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Wolkenwächter

Die Chronik eines Ausgestoßenen - Teil 1
von

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Die Sonne stand noch über den Gipfeln der Wolkenberge, aber sie kündigte den nahen Abend bereits mit einem rötlichen Lichtschimmer an, als Loronk endlich auf das Lager der Banditen stieß. Es war nicht zu übersehen. Die Schurken lungerten am Fuß der Berge herum und nur die wenigsten von ihnen hielten Wache. Ein Großteil lag faul im Staub herum, andere vertrieben sich ihre Zeit mit Würfelspielen und wieder andere stritten sich lautstark um eine Flasche Schnaps.

Loronk verzog verächtlich das Gesicht, als er auf dem Pferderücken auf die Banditen zusteuerte. Verglichen mit seinen Soldaten waren sie ein wilder, unorganisierter Haufen disziplinloser Halsabschneider. Trotzdem bemerkten sie den sich nähernden Reiter frühzeitig. Die Wachen machten ihre Kameraden auf den Neunankömmling aufmerksam und Loronk konnte ihre barschen Befehle deutlich hören. Er sah, wie sich die zerlumpten Gestalten missmutig aufrappelten und ihn mit verschränkten Armen und grimmigen Gesichtern erwarteten. Einige wenige liefen davon und verschwanden in einer Nische in den Hängen der Berge, die sich bei genauerem Hinsehen als zerklüftete Felsspalte entpuppte. Der Brigadegeneral ließ seine Kriegskeule stecken und hob die Hand schon von Weitem zum Gruß. Nur die wenigsten Banditen hatten ihn schon einmal zu Gesicht bekommen, eigentlich kannten ihn nur Fjedor und seine Vertrauten, Brynne und dessen Diener, sowie Mola und ihr Gesindel, das nun erschlagen in der Mine lag.

„Keinen Schritt weiter!“, hörte er den Warnruf eines Banditen. Loronk zügelte sein Pferd und ließ seinen hungrigen Blick über die Schurken schweifen. Sie waren zerlumpt und schmutzig, aber sie konnten mit ihren rostigen, schartigen Waffen umgehen. Der Ork hielt es für besser, keine offene Auseinandersetzung zu provozieren.

„Ich bin nicht euer Feind“, knurrte er leise, schwang sich elegant aus dem Sattel und hob entwaffnend die Hände. „Ich muss dringend mit Fjedor sprechen.“

Unruhiges Gemurmel ertönte. Ein paar der Banditen ließen verwundert ihre Waffen sinken. „Er kennt Fjedor“, hörte Loronk einen Dunkelelfen flüstern.

Der Tumult weckte die übrigen Banditen, die tief und fest geschlafen hatten. Mit staubigen Gesichtern setzten sie sich auf und rieben sich verwundert die Augen. Loronk konnte über ihre Unbeschwertheit nur den Kopf schütteln. Im Tal der Asche sah man nahende Feinde schon von Weitem, aber sobald es in das unübersichtliche Gebiet der Wolkenberge ging, durften sich die Banditen keine Nachlässigkeiten mehr erlauben. Sonst reichte selbst eine kleine Truppe wie Gancielle und seine Verbündeten, um das Lumpenpack in einem Überraschungsangriff ordentlich aufzumischen.

„Sieh an, sieh an. Wir haben hohen Besuch.“

Aus dem Spalt in der Felswand trat Fjedor. Mit seinen dunklen Augenringen und dem wirr abstehenden Haar wirkte er, als sei er gerade erst aufgestanden. Ein herzhaftes Gähnen unterstrich diesen Eindruck. „Der Brigadegeneral“, grinste er spöttisch. „Was verschafft uns diese Ehre?“

Loronk hätte ihn gerne beim Kragen gepackt und ordentlich durchgeschüttelt, aber die Banditen sahen es nicht gerne, wenn man die Hand gegen ihren Anführer hob. Außerdem war auch Fjedors Leibwächter Nironil anwesend. Loronk wusste, dass die übrigen Schurken vor Ehrfurcht vor dem Waldelfen erstarrten, und auch wenn er nun etwas ramponiert aussah, spürte der Brigadegeneral keine große Lust, Nironils Kampffertigkeiten auf Mark und Nieren zu testen.

