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Something Strange

Vanished
von

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Chapter 3

"Du...Du bist wach!"

Es war nicht so, dass Liv sich nicht bewusst war, wie unfassbar überflüssig diese Feststellung war, beschrieb sie doch etwas vollkommen offensichtliches, jedoch spielte diese Tatsache für den Moment in ihren Augen keine Rolle. Hauptsache, ihr fiel irgendetwas ein, was sie sagen konnte. Weiterhin zu schweigen hätte sie schier um den Verstand gebracht; sie musste der Erleichterung, die von ihrem Körper Besitz ergriffen hatte, auf irgend eine Weise Ausdruck verleihen, andernfalls würde sie sich ihren Weg suchen wie ein Wasserlauf, und sich dabei früher oder später gnadenlos ins Freie sprengen.

Randall starrte sie an, ohne irgendwelche Anstalten zu machen, auf ihre Bemerkung einzugehen, sie war sich nicht einmal sicher, ob er sie überhaupt wahrgenommen hatte, und ihr frisch gewonnener Optimismus sank bereits wieder um ein gutes Stück.

Und dann, ganz schwach, so leise, dass Liv es mit Sicherheit überhört hätte, wären all ihre Sinne nicht in diesem Moment bis ans äußerste geschärft wie die einer Katze, die gerade im Begriff war, sich an eine ahnungslose Maus heranzuschleichen, brachte er noch einmal derartige Worte hervor, welche genau zu denen aus seinem Traum zu passen schienen:

"Ich bin kein Mörder!"

Wie scharfe Klingen drangen sie ins Livs Gehirn. Ließen sie erzittern wie unter einem Kälteschauer, ihre Kehle fühlte sich mit einem Mal unfassbar trocken an und in ihren Augenwinkeln bildeten sich Tränen, die sie nur durch schnelles, leichtes Blinzeln daran hindern konnte, verräterisch über ihr Gesicht zu laufen.

Ich bin kein Mörder.

Worte, die sie ihn im Laufe der letzten Monate so oft hatte sagen hören, und das nicht in Zusammenhang mit irgendwelchen Alpträumen oder Anfällen; nein. Sondern in Gegenwart von Polizisten und Verwandten. Vor Reportern und Schaulustigen, und vor dem Psychologen. Vor Freunden und Mitschülern und Lehrern.

Vor seiner Familie. Mom, Dad. Liv.

Monatelang hatten diese Worte ihn durch seinen Alltag begleitet; nein, nicht bloß begleitet, verfolgt. Mit der Zeit hatte es nachgelassen, die Neugierigen hatten sich anderen Dingen zugewandt, die Presse neue Skandale und Themen gefunden. Auf der Straße warfen die Leute ihm manchmal noch seltsame Blicke zu, doch sie schwiegen, Taten höflich und normal, obwohl ihre Fassade nicht bloß bröckelte, sondern geradezu einsturzgefährdet war, und es gar nicht möglich war nicht mitzubekommen, wie sie sich unter sich das Maul zerrissen.

Ein dreiviertel Jahr war objektiv betrachtet vielleicht recht viel Zeit. In solch einer Situation jedoch so gut wie nichts.

Einem inneren Instinkt folgend legte Liv eine Hand um Randalls Schulter, wobei sie unter dem dicken Stoff des Pyjamas seine Knochen spüren konnte (er ist so dünn geworden in den letzten Monaten!, wurde ihr wieder einmal bewusst) und zog ihn zu sich heran; halb hatte sie erwartet, dass er sich wehren würde, dass die Berührung ihm womöglich sogar Angst machen könnte, wie Dr. Parker einige Male in den Besprechungen in Erwägung gezogen hatte, doch sie stieß auf keinerlei Widerstand.

Der dünne Körper ließ sich so leicht bewegen wie eine Schaufensterpuppe, schien überhaupt kein Eigenleben zu besitzen, und einen kurzen, kaum wenige Millisekunden andauernden, aber dafür unfassbar intensiven und grauenhaften Moment lang glaubte Liv mit unerschütterlicher Sicherheit zu wissen, dass Randall tot war.

