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Die Tränen der Einhörner I

Die Versuchung
von

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KAPITEL 1

Es war dunkel, als Eliya nach Hause kam, und es regnete.

Ihre langen, hellbraunen Haare hingen ihr in Strähnen ins Gesicht und verdeckten ihr die Sicht, doch das störte sie nicht. Im Gegenteil, es war gut so, denn so konnte sie die Blessuren verstecken, die ihr Gesicht zierten.

Sie zog den Hausschlüssel aus ihrer Hosentasche und öffnete vorsichtig die Tür; doch statt einzutreten und der Kälte zu entfliehen, drehte sie sich ein letztes Mal um.

Ihr Herz begann schneller zu schlagen und sie hielt entgeistert den Atem an, als sie eine dunkle Gestalt auf der anderen Straßenseite hinter einem Baum bemerkte. Doch statt Angst empfand sie plötzlich eine unbeschreibliche Wärme, die sogar die Kälte in ihren Gliedern vertrieb. Sie erschauderte und schüttelte den Kopf.

Als sie den Blick noch einmal in Richtung der Gestalt wandte, war diese verschwunden. Hatte sie sich die Gestalt nur eingebildet? Sie runzelte die Stirn und sah die Straße auf und ab. Nichts.

Langsam ging sie schließlich ins Haus und schloss die Tür so leise sie konnte. Sie wollte keinen Laut von sich geben oder gar ihre Anwesenheit verraten, denn ihren Eltern war es in der Zwischenzeit egal geworden, ob und wann sie nach Hause kam. Manchmal sogar glaubte sie, dass es ihnen lieber war, sie würde gar nicht zurückkehren.

Diese Erkenntnis trieb ihr jedes Mal aufs Neue die Tränen in die Augen.

Und doch flüsterte sie Tag ein Tag aus – wie auch heute – ein leises Hallo!, wenn sie das Haus betrat, in der Hoffnung, sich geirrt zu haben. Doch auch diesmal erhielt sie keine Antwort; dabei war sie sich sicher, dass man sie gehört hatte, denn für einen Moment war Stille eingekehrt im Wohnzimmer. Keine zwei Sekunden später wurde das Gespräch allerdings in weitaus lauterem Ton fortgesetzt, um alle Geräusche außerhalb des Zimmers zu übertönen.

Das unsägliche Gefühl der Einsamkeit, das sich in ihrem Herzen breitmachte, wurde von Tag zu Tag stärker, und es schien nichts auf der Welt zu geben, das ihr diese Einsamkeit nehmen konnte.

‚Ich hätte wissen müssen, dass es eine Falle ist ...‘, dachte sie schließlich resigniert und ging die Stufen hinauf auf ihr Zimmer.

Sie stellte sich vor ihren Spiegel und strich sich die feuchten, langen Haare aus dem Gesicht.

Ein langer Schnitt zog sich über die linke Hälfte ihres Gesichts bis hinunter zum Kinn. Es blutete zwar nicht mehr, doch konnte sie noch immer das Pochen ihres Herzens in dieser Wunde spüren.

Sie strich mit ihrer linken Hand über die Wunde und zuckte zusammen, als ein stechender Schmerz diese bei ihrer Berührung durchfuhr.

„Dummkopf“, murmelte sie leise. Ein schwaches Lächeln huschte über ihre Lippen, das mehr einer Grimasse glich. Dann kamen ihr die Tränen.

„Ich weine? Wieso?“, fragte sie ihr Spiegelbild verwundert und blinzelte, doch eine Antwort erhielt sie nicht. Also starrte sie schweigend das Mädchen im Spiegel an, das nicht daran zu denken schien, die Tränen aufhalten zu wollen; es ließ sie einfach gewähren.

Eliya schüttelte den Kopf.

„Was soll das? Tränen machen keinen Unterschied, das weißt du doch! Hör endlich auf!“, befahl sie ihrem Spiegelbild, doch statt zu gehorchen, weinte es nur noch mehr.

Etwas Glänzendes stach ihr plötzlich ins Auge und sie wandte den Blick von dem Mädchen im Spiegel ab, um zu sehen, was es war, das ihre Aufmerksamkeit erregt hatte.

Auf dem kleinen Tisch neben ihrem Spiegel lag ein Rasiermesser.