„Was hat das alles zu bedeuten?“, knurrte Loronk mit gedämpftem Zorn. „Warum hast du die Mine verlassen?“

Fjedor grinste selbstgefällig. „Nun, ich habe mich an meine Wurzeln erinnert und habe den Entschluss gefasst, wieder einmal einen kleinen Beutezug zu unternehmen, um meine Kasse etwas aufzubessern“, erwiderte er gelassen.

„Du meinst wohl, du wolltest dir etwas Gold unter den Nagel reißen, von dem du nichts an mich abgeben musst“, grollte Loronk.

Fjedor hob ertappt die Hände. „Deinem unermesslichen Scharfsinn entgeht auch gar nichts“, spottete er. „Aber das geht dich nichts an. Unsere Zusammenarbeit beschränkt sich lediglich auf den Schmuggel.“

„Du bist ein Idiot!“, donnerte Loronk so laut, dass einige der Banditen vor Schreck zusammenzuckten. „Der Schmuggel ist vorbei! Die Mine wurde überrannt, weil du Hupfdohle lieber auf Beutezug gehst, anstatt das Sturmerz zu sichern und auf die Sklaven aufzupassen!“

Fjedor entglitten die Gesichtszüge. Er riss ungläubig die Augen auf und öffnete den Mund. „Was…was sagst du da?“, stotterte er. „Überrannt? Wie kann das sein?“

„Da fragst du noch?“, brüllte Loronk und ballte zornig die Fäuste. Er konnte sich kaum noch beherrschen. „Du bist mit über der Hälfte deiner Bande abgezogen! Mola und ihre Leute sind entweder tot oder im Kerker. Das Sturmerz ist weg und ich habe alles verloren!“

„Das ist alles sehr bedauerlich. Aber Ihr habt Euch diese tragische Wendung selbst zuzuschreiben.“

Loronk hob wutschnaubend den Kopf. Im Schatten der Felsspalte stand Brynne, flankiert von den beiden Dunkelelfen Brothain und Gilroy, und blickte zu ihm herüber. Sein triumphierendes Grinsen schien etwas im Inneren des Orks zu zerbrechen. Loronk schob Fjedor, für den die ganze Welt in sich zusammenfiel, einfach beiseite und stapfte mit knirschenden Zähnen auf Brynne zu. „Was erlaubst du dir?“, grollte er drohend und seine blutunterlaufenen Augen blitzten vor Zorn.

Natürlich trat ihm Brothain sofort entgegen, um seinen Meister zu beschützen, aber Loronk packte den Dunkelelfen einfach bei der Schulter und stieß ihn im Vorbeigehen zu Boden. Dann packte er Brynne beim Kragen und starrte direkt in sein entstelltes Gesicht. Die Nasen der beiden Männer berührten sich fast.

„Das ist deine Schuld“, zischte Loronk gehässig. „Wenn du Fjedor keinen Floh ins Ohr gesetzt hättest, wäre all das nie passiert!“

Brynne schien vollkommen ungerührt. Langsam hob er die rechte Hand. Loronk konnte hören, wie die Banditen scharf die Luft einsogen, doch was auch immer Brynne vorgehabt hatte, er überlegte es sich wieder anders und ließ den Arm sinken. Stattdessen trat Gilroy entschlossen vor.

„Mein Meister hat Recht“, rief er. „Ihr allein tragt die Verantwortung für die Entdeckung der Mine.“

Loronk ließ Brynne augenblicklich los und dieser richtete sich wortlos den Kragen seiner Robe, während der Brigadegeneral sich umdrehte und Gilroy zornig anglotzte. „Du armseliger, kleiner Wicht…“, knurrte er, doch der Dunkelelf blieb ruhig.

„Eure Gier war zu groß“, fuhr er fort. „Ihr konntet nicht anders, als Gefangene in die Sümpfe zu schicken. Auf diese Weise habt Ihr der Armee eine frische Spur gelegt und die Pläne meines Meisters gefährdet. Außerdem war es ein Fehler, Aulus einzuweihen. Ein Fehler, den ich glücklicherweise ausbügeln konnte.“ Gilroy strich sich abwesend über die Fingerkuppen.