Ein leichtes Zittern unter ihrer Handfläche durchbrach die Starre des Schocks, in die dieser furchteinflößende Gedanke sie versetzt hatte und ließ sie innerlich erleichtert aufatmen. Ihr Blick, den sie bis eben seit irgendeinem ihr unbekannten Zeitpunkt irgendwann in den letzten Minuten unbewusst auf das graublaue Muster der Bettdecke konzentriert hatte und nun von eben diesem gelöst hatte, kreuzte sich mit dem ihres Bruders, und zum ersten Mal in dieser Nacht war die sicher, in seinen dunkelgrünen Augen wirkliche Klarheit erkennen zu können.

"...Liv?"

Es schmerzte, seine Stimme so zu hören. Nicht wegen der Tatsache, dass sie noch immer so unglaublich schwach klang, an einen Sterbenden erinnerte, dem nur noch wenige, anstrengende Atemzüge blieben, auch nicht wegen der Angst, die ganz deutlich aus fiesen einen kurzen Wort herauszuholen war, Obgleich fiese Faktoren das Ganze selbstredend nicht angenehmer machte. Es war die Frage, die darin steckte. Diese Ernst gemeinte, keinesfalls rhetorische Frage, die sie nicht nur entsetzte und traurig, sondern, wenn sie ganz ehrlich war, sogar ein wenig wütend machte.

Er war sich nicht sicher, ob sie es war.

Trotz ihrer gemischten Gefühle bezüglich dieser für sie unerwarteten Reaktion lächelte Liv. Strich ihrem Bruder beruhigend übers Haar - und nicht einmal dagegen wehrte er sich - während sie mit so ruhiger Stimme wie es ihr nur irgend möglich war, erwiderte: "Ja, genau! Ich bin's! Und du hattest wieder einen Alptraum! Erinnerst du dich da dran? Du hast mich geweckt..."

Keine Antwort.

Randall starrte sie an, als habe er große Schwierigkeiten, sie zu verstehen, als kämen ihre Worte nicht vollständig bei ihm an, als gelangten nur Bruchstücke von dem was sie sagte, in sein Hirn, Fragmente, aus denen er sich das große Ganze selbstständig zusammenreimen musste, wie bei einem Puzzle mit fehlenden Teilen.

Ohne es wirklich zu registrieren oder etwas dagegen tun zu können, stieß Liv ein tiefes, lautes Seufzen aus. Wieder hatte sie das dringende Bedürfnis, einfach loszuschreien. Ihren Bruder zu packen und zu schütteln und ihm zuzubrüllen, er solle endlich aufwachen aus seinem apathischen Zustand, ihr zuhören, und verdammt noch mal, mit ihr reden! Ihre Fragen beantworten. Ihr erzählen, was für ein Traum es gewesen, was darin passiert war, dass er so sehr in Panik geraten war.

"Wann auch immer so etwas vorkommen sollte, sollten Sie ihn dazu anregen, darüber zu reden!", hörte sie Dr. Parker Stimme in ihrem Kopf; Worte, die sie in ihren eigenen Ansichten bestärkte und sie beinah noch mehr aufbrachte. "Er muss darüber reden, andernfalls frisst er es nur noch tiefer in sich hinein, und die Träume werden womöglich immer intensiver!"

Es war schwer zu glauben, dass es da noch eine Steigerung geben konnte.

Lange dauerte es, bis sie eine Antwort bekam. So kam es ihr zumindest vor. Eigentlich waren es bloß wenige Sekunden, doch zogen diese sich zäh in die Länge wie Honig, schienen eine Ewigkeit lang zu dauern, und Liv bezweifelte bereits insgeheim, dass ihr Bruder überhaupt gehört, geschweige denn verstanden hatte, was sie gesagt hatte, und hätte ihre Worte wohl noch einmal wiederholt, doch in genau diesem Moment kam endlich die von ihr gewünschte Reaktion.