Eliya dachte kurz nach, wie es in ihr Zimmer gelangt war.

Dann fiel es ihr wieder ein.

Es lag nun schon seit gut einer Woche an eben diesem Platz. Sie hatte es aus dem Bad ihrer Eltern mitgehen lassen, in der Hoffnung, ihr Vater würde es nicht bemerken. Immerhin wollte er sich einen Bart wachsen lassen, da brauchte er es nicht mehr.

Und ihr Vater hatte es wirklich nicht bemerkt, aber zu allem Übel ihre Mutter. Zu ihrer Überraschung hatte ihr Vater allerdings gesagt, er habe es weggeworfen und ihre Mutter hatte es dabei belassen.

‚Ist ja auch egal ...‘, dachte sie traurig und griff nach dem Rasiermesser. Ein seltsamer Gedanke machte sich in ihr breit.

„Es wäre gleich vorbei ...“, flüsterte sie kaum hörbar und ihr Herz begann schneller zu schlagen, als sie überlegte, wie es sich wohl anfühlen musste zu sterben. „Aber ich habe Angst ... große Angst ...“

Ein leiser Seufzer ging über ihre Lippen, als sie langsam und vorsichtig über das scharfe Ende der Klinge strich.

„Was kommt danach? Endet alles oder beginnt der Schmerz von Neuem ... das wüsste ich zu gerne ...“ Sie führte das Rasiermesser an ihr Handgelenk, zuckte dann aber erschrocken zurück. „Ich kann nicht ...“, murmelte sie von sich selbst enttäuscht und fing wieder an zu weinen.

Sie ließ das Rasiermesser fallen und zuckte, als es mit einem lauten Kliiing! zu Boden fiel, zusammen.

Erschrocken hielt sie den Atem an und wagte es nicht, sich zu rühren.

Doch vor ihrem Zimmer blieb es still. Keine schnellen Schritte, keine besorgten Seufzer, nichts.

„Was habe ich auch erwartet?“, flüsterte sie mit einem gequälten Lachen. „Dass Ma gerannt kommt und mich besorgt ansieht?“ Eliya schüttelte den Kopf und seufzte resigniert. ‚Was denke ich nur? Sie kann unmöglich etwas gehört haben! ... Doch selbst wenn ... würde es sie überhaupt kümmern?‘

Traurig kniete sie neben dem Rasiermesser nieder und betrachtete seine im Licht glänzende Klinge.

Da war etwas Rotes an der Spitze der Klinge.

Neugierig hob sie das Rasiermesser auf und betrachtete es eingehend. Erst jetzt bemerkte sie die kleinen roten Tropfen, die neben dem Messer auf dem Boden waren.

Woher kamen sie?

‚Das ist doch ... Blut!‘, dachte sie überrascht und ihr Blick glitt zu ihrem Arm.

Ein dünner, roter Strich zog sich über ihren Unterarm. Blut quoll hervor.

Ihr Atem stockte. „Aber wie kann das sein?“, fragte sie sich verwundert. „Ich habe doch gar nichts gespürt ... nichts ... keinen Schmerz. Seltsam ...“ Vorsichtig strich sie über die Wunde und betrachtete sie eingehend. Das Blut, das der Wunde entwich, war noch immer warm und ein schwacher metallischer Geruch breitete sich aus. ‚So riecht also mein Blut ... Das ist mir vorher noch nie aufgefallen, dabei ist es doch schon so viele Male passiert ... so viele Wunden, so viele Schmerzen ... und nie habe ich es bemerkt?‘

Eliya kniff die Augen zusammen und zuckte schließlich die Schultern. Wieder blickte sie das Rasiermesser in ihrer Hand an und runzelte die Stirn. Dann wischte das Blut vom Boden weg und tupfte mit einem sauberen Tuch vorsichtig über den Schnitt an ihrem Arm.

Als es Augenblicke später aufhörte zu bluten, wandte sie sich wieder dem Rasiermesser zu und säuberte die Klinge.

Sie beschloss, es zu behalten und versteckte es an einem sicheren Ort. Vielleicht konnte es ihr noch einmal nützlich sein.

Dann entledigte sie sich ihrer Kleidung, die, wie sie erst jetzt bemerkte, völlig durchnässt war. Ihr selbst war seltsamerweise überhaupt nicht kalt, auch wenn sich ihre Haut eisig anfühlte.