„Dann hast du Aulus also tatsächlich erwischt?“, fragte Loronk ungläubig und spuckte verächtlich aus. „Und wenn schon. Das ändert nichts mehr. Alles ist aufgeflogen.“

„Was machen wir denn jetzt?“, jammerte Fjedor kläglich. Er sah all seinen Reichtum davonschwimmen. In dieser Hinsicht glich seine Situation der Loronks. Aber im Gegensatz zu dem Brigadegeneral hatte er noch eine schlagkräftige Truppe unter seinem Kommando.

„Nur die Ruhe“, sprach Brynne. „Das Sturmerz wird ohnehin wertlos sein. Schon bald werde ich ein neues Zeitalter einläuten.“

„Du bist doch völlig verrückt“, brummte Loronk kopfschüttelnd.

„Vorsicht, Brigadegeneral“, warnte Brynne. „Ihr seid hart auf dem Boden gelandet, wie ein Käfer, der von einer Tischplatte gefegt wurde. Und ein solcher Käfer lässt sich nur allzu leicht zertreten. Aber wenn Ihr Euch an mich haltet, könntet Ihr schon sehr bald wieder an der Spitze stehen und all Eure Macht zurückhaben.“

Loronk wich zurück. In Brynnes Augen leuchtete der Wahnwitz. Der Ork fühlte sich plötzlich äußerst unwohl. Selbst Gancielles Gesellschaft hätte er in diesem Moment vorgezogen. „Was hast du vor?“, stieß er atemlos hervor.

„Ich werde den Finger der Wolken in meinen Besitz bringen!“, verkündete Brynne und ballte die sehnige Hand zu einer Faust. Er starrte aus dem Schatten der Felsen hinaus in das Tal der Ebene, dessen graue Staubschicht vom Licht der untergehenden Sonne beschienen wurde. „Und ich werde Sola aus dieser Welt verbannen, solange ich lebe!“

„Der Finger der Wolken?“, fragte Loronk tonlos. „Was soll das sein? Und wie hängt er mit der Göttin des Lichts zusammen?“

Brynnes Antwort war nur ein bösartiges Grinsen.

„Ich dachte, du wolltest dich an Ascor rächen!“, rief Fjedor schrill.

„Das werde ich auch“, erwiderte Brynne. „Und an Sola gleich mit dazu. Mein Angebot gilt natürlich auch dir, Fjedor. Auch du wirst deinen wohlverdienten Platz einnehmen, wenn der Finger der Wolken erst mein ist.“

„Was bedeutet das alles?“, fragte Fjedor jammervoll und rang hilflos die Hände.

„Nur Geduld“, lachte Brynne heiser. „All Eure Fragen werden zur rechten Zeit beantwortet.“

Loronk gelang es, sich ein wenig zu beruhigen. Brynne klang vollkommen verrückt, aber er schien wahnsinnig genug zu sein, um seine Pläne in die Tat umzusetzen. Und dann war es vermutlich besser, auf seiner Seite zu stehen. Der Brigadegeneral hatte ohnehin keine große Wahl. Es war besser, unter Brynnes Kommando Unterschlupf zu finden, als allein vor der Rache des Ordens fliehen zu müssen.

„Wir sollten uns beeilen“, brummte er. „Eine kleine Vorhut der Armee ist auf dem Weg hierher. Sie sollte diesen Ort kurz nach Einbruch der Nacht erreicht haben.“

„Wir haben Verfolger?“, japste Fjedor und wurde bleich.

„Natürlich“, knurrte Loronk. „Denkst du, es ist unbemerkt geblieben, dass du nach Norden aufgebrochen bist? Ich habe das schließlich auch in Erfahrung gebracht.“

„Interessant“, murmelte Brynne und trat aus der Felsspalte heraus, blieb aber im Schatten. „Aber diese Leute werden mich nicht mehr aufhalten.“ Vorsichtig blinzelte er zu den Bergen empor, hinter denen die Sonne mittlerweile verschwunden war. „Ich glaube, wir können es wagen, aufzubrechen.“