"Tut mir leid."

Seine Worte klangen kränklich und monoton, und Liv biss sich unvermittelt auf die Unterlippe ohne es wirklich zu bemerken, eine Handlung, die ihr als kleines Kind zu Eigen gewesen war, und mit der sie ihre Eltern und auch ihre Lehrer regelmäßig zur Weißglut getrieben hatte.

Ein Zeichen von Unsicherheit und Nervosität.

Tut mir Leid.

Randalls Stimme war keinerlei Gefühlsregungen anzuhören gewesen, hatte kühl und distanziert geklungen, als ginge ihn das alles gar nichts an, als hätte diese Situation nichts mit ihm zu tun, als wäre er lediglich ein Zuschauer, der im Livepublikum einer Show saß, die über keinerlei emotionale Tiefe verfügte.

Als wäre es nichts von Bedeutung.

"Das muss dir nicht leid tun!", gab Liv zurück, eine Spur schärfer vielleicht, als sie beabsichtigt hatte, und ihr war selbst nur allzu gut bewusst, wie lahm diese bereits so viele Male zuvor verwendete Floskel klingen musste. "Ich hatte nur echt Angst, dass ich dich nicht wach kriege!"

Ein Ausdruck des Erstaunens blitzte in seinen Augen auf, irritiert hob er den Kopf, schien sie zum ersten Mal in dieser Nacht wirklich anzusehen. Selbst im gedämpften Licht der Nachttischlampe konnte Liv die tiefen Ringen unter seinen Augen sehen, Zeugen des unruhigen Schlafes, den er im besten Falle bekam, und von den wirklich furchtbaren Alpträumen, deren Ausmaß sie in den letzten Minuten wieder einmal hatte beobachten können.

"Hast du das versucht? Ich hab dich nicht gehört..."

Die Gänsehaut, die sich nach Randalls Aufwachen ein wenig abgeschwächt hatte, wurde wieder stärker, prickelte wie Säure und ließ Liv erschaudern, wieder biss sie sich auf die Unterlippe und registrierte gleich darauf einen starken, metallischen Geschmack im Mund.

Sie konnte sich nicht erinnern, jemals zuvor von ihrem Bruder erzählt bekommen zu haben, dass er sie nicht gehört hatte.

Normalerweise - wobei Normal in diesem Kontext immer einen äußerst faden Beigeschmack besaß - berichtete er, dass er ihre Stimmen in seinem Traum gehört hatte, dass er daraufhin versucht hatte, aufzutauchen, aufzuwachen, den Stimmen durch den dicken Morast seiner Traumwelt in die Realität, in Sicherheit zu folgen, was ihm früher oder später auch jedes Mal gelungen war.

Und jetzt?

Jetzt erzählte er ihr allen ernstes, dass er kein einziges Wort von dem, was sie zu ihm gesagt hatte vernommen hatte, dass das alles ungehört verklungen war? Dass nichts davon zu ihm gedrungen war?

War sein Schlaf so tief gewesen, tiefer als jemals zuvor?

Und wenn ja...War es dann bloßer Zufall gewesen, dass er letztendlich doch aufgewacht war?

Dieser Gedanke ließ die brennende Panik, die sich in ihren Eingeweiden eingenistet hatte wie ein boshafter Parasit und gerade etwas abgeebbt war, wieder hochkochen. Da war sie wieder, diese Hilflosigkeit; die Befürchtung, dass es nichts in ihrer Macht stehende gegeben hatte, mit dem sie Randall hätte helfen können, dass der Anfall, hätten sie Pech gehabt, noch länger andauern, noch stärker hätte werden können, bis hin zu einem Punkt, den sie sich noch nicht einmal auszumalen wagte.

