Die in den vergangenen Monaten näher an mir interessiert gewesen war. Und dass er es immer noch ist, hofft ein Funken in einer dunklen Ecke meines Kopfes. Dafür war Dies Verhalten in der letzten Zeit unseres Zusammenseins eigentlich zu auffällig und konstant gewesen, als dass man es als ‚nichtige Phase‘ abtun könnte, wie mir inzwischen nach mehrfachem Resümieren klar geworden ist. Ich glaube auch, dass Dies Interesse deutlich tiefer geht, was meinen Körper erneut kribbeln lässt, wenn ich so darüber nachdenke.

Es ist nicht so, dass ich der Nähe zu Die oder gar Sex mit ihm abgeneigt wäre. Nein, definitiv nicht. Ich war schon immer vieles offen und dass dieser Mann einfach heiß, anziehend und durchaus begehrenswert ist, wusste ich längst vor meinem innerlichen Chaos. Allerdings wäre so eine Nacht niemals ohne Konsequenzen, denn dafür stehen wir beide uns zu nahe. Ich glaube zwar nicht, dass unsere Freundschaft daran zerbrechen könnte – das ist Quatsch und wäre ein Armutszeugnis für unser Verhältnis – aber irgendetwas würde sich ändern. Anders verändern als jetzt schon. Und ich weiß nicht, wie ich so einer Veränderung gegenüberstehe.

Mal ganz abgesehen von meinen Gefühlen, die ich nicht mehr nur als Einbildung abtun kann. Es ist nicht so, dass ich behaupten würde, verliebt zu sein. Soweit würde ich noch nicht gehen. Es ist mehr eine Art Faszination, gemischt mit einem Glücksgefühl, wenn ich darüber nachgrüble, was Die für mich empfinden könnte. Und je mehr ich daran denke, desto wohler fühle ich mich dabei.
 

Meine wenigen nächtlichen Ausflüge in den vergangenen Wochen waren kurze, halbwegs befriedigende Ablenkungen, aber eben nicht mehr als das. Recht schnell kehrten meine Gedanken danach wieder zum Grund meiner gefühlsmäßigen Verwirrung zurück.
 

Ich könnte auch damit leben, wenn es von Seiten Dies doch nichts zu bedeuten hätte und ich mich einfach zu sehr in irgendwelche Wunschinterpretationen verheddert habe. Denn ich bin nach wie vor überzeugt, dass sich das Gefühlschaos in meinem Inneren wieder legt, sobald ich Gewissheit über die momentane Situation bekäme. Ich war nie ein Mensch, der in tiefste Trauer stürzt oder an gebrochenem Herzen leidet, sobald etwas beziehungstechnisch nicht so funktioniert wie erhofft. Aber solange ich nicht diese Gewissheit habe, wird mein dummes Herz weiterhin verrücktspielen, mein Hirn sich die schönsten Traumfantasien ausmalen und mich damit völlig konfus machen.

Ich muss mit Die reden, egal wie es ausgehen wird und das spätestens in drei Wochen, wenn wir uns alle wiedersehen. Einerseits macht mich die mögliche Tragweite eines solchen Gesprächs unsicher, andererseits sind es noch drei Wochen bis dahin, in denen ich genug Zeit habe, mir die passenden Worte zurecht zulegen. Ich brauche Klarheit, auch auf die Gefahr hin, mich vor Die zu blamieren, aber ich halte es sonst nicht länger aus.
 

Ich werfe einen letzten Blick auf die Unbekannte neben mir, ehe ich mich umsichtig aus dem Bett erhebe, meine Sachen zusammensuche und leise den Raum verlasse. Vor der Schlafzimmertür halte ich inne und lausche einen Augenblick lang. Wenigstens schläft sie tief und fest und erspart uns damit irgendwelche Unangenehmlichkeiten. Ich ziehe mich schnell an, hebe meine Jacke auf, die im Eingangsbereich den Boden ziert und verlasse die fremde Wohnung.
 

~*~
 

Die Musik wabert um mich herum und ich fühle dem sanften, hypnotisierenden Bass mit meinem ganzen Körper nach. Bläuliches Licht streift durch den Raum und zeichnet diffuse Muster auf die tanzende Menge, die mich umgibt. Die Luft scheint zu knistern. Wie von selbst gebe ich mich dem elektrisierenden Gefühl hin und verschmelze mit den düster verträumten Klängen, die alles in eine aufreizende Atmosphäre tauchen. Ich atme tief durch. In solchen Momenten fühle ich mich lebendig und frei und die Gedanken in meinem Kopf haben nicht länger dieses Gewicht, das mich zu erdrücken versucht.
 

Seit meinem letzten nächtlichen Abenteuer vor gut zwei Wochen bin ich etwas ruhiger geworden und habe mich mit meinen Gefühlen arrangiert. Ändern kann ich sie aktuell sowieso nicht, also warum dagegen wehren?

So stört es mich auch nicht mehr, dass ich mich jetzt in diesem Club meinen Träumereien hingebe. Keiner kann mir dafür verurteilen, keiner weiß davon. Es sind Stunden der Freiheit, in denen ich leben und genießen möchte, was mit mir geschieht.

Ich stelle mir vor, dass er hier wäre, vor mir steht und mit mir tanzt. Einfach bei mir ist. Es ist ein schönes Gefühl, das Kribbeln in meinem Inneren zu spüren, während mich dieser dunkle, leidenschaftliche Blick vor meinem geistigen Auge erneut gefangen nimmt. Es versetzt mich in einen zufriedenen Glückstaumel, der mich mit Energie durchflutet und unbeschwert atmen lässt. Auch wenn dieser Zustand womöglich nicht ewig anhalten wird, sollten sich meine Träume als nicht realistisch erweisen, so möchte ich momentan einfach von diesen Gefühlen erfüllt sein und sie festhalten.
 