Gilroy und Brothain machten den Banditen augenblicklich Beine. Die Schurken packten ihre Sachen zusammen, verstauten ihre Habseligkeiten in Säcken aus grobem Stoff und standen langsam auf. Sie hatten den ganzen Tag Zeit gehabt, um sich von den Strapazen des Marsches zu erholen. Direkt neben der Felsspalte, in der sich Brynne verkrochen hatte, um sich vor den für ihn so tödlichen Strahlen der Sonne zu verbergen, hatten sie ihr Lager aufgeschlagen, aber nur die Meuterer von Bord der Sirene, die seit fast zwei Tagen auf den Beinen gewesen waren, hatten sich tatsächlich schlafen gelegt. Den Großteil der übrigen Banditen hatte die glühende Mittagssonne stundenlang wachgehalten. Angesichts des bevorstehenden Nachtmarsches durch die Berge kam in ihren Reihen nur wenig Begeisterung auf. Einige von ihnen murrten, aber keiner wagte es, Brynnes Befehle offen infrage zu stellen. Mit dem Massaker an den Harpyien hatte er unmissverständlich klargestellt, wer das Sagen hatte. Fjedor hatte sich seine Leute immer mit schmeichlerischen Worten und großspurigen Versprechungen gefügig gemacht und hatte ansonsten immer nur so viel von ihnen gefordert, dass sie keinen Grund sahen, sich gegen ihn zu stellen. Brynne dagegen benutzte Angst, um die Schurken bei der Stange zu halten. Und diese Methode war effektiver als all das Gold, das Fjedor immer gezahlt hatte.

Die Banditen wussten, dass der anstrengendste Teil ihrer Reise noch vor ihnen lag. Die Wolkenspitze war bereits zu sehen, gesäumt von weiteren Gipfeln ragte sie im Norden in den Himmel und verschwand im Dunst. Die meisten der Schurken kannten sich in den Wolkenbergen aus, viele von ihnen stammten aus den ausgeplünderten und verlassenen Siedlungen im trostlosen Hochland östlich des Gebirges. Die Pfade waren steil und steinig und an einigen Stellen so schmal, dass kaum zwei Leute nebeneinander gehen konnten. Auf der einen Seite ragten Felswände fast senkrecht empor, auf der anderen gähnten scheinbar bodenlose Schluchten. Wie auch die Düstermarsch waren die Wolkenberge ein Ort, an dem jeder Schritt wohlüberlegt sein musste, sollte es nicht der letzte sein. Und es grenzte an Wahnsinn, die Pässe bei Dunkelheit zu überqueren. Trotzdem bewegte sich die gesamte Meute unter Brynnes Kommando auf die Gipfel zu.

Die Hänge, die das Tal der Asche einrahmten, schienen in der Dämmerung näher zu rücken. Die Senke wurde immer schmaler und der Pfad, der den Zugang in die Wolkenberge bildete, glich einem Nadelöhr. Im Gänsemarsch betraten die Banditen den Weg, der sich an den Hängen emporschlängelte. Sofort stieg das Gelände merklich an. Kleine Steine lösten sich unter den Schritten der Schurken und kullerten leise polternd in die Tiefe.

Loronk und Fjedor verbrachten den ersten Teil des Aufstiegs mit gegenseitigen Schuldzuweisungen. Beide warfen sich heftige Beleidigungen und Vorwürfe an den Kopf, wobei es Fjedor nur wagte, dem Ork so dreist Paroli zu bieten, weil Nironil an seiner Seite war und ihr Streitgespräch stumm mitverfolgte.

„Du kriegst den Hals nicht voll!“, grollte Loronk. „Ein Raubzug! Das ich nicht lache! Du hast dich immer damit gebrüstet, dass du so etwas nicht mehr nötig hast!“

„Ach ja?“, verteidigte sich Fjedor spitz. „Wer von uns beiden ist denn der Gierschlund? Dir konnten die Sklaven doch gar nicht genug Sturmerz aus den Wänden kratzen! Und immerhin scheue ich mich nicht davor, mir die Hände schmutzig zu machen, während du deinen fetten Hintern die ganze Zeit in einen bequemen Sessel gepflanzt hast und nur darauf warten musstest, dass sich deine Kasse von alleine füllt.“

„Vielleicht wäre jetzt ein guter Augenblick, mir wieder einmal die Hände schmutzig zu machen, wenn du unbedingt darauf bestehst“, drohte der Ork und ballte die Faust. „Dich halbe Portion brech ich durch wie einen Zahnstocher!“