Nicht einmal Dr. Parker hatte ihnen mit Sicherheit sagen können, wie schlimm es im Extremfall werden könnte.

"Man sollte vorsichtshalber immer vom Schlimmsten ausgehen, als hinterher zu fahrlässig gewesen zu sein.", hatte er einmal erläutert und dabei augenscheinlich hoch konzentriert in seinem Notizbuch herum geblättert, in dem er ständig, wenn sie sich in Gesprächen befanden, so voller Elan mit einem winzigen Bleistift herumkritzelte, als verfasse er gerade eine Rede für die Nobelpreisverleihung. "Ein - wenn auch sehr geringes - Risiko bei vergleichbaren Anfällen sind zum Beispiel Herzrhythmusstörungen oder ein versagendes Atemzentrum. Hirnschwellungen oder -ödeme...Die eben in seltenen Fällen zum Tod führen können."

Liv erinnerte sich noch genau daran, wie die Worte eine Übelkeit in ihr verursacht hatten, die sie um ein Haar hätte aufspringen und aus dem Raum rennen lassen. Sie erinnerte sich an das bleiche, beinahe schon weiße Gesicht ihrer Mutter, dem die Spuren unzähliger schlafloser Nächte, die sie in Sorge und Angst verbracht hatte, sowie die Strapazen der letzten Wochen deutlich anzusehen waren, an die Schatten in den Augen seines Vaters, der zwar wohl insgeheim bereits ähnliche Vermutungen gehegt hatte, doch nicht wirklich zu glauben schien, eben diese nun aus dem Munde des Arztes zu vernehmen. Und natürlich an Randall.

Randall, der auf dem blanken Klinikstuhl zusammengekauert dasaß, mit einem Ausdruck im Gesicht, als habe er gerade einen Geist gesehen, die Arme vor der Brust verschränkt, die Fingernägel tief in die bleiche Haut seiner Arme bohrend, dabei Abdrücken hinterlassend, die selbst Tage später noch deutlich zu sehen gewesen waren.

Den Schmerz, den diese Handlung ihm ganz offensichtlich hatte zufügen müssen, hatte er nicht gespürt, oder zumindest keine Reaktion dafür verschwendet, um ihn zu zeigen, und erst nach einem leichten Stoß seitens Mom schien er es bemerkt zu haben.

Dr. Parker hatte sich indes geräuspert und mit sachlicher, trockener Akademikerstimme wiederholt: "Aber wie gesagt: das ist äußerst unwahrscheinlich."

Äußerst unwahrscheinlich. Ein Flugzeugabsturz war ebenfalls äußerst unwahrscheinlich, doch brachte das den Passagieren, die sich dann doch in einer der Maschinen befanden, die ein solches Schicksal traf, herzlich wenig; für sie spielte es keine Rolle, ob es nun wahrscheinlicher war vom Blitz getroffen zu werden oder beim Wände streichen von der Leiter zu fallen.

Sie waren - in den meisten Fällen - tot.

Tot.

Nichts konnte sie dagegen ausrichten, dass diese Vorstellung sich tief in ihrem Gehirn festsetzte wie eine Zecke, die statt Blut zu saugen ein vergiftetes Sekret bestehend aus Furcht und Panik abgab und sie damit infizierte.

Wieder fröstelte sie, diesmal jedoch nicht aufgrund von Gänsehaut.

"Eh...Liv?" Der, nun bereits ein wenig gefasster als zuvor wirkende, Klang von Randalls Stimme machte Liv bewusst, dass sie ganz offensichtlich viel zu lange geschwiegen und ihren Gedanken an vergangene Ereignisse nachgehangen hatte, ohne eine Antwort auf seine vormals gestellte Frage zu geben. So tief war sie in eben diese Gedanken versunken gewesen, dass sie kurzzeitig nicht einmal mehr wusste, was eigentlich seine Frage gewesen war, und als sie sich schließlich erinnerte, nickte sie letztlich. Eher eine instinktive Reaktion als eine wirklich durchdachte Handlung, doch gab es in dieser Situation kaum etwas, was ihr egaler hätte sein können.