Lange war sie nicht mehr so froh gewesen, ein eigenes Bad in ihrem Zimmer zu haben und ganz für sich allein zu sein.

Sie stieg in die kleine Dusche und drehte den Wasserhahn bis zum Anschlag auf.

Als das kalte Wasser endlich warm und schließlich heiß wurde, durchfloss sie ein Gefühl der tiefen Ruhe und des Friedens. Ein Gefühl, das ihr im Laufe der Zeit fremd geworden war.

Eliya duschte lange und ausgiebig, um die Strapazen des vergangenen Tages so gut es ging zu vergessen; und für einen Moment gelang ihr dies auch. Doch sobald sie sich im Spiegel betrachtete, war alles wieder da, denn die Wunde, die ihr Gesicht zierte, erinnerte sie aufs Neue daran, was man ihr angetan hatte.

Und sie würde sich ein Leben lang daran erinnern müssen, denn eine Narbe würde zurückbleiben, da war sie sich sicher.

Gedankenverloren verließ sie die Dusche wieder, trocknete sich ab und zog ihren Schlafanzug über.

Ehe sie allerdings in ihr warmes, weiches Bett kroch, warf sie einen letzten Blick nach draußen.

Und da war sie wieder, diese Gestalt hinter dem Baum und ihr Blick schien Eliyas genau zu treffen. Sie zuckte erschrocken zusammen und wich zurück.

Dass man sie immer noch verfolgte und beobachtete, machte ihr Angst. Ihr Herz begann schneller zu schlagen und sie schluckte hart.

Sie zog die Vorhänge zu und legte sich aufs Bett. Tränen rannen ihre Wangen hinab und sie schluchzte leise.

War es ihr denn nicht vergönnt in Frieden zu leben?
 

Da war ein Licht. Ein helles, warmes Licht.

Eliya öffnete die Augen und blickte in das wunderschöne Gesicht eines Mannes. Er lächelte sie an und flüsterte etwas, das sie nicht hören konnte.

Der Mann schien von innen heraus zu leuchten und das Licht, das ihn umgab, strahlte warm und hell, selbst in die dunkelsten Winkel ihres Herzens. Alles war erleuchtet und von Licht durchflutet.

Eliya setzte sich auf und betrachtete den Mann eingehender.

Er hatte Flügel. Schneeweiße Flügel, die ebenso strahlten wie der Mann selbst. Seine langen goldenen Haare tanzten im sanften Wind, von dem Eliya nicht wusste, woher er kam. Sie hatte ihr Fenster geschlossen.

„Bist du ... ein Engel?“, fragte Eliya zögerlich und genoss das wohlig warme Gefühl, das seine Gegenwart in ihr auslöste.

Wieder flüsterte der Mann etwas und wieder konnte sie seine Worte nicht hören.

„Ich ... ich kann dich nicht verstehen ...“, murmelte sie traurig und senkte schließlich betrübt den Blick. Tränen brannten in ihren Augen und sie wollte nicht, dass er sie sah.

Der Mann setzte sich neben sie aufs Bett und legte ihr eine Hand auf die Schulter.

Dort, wo er sie berührte, durchströmte sie eine unglaubliche Wärme und Frieden machte sich in ihr breit. Die Tränen verschwanden und einen Moment später wusste sie nicht mehr, warum sie geweint hatte.

Und plötzlich konnte sie ihn hören. Es waren keine Worte, mit denen er sprach, es war sein Herz, das zu dem ihren sprach.

Jetzt, da sie sich wieder beruhigt hatte und der Aufruhr in ihrem Herzen zur Ruhe gekommen war, konnte sie ihn verstehen und wieder fragte sie: „Bist du ein Engel?“, doch statt zu antworten, lächelte der Mann nur und strich über ihr Gesicht.

Einen Moment später konnte Eliya fühlen, wie sich etwas an ihr veränderte. Die Wärme, die seine Berührung mit sich brachte, ließ sie erschaudern und gab ihr gleichzeitig das Gefühl, das sie all die Jahre vermisst hatte: Geborgenheit.

Sie wollte diesen Moment für immer festhalten und hoffte inständig, die Zeit würde stehen bleiben. Doch ehe sie sich versah, war der Engel verschwunden und eine unglaubliche Müdigkeit legte sich über sie ...



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