„Der große Brigadegeneral!“, höhnte Fjedor. „Jetzt spuckst du wieder große Töne! Aber vor unseren Verfolgern bist du weggerannt wie ein kleines Mädchen. Du siehst ja auch ein bisschen aus wie eins, mit deinen Zöpfchen. Mach bloß nicht mich dafür verantwortlich, dass man dir deine Puppe weggenommen hat.“

„Unsere Verfolger haben mit deiner halben Bande gründlich den Boden gewischt, hast du das schon vergessen, du Wicht?“, dröhnte Loronk und schlug sich scheppernd auf die Brustplatte. „Aber so weit wäre es niemals gekommen, wenn du unter Brynnes Befehlen nicht buckeln würdest wie ein Schlammwurm! Ich habe immer gewusst, dass du keinen Stolz hast, aber ich habe nicht damit gerechnet, dass du nur eine Stufe über den schmierigen Algen stehst, die den Boden in deiner Grotte bedecken!“

„Pah, und wenn schon! Du Großmaul hast dir vor ihm doch auch in die Hosen geschissen! Mach hier bloß nicht so einen Aufriss, sonst lass ich Nironil aus deinen Zähnen eine Halskette basteln.“

„Das sieht dir ähnlich! Du versteckst dich wieder hinter diesem Spitzohr! Wenn du mir allein unter die Augen trittst, zieh ich dir die Hammelbeine lang, du Hungerhaken!“

Obwohl zahlreiche Drohungen ausgesprochen wurden, spielte sich die Auseinandersetzung der beiden rein auf verbaler Ebene ab. Fjedor hätte es im Traum nicht gewagt, gegenüber Loronk gewalttätig zu werden, wohingegen der Ork genau wusste, dass Nironil kurzen Prozess mit jedem machte, der Fjedor an den Kragen ging. Außerdem war ihnen bei all ihrer Wut bewusst, dass sie Leidensgenossen waren und das gleiche Schicksal zu ertragen hatten. Sie beide waren die Anführer einer schlagkräftigen Truppe gewesen und hatten Macht und Geld besessen, doch dann hatten sie die Quelle ihres Reichtums zeitgleich verloren. Außerdem war Loronk sein Kommando über die Soldaten entrissen worden und Fjedor musste hilflos mitansehen, wie Brynne ihm den Befehl über seine Banditen immer mehr entzog. Inzwischen gehorchte ihm nur noch Nironil, alle anderen schienen ihn schon gar nicht mehr zu beachten. Anfangs hatten sie sich noch fragend nach ihm umgesehen, wenn Brynne einen Befehl gegeben hatte, doch nun folgten sie dem Sturmmagier, ohne sich um ihren eigentlichen Anführer zu kümmern. Die Drahtzieher hinter dem Schmuggel und den Entführungen waren zu unwichtigen Nebenfiguren in Brynnes großen Plänen geworden.

Während Fjedor noch immer die Hoffnung zu haben schien, sich mit seiner Bande aus dem Staub machen zu können, sobald der Wolkentempel gestürmt war, wusste Loronk, dass er sich an Brynne halten musste, wenn er jemals wieder ein Bein auf den Boden bekommen wollte. Er hatte fast vergessen, wie es war, vor jemandem buckeln zu müssen, dabei hatte es Jahre gedauert, bis er den Rang eines Brigadegenerals erreicht hatte. Und nun war all seine Arbeit zunichtegemacht worden, weil er sich von Fjedors Reichtum hatte blenden lassen.

Gilroy ging an der Spitze der Gruppe und stellte sicher, dass kein Tageslicht durch die gezackten Gipfel der Berge fiel und sein Meister tatsächlich vor direkter Sonneneinstrahlung geschützt war. Erst, als es endgültig dunkel wurde, zog sich der Dunkelelf zurück, und Brothain übernahm die Führung. Brynne ließ einige Öllampen anzünden, um den Pfad zu erleuchten, der ab und zu wieder breiter wurde, aber unentwegt bergauf führte. Loronk fluchte leise, als überall in der Dunkelheit Lichter aufflammten. Der Schein der Lampen war weithin sichtbar und bildete für Gancielle eine helle Spur, die er unmöglich verlieren konnte. Aber Brynne schien keine Angst vor den Verfolgern zu haben und durch das Licht stellte er sicher, dass der Pfad gut ausgeleuchtet war. So sank das Risiko, dass einer der Banditen den Hang übersah, der direkt am Wegesrand steil abfiel.