"Ja, ich hab’s versucht! Aber ohne großen Erfolg."

Welch Untertreibung. Selbst mit einem kleinen Erfolg wäre sie wohl halbwegs zufrieden gewesen.

Randall blickte sie weiterhin schweigend an. Schien zu überlegen, welche Möglichkeiten der Erwiderungen sich ihm boten, sein Gesicht wirkte indes nahezu vollkommen ausdruckslos...nahezu.

Irgendetwas war da, etwas, das Liv weder richtig zu beschreiben noch im eigentlichen Sinne zu sehen vermochte; wie ein dezenter Schatten unbekannter Ursache, der einem zu betrachtenden Subjekt einen neuen, lediglich subtil vorhandenen Eindruck verleihen konnte.

Doch bevor sie in der Lage war, sich darüber weiterhin großartige Gedanken zu machen, hatte ihr Bruder sich für eine Antwort entschieden; eine, die einerseits kaum nichtssagender hätte sein können, andererseits jedoch dafür sorgte, dass Liv sich auf unangenehme Weise ertappt fühlte, als wäre sie soeben beim Lügen erwischt worden.

"Aber scheint ja dann doch irgendwie geklappt zu haben."

Nun war es Liv, die schwieg. Sie wusste nicht, was sie hätte erwidern sollen, und sie wollte auch gar nicht weiter darüber nachdenken. Nicht über seine Worte und noch weniger über die Situation; es brachte doch nichts, nichts weiter als sinnlose Panik, die alles andere als hilfreich war und zu nichts führen würde.

Alles, was sie zustande brachte, war ein leichtes Nicken.

Mehr schien Randall auch gar nicht zu erwarten, er wandte den Blick wieder ab, fixierte seine sich noch immer verkrampft in die Decke krallenden Hände; es wirkte ein wenig so, als erhoffe er sich, dass sie ihm Halt geben würde. Ihn am Fallen hindern würde.

Stille erfüllte den Raum. Eine schwere, durchdringende Stille, nur das laute Heulen des Windes, der um sie Fassade zog, war zu hören, minutenlang; Minuten, die sich anfühlte wie Stunden, wie Tage, wie Wochen. Keiner der Beiden schien so recht zu wagen, eben diese Stille mit seinen Worten zu durchbrechen, auch wenn es keinen wirklichen Grund gab, sie beizubehalten. Eher war das Gegenteil der Fall. Nahezu synchron verspürte sie ein gleichermaßen starkes Gefühl des Unwohlseins, hatten das übermächtige Gefühl, nicht mehr richtig atmen zu können, als würden ihre Lungen von irgendwelchen Gewichten zusammengedrückt und die Atemwege blockiert.

Es war keine angenehme Stille. Sondern eher wie die Ruhe vor einem Sturm.

"Was war das für ein Traum?"

Weshalb Liv gerade diese Frage stellte, um die angespannte Atmosphäre mit ihrer Stimme zu durchbrechen, konnte sie selbst nicht sagen. Sie war wie von selbst über ihre Lippen gekommen, unbeeindruckt von jedem Versuch, sie zu unterbinden, und sie sah mit beschämter Betroffenheit, wie Randall zusammenzuckte, als er sie vernahm.

Sein Blick nahm einen Ausdruck an, der ihr unmissverständlich klar machte, wie grauenhaft es für ihn war, daran zurückzudenken, wie wenig er das tun wollte und wie sehr er sich durch ihre unbedachte Frage dazu gezwungen fühlte.

Es schmerzte sie selbst, diese Reaktion zu beobachten.