Ich bin so in meinen Gedanken und Empfindungen versunken, dass ich schon zu spüren glaube, wie sich mir jemand nähert und fremde Hände langsam an meinen Seiten entlanggleiten. Ein weiterer, schöner Traum. Erst als Lippen über meinen Hals streichen, merke ich, dass meine Traumwelt in der Wirklichkeit angekommen ist. Kann es wirklich –?

Ein innerliches Beben bringt mich ins Wanken, als eine mir allzu vertraute Stimme in mein Ohr raunt: „Du weißt, dass du sämtliche Blicke auf dich ziehst, wenn du so tanzt, Toshiya.“

Mein Herz gerät außer Takt. Er ist hier.

Ich halte kurz die Luft an, um mich gänzlich aus meinen Gedanken zu befreien und mich auf die Person zu konzentrieren, die sich gerade von hinten an mich schmiegt.
 

„Hallo, Die.“
 

Wenn es ein Traum ist, will ich nicht erwachen. Doch dieser schnelle, kräftige Herzschlag, den ich an meinem Rücken fühle, kann keine Einbildung sein. Diese Erkenntnis lässt mich lächeln. Er ist wirklich hier.

Dennoch – ich muss wissen, ob das erregende Knistern, das über meine Haut tänzelt, nicht nur eingebildet oder gar einseitig ist. Ein kurzer Blick über die Schulter lässt mein Lächeln breiter werden. Sehnsüchtige Augen schauen mich an und lassen mich erzittern. Eine Gänsehaut macht sich auf meinem Körper breit. Nein, das kann ich nicht alles fehlinterpretiert haben. Es fühlt sich einfach zu echt an.
 

„Hast du auf jemanden gewartet?“
 

Diese Frage lässt mich einen Moment lang innehalten.
 

„Nein…“ Ich atme aus und drehe mich leicht zu Die, streife mit meinem Mund sein Ohr. Meine Lippen kribbeln, als sie meinen innersten Gedanken formulieren und gegen die erhitzte Haut hauchen:

„... aber ich bin froh, dass du hier bist.“
 

– ENDE –
 

_______________________
 

indirekte Fortsetzung: Anziehung (https://www.animexx.de/fanfiction/391141/)


Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich hoffe, es hat gefallen^^
Ich muss gestehen, ich habe noch nie eine Vorgeschichte zu irgendetwas geschrieben und habe dabei festgestellt: man muss höllisch aufpassen, dass das alles zusammenpasst und Sinn ergibt xD Ob ich das nochmal mache, weiß ich nicht. Manchmal haben sich dann während des Schreibens unbewusst Erklärungen für einige Situationen in der Fortsetzung aufgetan, über die ich vorher nie nachgedacht habe und in der eigentlichen FF einfach so dahin geschrieben habe. Aber plötzlich passte es dann, was mich sehr gefreut hat xD Dieses Prequel war ja eigentlich nie geplant gewesen, aber so ist das manchmal.

Über Feedback würde ich mich wie immer freuen ^^

Liebe Grüße
Luna ^.^v
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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  -Pharao-Atemu-
2023-12-06T06:48:43+00:00 06.12.2023 07:48
Sehr cool geschrieben, ich habe das Grinsen schier nicht aus dem Gesicht bekommen.
Auch wenn ich derzeit vom vielen ff lesen wohl einen kleinen Schaden habe. Da ich gestern kurz einen Bericcht gelesen hab und schon das Feld zum Kommi schreiben gesucht habe -.-"

Da ich derzeit überwiegend deine ffs lese, schiebe ich dir hiermit eine gewisse Mitverantwortung dafür zu... und meiner Grippe XD
Antwort von:  QueenLuna
25.12.2023 11:03
Haha ich denke mit der Verantwortung kann ich umgehen ^^
Freut mich dass es dir gefallen hat
Von:  Kyo_aka_Ne-chan
2019-12-21T19:34:32+00:00 21.12.2019 20:34
Fuwaaah, ich habe Gänsehaut xD

Ich finde es toll, wie verspielt Toshiya hier ist und wie ihn Dai dennoch aus der Fassung bringt, obwohl er einfach nur schaut bzw. starrt. Gerade, wenn Dai so angefressen ist, gefiel er mir doppelt so gut und dass es Toshiya nicht aus dem Kopf geht, finde ich ebenso toll. Da ist der Gitarrist dem Bassist doch mal unter die Haut gegangen ;)

Ich finde deinen Schreibstil gut geordnet und es baut sich eine tolle Spannung auf. Ich wandere mal zur Fortsetzung, ich muss wissen, wie es weitergeht *-*

Liebe Grüße
Kyo
Antwort von:  QueenLuna
21.12.2019 23:00
Waaah ich freue voll, dass dir die FF so gut gefallen hat <3
Ich mag den verspielten Toshiya auch sehr gerne ^^ Hab ein wenig nen Narren an ihm gefressen

Und ich bin echt froh, dass du der FF so gut folgen konntest, da ich nicht recht einschätzen konnte, ob die Geschichte für sich allein auch wirkt, da ich sie ja in anderer Reihenfolge geschrieben habe (also eben erst "Anziehung") und mir daher sicher war, ob man dann in einer anderen Lesereihenfolge, als ich sie eben geschrieben habe, das Ganze auch so versteht wie ich das will.

Oh gott, was war das denn für ein Satz gerade xD ich hoff, du verstehst, was ich ausdrücken will ^^`

Also vielen lieben Dank noch mal <3


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