Wie ein Lindwurm mit Schuppen aus Feuer wälzte sich die Schurkenmeute den Berg hinauf. Loronk erfuhr aus einem Gespräch zweier Dunkelelfen, dass die Wolkenspitze direkt hinter dem Gipfel lag, den sie gerade erklommen. Die Banditen rechneten damit, dass sie die Passhöhe im Morgengrauen erreichten und dann noch einen weiteren Nachtmarsch benötigten, um bis vor die Tore des Tempels vorzustoßen.

Der Hang wurde von silbernem Mondlicht und dem Schein der Öllampen bestrahlt, doch der Rest der Wolkenberge lag in bedrückender Finsternis. Loronk konnte die anderen Gipfel nur erahnen. Wie gebeugte Riesen duckten sie sich vor dem klaren Sternenhimmel. Noch dunkler als die anderen Berge war allerdings das Loch aus tiefster Schwärze, das in dem Abhang unter ihm klaffte. Loronk drehte sich in einem kurzen Schwindelanfall der Magen um, obwohl er den Boden nicht sehen und nur erahnen konnte, wie lange es im Falle eines Sturzes dauern würde, bis man unten aufschlug.

Plötzlich blieben einige Banditen stehen. Leises Gemurmel hob an und schließlich ertönte ein schriller Schrei, der von den Berghängen wiederhallte.

„Meister! Meister! Kommt schnell! Viland kann nicht mehr weiter!“

Loronk erkannte Gilroys Stimme. Sie klang aufgeregt und besorgt, sogar fast panisch. Das Getuschel der Banditen wurde kurz lauter, doch als sich Brynne und Brothain energisch einen Weg durch ihre Reihen bahnten, verstummten sie augenblicklich. Loronk zögerte kurz, doch dann heftete er sich an ihre Fersen. Fjedor und Nironil folgten Brynne und seinem Leibwächter ebenfalls.

Ein ganzes Stück bergab hatte sich eine Gruppe von Banditen flüsternd um einen Felsvorsprung geschart. Gilroy war bei ihnen und als er Brynne entdeckte, lief er ihm eilig entgegen.

„Seine Verletzungen machen ihm zu schaffen, Herr!“, rief er hastig.

„Zur Seite“, brummte Brynne und schob seinen Diener aus dem Weg. Auch die schaulustigen Banditen machten Platz und gaben den Blick auf Viland frei, der mit dem Rücken an die Felswand auf dem Boden saß. Sein Gesicht war so weiß, dass es in der Dunkelheit zu leuchten schien, sein Atem ging schwer und röchelnd und sein Kinn fiel ihm immer wieder auf die Brust. Er versuchte den Blutfluss aus den beiden Stichwunden an seinem Bauch, die wieder aufgebrochen waren, zu stoppen, indem er die Hände darauf presste, doch es war hoffnungslos.

Indra kniete neben ihm, wühlte in ihrem Apothekerbeutel und versuchte Viland zu überreden, sich von ihr den Verband wechseln zu lassen.

„Was ist hier los?“, fragte Brynne erzürnt.

Die dunkelelfische Heilerin fuhr erschrocken herum. „Ich habe es Euch gesagt“, japste sie erstickt. „Ich habe Euch gesagt, dass dieser Fußmarsch zu viel für ihn ist! Der…der Blutverlust ist zu viel für ihn. Er kann von Glück reden, wenn er überlebt.“

Brynnes beachtete Indra gar nicht. Er richtete seinen kalten Blick auf seinen verletzten Leibwächter. „Steh auf!“, befahl er.