Doch konnte sie ihre Worte nicht zurücknehmen, so sehr sie sich es in diesem Moment auch wünschte; sie musste es wissen, wenn sie nicht wollte, dass ihr Bruder seine Ängste und die wenigen Erinnerungen an das, was all diese Träume und Anfälle letzten Endes auslöste, die er besaß, tief in sich hinein fraß, wo sie wachsen und gedeihen konnten zu Kreaturen, die ihn irgendwann mit größter Wahrscheinlichkeit um den Verstand bringen würden.

Also schwieg sie. Sah Randall abwartend an, mit, wie sie selbst nur hoffen konnte, unbeeindruckter, ruhiger Mimik, und schließlich, endlich, stieß der Angesprochene ein leises, resigniert klingendes Seufzen aus.

"Ich hab Felix gesehen.", murmelte er, dann löste er die Hände zum ersten Mal wieder von seiner Decke und presste sie sich nun stattdessen vors Gesicht.

Etwas, was er oft tat, wenn er über seine Alpträume sprach, und Liv wusste nur zu genau, warum.

Er weinte. Lautlos, ohne zu Schluchzen und zu wimmern, wie er es zuvor im Schlaf getan hatte, da waren einfach bloß Tränen, die ihm übers Gesicht liefen und die er nicht unterdrücken konnte.

Und von denen er nicht wollte, dass irgend jemand sie sah.

"Wir...Wir wollten...irgendwas tun...irgendwo hin...Aber ich...Ich weiß nicht...Und dann war er...Er...Er ist..."

Seine Stimme versagte. Bloß ein leises Krächzen war er noch in der Lage, hervorzubringen, Liv sah, wie sein Körper wieder zu zucken begann, doch dieses Mal nicht aufgrund eines Anfalls, sondern unter den stummen Schluchzern, die er um jeden Preis versuchte, zurückzuhalten.

Wieder war das einzige hörbare Geräusch das Pfeifen des Sturmes.

Es klingt unheimlich., schoss es Liv durch den Kopf, ein Gedanke, für dessen Ursprung es keine wirkliche Erklärung gab. Der Wind klang nicht anders als in so vielen anderen Nächten, sie war praktisch mit diesem Klang aufgewachsen wie die Leute an der Küste mit dem Rauschen des Meeres, und derartige Überlegungen hatte sie noch nie zuvor angestellt.

Doch je mehr sie darüber nachdachte, sich geradezu hineinsteigerte, desto mehr konnte sie dem zustimmen.

Irgendwie erinnerte sie das Pfeifen und Heulen, dass die Mauern und die Dachziegel zum knarren brachten wie ein verwittertes Baumhaus, an die verzweifelten Stimmen verlorener Seelen, die in irgendeiner Zwischenwelt gefangen waren und um Erlösung schrien.

Wow, du ließt zu viele Horrorgeschichten!, schalt die sich selbst für diese seltsamen, abwegigen Gedanken; und das stimmte wohl, sie besaß kaum andere Bücher als solche von Edgar Allan Poe, Stephen King, H. P. Lovecraft und Bram Stoker, aber trotzdem besaß diese Vorstellung irgend etwas, das über die durch fiktionale Werke ausgelöste Paranoia eines Menschen mit einer lebhaften Fantasie hinaus ging.

"Er ist gestorben."

Diese Bemerkung kam so überraschend, so unerwartet, dass Liv vor Schreck zusammenzuckte und den Blick von der Wanduhr löste, die sie irgendwann in den letzten Minuten unbewusst begonnen hatte, anzustarren. Sie wandte sich wieder ihrem Bruder zu, und dessen Gesichtsausdruck wirkte eben so kühl und emotionslos wie die Worte, die er so eben ausgesprochen hatte. Seine Augen waren gerötet und glänzten noch immer aufgrund der Tränen, die sich darin sammelten, doch war die vorherige Angst darin verschwunden und einer Leere gewichen, die stark der ähnelte, den sie während seines Anfalls darin gesehen hatte, nur weniger wirklich abwesend, sondern eher...unbeeindruckt.

Als hätte dieser Satz nicht das Geringste mit ihm zu tun.



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