Viland krümmte sich vor Schmerzen und versuchte, sich zu erheben, doch es gelang ihm nicht. „Es…es tu mir leid“, röchelte er schwach. „Ich…ich kann nicht. Vergebt mir, Herr. Ich…ich bin untröstlich, dass ich…Euch so kurz vor dem Ziel enttäuschen muss.“

„Bedauerlich“, sagte Brynne zerknirscht und wirbelte ruckartig zu Indra herum. Seine Augen funkelten mordlüstern. „Habe ich dir nicht gesagt, dass du ihn gesundpflegen sollst, bis er wieder seine Axt halten kann? Und jetzt sieh ihn dir an! Es ist eine Schande, dass dieser Mann einmal mein treuer Leibwächter war!“

Indras Gesicht wurde aschfahl und sie wich ängstlich zurück. „Aber…aber Ihr habt Unmögliches von mir verlangt!“, stammelte sie und drückte sich mit dem Rücken eng an die Felswand.

„Ich mag es nicht, wenn man meine Anweisungen nicht erfüllt“, fuhr Brynne fort. „Und du hast versagt. Unter diesen Umständen habe ich keine Verwendung mehr für dich. Brothain! Schaff sie mir vom Hals!“

Der Dunkelelf zog seinen Dolch und ging energisch auf Indra zu. Die Heilerin wimmerte erschrocken und sank zitternd in die Knie. „Bitte!“, flehte sie. „Ich habe mein Möglichstes getan!“

„Das war nicht genug“, erwiderte Brynne kühl. Die Banditen, die Zeugen der Szene wurden, hielten den Atem an.

Da zog Nironil blitzschnell einen Pfeil aus dem Köcher, legte ihn an die Sehne und spannte seinen Bogen. „Rühr sie an und du stirbst!“, drohte er Brothain.

Der Dunkelelf zögerte und blieb schließlich stehen. Mit steinernem Gesicht starrte er auf die Pfeilspitze.

„Was soll das denn jetzt?“, schrie Fjedor entsetzt. „Bei Phorons Hammer, nimm den Bogen runter!“

Nironil gehorchte nicht. Stoisch zielte er auf Brothain und sah Fjedor nicht einmal an. „Das geht nicht“ sagte er entschlossen. „Viele hier, mich eingeschlossen, hätten den Tod verdient. Aber nicht diese Frau!“

Fjedor rang verzweifelt die Hände. „Das ist jetzt wirklich nicht der richtige Zeitpunkt, um plötzlich ein Gewissen zu entwickeln!“, rief er schrill. „Du hattest nie eines und das war nie zu deinem Nachteil.“

„Das stimmt“ erwiderte Nironil. „Ich bin ein ganz fürchterlicher Waldelf.“ Indra riss erschrocken die Augen auf und starrte den Bogenschützen ungläubig an. In ihren Wimpern glitzerten Tränen. „Aber ich werde nicht dulden, dass jemand, der das Leben so sehr schätzt, einen gewaltsamen Tod stirbt!“

„Das ist ja rührend“, brummte Brynne und gab Brothain einen Wink. „Schneid ihr endlich die Kehle durch!“

Der Dunkelelf machte einen Schritt nach vorn und Nironil ließ augenblicklich die Sehne los. Der Pfeil zischte durch die Luft und bohrte sich in Brothains Schulter. Der Dunkelelf taumelte zur Seite und sein Schmerzensschrei war noch nicht verklungen, da hatte Nironil den Bogen erneut gespannt und zielte diesmal auf Brynne. „Lasst sie gehen“, forderte er. „Sonst trifft der nächste Pfeil Euch. Und nicht nur in die Schulter.“

„Du solltest dir einen Leibwächter suchen, der weniger gefühlsduselig ist, Fjedor“, knurrte Brynne. Dann hob er urplötzlich die Hand und ein greller Blitz schoss aus seinem Zeigefinger. Er traf Nironil in die Brust und der ganze Körper der Waldelfen verkrampfte sich. Er ließ die Sehne los, doch der Pfeil verfehlte sein Ziel deutlich. Während er noch von schweren Stromschlägen erschüttert wurde, trat Brynne rasch vor ihn und legte seine Hand, die vor Spannung knisterte, direkt an seine Kehle.

„Du kannst den Sturm nicht treffen!“

Die magische Kraft in seinen Fingern entlud sich in einem gewaltigen Blitzschlag. Blaue Flammen hüllten Nironil ein und der Waldelf riss den Mund auf, ohne einen Laut von sich zu geben. Dafür erschallte ein schriller Schreckensschrei von Indra.

Nironil kämpfte gegen die Schmerzen und die Muskelkrämpfe an und hob bebend die Hand. Ein Feuerball, viel kleiner als die Zauber, die er sonst zustande brachte, aber nicht minder heiß, loderte auf. Dann presste er seine brennende Hand mit letzter Kraft direkt auf Brynnes entstellte Gesichtshälfte. Der Sturmmagier heulte voller Pein und ließ den sterbenden Waldelfen los.

„So ein dämlicher Mistkerl!“, zischte Brynne und presste sich die Hand auf die frischen Brandwunden. Brothain zog sich mit einem Ruck den Pfeil aus der Schulter und machte mit erhobenem Dolch einen Schritt auf Indra zu.

„Schon gut“, röchelte Brynne. „Jetzt haben wir ja wieder Verwendung für sie.“ Er ließ die Hand sinken und offenbarte zu einer zähen Masse zerschmolzene Hautfetzen, unter der rohes Fleisch zum Vorschein kam. Indra und auch einige der anwesenden Banditen japsten erschrocken.

Fjedor sah voller Entsetzen zu Nironils Körper herüber. Die Flammen waren erloschen und die Muskelkrämpfe, die den am Boden liegenden Waldelfen erschütterten, ließen ihn seltsam lebendig wirken, aber seine Augen starrten blind und blicklos gen Nachthimmel.

„Was…was sollte das?“, stammelte er mit totenbleichem Gesicht.

Brynne spuckte einen Fetzen Haut aus. „Wer sich mir entgegenstellt, stirbt“, stellte er unmissverständlich klar. „Das war schon bei Veit so und bei diesem Trottel dort ist es nicht anders.“

„Aber jetzt habe ich meinen Leibwächter verloren!“, beklagte sich Fjedor.

„Ich auch“, schnaubte Brynne und drehte sich zu Viland um. Der Axtkämpfer hatte die Auseinandersetzung zwischen seinem Meister und Nironil bei schwindendem Bewusstsein mitverfolgt. Brynne ging vor ihm in die Knie. „Wir werden dich hier zurücklassen müssen. In diesem erbärmlichen Zustand bist du völlig nutzlos für mich.“

Fjedor und den übrigen Banditen stand das Entsetzen ins Gesicht geschrieben, als Brynne seinen treuen Leibwächter so gleichgültig fallen ließ. Selbst Loronk, der immer ein hartes Regiment geführt hatte, seit er in die Offiziersränge der Armee aufgestiegen war, legte die Stirn in grimmige Falten. Doch Viland war offensichtlich nicht enttäuscht von der Entscheidung seines Herrn.

„Natürlich“, erwiderte er keuchend. „Ich…ich schäme mich dafür, ein…ein so jämmerliches Bild…abzugeben. So…so wollte ich Euch nie…niemals unter die Augen treten. Vielleicht kann ich…kann ich Euch noch einen letzten…Dienst erweisen…und unsere…unsere Verfolger wenigstens für…für ein paar Minuten…aufhalten.“

„Unwahrscheinlich“, brummte Brynne.

„Möge…möge die Dunkelheit immer…mit Euch sein, mein Meister“, stieß Viland hervor.

„Das wird sie schon bald sein“, sagte Brynne und wandte sich den Banditen zu. „Was steht Ihr hier noch rum und glotzt? Bewegt euch oder muss ich euch Beine machen?“ Die Schurken zuckten erschrocken zusammen, drehten sich um und drängten hastig den Bergpfad hinauf. „Und du…“, grollte Brynne und starrte Indra mit seinem gesunden Auge an. „Du hast eine neue Aufgabe. Jetzt kümmerst du dich um mich und meinen verbliebenen Leibwächter!“

Indra wimmerte leise, doch sie war Brynnes Mutwillen schutzlos ausgeliefert. Brothain zerrte sie grob auf die Beine und zog sie mit sich. Die ganze Banditenbande setzte sich langsam wieder in Bewegung und strebte der Passhöhe entgegen.

Zurück blieben Nironils Leichnam, der endlich stilllag, und Viland, der seine Axt fest umklammerte und sich mit leisem Röcheln enger an die Felswand presste.



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